Graphit - Marcel Beyer - E-Book

Graphit E-Book

Marcel Beyer

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Beschreibung

Endlich: Marcel Beyer legt einen neuen Gedichtband vor. Mit dem Titel ist der Hinweis auf die motivische Klammer gegeben: Materialität. Dinge, ob Blume, ob Feder, ob Scheiße oder Abendland, die sich bei den Kollegen aus allen Zeiten finden und neu integrieren lassen; die Körnung der unterschiedlichsten alltäglichen wie politischen Stimmen. Solche Mehrstimmigkeit ist für Marcel Beyer das einzig wirksame Gegengift gegen den ganzen monolithischen, den fanatischen, den faschistischen und chauvinistischen Schwachsinn in der Poesie und das Reden darüber. Materialität als unterscheidendes Merkmal der anderen Künste, deren Echowirkung diese Gedichte einfangen: das von Photographien angeregte Schreiben, das Schreiben mit der Perspektive, dass ein entstehendes Gedicht von einer fremden Stimme vorgetragen werden wird, und dazu gesungen. Materialität als besondere Konstellation einer Kunstgattung: Die bis in das Jahr 2001 ausgreifenden Gedichte (»Tigerschminke«) haben etwas Szenisches: Eine Figur erhält Materialität durch ihre Verkörperung im Bühnenraum. Marcel Beyers Souveränität im Umgang mit seinem Material, mit den Kollegen, mit der Zeitgeschichte, dem Zeitgeist und den in ihm hampelnden Menschen ist unvorsehbar-überwältigend: Der Materialist unter den Lyrikern kombiniert das Gewesene und Anwesende zu Nie-Dagewesenem.

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Endlich: Marcel Beyer legt einen neuen Gedichtband vor. Mit dem Titel ist der Hinweis auf die motivische Klammer gegeben: Materialität. Dinge, ob Blume, ob Feder, ob Scheiße oder Abendland, die sich bei den Kollegen aus allen Zeiten finden und neu integrieren lassen; die Körnung der unterschiedlichsten alltäglichen wie politischen Stimmen. Solche Mehrstimmigkeit ist für Marcel Beyer das einzig wirksame Gegengift gegen den ganzen monolithischen, den fanatischen, den faschistischen und chauvinistischen Schwachsinn in der Poesie und das Reden darüber.

Materialität als unterscheidendes Merkmal der anderen Künste, deren Echowirkung diese Gedichte einfangen: das von Photographien angeregte Schreiben, das Schreiben mit der Perspektive, daß ein entstehendes Gedicht von einer fremden Stimme vorgetragen werden wird und dazu gesungen.

Materialität als besondere Konstellation einer Kunstgattung: Die bis in das Jahr 2001 ausgreifenden Gedichte (»Tigerschminke«) haben etwas Szenisches: Eine Figur erhält Materialität durch ihre Verkörperung im Bühnenraum.

Marcel Beyers Souveränität im Umgang mit seinem Material, mit den Kollegen, mit der Zeitgeschichte, dem Zeitgeist und den in ihm hampelnden Menschen ist unvorsehbar-überwältigend: der Materialist unter den Lyrikern kombiniert das Gewesene und Anwesende zu Nie-Dagewesenem.

Marcel Beyer, geboren 1965, lebt seit 1996 in Dresden.

2008 wurde er mit dem Joseph-Breitbach-Preis ausgezeichnet. 2014 erhielt er den Kleist-Preis sowie den Oskar Pastior-Preis.

Marcel Beyer

GRAPHIT

Gedichte

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2014.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-73809-2

www.suhrkamp.de

INHALT

I

Graphit

II

Timide, timide

Das Rheinland stirbt zuletzt

Im Westen, auf dem Platz

Wacholder

III

Liedpostkarte

Most

Reisekadermelodien

Fell

Die rettende Zeile

Endreimstimmung

IV

Schreibhand

Taistra

Im Polsterhimmel

Die Grillmeisterin

V

Ich muß

Mischmund

Alphabet Oberlippe

Die letzten tödlichen Gedichte

Lambadamaschine

Deine Silbe Grimm

Im Wörterbuch

VI

Wespe, komm

Sanskrit

California Girls

Don Cosmic

VII

Ich hörte

Rotorblätter

Schmieriger, glasiger

An die Vermummten

Tigerschminke

VIII

Carport

Alba

Mein Blauhäher

Alba

Argot

IX

Die Maus

I

GRAPHIT

I

Schneekatze, die ihre Bahnen

zieht. Der Schneimeister

persönlich dirigiert den

Pistenbully am künstlichen

Hang. Ein Mann mit Strickmütze

und Daunenjacke, ein Mann

mit Zungenschlag, eine

Flachlandgestalt, ein Mann

aus Neuss. Draußen ganzjährig

Runkelrübenäckerweiten.

Ein Broich. Ein Busch. Ein

Rath. Da und dort ein Paar

Pappelzeilen. Hier aber: Wie er

seine Schneekatze durch die

Eiswelt jagt, den Räumschild

im Blick, die Fräse im Rücken,

in Zeitlupe und flück, flück, flück –

eine Schneekatze eben.

Eine Schneekatzennacht. So

führt er uns, der Schneimeister,

mit lässiger Hand vor, wie man in

Neuss am Rhein

Maschinenschnee zu

Schneekunst macht.

II

Hochsommer ’38. Schnittmeister

Eisenstein braucht dringend

einen zugefrorenen See,

verschneit. Mit Eismaschinen,

Schneekanonen kann die Mosfilm

ihm nicht dienen. Eisenstein

rodet ein Gelände vor der Stadt,

ebnet es ein, läßt kurzerhand

die halbe Landschaft asphaltieren.

Zuletzt der Schneeauftrag, ein

lichtaufsaugendes Gemisch

aus Naphthalin und Kreide.

Kameramann Tisse versteht sich

auf den Übergang von Weiß

zu Grau zu Schwarz, läßt

junge Tannen, herbeigekarrte

Schonungsware, hellblau bemalen

und mit Kalk bestreuen, Mehl.

Tisse macht Winterlicht. Ein

Peipussee 1242, der sich im

Verlauf der Schlacht rot zu färben

hat. Ohne Schneekoller aber,

soviel ist klar, fängt Eisenstein

gar nicht erst zu drehen an.

III

Keinerlei Alpenanmutung. Die

Webcam zeigt: Es schneit.

Und es wird schneien,

die ganze Nacht. Wer hat

gesagt: »schrift ist durch einen

schneesturm waten«?

Die feine, milchig-weiße Luft,

minus vier Grad: In der

Skihalle herrscht Windstille,

dreihundertfünfundsechzig

Tage im Jahr. Draußen

der übliche rheinische Niesel,

vergorene Futterrüben – doch

am künstlichen Hang dreht

das Kettenfahrzeug, in deinem

Sprachzentrum dreht sich

ein flinkes Kettenfahrzeug auf

der Stelle. Der Schnee

muß sintern, hörst du,

die Piste anziehen, und merk

dir das: Auf das Fräsbild kommt

es an. So taucht der

Pistenpräparator, Hauch

überall, ins Schneebild ein.

IV

Durch einen Schneesturm keucht

sie hier, die Schrift? Auf der

Leinwand sehen wir Newskis

Truppen, Lumpenproletariat

durch Mottenpulverwolken waten.

Kader für Kader eine Eisfläche,

die kein Ufer kennt. Nur

einen Horizont, der langsam

näher rückt, Teutonenreiter in

dichten Reihen. Keine

vereisten Fingerkuppen. Die

Helme leuchten. Wie lange es

noch einmal dauert, bis Newski

den Befehl zum Angriff gibt.

Wie er sein eisernes Visier,

seine Schneebrille vor die Augen

schiebt. Das eiserne Gesicht des

Alexander Newski. Der fehlende

Hauch vor seinem Mund

beim Atmen, Sprechen, Keuchen.

Hier werden Winterschlachten

grundsätzlich auf die Musik

geschnitten. Sollen Guderians

Panzerdivisionen kommen.

V

Dazu die stickige Moskauer

Hochsommerluft. Verdammt

stickiges Filmset am Rand

der Stadt: Hier läßt sich keine

einzige Atemszene drehen.

Denn, Schnittmeister, dein

hingebauter Peipussee,

der riecht verdammt nach

Totenwäsche. Die Mutter aller

weißen Flächen riecht, als

hättest du die Wäscheschublade

eines Toten durchwühlt. Die

vollgestopften Kleiderschränke

sämtlicher Toter der Revolution,

Krepierte aller Länder, so

riecht das. Mit Naphthalin

gemehlt, mit Kalk. Gelöschte

Gestalten. So riecht die

Vorkriegszeit um Moskau,

das naphthalingeschwängerte

Hochsommerleben. Dies deine

Atemluft, Schnittmeister.

Und dein weißer Asphalt

beginnt zu schmelzen.

VI

Hinter dem Panoramafenster

sinkt ein feiner Dunst: der kalte

Nebel. Berieselt das gesamte

im Blick liegende Querformat.

Kristallisiert sich nach und nach,

bis er, am Boden angelangt,

zu Schnee geworden ist.

Zu gleichmäßig verteiltem

Flockenschnee. Der Hasenstall

geschlossen, auf der Salzburger

Hochalm sind die Tische

schon gewischt. Am Neusser

Gletscher gilt, wie überall: »Es

gibt die Sonne, es gibt den Schnee.

Man muß so lange drehen, wie

man über etwas schreiben kann.«

Denn der Winter ist dunkel, und

der Schnee ein schwindendes

Objekt, weil man zu spät

kommt, jedesmal zu spät, wenn

man ihn filmen will. Der letzte

Kader: Einmal quer durchs

Jahrhundert führt, am Pistenrand

hier, eine Schattenspur: Graphit.

II

TIMIDE, TIMIDE

Timide, timide. Wir müssen über

Burschenspucke sprechen,

über die Wilgefortis, Kumerana,

Ontcommer, Hulpe, Kümmernis.

Über Nasalstriche. Das Geldrische.

Über Bastarda. Eine Hand. Und

über Schlaf. Das bleiche Licht

vom Niederrhein, Frühsommer

fast, die Ginsterblüte, man hört

den Falken einen Falken

locken, Kaninchenhaar, sagt man,

schmeckt süß. Rasch auf die

Autobahn. So wandert sie, die Bärtige,

der Wandertheorie zufolge

den Rhein hinauf

bis in die Schweiz, nach

Südtirol, geht Zeichen machen.

Spricht. Wir sehen ihre

ungenagelten, beschuhten Füße.

Timide, timide – Thomas a Kempis,

apokryph. Nein, das sind keine

Frühstücksflocken im Gesicht.

Wir wachsen nach. Wir sind

des Fieberns und Sedierens müde.

DAS RHEINLAND STIRBT ZULETZT

I

… nördlich der Alpen.

Da gibt der Boden nach.

Ohne Geländekarte

muß ich ins fremde Land?

Ach, bitte, Jungfrau, reiche

mir dabei deine Hand.

Ins fremde Land, das meint

ins flache Land, das meint

hinab, wohin die Welt sich

faltet. Ja, alles faltet sich,

Dach, Haus und Straße,

Bett und Schrank, hier falten

alle Bücher und Papiere sich

wie von allein zusammen.

Dreißig Sekunden Krach.

Sechs Wochen Stille.

Vom Trümmerkogel seilt

die Bergrettung, seilen

Rotkreuzhelfer sich

vorsichtig, vorsichtig ab.

II

Himmel, hier sieht es aus.

Blick aufs felsgraue,

abschüssige Schuttfeld, die

tristen, die tief-, die todgrau

lackierten Blechwände der

zerlegten, zerdrückten

Aktenschränke Einschlüsse

im Stein, im Untergrund

eine künstliche Grotte, eine

Kaverne, vollgestopft

mit verkanteten Schachteln

in sauberen Reihen,

oberdeutsche Mundart,

Handschrift vermutlich

in der Schweiz entstanden,

Anfang in gottis namen

hebe ich an, ist komplett

hinabgerauscht

das Regal aus

der sechsten Etage.

III

Kein Himmel oben. Zwei

Mann vom Roten Kreuz

seilen sich ab in die

zusammengefaltete Welt.

Der Einband Holzdeckel in

Schafleder, mehrfach

beschädigt, Messingschließen

noch bemerkbar, im

Vorderdeckel Pergamentblatt

mit lateinischem Text,

größter Teil weggerissen,

auf der ersten Seite vielfach

durchlöchert, sonst sauber und

gut erhalten. Rotschnitt.

Mundart vorwiegend ripuarisch.

Sehr schöne, zierliche Schrift.

Sie halten Wolfsschachteln

bereit. Mit Pappkartons

vom Kölner Schredderkönig

gehen sie ins Archiv.

IV

Hinunter gehts. Genossen

hab das Leben ich, so

wie man einen Sommertag

genießt. Jetzt wird geklagt.

Er ist mir auf den Fersen,

de aale Drießhannes,

ich weiß es ja, schon lang,

der wird mich eines Tages

einfärben, und zwar: blau.

Das Glück hat mich

verlassen, min Kopp –

mein Kopf ist vollends

grau, ich lauf mit Buckel

rum, mit eingefallnen

Backen, fahl, ich schleich