Greifendämmerung - Thomas Vaucher - E-Book
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Greifendämmerung E-Book

Thomas Vaucher

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Beschreibung

»Greifendämmerung« ist der dritte und letzte Band der epischen Fantasy-Saga »Das Lied der Macht«. Der Kaiserthron des Darischen Reiches ist umkämpft, das Reich gespaltener denn je und die Narsing erhalten Unterstützung aus seinem innersten Kreis. Hoffnung bietet die Legende vom Schwert und der Rüstung eines längst gefallenen Helden, eines Helden, dessen Rückkehr den Sieg über den Feind bringen soll. Doch die Dämonen der Vergangenheit erschaffen den Pass der vier Morde und bereiten so den Weg für die finale Schlacht, die über den Fortbestand des Darischen Kaiserreichs entscheiden wird … am Tag der Greifendämmerung.

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1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© copyright byRiverfield Verlag, Reinach BL (CH)www.riverfield-verlag.ch

Lektorat, Korrektorat & Satzihleo verlagsbüro – Dr. Oliver Ihle, Husum (D)

Umschlaggestaltung und KartenPascal ScheideggerIllustrationsstudio, Wichtrach (CH)www.pascalscheidegger.ch

Greif-VignetteMarlies Vaucher (CH)

Bildnachweis UmschlagHintergrundmotiv © stock.adobe.com: Andrey Kuzmin

Greif-Motiv: Riverfield Verlag (created with generative AI)

E-Book ProgrammierungDr. Bernd Floßmann, Berlin www.IhrTraumVomBuch.de

ISBN 978-3-907459-00-3 (Print)

ISBN 978-3-907459-01-0 (E-Book)

Inhaltsverzeichnis
Titel
Impressum
Karte: Greifenheim
Karte: Die Bekannten Lande
Prolog
Erster Teil Unter der Dunklen Flagge
1
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Zweiter Teil Tarborns Erbe
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Dritter Teil Der Pass der vier Morde
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Epilog
Ende
Anhang
Narsing-Glossar
Personenverzeichnis
Danksagung
Der Autor
Band I der Saga im Riverfield Verlag
Band II der Saga im Riverfield Verlag

Karte: Greifenheim

Karte: Die Bekannten Lande

Prolog

Ebentes, Königreich Wehrfurt

Der König in der roten Rüstung roch die Leichen, ehe er sie sah. Es war eine Mischung aus verbranntem Fleisch, Verwesung und Rauch, die durch die Schlitze seines Visierhelms hindurchkroch und ihn angeekelt die Nase rümpfen ließ. Als sein mächtiges Streitross mit dampfenden Flanken den mit einer feinen Schneeschicht bedeckten Hügel erklomm, erkannte er endlich auch den Grund für den Gestank.

Dahinter war ein militärisches Lager errichtet worden. Ein Erdwall war um die Zelte aufgeschichtet, in den Wall waren angespitzte Holzpfähle getrieben und an drei Stellen, wo der Wall Lücken aufwies, befanden sich schwenkbare Holzelemente auf Karren, die ebenfalls zugespitzte Pfähle enthielten. In der rückwärtigen Seite des Zeltlagers ragte eine drei Schritt hohe, steinerne Mauer auf, die den Zugang zur Bucht schützte. Dahinter glitzerte das Wasser der Darischen See in der untergehenden Abendsonne. Dutzende Masten ragten daraus in den Himmel.

Vor dem Lager stapelten sich mehrere Leichenberge. Große Feuer brannten, in die Dutzende Arbeiter Leichen hineinwarfen.

»Seid Ihr sicher, dass Ihr da hinunter wollt, Bruder?«

Der Rote König wandte den Kopf und sah Pendewùo zu Sargund an, der sein Streitross neben ihm zum Stehen gebracht und das Visier seines Helms geöffnet hatte. Ihm schien, als würde er in einen Spiegel schauen, denn sein Bruder trug dieselbe rote Rüstung, dieselbe Halskette mit den elf Saphiren und dem leuchtend hellen Tartiumstein wie er und ritt auf einem schwarzen Hengst, der seinem zum Verwechseln ähnlich sah. Er war groß, muskulös, hatte schulterlange, schwarze Haare, eine leicht gebogene Nase, wie er selbst, und goldene Augen, die stets alles und jeden wach musterten.

Der Rote König nickte. Dann stieß er seinem Pferd sachte die Fersen in die Flanken und ritt im Schritt den Hügel hinunter. Er hörte, wie ihm sein Bruder, die hundert Ritter und der Tross, der sie begleitete, folgten.

Aus der Befestigung vor ihm erfolgte umgehend eine Reaktion auf ihr Auftauchen. Ein Horn ertönte, gefolgt von einem Gong, der mehrmals geschlagen wurde. Die Arbeiter bei den Leichenbergen sahen alarmiert auf, dann rannten sie in die Sicherheit der Befestigung zurück.

Der Rote König wusste, was nun folgen würde, weswegen er bewusst langsam auf das Lager zu ritt. Hundert Schritt vor dem östlichen Eingang hob er die Hand und hielt sein Pferd an, worauf auch sein Gefolge hinter ihm zum Stehen kam. Dann wartete er.

Es dauerte nicht lange, bis ein Dutzend Reiter in der Öffnung zwischen den Wällen erschien. Sie waren allesamt in die für sie typischen blauen Rüstungen gehüllt und schwer bewaffnet. Sie ritten bis auf fünfzig Schritt an den Roten König heran, ehe sie ihre Pferde zum Stehen brachten. Einer der Narsing rief etwas zu ihnen herüber, doch der Rote König verstand ihn nicht. Er nickte Pendewùo zu, worauf dieser sein Pferd noch einige Schritte vorwärts traben ließ, bevor er es wieder anhielt.

»Dies ist König Draqùo von Sargund«, sagte Pendewùo und deutete auf den Roten König. »Er möchte den Anführer der Narsing sprechen.«

Der Rote König sah, wie die Narsing sich leise unterhielten. Dann winkte ihnen einer zu. »Mitkommen. Allein.«

Der Rote König kniff die Augen zusammen, sah seinen Bruder an und schüttelte kaum merklich den Kopf.

»Der König wartet hier auf euren Anführer«, rief Pendewùo den Narsing zu, dann wendete er sein Pferd und ritt zu seinem Bruder zurück.

»Lasst das Zelt aufschlagen«, sagte der Rote König und Pendewùo nickte und gab die entsprechenden Anweisungen. Die Narsing sahen ihnen noch einen Moment lang zu, dann verschwanden sie hinter den Wällen ihrer Befestigung.

Der Rote König stieg von seinem Pferd, hob den wuchtigen Helm vom Kopf und reichte ihn einem Diener, der sogleich damit davonrannte. Der König fuhr sich mit den Händen durch das schweißnasse, schulterlange Haar und strich es sich nach hinten. Vier Diener brachten einen roten Teppich. Darauf stellten sie seinen vergoldeten Thron, in dessen Armlehnen Löwenköpfe geschnitzt und dessen Rückenlehne mit seinem Wappen verziert war: dem goldenen Löwen auf grünem Hintergrund. Der Rote König setzte sich und wartete, während ein Dutzend Arbeiter sein Zelt aufbauten. Zwei der Diener kehrten mit einem Beistelltischchen zurück, worauf sie einen mit rotem Wein gefüllten Kelch und ein Tablett mit Trauben und Käse stellten, ehe sie sich wieder zurückzogen. Der Rote König ließ während der ganzen Zeit das Lager der Narsing nicht aus den Augen. Hinter sich hörte er Pendewùo Befehle brüllen. Er wusste, dass sein Bruder die Ritter aufstellte und instruierte, falls die Narsing angreifen sollten, doch das bezweifelte er. Die Neugier über sein Anliegen würde größer sein als der Drang, ein paar hundert Feinde zu töten.

Es dauerte gut fünfzehn Momente, bis sein Zelt, dessen Seitenwände aus Holz bestanden, fertig aufgebaut war. Der Rote König nickte zufrieden, als einer der Diener ihm Bescheid gab, dass es so weit war. Er erinnerte sich noch daran, wie lange es gedauert hatte, als die Arbeiter sein Zelt zum ersten Mal im Feld aufgestellt hatten. Als es nach dreißig Momenten noch nicht bezugsbereit gewesen war, hatte er ihnen verkündet, dass sie für jeden Moment, der zusätzlich verstrich, einen Peitschenhieb erhalten würden. Sechs Momente später war das Zelt fertig aufgebaut gewesen und die Männer hatten ihre gerechte Strafe erhalten.

Der Rote König erhob sich und schritt langsam zum Zelt. Zwei Diener ergriffen den Thron und trugen diesen hinein. Der König betrat die Behausung, deren Boden mit roten Teppichen ausgelegt war und deren Wände mit riesigen farbigen Wandteppichen behangen waren. Diese zeigten Bilder aus der Geschichte des Königreichs Sargund. Auf dem neuesten Teppich, den er erst kürzlich erhalten hatte, war seine Krönung in Greifenheim abgebildet: Sein größter Triumph, der seinem Vater stets verwehrt geblieben war: die Erhebung ihres Herzogtums zum Königreich. Weil der Rote König Hadran bei der Kaiserwahl seine Stimme gegeben hatte, hatte dieser aus dem Herzogtum Sargund ein Königreich gemacht.

Einen Moment blieb er vor dem neuen Wandteppich stehen und betrachtete sein Abbild: der schlanke Körperbau, die dunkelbraunen, halblangen Haare, das glattrasierte Gesicht, die ebenmäßigen, noblen Züge, die leicht gekrümmte Adlernase, die dichten Brauen, die goldenen Augen, das spitze Kinn. Sein Ebenbild trug ein weißes Rüschenhemd, darüber eine rot-schwarze Weste, einen scharlachroten, pelzbesetzten Umhang – alles Kleider, die er extra für die Krönung hatte anfertigen lassen – sowie die goldene Halskette mit den elf Saphiren und dem Tartiumstein – das Erkennungszeichen des Ordens der Zwölf – und auf dem Kopf den Tartium-Stirnreif, den ein blendend heller Schimmer umgab. Er nickte zufrieden, der Künstler hatte ihn wahrlich gut getroffen.

Der Rote König wandte sich ab und sah sich um. Ein langer Tisch mit einem Dutzend hölzernen, mit Schnitzereien verzierten Stühlen befand sich in der Mitte des Zeltes. Der hintere Teil war durch hölzerne Wände abgetrennt. Dahinter befand sich sein Schlafgemach sowie sein Bad und ein weiteres Abteil zum Arbeiten. Auf dem Tisch befanden sich ein weiterer Kelch gefüllt mit Wein, ein Teller mit einem gebratenen Hühnerschenkel sowie einer Scheibe Brot.

Der Rote König setzte sich auf seinen Thron am Stirn­ende des Tisches, genehmigte sich einen Schluck Wein und biss herzhaft in den Hühnerschenkel.

Es dauerte fünf weitere Momente, ehe Pendewùo im Eingang erschien.

»Majestät, eine große Zahl Narsing verlässt das Lager.«

»Wie groß?«, verlangte der Rote König zu wissen.

Pendewùo drehte sich um und sah konzentriert zum Lager hinüber. »Vielleicht um die zweihundert?«, sagte er, als er sich wieder zum Roten König umdrehte.

Dieser nickte zufrieden. »Bringt den Anführer herein und seht zu, dass Ihr gleich viele Männer mit hineinnehmt, wie er mitbringen will.«

Pendewùo nickte und verließ das Zelt.

Der Rote König hörte kurz darauf, wie draußen etwas gerufen wurde. Zwei Stimmen konnte er ausmachen, eine gehörte seinem Bruder. Jedoch konnte er nicht verstehen, was geredet wurde. Es dauerte aber nicht lange, dann wurde die Eingangsplane zur Seite geschoben und Pendewùo betrat das Zelt, gefolgt von vier großgewachsenen, kräftigen Narsing, denen vier seiner eigenen Ritter folgten. Die acht Krieger stellten sich an den Seiten des Zeltes auf und musterten sich gegenseitig misstrauisch. Dann betrat ein weiterer Narsing das Zelt. Der Mann war ebenfalls großgewachsen, hatte dunkelbraunes Haar, das an den Seiten rasiert, oben aber lang war und ihm in Strähnen über die Stirn nach vorne ins Gesicht fiel. Er trug einen sauber gestutzten Kinnbart, einen Schnauz sowie einen Unterlippenbart. Seine Haut war von der Sonne gebräunt und wettergegerbt, der ganze Kopf mit Tätowierungen bedeckt. Sie stellten verschlungene Muster dar, die der Rote König noch nie gesehen hatte. Der Narsing trug dieselbe blaue Rüstung wie die anderen Krieger, doch war sie zusätzlich mit reliefartig aufstehenden, schwarzen Schuppen versehen. An der Seite trug er ein Schwert, dessen Knauf mit einem blauen Edelstein verziert war.

Als der Narsing eintrat, erhob sich der Rote König und nickte ihm zu.

»Seid mir gegrüßt«, sagte er und deutete auf den Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches. »Bitte – nehmt Platz.«

Der Narsing lächelte und schüttelte den Kopf. »Habt Ihr das Gefühl, setze auf einen Stuhl«, sagte der Narsing in gebrochenem, aber überraschend gutem Darisch, »während Ihr auf einem goldenen …« Der Narsing suchte einen Moment nach dem richtigen Wort, ehe sich sein Gesicht aufhellte und er weiterfuhr: »… Thron sitzt?«

Der Rote König nickte und lächelte. »Entschuldigt, Ihr habt natürlich völlig recht.« Er klatschte in die Hände, worauf zwei Diener, die zuvor ungesehen hinter den Holzwänden ausgeharrt hatten, in den hinteren Bereich des Zeltes huschten und gleich darauf mit einem identischen Thron zurückkamen, den sie hinter den Narsing stellten. Dann brachten sie ihm einen gefüllten Kelch und einen Teller mit Speisen, bevor sie wieder hinter den Holzwänden verschwanden.

Der rote Ritter deutete erneut auf den Stuhl, worauf sich beide setzten.

»Ich bin …«, begann er, doch der Narsing unterbrach ihn.

»König Draqùo von Sargund, weiß. Name ist Charkhôn Ulv­jatar ter Prohandhir, Harkhùn der Narsing.«

Der Rote König nickte. »Ich habe von Euch gehört, Charkhôn Ulvjatar, doch meinen Quellen zufolge werdet Ihr ter Ghandùhir genannt?«

Charkhôn lachte. »Ihr wisst viel, König. Seit das Festland erobert habe, trage einen neuen Namen. Ter Prohandhir – der Eroberer würdet Ihr wohl sagen.«

»Der Eroberer.« Der Rote König lächelte. »Wie passend. Nun, wie würde es Euch gefallen, hier noch mehr Ländereien zu erobern?«

Charkhôn grinste. »Das werde mit Sicherheit tun. Habe noch nicht genug. Warum fragt Ihr?«

Der König breitete die Arme aus. »Das Land ist groß, die Feinde zahlreich. Die Insel einzunehmen war eine Sache, aber den Rest des Kaiserreichs auf dem Festland?« Er zuckte mit den Schultern. »Dies dürfte ungleich schwieriger werden ohne verlässliche Bündnispartner.«

Charkhôn runzelte die Stirn. »Ihr wollt ein Bündnis anbieten?«

Der König nickte. »Genau.«

»Warum? Was habt Ihr davon, Euer eigenes Land zu verraten?«

»Das Kaiserreich ist nicht mein Land. Ich regiere mein eigenes Königreich.«

»Seltsam, hörte, dass Euer Reich zum Kaiserreich gehört?«

Der König machte eine wegwerfende Geste. »Theoretisch, ja. Aber ich habe meine eigenen Pläne.«

»Und die wären?«

»Hier ist, was ich Euch anbiete: Ich helfe Euch, den südlichen Teil des Kaiserreichs bis zum Himmelsgebirge zu erobern, mein eigenes Königreich natürlich ausgenommen, wenn Ihr mir helft, das Bündnis befreundeter Staaten einzunehmen.«

»Wie viele Kämpfende umfasst Euer Angebot, König?«

»Ich stelle Euch zwei Söldnerkompanien zur Verfügung, die ich finanziere. 7000 Streiter.«

»7000?« Charkhôn nickte anerkennend. »Und sobald diese Himmelsberge erreicht haben …?«

»Helft Ihr mir, das Bündnis befreundeter Staaten einzunehmen.«

»Was lässt Euch glauben, dass dieses Bündnis nicht einfach selbst behalten, wenn es eingenommen haben? Und Euer Königreich gleich mit?«

Der Rote König lachte. »Ihr dürft es gerne versuchen. Vielleicht hat man Euch noch nicht darüber unterrichtet, dass Sargund über die stärkste Armee im ganzen Reich verfügt?«

»Und deshalb braucht Ihr Hilfe bei der Einnahme dieses … Bündnisses?«

Der König kniff die Augen zusammen. »Sie haben einen Wirker. Seid Ihr dabei oder nicht?«

Charkhôn ergriff den Kelch und schnupperte am Wein. Dann sah er den König fragend an.

»Ihr wollt wissen, ob er vergiftet ist?« Der Rote König klatschte in die Hände und befahl einem Diener, ihre Kelche auszutauschen. Charkhôn hob den Kelch, aus dem zuvor der König getrunken hatte, und führte ihn an die Lippen.

»Schmeckt gut. Bin dabei.«

Der König lächelte, hob seinen Kelch und prostete dem Narsing zu.

Erster Teil Unter der Dunklen Flagge

1

Erdar, Königreich Wehrfurt

Rune zu Königssee saß in ihrem Zelt auf dem kleinen Hocker und starrte in den angelaufenen Spiegel, der ihr gegenüber auf dem Tischchen stand. Das Gesicht des vermeintlichen Seekönigs, für den sie sich vor Kriegsherr Penumbra und allen anderen ausgegeben hatte, war hager. Die Wangenknochen stachen deutlich hervor. Blaue Augen, in die sich Trauer und Hass eingeschlichen hatten, waren von tiefen Augenringen umgeben, die von den Strapazen der letzten Tage kündeten. Die offenen, blonden Haare fielen ihr bis über die Schultern. Sie verdeckten die kurzen Stellen zu beiden Seiten des Kopfes, die nach Ordensart rasiert gewesen waren, nur teilweise. Langsam wuchs das Haar dort nun wieder nach, um sich seinen angestammten Platz zurückzuholen.

Es war ein Schock gewesen, Fra Therasensia wiederzusehen, nachdem sie als Seekönig gemeinsam mit dem Kriegsherrn Penumbra zu Weissenberg über die Narsing triumphiert hatte. Sie hatten die Narsing zurückgedrängt und den Großen Tunnel geflutet. Wie viele Narsing dabei ertrunken waren und wie viele es auf das Festland geschafft hatten, wusste sie nicht, aber es war ein großer Sieg gewesen. Doch der Auftritt der Ordenskriegerinnen unter der Führung von Fra Therasensia hatte sie für einen Moment aus der Bahn geworfen.

Fra Therasensia – der Sakrale Hammer.

Unwillkürlich stiegen die Bilder der Vergangenheit wieder in Rune auf. Bilder, die sie seit Monden zu vergessen suchte. Sie sah die Greifenkralle vor ihrem inneren Auge, sah, wie Fra Therasensia sie in der Folterkammer des Ordensgebäudes auf ihre rechte Brust presste und den Hammer zur Hand nahm, spürte, wie die Krallen des Folterinstruments sich in ihr Fleisch bohrten, ehe die Ordensschwester sie wieder herausriss – mitsamt ihrer Brust. Unwillkürlich legte Rune ihre Hand auf die Brust – auf die Stelle, wo sich diese einst befunden hatte – und schloss zitternd die Augen.

Fra Therasensia hatte gewiss vorgehabt, sie in Haft zu nehmen, als Rune den Tunnel verlassen hatte, denn sie hatte ihr Schwert gezogen. Doch Rune war umgeben von Hunderten Soldaten, denen sie eben einen großen Sieg geschenkt hatte. Umgehend hatten diese ebenfalls ihre Waffen gezogen, worauf Therasensia ihre wieder eingesteckt und sie zu einem Gespräch in ihr Zelt eingeladen hatte. Rune hätte am liebsten ihr eigenes Schwert gezückt und sich auf die Ordensschwester gestürzt, doch sie hatte sich beherrscht und ihr zu verstehen gegeben, dass sie sich zwar mit ihr treffen würde, aber erst am nächsten Tag. Sie hatte Ruhe und Erholung gebraucht und vor allem ihre Gedanken sammeln müssen, um mit sich selbst ins Reine zu kommen.

Die Eingangsplane ihres Zeltes wurde zurückgeschlagen. Grada trat ein und verbeugte sich. Sie war eine hochgewachsene, junge Frau mit kurzgeschnittenen, blonden Haaren und blauen Augen. Die Schwanenritterin sah ebenso müde und abgekämpft aus wie Rune. Sie trug ihre weiße Rüstung, die an mehreren Stellen Dellen und Risse aufwies, jedoch immerhin blankpoliert war.

»Es ist Zeit«, sagte Grada.

Rune nickte. Sie tauchte ihre Hände in die Schüssel mit dem eiskalten Wasser, formte sie zu einer Schale, beugte sich darüber und schüttete sich das Wasser gegen das Gesicht. Die Kälte vertrieb umgehend die müden Geister. Sie wiederholte das Vorgehen noch zweimal, ehe sie ein Tuch ergriff und sich damit das Gesicht abtrocknete. Dann stand sie auf. Beinahe hätte sie vor Schmerz aufgeschrien, als gleich an einem Dutzend Stellen ihres Körpers Schmerzen aufflammten. Zwar hatte sie in der Schlacht keine ernsthafte Wunde davongetragen, aber etliche Prellungen und kleinere Schnitt- und Stichwunden. Vor allem der Schnitt an der rechten Schulter war recht tief gewesen und hatte genäht werden müssen. Die Prellung am rechten Bein ließ sie zudem immer noch hinken.

Grada half ihr in ihre Rüstung, dann verließen sie gemeinsam das Zelt. Ein kalter Wind schlug ihnen entgegen, als sie sich auf den Weg zum Ordenszelt machten. Drei weitere Schwanenritter schlossen sich ihnen an – alle, die die Schlacht im Tunnel überlebt hatten.

Vor dem Ordenszelt standen zwei Ordenskriegerinnen Wache, die Rune jedoch ohne Anstalten durchließen. Rune bedeutete Grada mitzukommen und den drei Rittern, draußen zu warten; dann betrat sie das Zelt. Es war erstaunlich karg eingerichtet. Ein Feldbett an der Rückseite, in der Mitte ein kleiner Tisch mit vier Holzstühlen, eine Truhe, ein Rüstungsständer. Keinerlei Dekorationen oder Wandbehänge. Als Rune eintrat, saß Fra Therasensia auf einem der Holzstühle und studierte eine Landkarte. Die Ordensschwester war schon etwas älter, Rune schätzte sie auf nicht ganz fünfzig Jahre. Dennoch war sie durchtrainiert und muskulös. Sie hatte ein hartes Gesicht, in das die Jahre tiefe Furchen gegraben hatten. Ihre grauen Haare waren nach Ordensart zu zwei langen Zöpfen geflochten und an der Seite des Kopfes rasiert – bis auf ein Muster, das eine Spirale darstellte und ihren Ordensrang als Sakrale symbolisierte. Sie erhob sich und lächelte freundlich. Doch Rune sah in ihren kalten Augen, dass das Lächeln nur aufgesetzt war.

»Fra Rune. Setzt Euch.«

»Ich bin keine Fra mehr. Dafür habt Ihr gesorgt. Schon vergessen?«

Fra Therasensia machte eine wegwerfende Handbewegung. »Na schön, aber davon wollen wir nicht mehr sprechen, nicht wahr? Wie ich hörte, hast du hier Großes vollbracht. Manche sagen sogar, du hättest das Kaiserreich gerettet. Du und dieser …« Sie machte eine abfällige Handbewegung, «unfähige Kriegsherr.«

»Her Penumbra stand seinen Mann. Ihm ist es zu verdanken, dass der Tunnel geflutet werden konnte. Er hat die zweite Kurbel unter Einsatz seines Lebens zerstört. Er ist ein Held und wird eines Tages in einem Atemzug mit Tarborn Einarm und Valor, dem Schwarzen Panther, genannt werden, und wenn Ihr noch einmal so abschätzig über ihn sprecht, ist diese Unterredung beendet.«

Fra Therasensia sah Rune überrascht an, dann nickte sie und deutete auf den Stuhl ihr gegenüber. »Wie du wünschst. Nimm doch Platz.«

»Ich bin nun Gräfin, Fra«, sagte Rune mit kalter Stimme. »Und wenn Ihr mich nicht gebührend ansprecht, ist diese Unterredung ebenfalls beendet.«

Rune nahm mit Befriedigung zur Kenntnis, wie sich Fra Therasensias Miene einen Moment vor Wut verdunkelte, ehe sie sich fasste und erneut nickte. »Na schön, Ihre Erlaucht. Würdet Ihr Euch geruhen, Euch mir gegenüber hinzusetzen oder ist das unter Eurer Würde?«

Ohne Fra Therasensia einer Antwort zu würdigen, setzte sich Rune hin. »Was wollt Ihr?«

Die Ordensschwester setzte sich ebenfalls wieder. »Weshalb nennt Ihr Euch Seekönig, Rune?«

»Könnt Ihr Euch das wirklich nicht denken? Ehrlich gesagt, dachte ich immer, dass Ihr klug wärt, doch offenbar habe ich mich getäuscht.«

Wieder huschte ein Zug der Verärgerung über das Gesicht des Sakralen Hammers, doch die Ordensschwester schluckte ihren Ärger herunter. »Wer sind Eure Ritter?«, fragte sie stattdessen. »Angehörige des Hofstaats Eures Vaters?«

»Wie habt Ihr mich gefunden?«, antwortete Rune mit einer Gegenfrage.

Fra Therasensia runzelte die Stirn. Dann seufzte sie und nickte. »Also gut, ich beantworte Eure Frage zuerst. Wir sind nach Königssee geritten. Wir vermuteten, dass Ihr nach Eurer Verbannung nach Hause zurückkehren würdet. Und wie sich herausstellte, sollten wir Recht behalten. Leider sind wir aber zu spät gekommen. Eure Diener wussten uns jedoch einiges zu erzählen.«

Rune spannte sich. Ihre Hand fuhr zu ihrem Schwert. »Was habt Ihr mit Ihnen gemacht?«, fragte sie drohend.

Fra Therasensia hob abwehrend die Hand. »Aber nicht doch, Seekönig. Wir haben nichts mit ihnen gemacht. Wir haben sie weder getötet noch gefoltert. Ich glaube, unser Banner und unsere Kriegerinnen haben sie etwas eingeschüchtert, doch sie haben von sich aus alle Fragen beantwortet. Ich erfuhr, dass Ihr tatsächlich dort wart, dass Euer Vater kürzlich starb und Ihr als sein einziges Kind alles geerbt habt. Wie sie mir mitteilten, konntet Ihr Euch mit Eurem Vater versöhnen, ehe er verschied. Sie erzählten mir auch, dass Ihr mit den zwölf besten Kriegern und Kriegerinnen aus dem Gefolge Eures Vaters nach Südwesten zum Tunnel geritten wärt.«

»Dann wisst Ihr ja bereits alles. Wieso also diese Fragen?«

Fra Therasensia zuckte mit den Schultern. »Ich wollte wissen, ob Eure Diener die Wahrheit erzählt hatten. Offenbar haben sie dies. Was mich zu der Frage zurückbringt, warum Ihr Euch Seekönig nennt.« Sie strich sich nachdenklich über das Kinn. »Wie Ihr eben selbst verkündet habt, seid Ihr nur Gräfin. Mit welchem Recht nennt Ihr Euch also Seekönig? Und über welches Reich regiert Ihr, wenn nicht über die Grafschaft Königssee?« Ihr Blick hatte etwas Lauerndes angenommen und Rune fühlte sich zwei Monde zurückversetzt in die Zeit, als sie sich gefesselt im Folterkeller in Greifenheim befunden und Fra Therasensia sie verhört hatte.

»Nun«, antwortete Rune bemüht ruhig und setzte ein, wie sie hoffte, überzeugendes Lächeln auf, »wie Euch bestimmt nicht entgangen ist, bin ich eine Frau und als solche müsste ich, wenn ich den Titel eines Königs in Anspruch nehmen wollte, mit Königin angesprochen werden. Der Seekönig ist jedoch nicht mehr als ein Pseudonym, ein Übername, wenn Ihr so wollt. Mein richtiger Titel ist Gräfin von Königssee. Doch für die Männer da draußen bin ich der Seekönig, der sie gemeinsam mit dem Kriegsherrn Penumbra zum Sieg über die Narsing geführt hat. Die Maskerade war ein Mittel, die Moral der Männer da draußen zu stärken, nichts weiter.«

»Nun, erlauchte Gräfin, dann lasst mich Euch ein Angebot machen. Wir bieten Euch an, zurück zum Orden zu kommen. Ich bin befugt, Euch überdies mitzuteilen, dass wir Euch nicht nur als Dienerin, sondern als Ritterin mit allen Rechten und Pflichten wieder einsetzen werden.«

Rune starrte Therasensia fassungslos an. In ihrem Inneren tobte ein Sturm der Gefühle. Und obschon die Versuchung da war, einzulenken und zuzustimmen, gab es auf dieses Angebot nur eine mögliche Antwort.

»Sagt mir, Fra«, begann Rune mit vor Wut zitternder Stimme, »mit welcher Absicht seid Ihr zum Hof meines Vaters geritten?«

Nun war es an Fra Therasensia, überrascht auszusehen. »Ich … nun, wir wollten Euch zurück nach Greifenheim bringen.«

»Um mich hinzurichten, nehme ich an?«

»Ich weiß nicht, wie Großmeisterin Hara über Euch gerichtet hätte«, wich die Ordensschwester aus.

»Blödsinn. Ihr wisst genauso gut wie ich, dass mich nichts als der Tod erwartet hätte. Wie also der Gesinnungswandel, über den Ihr zudem eigenmächtig entscheidet? Denn die Großmeisterin kann von den Vorfällen hier noch gar nichts wissen.«

»Ich bin der Sakrale Hammer, Rune. Ihr wisst sehr wohl, dass ich über die Kompetenz verfüge …«

»Als Richterin des Ordens der Heiligen Schwesternschaft des Göttlichen Greifen könntet Ihr vielleicht über meine Begnadigung verfügen, Fra, niemals jedoch über meine Wiederaufnahme oder gar über die Erhebung in den Ritterstand. Dies liegt in der Kompetenz der Großmeisterin. Vergesst nicht, dass ich jahrelang im Orden gelebt habe und die Strukturen sehr wohl kenne. Da Ihr mich also gerade angelogen habt, bringt mich das zu der Frage, warum Ihr das getan habt? Ich glaube, die Antwort darauf ist recht einfach: Ihr wolltet mich zum Schein aufnehmen und hättet mich dann doch zum Tode verurteilt, ist es nicht so, Fra?«

Therasensias Gesicht verdunkelte sich vor kaum verhohlenem Zorn, und Rune wusste, dass sie mit jedem Wort ins Schwarze getroffen hatte. Die Ordensschwester schoss hoch und legte die Hand an ihr Schwert, doch Rune blieb ruhig sitzen, auch wenn sie hörte, dass Grada hinter ihr sich spannte. »Du bist eine Verräterin, Rune«, stieß Therasensia wütend hervor, »du hast unseren Orden verraten und dafür gehörst du bestraft.«

»Denkt Ihr wirklich, dass Ihr mich noch nicht genügend bestraft habt? Ihr habt mir die Brust herausgerissen, Fra, und eines Tages gedenke ich, mich dafür zu revanchieren. Doch nicht heute.« Rune erhob sich. »Ihr seid eine schlechte Gastgeberin, Fra, Ihr habt mir nicht einmal etwas zu trinken angeboten.« Sie drehte sich um und machte Anstalten, das Zelt zu verlassen, doch Therasensia rief sie noch einmal zurück.

»Das letzte Wort in dieser Sache ist noch nicht gesprochen, Rune«, keifte die Ordenskriegerin, »diese Armee wird dir den Rücken nicht ewig stärken können. Der Orden wird dich dein Leben lang jagen und eines Tages werden wir dich kriegen.«

»Ich bezweifle, dass der Orden noch lange überleben wird«, sagte Rune und drehte sich noch einmal zu Therasensia um, »es gehen bereits Gerüchte um, dass der Greif keine Gottheit, sondern menschengemacht war. Die Gerüchte werden sich mehren und sobald die Leute von deren Echtheit überzeugt sind, wird Euer Orden seine Daseinsberechtigung verlieren. Und dann werde ich Euch finden und mich für das Leid, das Ihr mir zugefügt habt, rächen.«

Rune sah noch einen Moment lang in das betroffene Gesicht der Ordensschwester und genoss das kurze Aufflackern der Angst in ihren Augen, ehe sie sich umdrehte und das Zelt verließ.

2

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Greifenheim, Freie Reichsstadt

Als Arken und Balok Greifenheim durch das Westtor betraten, war die Stadt in heller Aufregung. Der Fürstmagnat Derian zu Klingburg hatte sie als Kundschafter vorausgeschickt, um herauszufinden, was in Greifenheim passiert war, während er, seine Begleiter und Darnlorn vor der Stadt auf ihren Bericht warteten. Eine schier endlos scheinende Zahl Soldaten ergoss sich nun von Norden von der Gundranstraße herab in die Neue Stadt. Viele wiesen Wunden auf. Sie wirkten müde und erschöpft. Sie marschierten an Arken, Balok und zahlreichen neugierigen Bürgern vorbei und nahmen die Resinaldstraße nach Osten in Richtung Alte Stadt.

»Was ist passiert?«, wollte Arken von einem älteren Mann, der eine lederne Schürze trug, wissen. Ein Schmied, vermutete Arken. Er sah aus, als ob er eben noch an der Esse gestanden und alles liegen gelassen hätte, um nachzusehen, was hier vor sich ging.

Der Mann sah ihn an und erschrak, als er Arkens wertvolle Gewänder und die goldene Kette eines Magnaten mit den sieben goldenen Elementen, die um seinen Hals hing, sah. Als sein Blick auf Arkens linkes Auge fiel, dessen Pupille einerseits golden und andererseits schlitzförmig war, zuckte er gar zusammen. Nach einem Augenblick hatte er sich wieder in der Gewalt. Er senkte demütig den Blick und zuckte mit den Schultern. »Ich … Ich weiß auch nur, was man sich in den Straßen so erzählt, Her«, stotterte er verlegen. »Es heißt, der Greif wäre zurück. Stellt Euch das vor!«

»Und weshalb sind diese Soldaten dann verletzt? Sollte die Rückkehr des Greifen nicht ein Grund zur Freude sein?«

Der Schmied runzelte die Stirn. »Man erzählt sich, dass der Kaiser und die Großmeisterin des Ordens ermordet worden wären und …«

»Von wem?«

»Das weiß ich nicht, Her. Aber schaut euch um. Es herrscht Krieg. Hier in Greifenheim. Offenbar beansprucht eine fremde Frau den Thron für sich, weil der Greif sie dazu auserwählt haben soll. Dies wollte die Waage des Reiches, Herzog Kandar zu Terefan, nicht akzeptieren, weswegen er Truppen gesammelt und zum Palast geführt hat.«

»Scheint, als hätte er verloren«, brummte Balok grinsend und entblößte dabei seine braunen Zähne. Der Karhyte hatte eine einschüchternde Präsenz. Er war zwar nicht groß, dafür aber breitschultrig und kräftig gebaut, hatte eine etwas flache Nase und die schrägstehenden Augen und braungebrannte Haut, die für sein Volk typisch waren. Die leicht krummen Beine zeugten zudem vom vielen Reiten. Das etwas grobschlächtige Gesicht, das Kurzschwert und die drei Wurfmesser, die er an einem Gurt quer über der Brust trug, verliehen ihm ein martialisches Aussehen.

Der Schmied nickte und warf dem Karhyten einen ängstlichen Blick zu. »Ich wollte wie viele andere zum Hügel, um mir den Greifen anzusehen, doch sie lassen im Moment niemanden durch das Nordtor – außer den Soldaten.«

»Wie sieht’s mit dem Hügeltor aus? Ist dieses auch gesperrt?«

Der Mann zuckte mit den Schultern.

Arken dankte ihm und der Schmied beeilte sich, weiterzugehen, nicht ohne Arkens Auge noch einen letzten Blick zuzuwerfen – eine Mischung aus Neugier und Abscheu. Für Arken war es immer noch ungewohnt, ohne Augenklappe zu reisen und aufzutreten. Natürlich war seine Sicht nun viel besser und umfassender, doch die neugierigen und teils angewiderten Blicke, die ihm die Leute zuwarfen, wenn sie seine goldene, schlitzförmige Pupille sahen, waren ihm unangenehm.

Das Auge eines Ghandar und des Altadels – der Versuch seines Vaters, den Goldaugen Langlebigkeit zu verleihen. Ob dieser Versuch von Erfolg gekrönt war, würde er erst in vielen Jahren erfahren – wenn er überhaupt so lange überlebte.

Sie verließen Greifenheim wieder durch das Westtor und marschierten den Stadtmauern entlang nach Norden. Sie waren nicht die Einzigen, die auf diese Idee gekommen waren. Mehrere Dutzend Einwohner versuchten wie sie, das Nordtor so zu umgehen und über das Hügeltor Zugang zum Hügel zu erhalten.

»Hadran und Hara tot?« Arken schüttelte ungläubig den Kopf und strich sich dann die halblangen, dunkelbraunen Haare aus der Stirn. »Das ist die beste Nachricht seit Langem. Die zwei mächtigsten Köpfe des Reiches, die beide meinen Tod wollten, sind nicht mehr.«

»Mag sein«, sagte Balok, »doch was ist mit dem Greif? Wir verbreiten überall die Nachricht, dass der Greif kein Gott, sondern menschengemacht ist, und nun ist er zurück? Nun wird uns erst recht niemand mehr glauben.«

Arken kratzte sich an der Narbe auf seiner rechten Wange. »Dafür gibt’s eigentlich nur eine Erklärung: Vidal muss die Kopien der Bücher, die er uns gestohlen hat, dem Orden gegeben haben, und irgendwie hat dieser es geschafft, einen neuen Greifen zu züchten. Doch wer hat dies vollbracht? Sie müssen über einen oder mehrere mächtige Wirker verfügen.«

Bald sahen sie vor sich das Hügeltor aufragen, welches das nördliche Ende der Stadt markierte. Zu Arkens Erleichterung war das Tor zwar bewacht, stand aber den Leuten zur Durchquerung offen. Sie folgten den Massen, die sich die Gundranstraße zum Greifenpalast hinunterdrängten. Von dort stieg immer noch Rauch in den Himmel hinauf. Vom Greifen war jedoch nichts mehr zu sehen. Arken führte Balok zum südlichen Tor des Palastes. Auch davor gab es zahlreiche Leute, die einen Blick ins Innere des Palastgeländes erhaschen wollten, jedoch einen respektvollen Abstand zum Tor einhielten. Dieses bot einen erbärmlichen Anblick. Es war aufgebrochen worden. Ein Flügel lag zerborsten am Boden, während der andere oben aus der Angel gerissen, unten jedoch noch mit der Mauer verbunden war und nun schief herabhing. Der Boden davor war vor Blut rot gesprenkelt. Hinter dem zerborstenen Tor standen Soldaten in Reih und Glied und versperrten die Sicht auf den Innenhof, von wo immer noch Rauch in den Himmel aufstieg. Eines oder mehrere Gebäude auf dem Palastgelände mussten gebrannt haben.

»Wahnsinn«, hörte Arken einen Mann zu seiner Linken zu dessen Nachbar sagen. »Ich wohne dort drüben, ich habe ihn gesehen, den Greifen. Es gibt ihn wirklich! Er ist zurückgekehrt, um uns in der Stunde unserer Not gegen die Narsing beizustehen. Genau so, wie es vorausgesagt wurde!«

»Was ist hier passiert?«, fragte Arken den Mann, einen grauhaarigen, der reichen Kleidung nach wohlhabenden Mann mit dickem Bauch. Dieser drehte sich zu Arken um und musterte ihn einen Moment lang von Kopf bis Fuß. Das wertvolle rote Seidenhemd, die blütenweiße Jacke, die mit goldenen Borten verziert war, die goldene Kette und der mit Schaffell gefütterte schwarze Umhang schienen ihm zu imponieren, denn als er antwortete, tat er es unterwürfig. »Sie haben gekämpft, Her. Greifenheimer gegen Greifenheimer. Bruderkrieg. Unglaublich. Anstatt gemeinsam gegen den Feind zu ziehen, zerfleischen sie sich gegenseitig.«

»Hier draußen oder dort drinnen?«

»Beides. Das Tor war verschlossen, als die Truppen von Kandar hier ankamen. Sie haben es aufgebrochen und ein erbitterter Kampf darum begann. Kandars Truppen haben ihn gewonnen und sind in den Hof geströmt. Sie müssen mehrere Gebäude angezündet haben, denn ich sah, wie hohe Flammen in den Himmel schossen. Dann kam der Greif.« Der Mann schlug unwillkürlich das Zeichen der Greifenkralle.

»Und was hat der Greif gemacht?«

»Nun, ich sehe ja nicht über die Mauer«, meinte der dicke Mann, »aber ich habe ihn mehrmals aufsteigen und wieder herabstoßen sehen, jedes Mal begleitet von einem Chor aus Schmerzensschreien. Und da war auch diese Musik.«

»Musik?«

»Ja. Ich habe manche sagen hören, es sei das Lied der Macht gewesen, das jemand gespielt habe. Es war …« Der Mann schauderte, »beängstigend. Die Musik war erst tief und pulsierend, steigerte sich dann aber in einen stürmischen, ohrenbetäubenden Rhythmus. Gleichzeitig aber war sie schön und erhaben. Ich habe nie zuvor sowas gehört.«

»Und dann?«

»Kandars Soldaten wurden in die Flucht geschlagen. Ich glaube, dass der Greif und die Musik – oder vielleicht auch beide – die Wende herbeigeführt haben. Plötzlich strömten die Soldaten wieder aus dem Palastgelände heraus und flohen nach Süden.«

»Und sie wurden nicht verfolgt?«

Der Mann schüttelte den Kopf und deutete nach vorne. »Seither stehen die Soldaten so dort.« Er deutete auf die Verteidiger, die wachsam die Menge musterten.

Kaum hatte der Mann fertig gesprochen, kam jedoch Bewegung in die Soldaten. Sie schritten durch das Tor und stellten sich beidseits der Straße auf. Es mussten um die hundert sein. Als sie Aufstellung genommen hatten, geschah mehrere Momente lang nichts. Dann ritten ein Dutzend Ordenskriegerinnen auf ihren gewaltigen Streitrössern aus dem Hof heraus, gefolgt von ebenso vielen Rittern. Hinter ihnen kamen rund zwanzig bewaffnete Männer ohne Uniform. Diese kleine Schar irritierte Arken, denn sie sah nicht wie ein Militärverbund aus. Nach den zwanzig Männern kamen zwei Frauen auf Pferden. Die eine war Gräfin Legarsa, die dem Rat angehörte, eine kleine, drahtige Frau Ende dreißig mit einem kantigen Gesicht. Die andere hatte Arken noch nie gesehen. Sie hatte lange, schwarze Haare und blasse Haut. Die Schminke auf ihrem Gesicht erinnerte ihn an eine Kriegsbemalung. Eine schwarze Wellenlinie durchquerte ihr Gesicht unterhalb der Augen. Sie zog sich von einem Ohr über die Nase bis hin zum anderen. Eine weitere schwarze Linie erstreckte sich von ihren Lippen bis zum Kinn herab und eine dritte Verzierung befand sich zwischen ihren Augen: Ein kompliziertes, schwarzes Muster aus Punkten, das sich bis zu ihrer Stirn hochzog. Es bestand aus kleinen, geraden Strichen und einem Kreis. Obschon die Frau nicht groß war, strahlte sie eine fast körperlich spürbare Macht aus.

»Volk von Greifenheim«, rief die schwarzhaarige Frau, als sie an ihnen vorbeiritt, »folgt uns zum Marktplatz! Dort werde ich zu euch sprechen und euch erklären, was in den letzten Stunden vorgefallen ist.« Ihre Stimme war ungewöhnlich tief und hatte einen rauen Beiklang. Trotzdem klang sie nicht unangenehm. Sie hatte etwas Verführerisches, fand Arken. Weitere Soldaten kamen hinter den Frauen aus dem Park heraus und schlossen sich dem Zug an. Als der Letzte sich auf den Weg nach Süden gemacht hatte, kam auch in die Menge beidseits der Straße Bewegung. Ausnahmslos schloss sie sich dem Zug an.

»Wer die Frau wohl sein mag?«, sinnierte Arken und strich sich nachdenklich durch den kurzen Vollbart, als er neben Balok der Menge folgte. »Sie hatte etwas an sich … Sie strahlte Macht aus, mit jeder Faser ihres Körpers. Hast du das auch gespürt?«

Balok zuckte mit den Schultern. »Auf Balok wirkte sie eher krank. Viel zu dünn und zu blass. Keine Frau, auf der man liegen kann, ohne dass sie zerbricht.«

Arken schüttelte den Kopf und lachte. »Ich glaube kaum, dass sie einen hässlichen Burschen wie dich auf sich liegen lassen würde.«

»Balok ist nicht hässlich. Als Balok Bannerträger von Graknilla wurde, wollten die Mädchen scharenweise mit ihm die Bettstadt teilen.«

»Scharenweise, hm? Wie viele sind das?«

»So viele, wie des Nachts Sterne am Himmel zu sehen sind.«

Arken lachte. »Und du hast sie alle bestiegen?«

»Alle, bis auf eine.« Baloks Stimme wurde melancholisch und Arken runzelte die Stirn. »Grehnhil – der Stern des Südens. Balok hätte alle anderen gegen sie eingetauscht.«

»Doch sie wollte nicht«, stellte Arken fest.

Balok schüttelte den Kopf. »Nein, sie wollte nicht.«

»Wer war sie?«

Balok lachte. »Niemand. Die Tochter eines armen Schafhirten. Balok hat bei der Tochter des Stammeshäuptlings gelegen, doch Grehnhil … Sie wollte nicht. Dabei hätte Balok sie geheiratet.«

»Doch sie wollte nicht.«

»Nein, sie wollte nicht. Obschon Balok Bannerträger war und jede hätte haben können.«

»Außer ihr.«

»Außer ihr. Sie hat was von Liebe gesagt.« Balok spuckte aus. »Seither mag Balok das Wort nicht mehr hören.«

»Wieso hast du sie ›Stern des Südens‹ genannt? Die Tochter eines Schafhirten?«

Balok lächelte dünn. »Balok hat sie so genannt, weil sie strahlte wie ein Stern und Baloks Augen zum Funkeln gebracht hat. Bis sie nein sagte.«

Sie passierten das Nordtor, vor dem sich eine große Menschenmenge versammelt hatte. Arken hatte erst befürchtet, dass sich Kandars Soldaten vielleicht beim Nordtor gesammelt hatten, um den Kampf fortzusetzen, doch offenbar hatten sie sich noch weiter zurückgezogen, denn es waren keine kriegerischen Handlungen auszumachen. Die dunkelhaarige Frau sprach die gleichen Worte zur Menge wie zuvor vor dem Greifenpalast und setzte ihren Weg fort. Als sie den Marktplatz endlich erreichten, folgten Tausende dem Zug. Rund um den Platz hatten sich Hunderte Soldaten bereits in Kampfformation aufgestellt. Arken und Balok strömten mit der Menge auf den Platz. Arken hatte gedacht, dass es schwierig werden würde, nach vorne zu gelangen, doch die Leute wichen ehrfürchtig vor ihm zurück, kaum wurden sie seiner reichen Kleidung gewahr. Dreißig Schritt vom östlichen Ende entfernt hielten er und Balok inne. Die Frau stand auf einem Podest und sah in ihre Richtung. Sie schien zu warten, bis alle Neugierigen sich versammelt hatten, denn immer noch strömten mehr Menschen auf den Platz, der bald aus allen Nähten zu platzen schien.

»Volk von Greifenheim«, erhob die blasse Frau mit der Gesichtsbemalung schließlich ihre Stimme. Und obschon sie klein, zierlich und zerbrechlich wirkte, tönte ihre Stimme laut und voll über den Platz. Neben ihr standen Gräfin Legarsa, ein unscheinbarer Mann mit nur einer Hand und …

Arken erstarrte. Das Gesicht der riesigen Ordensschwester mit der roten Narbe auf der Stirn, die neben der Sturmkönigin stand, kannte er nur zu gut: Fra Thakra, das Sakrale Schwert, die Frau, die seine geliebte Arla kaltblütig umgebracht hatte. Die Frau, die seit mehreren Monden Jagd auf ihn und seine Gefährten machte. Arken schluckte schwer.

»Ihr fragt euch, was in den letzten Stunden geschehen ist. Ihr fragt euch, wer diese Frau ist, die nun zu euch spricht, und ihr fragt euch, was es mit dem Gerücht auf sich hat, der Greif sei zurückgekehrt. Ich stehe hier, um euch Antworten auf all diese Fragen zu geben.«

Zustimmendes und erwartungsvolles Gemurmel ertönte rundherum.

»Ich bin Dradeira, die Sturmkönigin. Ich bin zu euch gesandt worden in stürmischen Zeiten, um das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse wiederherzustellen. Wie ihr alle wisst, sind die Narsing in unsere Lande eingefallen und sie führen Wirker mit sich. Wirker, denen wir nichts entgegenzusetzen haben, denn wenn es Wirker unter uns geben sollte, so werden sich diese hüten, sich zu offenbaren, denn das Gesetz des Greifen ächtet sie seit Hunderten von Jahren. Doch nun ist etwas eingetreten, was niemand voraussehen und sich doch alle herbeigewünscht haben.« Sie hielt inne und blickte gen Norden in den Himmel. Arken folgte ihrem Blick. Erst konnte er nichts erkennen, denn jenseits des Marktplatzes ragten hohe Häuser und dahinter die Nordmauer in die Höhe und verwehrten eine weite Sicht. Doch dann tauchte über der Nordmauer ein großer Umriss auf, der rasch näher kam und immer größer wurde. Es war ein Tier, erkannte Arken, doch für einen Vogel war es viel zu groß und massig. Als es näher kam, erkannte Arken die gewaltigen Schwingen, die das Wesen mit jedem kräftigen Flügelschlag mehrere Schritt nach vorne trieb. Der Rumpf und die Hinterbeine waren die eines Löwen, mit zottigem Fell behaart, die Vorderklauen und der Kopf gehörten einem Adler. Schreie gellten über den Platz, als das Wesen darüber flog. Die Menschen fielen auf die Knie, hoben die Arme zum Himmel und senkten die Köpfe. Arken hörte Leute vor Glück weinen, einige beteten, andere starrten stumm zum Himmel empor, an dem der Greif seine majestätischen Kreise zog, ehe er neben Dradeira auf dem Podest landete, das unter seinem Gewicht erzitterte.

Die Sturmkönigin schritt zum Greifen, legte diesem ihre Hand auf den Kopf und neigte vorsichtig ihr Gesicht nach vorne. Der Greif schien den Gruß zu erwidern, denn auch er neigte den Kopf, so dass ihre Stirnen sich einen Moment lang berührten. Das Publikum jubelte, während der Greif seinen Kopf wieder wandte und in die Menge sah. Jetzt erst, als er neben Dradeira stand, sah man die gewaltigen Ausmaße seines Körpers. Seine Schultern befanden sich auf der Höhe von ihrem Kopf.

»Der Greif ist zurückgekehrt!«, rief die Sturmkönigin und wieder brach das Volk in Jubel aus. »In der Stunde unserer größten Not! Er wird uns beistehen im Kampf gegen die Narsing, so wie er es vor über vierhundert Jahren im Kampf gegen das Werseidische Imperium getan hat.« Wieder brandete Jubel auf, doch längst hingen alle gebannt an Dradeiras Lippen, weswegen es rasch wieder ruhig wurde, als sie die Arme hob. »Als der Greif gestern nach Greifenheim kam, war er über die Zustände, die im Palast herrschten, entsetzt. Ein Kaiser saß auf dem Thron, der seine beiden Vorgänger ermordet hatte, und eine Großmeisterin stand seinem heiligen Orden vor, die ihre eigenen Interessen demjenigen des Ordens längst vorangestellt hatte. Die beiden wollten den Greifen eliminieren, da sie fürchteten, er würde ihre Macht beschneiden. Der Greif hielt Gericht über sie und entschied, dass ihre Leben verwirkt wären, weswegen Kaiser Hadran heute nicht mehr vor euch stehen kann.«

Nun trat Gräfin Legarsa vor und erhob ihre Stimme. Diese war nicht so laut wie diejenige der Sturmkönigin, weswegen Arken sich konzentrieren musste, um alles zu verstehen.

»Nach dem Tod des Kaisers und der Großmeisterin verblieben nurmehr drei Ratsmitglieder in Greifenheim. Herzog Kandar zu Terefan wollte daraufhin die Macht im Reich übernehmen, bis ein neuer Kaiser gewählt wäre, doch der Greif entschied anders. Er wählte die Sturmkönigin zur neuen Herrscherin über die Kaiserlande, bis dass ein neuer Kaiser gewählt wäre. Er erwählte die Sturmkönigin, weil sie sein Sprachrohr gegenüber den Menschen ist. Dies hat Herzog Kandar jedoch nicht gefallen. Er hat Truppen gesammelt und sie zum Sturm auf den Greifenpalast geführt, wo er eine schmähliche Niederlage erlitten hat.«

Das Volk begann zu buhen und Dradeira ließ sie einen Moment gewähren, ehe sie erneut die Hand hob und wieder zu sprechen begann, während Gräfin Legarsa zurücktrat.

»Alles ist im Wandel, nichts in Stein gemeißelt«, fuhr sie fort. »Als der Greif vor über vierhundert Jahren unter uns weilte, sah die Welt noch anders aus. Zum Wohle der Menschheit untersagte er den Menschen das Wirken der Macht. Doch heute hat mir der Greif klargemacht, dass dieses Gesetz nicht mehr länger gelten soll, nicht mehr länger gelten darf, will das Darische Volk eine Chance im Kampf gegen die Narsing haben. Deswegen hebt der Greif die siebte Lehre auf. Das Wirken der Macht ist nicht länger verboten.«

Einen Moment lang war es still auf dem Platz. Dann brachen die Dämme, als alle gleichzeitig zu reden und diese Erkenntnis zu diskutieren begannen. Die Sturmkönigin ließ sie einen Moment gewähren, ehe sie die Arme hob. Dieses Mal dauerte es länger, bis es still wurde.

»Als Vertreterin des Greifen und des Kaisers rufe ich, die Sturmkönigin, hiermit alle Wirker des Reiches auf, sich bei mir im Palast in Greifenheim zu melden. Wir brauchen euch im Kampf gegen die Narsing und ich verspreche euch, ihr werdet nicht länger gejagt, sondern für eure Dienste fürstlich belohnt werden.«

»Wer sagt uns, dass das alles auch wirklich stimmt?«, rief ein Mann aus dem Publikum. »Was, wenn es eine Falle ist, um alle übrigen Wirker einzufangen und ein für alle Mal auszulöschen?«

Die Sturmkönigin lächelte. Dann schloss sie die Augen für einen kurzen Moment. Als sie sie wieder öffnete, war jegliche Farbe daraus verschwunden. Ein Raunen ging durch das Publikum, doch es wurde beinahe umgehend von Musik erstickt, als die Sturmkönigin ihre Hände zu bewegen begann. Es war eine leichte, liebliche Melodie, die von der Sturmkönigin auszugehen und in den Himmel zu steigen schien. Beschwingt und tänzerisch schaukelten sich die Klänge gegenseitig immer weiter in die Höhe, schienen sich vergnügt und schimmernd zu umkreisen.

Und dann begann es zu schneien. Erst waren es nur vereinzelte kleine Flöckchen, dann fielen immer mehr in immer kürzerem Abstand. Große, schwere Flocken. Wieder fielen Leute auf die Knie und beteten, andere jubelten oder starrten einfach ehrfürchtig in den Himmel. Der Greif breitete seine Flügel aus und Arken konnte den Luftzug, den seine Schwingen entfachten, spüren, als er sich in den Himmel erhob und gemeinsam mit den Schneeflocken einen Tanz aufzuführen schien, ehe er immer höher stieg und schließlich aus Arkens Sicht verschwand. Die Musik verstummte, die letzten Schneeflocken fielen auf den Marktplatz herab, die Wolken verzogen sich, der Himmel wurde wieder heller und die Sonne kam zum Vorschein.

»Ich bin eine Wirkerin«, hallte die Stimme der Sturmkönigin über den Platz. Ihre Augen hatten nun wieder ihre ursprüngliche Farbe angenommen. »Woher ihr wisst, dass den Wirkern bei mir nichts geschieht? Weil ich selbst eine bin. Ich bin die Königin der Wirker und ich werde nicht zulassen, dass unter meiner Obhut auch nur ein weiterer Wirker geächtet, verbannt oder hingerichtet wird. Deswegen haben wir einen Orden gegründet, der es sich zum Ziel gemacht hat, die Wirker zu beschützen: den Herbstmädchen-Orden, dessen Vorsteher Abt Dernum ist.« Die Sturmkönigin deutete auf den einhändigen Mann, der schüchtern seine verbliebene Hand hob und ins Publikum winkte. »Die Heilige Schwesternschaft des Göttlichen Greifen wird nun, nach Fra Haras Tod, von Fra Thakra zu Arlenz angeführt, der neuen Großmeisterin des Ordens.« Sie deutete auf die Ordenskriegerin neben sich, deren Gesicht ausdruckslos wirkte. »Gemeinsam werden wir mit Hilfe des Greifen die Narsing ein für alle Mal besiegen und aus unseren Gefilden vertreiben!« Die letzten Worte schrie die Sturmkönigin und ergriff dabei die Hände von Dernum und Thakra und riss sie in die Höhe. Das Publikum begann erneut zu jubeln.

»Ich glaube, wir haben genug gesehen«, sagte Arken zu Balok und warf Fra Thakra einen letzten hasserfüllten Blick zu. »Zeit, den Fürstmagnaten hiervon in Kenntnis zu setzen.«

Balok nickte und ging ihm voraus durch die Menge nach hinten. »Balok mag die Frau ohnehin nicht. Zu dünn.«

3

Ebentes, Königreich Wehrfurt

Charkhôn Ulvjatar erinnerte sich noch gut an den Moment, als er zum ersten Mal einen Unherjàhr gesehen hatte. Es war im Hause seines Vaters, Charkhôns Mutter war krank gewesen. Sie hatte hohes Fieber und Wahnvorstellungen gehabt. Charkhôn hatte an ihrer Seite gesessen und gehofft und gebetet, dass sie die Krankheit überstehen möge. Doch sie war immer schwächer geworden. Als der dritte Tag ihres Fiebers sich dem Ende zuneigte, betrat Charkhôns Vater Ulvjand Grondjatar zusammen mit einem alten, dürren Mann das Haus. Zu Charkhôns Entsetzen hatte der Mann keine Augen. An ihrer Stelle klafften zwei große, schwarze Löcher. Sein Kopf war völlig kahl und sein Mund zahnlos. Ein kalter Schauer fuhr Charkhôn über den Rücken und am liebsten wäre er schreiend davongerannt. Vater führte den Mann an das Krankenbett und bedeutete Charkhôn mit einer wedelnden Geste seiner Hand zurückzuweichen, was dieser nur zu gerne tat. Ulvjand führte die Hand des Alten zum Gesicht von Charkhôns Mutter. Die knochigen Finger tasteten einen Moment über das schweißnasse Gesicht der kranken Frau, ehe sie sich zurückzogen und komplizierte Gesten und Muster in der Luft zu vollführen begannen. Unmittelbar darauf erklang eine Musik in dem Haus. Sie war schleppend und dumpf, gleichzeitig aber warm und tröstend. Geheimnisvoll schien sie über seine Mutter hinwegzufluten. Charkhôn meinte, einen glänzenden Schimmer zu sehen, der sich um seine Mutter herum ausbreitete, auch wenn er sich im Nachhinein nicht mehr sicher war, ob er sich das nicht bloß eingebildet hatte. Er konnte sich nicht erklären, woher die Musik kam. Erst später erklärte sein Vater ihm das Wesen der Macht und der Unherjàhr, die ihre Kraft aus der Essenz der vier Elemente bezogen. Ungläubig sah Charkhôn zu, wie die Musik seine Mutter wieder gesundzumachen schien. Wie durch ein Wunder nahm ihr Gesicht wieder Farbe an und ihr Atem beruhigte sich. Schließlich senkte der alte Mann seine Arme und die Musik erstarb. Ulvjand wechselte einige gedämpfte Worte mit dem Alten, überreichte ihm einen klirrenden Beutel und begleitete ihn dann hinaus. Charkhôn sah ihnen nach, bis sie das Haus verlassen hatten, ehe er ans Bett seiner Mutter trat und ihr die Hand auf die Stirn legte. Die Hitze war verschwunden, sie fühlte sich ganz normal an und wenige Augenblicke danach öffnete seine Mutter die Augen und lächelte ihn an.

Der Unherjàhr hatte sie geheilt. Zumindest vorübergehend.

Zwei Wochen später war das Fieber schlagartig zurückgekommen. Vater hatte Charkhôn aufgetragen, über seine Mutter zu wachen, er selbst werde den Unherjàhr holen. Wie er Charkhôn erklärte, lebte dieser in einem Dorf drei Stunden südlich ihrer Heimat. Doch als Ulvjand mit dem Unherjàhr zurückkam, war seine Mutter bereits tot. Charkhôns Vater war außer sich vor Wut und Trauer. Er beschuldigte den Unherjàhr, sie nicht gänzlich geheilt zu haben. Dieser zuckte mit den Schultern und sagte mit seiner leisen, hohen Stimme, dass die Krankheit zurückgekommen sei und er Ulvjand darauf hingewiesen habe, dass dies geschehen könne. Doch Ulvjands Sinne waren so von Trauer und Wut umwölkt, dass er seinen Dolch zog und ihn dem Unherjàhr in den Bauch rammte.

Charkhôn konnte sich noch gut an den verblüfften, japsenden Laut erinnern, den der Unherjàhr von sich gegeben hatte, ehe er blutend zusammengebrochen war. Erst viel später sollte Charkhôn erfahren, dass sein Vater damals eine ungeheuerliche Tat begangen hatte, denn die Zahl der Unherjàhr im Volk der Narsing war äußerst klein und dementsprechend wertvoll waren sie und ihr Können.

Charkhôn hatte seinen Vater einmal gefragt, warum eigentlich nicht die Unherjàhr als Wendhàr herrschen würden, wenn sie doch so mächtig waren.

»Das dürfen sie nicht, Sohn«, hatte Ulvjand geantwortet. »Wenn ein Narsing für würdig und talentiert genug befunden wird, ein Unherjàhr zu werden, so muss er beim Zirkel schwören, dem Volk ein Diener zu sein und seine Macht nie gegen andere Narsing einzusetzen. Und er muss allen Machtansprüchen abschwören.«

»Warum?«

»Vor vielen hundert Jahren, bevor man den GùrdUnherjàhr einführte, den Schwur der Unherjàhr, gab es einen Unherjàhr, der sich zum Wendhàr aufschwang. Lerkhôn Borgjatar war sein Name. Seine Macht war so groß, dass er die anderen Reiche der Narsing überrollte und mit Tod und Zerstörung überzog.«

»Aber das tun wir doch auch hin und wieder«, wandte Charkhôn ein.

Ulvjand nickte. »Ja, doch Lerkhôn Borgjatar tötete nicht nur Tausende Narsing, sondern verheerte auch das Land. Ganze Landstriche wurden durch seine Macht verbrannt, unfruchtbar gemacht oder überflutet. Schlussendlich wandten sich seine eigenen Leute gegen ihn und stürzten ihn. Daraufhin wurde der GùrdUnherjàhr eingeführt, um zu verhindern, dass sich etwas Ähnliches wiederholen konnte.«

Charkhôn hatte noch einige andere Unherjàhr kennengelernt. Gharnâg zum Beispiel, dem sein Wendhàr beide Arme hatte abgeschlagen lassen, weil er darin versagt hatte, dessen Tochter vor dem Tod zu bewahren. Der alte, armlose Gharnâg, den er zunächst in Grimmburg als Befehlshaber zurückgelassen hatte, war im Tunnel ertrunken, nachdem die verfluchten Kaiserlichen ihn geflutet hatten. Oder Herkhân Tronjatar, der bei der Schlacht vor dem Großen Maulwurf von dem Roten Grafen erschlagen worden war.

Doch nie wieder hatte er dieses panikartige Gefühl verspürt wie beim Anblick des alten, augenlosen Mannes.

Bis heute.

Als der junge Mann mit den langen, roten Haaren über den Bootsrand ins Wasser sprang und lächelnd auf ihn und den anderen Harkhùn, Temmerhân Hammerhand, zukam, sträubten sich Charkhôn die Haare auf seinen Unterarmen. Kurz umschlossen seine Finger den hölzernen, stachligen Kreis, der an einem Lederband um seinen Hals hing – das Zeichen des Zirkels. Er hatte gehofft, dass die Wendhàr ihm neue Unherjàhr schicken würden, doch er hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihm den Fernjatar schicken würden, den Sohn des Feuers. Zwar hatte Charkhôn ihn noch nie persönlich getroffen, doch schon viel von ihm gehört. Und die Beschreibungen über sein Äußeres ließen keinen Zweifel zu. Der Fernjatar, der eigentlich auf den Namen Krenharr Tornjatar hörte, war der Unherjàhr aus Kuornjàn und er war gekommen, um die Saat der Verheerung über den neuen Kontinent zu bringen. Der junge Mann trug einen schmalen Oberlippenbart und wäre wohl als gutaussehend zu bezeichnen gewesen, wären die vielen Brandwunden nicht gewesen, die sein Gesicht bedeckten. Seltsamerweise waren aber weder die Augen noch die Region seines Oberlippenbarts davon betroffen. Wangen, Stirn und Kinn jedoch waren eine einzige hässliche, zerfurchte und dunkelrote Kraterlandschaft.

Auch Temmerhân neben ihm seufzte. »Ausgerechnet den haben sie uns geschickt«, grollte er. Der Harkhùn, den die Wendhàr geschickt hatten, um Charkhôn zu überwachen, war ein Bär von einem Mann. Er hatte einen blonden Vollbart und lange Haare in derselben Farbe. Er war gut zwei Köpfe größer als Charkhôn und hatte Arme, die so dick wie Charkhôns Oberschenkel waren.

»Kennst du ihn?«, wollte Charkhôn wissen.

Temmerhân schüttelte den Kopf. »Nicht persönlich. Aber ich habe schon viel von ihm gehört. Da war nicht viel Gutes dabei.«

»Brüder!« Krenharr breitete die Arme aus und schloss erst Charkhôn, dann den verdutzten Temmerhân in die Arme. Dann löste er sich, bückte sich und nahm eine Handvoll Gestein in die Hand, ehe er es wieder zu Boden rieseln ließ. »Das Land scheint hier nicht anders zu sein als bei uns«, meinte er. »Stein, Sand, Dünen. Ich dachte, vielleicht gibt’s hier grüne Steine, rotes Wasser und blaue Bäume.« Er lachte. »Doch offenbar ist dem nicht so. Sind wenigstens die Weiber außergewöhnlich?«

Charkhôn runzelte die Stirn und sah an Krenharr vorbei auf die See. Ein Wald aus Masten türmte sich vor ihm auf. Es mussten weit über hundert Schiffe sein. Sein Blick schweifte zu den ersten Booten, die nun an Land gezogen wurden. Es waren mehrere Dutzend und die meisten hatten Käfige an Bord. Charkhôn nickte zufrieden. Neue Truchan, Todesechsen, für seine Armee. Krenharr schien sein Nicken misszuverstehen, denn er begann zu lachen. »Ich wusste es. Haben sie vier Arme, so dass sie uns besser verwöhnen können?«

Charkhôn schüttelte seufzend den Kopf. »Wie viele Männer bringst du uns?«

Krenharr zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, es sind 10 000.«

Charkhôn zog überrascht die Augenbrauen hoch. »So viele? Das ist gut. Und bist du der einzige Unherjàhr oder haben die Wendhàr noch andere geschickt?«

»Ich bin der einzige, den ihr brauchen werdet«, sagte Krenharr selbstbewusst und ging an ihnen vorbei in Richtung des Lagers.

Temmerhân sah ihm stirnrunzelnd nach. »Der hat uns gerade noch gefehlt.«

»Das dachte ich schon, als du angekommen bist«, sagte Charkhôn knurrend. »Aber das beweist, dass es immer noch schlimmer werden kann.«

Temmerhân lachte, dann wurde er wieder ernst. »Das nehme ich als Kompliment, auch wenn es nicht so gedacht war.«

»Geh dem Unherjàhr nach und sorge dafür, dass er nicht unser Lager abfackelt. Ich werde mal eine Bestandsaufnahme unserer neuen Haustiere machen.«

4

Erdar, Königreich Wehrfurt

Die vier Heerführer hoben ihre Becher und prosteten Rune zu, als sie das Kommandozelt betrat, wo die Versammlung abgehalten wurde.

»Auf den Seekönig!«, rief Her Tundar und drei weitere fielen in seinen Ruf ein. Rune entging der finstere Blick Fra Therasensias nicht, die ebenfalls am Tisch saß. Sie und ein langhaariger Mann mit hochmütigen Augen waren als Einzige sitzen geblieben und machten keine Anstalten, sie in irgendeiner Form zu begrüßen. Doch von Fra Therasensia hatte Rune das auch nicht erwartet.

Sie nickte dankend und setzte sich dann auf den ihr zugewiesenen Stuhl in dem ehemaligen Zelt Penumbras, des verstorbenen Kriegsherrn. Neben Fra Therasensia waren die fünf weiteren Befehlshaber des kaiserlichen Heeres anwesend: Tundar zu Weissenberg, ein Verwandter Penumbras, ein hagerer, glattrasierter Mann mittleren Alters mit grauen Haaren, dessen Augen stets wachsam blickten, Grahorn zu Terefan, ein bulliger Mann mit breiten Oberarmen und einem langen, braunen Schnauz, der ihm bis auf die Brust fiel, Caradunn zu Wehrfuhrt, ein langhaariger, hochgewachsener Krieger mit kalten und hochmütigen Augen, Letil zu Trinsfelden, ein blutjunger, schlaksiger Adliger, der nicht so aussah, als wüsste er, ein Schwert zu schwingen, und Ulle zu Hornheim, ein Hüne von einem Mann mit einem gutmütigen Gesicht.

Einen Moment lang war es ruhig in dem Zelt. Alle sahen Rune erwartungsvoll an. Schließlich räusperte sich Ulle und meinte: »Nun, also, unser Kriegsherr ist gefallen. Das Heer braucht einen neuen Oberkommandanten.« Erwartungsvoll sah er Rune an. Diese runzelte die Stirn.

»Wer von euch war sein Stellvertreter?«, wollte sie wissen.

»Ich bin sein Stellvertreter«, sagte Letil.

»Dann scheint mir die Sache klar zu sein«, meinte sie. »Der Stellvertreter sollte der neue Oberkommandierende werden. Ihr braucht also bloß einen neuen Stellvertreter und womöglich einen neuen Kommandanten für dessen Abteilung zu benennen.«

Die Männer sahen zu Letil hinüber, der betreten den Blick senkte. »Ich …«, begann der junge Mann und Rune sah, wie er rot wurde, »ich … bin nicht dazu geeignet, dieses Heer anzuführen. Ich …« Er brach ab und Rune sah, wie unangenehm ihm dieses Eingeständnis sein musste.

»Was er damit sagen will«, meldete sich Caradunn mit schneidender Stimme zu Wort, »ist, dass er nur seiner adligen Abstammung wegen zu dieser Position gekommen ist. Und da er aus freien Stücken darauf verzichtet, diese Armee anzuführen, bis der Kaiser einen neuen Kriegsherrn ernannt hat, muss jemand anderes Oberbefehlshaber werden.«

»Wir dachten dabei an Euch«, sagte Ulle, doch Caradunn schnaubte verächtlich.

»Sprecht für Euch, Ulle, und nicht im Namen aller Anwesenden«, sagte der langhaarige Kommandant.

Ulle wandte den Kopf und sah Caradunn an. »Ich bin nicht der Einzige, der so denkt. Seid Ihr etwa der Meinung, Ihr wärt besser dafür geeignet, Caradunn?«

»Besser als eine Frau?« Caradunn schüttelte verächtlich den Kopf, was Fra Therasensia aufhorchen ließ.

»Hütet Eure Zunge, Her Caradunn«, schnaubte sie, »sonst lasse ich Sie Euch abschneiden.«

Caradunn wurde bleich und hob abwehrend die Hände. »Entschuldigt, Fra, das sollte nicht despektierlich Euch gegenüber sein. Der Orden bildet natürlich eine Ausnahme, doch noch nie zuvor hat eine Frau das kaiserliche Heer angeführt.«

Therasensia winkte ab. »Euch sei verziehen und Ihr habt Recht. Rune ist dafür ebenso wenig geeignet wie dieser Lack­affe da.« Sie deutete auf Letil, der bei ihren Worten noch einen Kopf kleiner wurde. »Und leider komme auch ich nicht infrage. Nicht weil ich eine Frau bin, sondern weil der Orden und die Armee seit jeher strikt getrennt werden. Doch wenn ihr meinen Ratschlag hören wollt, so würde ich vorschlagen, Caradunn zum Befehlshaber zu ernennen. Er stammt aus dieser Gegend. Er kennt die Leute sowie die geographischen Gegebenheiten am besten.«

»Der Seekönig hat die Narsing zweimal besiegt«, erwiderte Ulle, ohne auf Therasensias Vorschlag einzugehen. »Wir sind der Meinung, dass er diese Armee sehr wohl so lange anführen könnte, bis der Kaiser einen neuen Kriegsherrn entsendet hat.«

»Wir? Wer ist wir?«, wollte Caradunn wissen.

»Grahorn und ich«, antwortete Ulle. Grahorn nickte bekräftigend.

Caradunn kniff die Augen zusammen und sah zu Tundar hinüber. »Und Ihr?«

Tundar zuckte mit den Schultern. »Ich denke, sie wäre eine gute Wahl. Wir alle wissen, dass in Wahrheit nicht Penumbra, sondern sie«, dabei deutete er auf Rune, »den Angriff im Tunnel zu verantworten hat. Sie hat bewiesen, dass sie die Armee führen kann.«

»Sie ist keine Befehlshaberin der kaiserlichen Armee«, wandte Therasensia ein, »zudem ist sie eine vom Orden verurteilte und flüchtige Verräterin.«

Ein Raunen ging durch die Reihen der Männer.

»Ist das wahr?«, wollte Grahorn von Rune wissen.