Große Erwartungen - Geert Mak - E-Book
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Große Erwartungen E-Book

Geert Mak

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Beschreibung

Die brillante Chronik eines Kontinents: das neue Buch von Bestsellerautor Geert Mak. Ausgezeichnet als „Das politische Buch 2022“

Von den Küsten Lampedusas bis zu den Schlachtfeldern der Ukraine, vom störrischen Katalonien bis zu den muslimischen Vororten Kopenhagens: Unser Kontinent ist zum Zerreißen gespannt. Was ist, dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, aus dem alten europäischen Traum – Frieden, Freiheit und Wohlstand – geworden, der immer mehr zum Albtraum wird? Geert Mak, der geniale Erzähler unter den Historikern unserer Zeit, schrieb 2005 mit seinem Buch »In Europa«, einen Klassiker. Wo aber stehen wir heute, knapp zwanzig Jahre später? Wie keinem Zweiten gelingt es Mak, in zahllosen Geschichten das fragile Wesen Europas zu ergründen. Und den Menschen dieses Kontinents eine Stimme zu verleihen.

Ausgezeichnet als „Politisches Buch des Jahres 2022“ der Friedrich-Ebert-Stiftung.

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Seitenzahl: 1024

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Buch

Von den Küsten Lampedusas bis zu Putins Moskau, vom störrischen Katalonien bis zu den muslimischen Vororten Kopenhagens: Unser Kontinent ist zum Zerreißen gespannt. Was ist, dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, aus dem alten europäischen Traum – Frieden, Freiheit und Wohlstand – geworden, der immer mehr zum Albtraum wird? Geert Mak, der geniale Erzähler unter den Historikern unserer Zeit, schrieb 2005 mit seinem Buch »In Europa« einen Klassiker – ein Reisebericht, zugleich die Bestandsaufnahme Europas am Ende eines katastrophenreichen Jahrhunderts, samt all der Euphorie zu Beginn des neuen Millenniums. Wo stehen wir heute, zwanzig Jahre später? Was ist aus den großen Erwartungen geworden? Wie keinem Zweiten gelingt es Mak, das fragile Wesen Europas zu ergründen, es in zahllosen Geschichten sichtbar und sinnlich wahrnehmbar zu machen. Und den Menschen dieses Kontinents eine Stimme zu verleihen.

Autor

Geert Mak, geboren 1946, ist einer der bekanntesten Publizisten der Niederlande und gehört zu den wichtigsten Sachbuchautoren des Landes. Zu seinen bekanntesten Veröffentlichungen zählen »Amsterdam« (1997), »Das Jahrhundert meines Vaters« (2003) und »In Europa« (2005). Zuletzt erschienen »Amerika! Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten« (2013) sowie »Die vielen Leben des Jan Six« (2016). Für sein Werk erhielt Geert Mak 2008 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Seine Bücher sind internationale Bestseller und wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

Geert Mak

Große Erwartungen

AUF DEN SPUREN DES EUROPÄISCHEN TRAUMS (1999–2022)

Aus dem Niederländischenvon Andreas Ecke und Gregor Seferens

Pantheon

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Grote verwachtingen. In Europa 1999–2019« bei Uitgeverij Atlas Contact B. V., Amsterdam.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © dieser Ausgabe 2022 by Pantheon Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright: © Geert Mak. Lizenz vermittelt durch Bee Rights (www.beerights.com)

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe: © 2020 by Siedler Verlag, München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagabbildung: © Getty Images/Louis Koo

Lektorat: Peter Palm, Berlin

Satz: Uhl + Massopust GmbH, Aalen

Karten: Peter Palm, Berlin

ISBN 978-3-641-26328-7V004www.pantheon-verlag.de

Für Emile und Ellen

Wir kommen weit herLiebes KindUnd müssen weit gehenKeine AngstAlle sind bei DirDie vor Dir warenDeine Mutter, Dein VaterUnd alle, die vor ihnen warenWeit weit zurückAlle sind bei DirKeine AngstWir kommen weit herUnd müssen weit gehenLiebes Kind

HEINRICH BÖLL

Inhalt

Prolog – 2018

Aus dem Vollen geschöpft – 1999

Frieden – 2000

Aydin

Angst – 2001

Größe – 2004

Zahlen – 2004

Nee, non – 2005

Steven

Brothers – 2008

Anna

Wahrheit – 2010

Kostas und Efi

Solidarität – 2012

Geister der Vergangenheit – 2014

Umayya

Intermezzo I – 2019

Das gelobte Land – 2015

Wigan – 2016

Allein – 2017

Intermezzo II – 2017

Bart

Große Erwartungen – 2018–2019

Epilog

Nachwort

Literatur und Quellen

Personenregister

Prolog 2018

1

Aus der Luft sieht man eine braungraue Landschaft. Als hätte es auf dem Mond gerade einen Platzregen gegeben. Zernarbte Erde mit Tausenden Seen und Flüsschen. Sie erinnern an die Tümpel und Priele, die sich im Schlick abzeichnen, wenn das Meer sich zurückzieht, zweimal täglich, in Ewigkeit. Felsen und Flechten, tiefste Einöde.

Wir sind fast da. Ein einsamer Baum – leuchtend gelb zu Anfang des Winters. Ein grellrotes Haus. Plötzlich Fabrikgebäude, eine große Werft, eine Ansammlung von Läden und Wohnhäusern rings um einen Platz, ein paar Kräne, ein Hafen. Die Stadt. Vom Nordpolarmeer kehrt ein Trawler zurück, blau-schwarz, Königskrabben fängt man hier, riesige Schalentiere, begehrt bei den Luxusrestaurants Europas.

Der Abend naht, die Straßen sind still und leer, man hört nichts als den Wind. Nur im Rathaus brennt noch Licht und in dem großen, gelb gestrichenen russischen Konsulat mit den vergitterten Fenstern. Im Restaurant gibt es Walsteak oder Nudeln mit Rentierfleisch und Pilzen. Vor dem Eisenwarenladen am Kai steht noch die komplette Auslage, drei triefende Aluminiumleitern, kurz, lang und mittellang. Im kleinen Supermarkt besprechen zwei junge Frauen ausführlich, was sie nehmen sollen: Milchshake oder einen moderneren Drink? Heute ist ihr wöchentlicher Ausflug.

In wenigen Minuten wird das Tor an der Grenze, ein paar Kilometer von hier entfernt, für heute geschlossen. Der Soldat auf dieser Seite wird den beiden auf der anderen die Hand schütteln, wobei er höchstens 30 Zentimeter auf das fremde Territorium vordringen darf; das Ritual ist streng geregelt, um Zwischenfälle auszuschließen.

Morgen ist wieder ein Tag.

Was ich jetzt am Anfang brauche, ist Abstand. Räumlicher Abstand, aber auch zeitlicher – soweit möglich. Es hat ja etwas Widersprüchliches, die Geschichte eines Zeitabschnitts, einer Welt, deren Teil man ist, zu schreiben, während man selbst mittendrin steckt. Geschichtsschreibung ist auf Abstand angewiesen, Zeit vergehen zu lassen ist immer noch die beste Art, Überblick zu gewinnen. Eine Gestalt wie Napoleon hat erst nach Jahrzehnten ihren Platz in der europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts gefunden. Bis heute wird über die tieferen Ursachen der beiden großen Kriege des 20. Jahrhunderts diskutiert, über das Wesen und die Folgen des Kolonialismus, die eingefrorene Gewalt des Kalten Krieges, den Zusammenbruch des Sowjetimperiums im Jahr 1989. Und hier geht es nun um unsere Zeit, um diese ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts, in denen die Geschichtsfabrik wieder auf Hochtouren produziert und unsere geordnete europäische Welt des Friedens und verdienten Wohlstands erneut ins Wanken zu geraten scheint.

Vor knapp zwei Jahrzehnten habe ich ein Buch über Europa im 20. Jahrhundert geschrieben; damals habe ich im Jahr 1999 aufgehört. Es schreit geradezu nach einer Fortsetzung: Was ist beim turbulenten Start ins 21. Jahrhundert mit der europäischen Welt geschehen? Wie gern würde ich der klugen Geschichtsstudentin über die Schulter blicken, die im Jahr 2069, ein halbes Jahrhundert später, über unsere Zeit schreiben darf. Eine besonders erfreuliche Lektüre wird es nicht sein, fürchte ich, aber auf jeden Fall eine interessante. Sowohl die Vereinigten Staaten von Amerika als auch, später, die Europäische Union konnte man schließlich als große historische Projekte betrachten, als Projekte, mit denen freie Bürger den Verlauf der Geschichte selbst zu bestimmen versuchten, statt ihn passiv zu erdulden, als Projekte außerdem, deren Ursprünge in den Idealen der Aufklärung lagen, in der Idee der Menschenrechte, der Idee von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – auch internationaler Brüderlichkeit. Wie ist der Niedergang von etwas so Schönem zu erklären?

Meine junge Historikerin hat dank des zeitlichen Abstands einen guten Überblick. Ich nicht. Ich beneide sie.

2

Hier, am nördlichen Ende Europas, ist alles klar wie der Himmel. Wenn man nicht aufpasst, erfriert man. Frühling, Sommer und Herbst werden blitzschnell abgewickelt. »Der Winter dauert endlos, und zack, plötzlich ist es Sommer«, sagen die Leute hier. »Und dann, zack, ist der Sommer wieder vorbei.« Die Kälte kommt meistens im Oktober mit Schnee, der bis Mai liegen bleibt. Ende November beginnt die Polarnacht. Dann flackern Polarlichter am schwarzen Himmel, darunter gefriert alles bei 20, manchmal 30 Grad unter Null. Am 18. Januar kann man von einem der Hügel wieder die ersten Sonnenstrahlen sehen. Das wird ausgelassen gefeiert, als wäre noch einmal Weihnachten, die Schulkinder haben frei. Danach richtet sich das Leben erneut nach dem täglichen Rhythmus des Postbootes – am Hafen, auf der Werft, in den Läden, bei den Grenzposten, auf dem Flugplatz. Die übrige Zeit verbringt man im Haus. Centrum Kafé, das sprechende Herz der Stadt, schließt nachmittags um fünf.

Kirkenes hat knapp 3500 Einwohner, es ist ein Stecknadelkopf auf der Karte und doch ein geopolitischer Brennpunkt. Schon wegen seiner Lage weniger als 50 Kilometer von der russischen Grenze entfernt ist der entlegene Ort strategisch außerordentlich bedeutsam. Außerdem hat Kirkenes den nördlichsten eisfreien Hafen Europas, es liegt an der Barentssee mit ihren bedeutenden Gasfeldern – einem besonders großen im russischen Teil – und ist das Tor nach Murmansk, einem der wichtigsten Häfen Russlands. Im Polargebiet gibt es nach vorläufigen Schätzungen 13 Prozent der weltweiten Erdölreserven und 40 Prozent der Gasvorräte, dazu große Mengen an Eisen, Kupfer, Gold und anderen Mineralien. Weil die arktische Eiskappe schmilzt, stehen also zwangsläufig große Veränderungen ins Haus. Alle bereiten sich darauf vor. Gerade auf russischer Seite werden schon heute gewaltige Summen investiert, die militärischen Aktivitäten nehmen entsprechend zu.

Der Hafen von Kirkenes ist darüber hinaus von entscheidender Bedeutung für die künftige arktische Schifffahrtsroute von Asien nach Europa, der Alternative zur Route über den Sueskanal. Der Bürgermeister sieht seine Stadt schon als nordeuropäisches Singapur: »Ich habe hier jede Woche eine chinesische Delegation zu Besuch.« Der Chefredakteur der örtlichen Internetzeitung, Thomas Nilsen, bezeichnet Kirkenes lieber als »das Zentrum der Peripherie Europas«. Für ihn ist es vor allem eine Art Testlabor, besonders für das Verhältnis zwischen Russland und Europa. »Alle Veränderungen spüren wir hier zuerst, viel früher als die Menschen in Berlin, Washington oder Moskau.«

Ich bin heute mit einem Kameramann unterwegs. Meine Europareise von 1999 hatte ein zweites Leben als Fernsehserie des niederländischen Senders VPRO geschenkt bekommen – wobei das Buch und die Serie zwei völlig verschiedene Projekte blieben. Jetzt fangen wir noch einmal von vorn an, und diesmal arbeiten wir schon in einem frühen Stadium zusammen. Die Zeit drängt.

Wir gehen am Hafen entlang. Der Trawler, die Salacgriva, kommt aus Murmansk. Aus der Nähe erweist sich das Schiff mit seinem triefenden Gewirr von Trossen, den Kränen, Auslegern und Krabbenkurren als schwimmende Fabrik. Die Männer, schweigsam unter dicken Kapuzen, von einem Dasein auf See gezeichnet wie ihr Schiff und ihre Netze, sitzen in der Ecke eines Schuppens, bis es Zeit ist, wieder auszufahren. Wortlos reichen sie die Kaffeekanne herum, der Fernseher zeigt tanzende Frauen.

Den Hügel hinauf. Der letzte Krieg ist nicht weit weg. Früher müssen auch hier die schönen Holzhäuser gestanden haben, die man sonst überall in den norwegischen Handelsstädtchen sieht, aber in Kirkenes ist in der Endphase des Zweiten Weltkriegs fast jedes Haus dem Erdboden gleichgemacht worden. Bei einer großen Offensive der Roten Armee im hohen Norden, bei der es hauptsächlich um die nahe gelegenen Nickelbergwerke und die strategisch bedeutsame Marinebasis Kirkenes ging, wurde die Stadt mehr als hundert Mal bombardiert. Zwischen Kirkenes und Murmansk starben über 60 000 Soldaten. Die Bevölkerung lebte sieben Monate lang in den Höhlen und Stollen, den ganzen Winter 1944/45. In dieser Zeit wurden 20 Kinder geboren. Im Frühjahr 1945 standen in Kirkenes noch drei Häuser.

All die ordentlichen weißen Wohnhäuser und Läden sind also neu, weshalb Kirkenes ein wenig einer amerikanischen Vorstadt ähnelt. Eines der ältesten Gebäude ist ein Bunker, der heute an den Mut der Einwohner erinnert. Ganz in der Nähe steht auf einem Sockel ein russischer Soldat. Vor dem Befreiungsdenkmal liegen immer bunte Sträuße und Kränze, frisch geflochtenes Kunstgrün; an echte Blumen ist in diesem Klima nicht zu denken. Schon immer wurden die Russen hier als Befreier gefeiert. Als Stalin starb, gab es auch in Kirkenes Leute, die weinten.

An hölzernen Veranden und einigen Sportplätzen vorbei steigen wir weiter hinauf, bis wir unten den Hafen liegen sehen. Wir setzen uns auf eine Bank. Bis zum Horizont erstreckt sich die große, leere Bucht, zuerst ist kein Schiff zu erkennen, dann erscheint in der Ferne wie jeden Tag das Postboot. Ein Mann mit Hund geht vorbei, schaut auf die Uhr. »Es ist spät dran heute, mindestens eine Viertelstunde.« Alles in diesem Städtchen ist solide, die Autos glänzen, die Häuser sind großzügig, man lebt anscheinend gut hier. Unter einigen der raren Bäume liegt der Friedhof, vergoldete Schriftzüge blinken grell in der Sonne. Bescheidenheit ist die Norm, nirgends stehen pompöse Grabmale. Bald, vor Gott, sind wir alle gleich, eigentlich aber schon jetzt.

Der Bürgermeister heißt Rune Rafaelsen. Er erzählt von seiner Großmutter. Ihr erster Mann kam bei einem Sturz im Sägewerk ums Leben. Ihr zweiter Mann starb, kaum dass sie geheiratet hatten, als sein Schiff von einem U-Boot torpediert wurde. Runes Vater war der jüngste Widerstandskämpfer Norwegens. Mit 16 meldete er sich zur norwegischen Armee. Sein Onkel war als junger Mann in einem Straflager interniert und verliebte sich in eine russische Gefangene auf der anderen Seite des Stacheldrahts. Sie verschwand, und er sah sie nie wieder. Noch auf seinem Sterbebett fragte er nach ihr. Rune selbst ist in einem hoffnungslos überfüllten Haus aufgewachsen. »Nach dem Krieg gab es nichts mehr. Alles musste neu aufgebaut werden.« Das ist die Geschichte dieses Ortes.

Während des Kalten Krieges kam es besonders im hohen Norden immer wieder zu brandgefährlichen Situationen. Hier lag jahrelang die einzige direkte Grenze zwischen Russland und der NATO. Im Jahr 1969 schickte die Sowjetunion als Reaktion auf eine NATO-Übung eine Infanteriedivision samt 200 Kampfpanzern und 500 anderen gepanzerten Fahrzeugen in die Grenzregion. Dennoch blieb Kirkenes eigensinnig, die Beziehung zu Russland ungewöhnlich eng. Es war eine Grenze, an der »immer flexibel gelebt wurde«, sagt der Bürgermeister. »Sami [Einwohner Lapplands], Norweger, Finnen, Russen, alles wimmelte hier früher durcheinander.« Angst vor den Russen hatte niemand. »Wenn sie kommen, sacken sie zuerst Oslo ein, dann Bergen und dann Trondheim. Und dann kommen sie zum Kaffeetrinken nach Kirkenes.« So dachte man hier.

Rafaelsen ist mit dieser Stadt verwachsen, sein Leben lang. Sein Büro im Rathaus ist streng und schlicht eingerichtet, die Gitter, Kameras und Antennen des nahen russischen Konsulats sind von dort nicht zu übersehen. Die NATO ist übrigens mindestens so präsent: Mehrmals pro Woche macht am Kai ein geheimnisvolles Schiff fest, das nicht einmal der Bürgermeister betreten darf. Auf den ersten Blick ist die Marjata ein ziemlich normales Passagierschiff mit einigen Antennen mehr als üblich, in Wirklichkeit aber eines der modernsten Abhörzentren der Welt. »Sie zapfen alle unsere Telefone und Laptops an«, hört man im Centrum Kafé. Andererseits sind russische U-Boote bei den Seekabeln im Nordpolarmeer unterwegs, was wiederum die Amerikaner nervös macht.

In Kirkenes blickt man quasi aus großer Höhe auf Berlin, Brüssel, London und Rotterdam hinunter. Alles ist weit weg. Trotzdem hat sich die jüngste Geschichte auch auf Kirkenes ausgewirkt, immer wieder: der Bankenzusammenbruch von 2008, die darauf folgende Krise, die russische Annexion der Krim, die Massenimmigration, der Brexit, Trump.

Das Eisenbergwerk, früher der Stützpfeiler der lokalen Wirtschaft, musste 2015 während der Nachwehen der Krise Konkurs anmelden, rund 400 Menschen verloren ihre Arbeitsplätze. Die Stadt konnte diesen Verlust abfedern. Der eisfreie Hafen von Kirkenes ist heute die wichtigste Basis für die russische Fischerei, die große Werft arbeitet zu drei Vierteln für Russland. Und der Tourismus blüht, jährlich bringen Kreuzfahrtschiffe etwa 100 000 Besucher. »Das Leben ist schon weniger hart«, meint der Bürgermeister.

Er zeigt mir seinen Terminkalender für die kommende Woche. Die Eröffnung eines »Open-Screen«-Filmfestivals in Murmansk – er kennt den dortigen Gouverneur seit 1992. Eine Besprechung mit dem Bürgermeister von Nikel, wenige Kilometer jenseits der Grenze – schon seit Jahren ein guter Freund. Die Gay Pride Parade in Kirkenes selbst, mit einer starken Delegation aus Murmansk, wo dergleichen natürlich undenkbar wäre. Grenzregionen faszinieren ihn, er verbringt seinen Urlaub immer mal wieder auf der anderen Seite.

Dennoch hat sich selbst in Kirkenes das Verhältnis zu Russland abgekühlt. Putins Regime verhärtete sich, unabhängige Medien wurden mit allen Mitteln in ihrer Arbeit behindert, Russland besetzte die Krim und weitere Teile der Ukraine, der Westen reagierte mit schmerzlichen Sanktionen. Die Folgen spürte man hier sofort. Die russische Fischerei geriet in eine Krise, Fußballspiele zwischen Mannschaften beiderseits der Grenze wurden abgesagt, in den Läden schossen die Umsätze mit französischem Wein und Käse in die Höhe, weil die Russen beides zu Hause nicht mehr bekamen.

Und dann ist da noch die unerfreuliche Sache mit dem alten Frode Berg, der im Städtchen sehr beliebt ist, Vorsitzender des Kirchenvorstands, Mitglied im Vorstand des Orchesters und des Crossing Border Festival und vor allem ein aktiver Verfechter guter Beziehungen zu Russland. Ausgerechnet er wurde im Dezember 2017 in Moskau plötzlich vom FSB festgenommen. Spionage. Niemand hier begreift das – seine Freunde im Centrum Kafé sind fassungslos, sie können sich nicht vorstellen, dass er wirklich spioniert hat. Allerdings hört man nun so manches, auch andere sind schon einmal vom norwegischen Geheimdienst angesprochen worden. Frode Berg ist immer noch in Haft.

»Auf regionaler Ebene haben wir business as usual«, sagt der Bürgermeister. »Aber die Atmosphäre hat sich schon verändert. Vor 2014 hatten wir Gespräche wie zu Hause am Küchentisch, über alles Mögliche, auch über Politik. Wenn ich heute sage, dass ich mir Sorgen um Russland mache, blocken sie gleich ab. ›Ich mache mir Sorgen um meine Großmutter‹, sagen sie dann. ›Die braucht Medikamente. Also hör auf mit deinem Gerede über Demokratie.‹«

3

Kirkenes war nie ein Ort für Populisten. Hier ist man der Zukunft zugewandt. Es gibt nur vier Länder, die seit je großes Interesse an der Arktis haben: die Vereinigten Staaten, Kanada, Russland und Norwegen. »Und hier funktioniert alles, selbst im tiefsten Winter«, versichert der Bürgermeister.

Auch um den Nordpol steigen die Temperaturen, sogar dreimal so schnell wie anderswo; die Durchschnittstemperatur ist hier drei Grad höher als 1971. Immer größere Flächen im Nordpolarmeer bleiben eisfrei. Alle hier merken es: Nicht erst im Juni, sondern schon im Mai wird es grün, in diesem Sommer gab es sogar zum ersten Mal eine Hitzewelle. Infolge des Eisverlusts verändert sich der sogenannte Polarwirbel, ein stationäres Tiefdruckgebiet in großer Höhe, das auch Einfluss auf das Wetter in anderen Teilen des Kontinents hat. Weiter südlich kann es plötzlich ungewöhnlich kalt werden, im Norden wird es merklich wärmer und nasser.

Während diese klimatischen Veränderungen vielen Europäern zunehmend Sorgen bereiten, sieht man in Kirkenes auch einzigartige Perspektiven: Um das Jahr 2030 wird die Nordostpassage vermutlich zwölf Monate im Jahr befahrbar sein, und auf diesem Seeweg dauert die Fahrt von Schanghai nach Rotterdam nur etwa 20 Tage statt 30 bis 40 auf der Route über den Sueskanal. Es gibt Pläne für einen riesigen Containerhafen, der Bürgermeister träumt schon von einer direkten Bahnverbindung nach Helsinki.

»Hier ist der geopolitische Brennpunkt Norwegens«, sagt er. »Mit Russland wird intensiv über das Gas in der Barentssee verhandelt. Lawrow ist mehrmals hier gewesen. Die Chinesen sprechen schon von der nördlichen Variante der Neuen Seidenstraße, der New Polar Ship Road. In Oslo passiert nichts, hier passiert alles.«

Das ist nicht übertrieben. In diesem Moment, Oktober 2018, haben die Vereinigten Staaten angekündigt, aus dem historischen INF-Vertrag über nukleare Mittelstreckenwaffen auszusteigen – übrigens ohne Rücksprache mit den NATO-Partnern. Russland hat sofort mit Gegenmaßnahmen reagiert. Nach dreißig Jahren Frieden kann der Rüstungswettlauf erneut beginnen, und diesmal ist China mit im Rennen. Außerdem schicken die Amerikaner einen Flugzeugträger samt zugehörigem Marineverband zum Polarkreis, zum ersten Mal seit drei Jahrzehnten. Russland hat dort in den letzten Jahren sieben alte Militärbasen aus der Sowjetzeit wiedereröffnet, der erste militärische Eisbrecher ist unterwegs, auch das hat es seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben.

Norweger und Amerikaner bauen unterdessen beim Fischerdorf Vardø eine neue Radarstation, GLOBUS III, zur Beobachtung der russischen Atom-U-Boot-Flotte. Im Februar haben elf russische Jagdbomber vom Typ Suchoi SU-24 einen Scheinangriff auf Vardø geflogen, eine Einschüchterungsaktion, die beim norwegischen Geheimdienst sämtliche Alarmglocken läuten ließ, denn solche Situationen können leicht außer Kontrolle geraten.

Schweden hat in diesem Frühjahr begonnen, die alten Bunker zu reaktivieren, und eine neue Zivilschutz-Broschüre herausgegeben. Ein Zitat: »Wenn Schweden von einem anderen Land angegriffen wird, werden wir niemals aufgeben. Jede Nachricht von einer Beendigung des Widerstandes ist falsch.« In Norwegen beginnt jetzt Trident Juncture 18, das größte NATO-Manöver seit dem Kalten Krieg mit 50 000 Soldaten, 10 000 Fahrzeugen, 250 Flugzeugen und 65 Schiffen. Die Frage lautet: Können britische Truppen den Norwegern bei einem russischen Angriff schnell genug zu Hilfe kommen? Nach dem Ende des Kalten Krieges wurden solche Fragen jahrelang nicht mehr gestellt, nun müssen vor allem die Straßen und Brücken in den Niederlanden und Deutschland getestet werden. Sind sie noch für umfangreiche Militärtransporte geeignet? »Ein realistischer Stresstest«, sagt der amerikanische Kommandeur gegenüber der Presse.

Man hatte einmal geglaubt, die westliche Freiheit und Demokratie würden langsam den Osten und den Rest der Welt erobern. Inzwischen scheint die Entwicklung eher in die andere Richtung zu gehen. Europa ist desorientiert, gespalten und geschwächt. Russland ergreift jede Gelegenheit, neue Zwietracht zu säen, China nutzt die entstehenden Lücken, um die Europa sich nicht kümmert, ob in Mitteleuropa oder auf dem Balkan und in Griechenland. Weiter im Westen gibt es nun einen amerikanischen Präsidenten, der im Großen und Ganzen die gleiche Destabilisierungspolitik betreibt wie die Russen und der innerhalb kurzer Zeit die Regeln und Institutionen der Nachkriegsweltordnung aushebelt. Der New-York-Times-Kolumnist Roger Cohen drückte es so aus: Die alte transatlantische Welt des späten 20. Jahrhunderts sei »gone, man, solid gone«.

Wie konnte das optimistische Europa des Jahres 1999 all das geschehen lassen? Vor langer Zeit, als ich ein allwissender Student war, schrieb mir ein alter Journalist und ehemaliger Widerstandskämpfer: »Ihr habt leicht reden, ihr seht alles im Licht von heute. Aber was konnten wir tun, in den dreißiger Jahren? Wir tappten im Dunkeln, eine Kerze in der Hand, tastend und stolpernd, in einem völlig fremden Haus.«

Nun taumele ich selbst mit einer solchen Kerze in der Hand umher.

Aus dem Vollen geschöpft 1999

1

Es fing so wundervoll an. Wie der Beginn des 20. Jahrhunderts war der Start ins 21. ein einziges großes, triumphales Fest. Der Kalte Krieg war vorbei, die Börsen tanzten, der Sekt wurde nicht mehr flaschen-, sondern kistenweise verkauft, wie die populäre niederländische Tageszeitung De Telegraaf an jenem Freitag, dem 31. Dezember, von jedem Kiosk aus verkündete: »Da wird aus dem Vollen geschöpft!« Das Wirtschaftswachstum blieb stabil, die Arbeitslosenquote war unerhört niedrig, zum ersten Mal seit einem Vierteljahrhundert gab es kein Haushaltsdefizit. Die Zeitung: »Nie zuvor ging es den Bürgern, zumindest in der westlichen Welt, so gut wie heute.«

Gefeiert wurde mit mehr Luxus denn je, allein in den Niederlanden wurden drei Millionen Flaschen »Bubbels« – Sekt, Champagner und Prosecco – verkauft, eine Rekordzahl. »Sowohl für daheim als auch für Partys ist Schickes und Exzentrisches angesagt«, schrieb ein Modeexperte. »Zum Beispiel ist die Boa wieder total in, und für die Damen gilt: viel nackte Haut.« Wieder überschritt Europa voller Vertrauen und Optimismus, fröhlich und guten Mutes die Schwelle zu einem neuen Jahrhundert.

Diese letzten Tage des Jahres 1999 habe ich in lebhafter Erinnerung. Ich war seit Jahrzehnten Journalist, das ganze Jahr war ich kreuz und quer durch Europa gereist, täglich hatte ich darüber einen kleinen Artikel für die Titelseite meiner Zeitung, NRC Handelsblad, geschrieben, später entwickelte sich daraus ein ganzes Buch.

Es sollte eine Art Inspektionsreise sein: Wie ging es Europa am Ende des Jahrtausends? Zugleich war es aber eine Reise durch die Zeit: Wie hatten die Menschen in Europa die dreißiger Jahre erlebt, die fünfziger und sechziger Jahre, die Kriege, Verfolgungen und andere Katastrophen? Wie hatten sie all dies überstanden? Das ganze Jahr, Monat für Monat, folgte ich den Spuren des Jahrhunderts. Ich sah Länder voller Wunden und Städte voller Narben, aber auch, wie erstaunlich gut Wunden verheilt waren, und ich hörte zu, vor allem das.

In Sankt Petersburg zum Beispiel interviewte ich die pensionierte Theaterregisseurin Alexandra Wassiljewa über das Jahr 1917 und die Oktoberrevolution. Sie war 102 Jahre alt und fragil wie eine Pusteblume, aber ihre Augen glänzten. »Es war eine aufregende Zeit! Sehr gefährlich! Zum Glück arbeitete mein Mann beim Film. Ein Filmstar, das fanden die Soldaten und Banditen alle großartig, so jemanden erschossen sie nicht.«

Mit dem betagten Politiker Nigel Nicolson probierte ich auf seinem Landsitz in Kent eine technische Neuheit aus: Wir bereiteten Tee in seiner gerade gelieferten Mikrowelle zu. Später las er mir einen Brief seines Vaters, des Diplomaten Harold Nicolson, aus dem Jahr 1919 vor: »Hier sitze ich nun, ein Kind in all diesen Dingen, und berate drei alte Männer: Lloyd George, Clemenceau und Präsident Wilson. Und diese drei sind nun dabei, Europa aufzuteilen, als handele es sich um einen Kuchen.«

Truusje Roegholt in Amsterdam hatte immer noch einen leichten deutschen Akzent. Sie erzählte von ihrer Kindheit in Köln und ihren Erlebnissen 1933: »Gleich zu Beginn schon sah man alle in neuen, schönen Uniformen marschieren. Das Ganze hatte eine grandiose Wirkung. All die armen Leute, die waren plötzlich wer. Sie sangen den größten Blödsinn, aber sie hatten neue Schuhe!«

Im Hotel Astoria in Budapest schilderte mir der Schriftsteller György Konrád seine Erlebnisse während des Ungarischen Volksaufstands 1956. »Wir lebten in einer wunderbaren Illusion. Vom Land kamen Gerüchte über russische Panzerbewegungen, aber das war sicher nur ein Missverständnis, dachten wir.«

Ich besuchte den früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, und er erzählte vom Fall der Mauer am 9. November 1989: »Schließlich landete ich auf dem Potsdamer Platz. Die Leute auf der westlichen Seite fragten sich, ob man wohl über den Platz gehen könne, und ich sagte: ›Das will ich sehen!‹ Und dann habe ich ganz allein diese Fläche überquert, ich lief zu den Baracken des DDR-Grenzübergangs, und da kam ein Leutnant der Volkspolizei heraus, er erkannte mich, salutierte und sagte ganz ruhig: ›Herr Präsident, ich teile Ihnen mit, dass keine besonderen Vorfälle zu melden sind.‹«

In Brüssel streifte ich mit meinem Freund Pierre Platteau durchs Arbeiterviertel Molenbeek, vorbei an leeren Schaufenstern mit grauen Scheiben, auf der Suche nach dem, was von den »Traumkinos« seiner Jugend übrig war. »Das wundervolle Kinox, sieh dir an, was daraus geworden ist, ein riesiges türkisches Stoffgeschäft mit Grabbelkisten, in denen bekopftuchte Frauen wühlen.«

Ende Dezember 1999 ging mit dem Jahrhundert auch die Reise zu Ende. Die Jugoslawienkriege waren vorbei, mit einigen Schwierigkeiten war ich noch aus dem tief verschneiten Sarajevo herausgekommen.

Zu Silvester war ich wieder zu Hause. »Im Fernen Osten hat das neue Jahrhundert schon begonnen«, wurde mittags im Fernsehen gesagt. »Der sogenannte Millennium-Bug scheint sich ruhig zu verhalten.«

Dieses seltsame Phänomen war kein Hirngespinst: Viele Computer-Betriebssysteme, Programme und Datenbestände stammten noch aus den sechziger Jahren, als Speicherplatz knapp war, weshalb Jahreszahlen häufig nur mit den letzten beiden Ziffern angegeben wurden; beim Übergang von 1999 zu 2000 würde deshalb aus »99« »00« werden, was zu falschen Sortierungen und Fehlverarbeitungen führen konnte. Am 31. Dezember 1999 um 24 Uhr, so die Befürchtungen, würden möglicherweise auf der ganzen Welt Computer abstürzen; der Strom könne ausfallen, Bankguthaben sich in nichts auflösen, Flugzeuge vom Kurs abkommen – der Beginn des neuen Jahrhunderts könne zu einem apokalyptischen Chaos werden. Niemand wusste, was in den Nervenzentren zum Beispiel von Banken und anderen komplexen Organisationen geschehen würde. Zum ersten Mal machte sich Besorgnis über eine anscheinend nicht völlig beherrschbare moderne Technik breit, die Unheil anrichten könnte; in Banken, Ministerien, Botschaften, überall waren in jener Nacht Krisenstäbe in Bereitschaft, für alle Fälle.

Schließlich passierte nichts. Die Leute gingen nach draußen, brannten Feuerwerk ab, ließen die Korken knallen.

Ich selbst verbrachte diesen denkwürdigen Abend bei Freunden in einem Amsterdamer Grachtenhaus mit Aussicht auf den ältesten Kirchturm, der schon seit sieben Jahrhunderten über die Stadt wacht. Es war eine Tradition: Jedes Jahr am Silvesterabend trafen sich dort dieselben Menschen, zusammen warteten wir auf die zwölf Glockenschläge und beobachteten dann vom Balkon aus das Feuerwerk. Ein Freund hatte sich in einem anderen Turm verschanzt, wo er und ein paar Gleichgesinnte um zwölf Uhr eigenhändig die Glocken läuteten, so verteilte er Jahr für Jahr seinen Segen über die Stadt. Diesmal übertönte das Geknalle alles und jeden. Die Wirtschaft brummte, und das galt nicht zuletzt für die Coffeeshops und die Dealer auf der anderen Seite der Gracht. Sie ließen sich die Sache einiges kosten, zigtausend Gulden Drogengeld gingen in Gestalt von Knallfröschen, Raketen und Fontänen in Rauch auf. In null Komma nichts hatten sie sämtliche Kirchtürme in einem stinkenden Nebel aus Pulverdampf verschwinden lassen. Auch das war eine Amsterdamer Tradition.

Ach, alle hatten ihre eigenen Erinnerungen an jene Nacht. José Martí Font, Journalist in Barcelona, erzählte mir von einem großen Haus, gerammelt voll mit Freunden: »Wir waren ohne Ausnahme betrunken. Als der Morgen dämmerte, haben wir die Gläser einfach aus dem Fenster geworfen. Wir waren außer Rand und Band. Alles würde besser werden, wenn der Euro kam, würde das Geld wie Manna vom Himmel fallen!«

Aydin Soei, Sohn iranischer Flüchtlinge und damals siebzehn – wie über Font werden Sie auch über ihn später mehr erfahren –, feierte den Anbruch des neuen Jahres in einer kahlen Garage in einem Außenbezirk von Kopenhagen. »Ein paar Mitschüler vom Gymnasium und ich waren zusammen, wir haben uns öfter dort getroffen, auch übernachtet. An diesen Abend erinnere ich mich noch genau, ich hatte im Ausverkauf Socken gekauft, auf denen ›2000‹ stand. Und alle fragten sich, ob wirklich gleich sämtliche Computer ausfallen würden. Wir hatten uns festlich angezogen, ich habe die Fotos noch vor Augen, die Mädels in Abendkleidern, die Jungs im Smoking. Es sieht eigentlich ziemlich verrückt aus, Kinder, die Smokings tragen. Ich hatte natürlich ganz anderes erlebt als alle anderen, das konnten sie sich überhaupt nicht vorstellen.«

Gábor Demszky war damals Bürgermeister von Budapest, er war der große Opponent Viktor Orbáns. »Wir waren im Skiurlaub in Österreich. Ich hatte eine neue Freundin, beide hatten wir zwei Kinder. Auch meine Exfrau und der Ex von meiner Freundin waren mit, alle zusammen im Urlaub, es war ein großes Familientreffen. Orbán war da schon Ministerpräsident und versuchte, alles Geld und alle Macht der Städte in die Hand zu bekommen. Für seinen Clan war ich der großstädtisch-intellektuell-liberale Jude. In Wirklichkeit war ich gar kein Jude, aber ein unbequemer Liberaler. In der Politik herrschte permanenter Kriegszustand. Damals hatte ich noch genug Geld, um alle einzuladen. Heute könnte ich das nicht mehr.«

Umayya Abu-Hanna, die finnische Rundfunkjournalistin palästinensischer Herkunft, der ich während meiner Reise durch Europa begegnet war, stieß in einem prachtvollen Haus aus dem 18. Jahrhundert mitten in Helsinki auf das neue Jahrtausend an. »Ausländische Küche war auf einmal die große Mode, in Finnland wollten alle möglichst ›urban‹ sein und international, besonders, wenn’s ums Essen ging. Bei meinen Freunden wurde ganz ruhig gefeiert, es gab köstlichen französischen Champagner, wir sahen eine Fernsehsendung über die finnische Geschichte, das Beste hiervon und das Schönste davon, wir waren vier Paare und ein paar Kinder, niemand hatte besondere Erwartungen, weder gute noch schlimme, es war, als würden wir in einem Kanu durch leise plätscherndes Wasser gleiten.«

Im serbischen Novi Sad gab es wenig zu feiern. Ein weiterer Weggefährte von damals, der Filmemacher Želimir Žilnik, blickte an jenem Abend auf ein irrsinniges Jahrzehnt zurück. Anfang der 1990er Jahre war Novi Sad eine blühende Stadt gewesen, das wirtschaftlich starke Jugoslawien galt als sicherer Kandidat für die EU. Doch 1999 waren die wunderschönen Donaubrücken zerbombt, auf dem Markt boten alte Damen ihre Pelzmäntel feil, der Preis eines Päckchens Zigaretten stieg stündlich, und die Kriminellen, die früher für den kommunistischen Geheimdienst gearbeitet hatten, waren nun die Helden der Nationalisten. »Es war ein einziger großer, endloser Raubzug. Raffen, raffen, das war es, worauf all diese ethnischen Säuberungen hinausliefen.« Sein Freund, der Schriftsteller Aleksandar Tišma, bemerkte damals: »Wissen Sie, jeder arme Mann ist ein Idiot. Einfach weil er arm ist. Seine Sachen sind schmutzig, sein Haar ist nicht geschnitten. Und so sind auch wir Idioten. Wir sind die Dorftrottel der Welt.«

Im norwegischen Kirkenes wurde der Jahreswechsel wie seit eh und je still im häuslichen Kreis gefeiert. Nur Thomas Nilsen war fast außer sich vor Freude. »Ich war damals in einer Umweltgruppe, zusammen mit zwei Russen arbeitete ich an einem Buch über die Sicherheit der Atomreaktoren der russischen Flotte hier in der Barentssee. Schon seit Jahren war der FSB hinter uns her, es gab Vorladungen und Prozesse, aber am 29. Dezember geschah ein Wunder: Wir wurden freigesprochen. Es war der erste Freispruch in einem vom FSB eingefädelten Prozess – und auch der letzte. Zwei Tage später änderte sich in Russland alles, aber das ahnten wir damals nicht.«

In Vásárosbéc, dem südungarischen Dorf, in dem ich 1999 meinen Bericht hatte beginnen lassen und in dem die Zeit 1925 stehen geblieben war, wurde an jenem Abend in der Kneipe getanzt, bis das Wasser die Wände herunterlief. Ein betrunkener Roma wurde handgreiflich, dann stritt man sich mit einem Ausländer, bis man ihn hinauswarf, ins 21. Jahrhundert hinein. Anschließend vertröpfelte das Fest.

2

»Dawn of the Century« hieß das Lied, mit dem die Briten 1899 das neue Jahrhundert begrüßten, und auf dem Titelblatt der amerikanischen Notenausgabe sind all die wunderbaren Dinge zu sehen, die diese neue Zeit bereithielt: eine Straßenbahn, eine Schreibmaschine, ein Telefon, eine Nähmaschine, ein Fotoapparat, eine Dreschmaschine, eine Lokomotive, sogar ein Auto. Das 21. Jahrhundert wurde ebenso optimistisch begrüßt. Was sollte noch Schlimmes passieren? Überall wurde gebaut wie noch nie, in sämtlichen Hauptstädten waren bald die gläsernen Eiffeltürme des neuen Jahrhunderts zu sehen, die Prestigeobjekte der multinationalen Konzerne. Züge und Briefkästen verloren ihre vertrauten Farben, denn Bahngesellschaften und Post waren privatisiert worden, die Marke hatte nun die Macht. Das vergangene Jahrhundert wurde buchstäblich zum Sperrmüll gegeben: Ich erinnere mich, dass in jenen Jahren überall Rechen- oder Schreibmaschinen, Zeichenbretter, mechanische Tischkalender und andere raffinierte technische Geräte des 20. Jahrhunderts am Straßenrand lagen, dank der Neuheiten des IT-Zeitalters hoffnungslos überholt.

Das 21. Jahrhundert könne das Jahrhundert Europas werden, meinte Tony Judt, damals einer der führenden Historiker, am Schluss seines Epos über die jüngste europäische Geschichte, und dafür gab es in jenem Moment gute Gründe. Die EU war um die Jahrhundertwende die größte Handelsgemeinschaft der Welt mit dem größten Konsumentenmarkt, der stärksten Wirtschaft und dem meisten nichtmilitärischen technologischen Know-how. Frieden und Sicherheit waren solide verankert, das Bündnis mit den Vereinigten Staaten selbstverständlich, Russland war keine Bedrohung mehr – seit Michail Gorbatschows Perestroika war ein neuer »europäischer Raum« im Entstehen begriffen, sogar eine künftige Mitgliedschaft Russlands in der NATO lag im Bereich des Möglichen.

London und Frankfurt galten als die wichtigsten Finanzzentren der Welt, Berlin hatte eine Wiedergeburt als europäische Metropole erlebt, Warschau modernisierte sich erstaunlich schnell, Amsterdam machte einen neuen Wachstumsschub durch. Ein ganz spezieller Fall war Reykjavík. Die nüchternen Isländer schienen einen siebten Sinn fürs Spekulieren und Geldverdienen zu haben. 2007 besaßen Isländer fünfzig Mal so viele ausländische Aktien wie zu Beginn des Jahrhunderts, manche Kabeljaufischer hatten plötzlich Häuser in London und Kopenhagen und veranstalteten Geburtstagsfeiern, bei denen Elton John für eine Million Pfund zwei Lieder sang.

Es war eine wirtschaftliche Blüte, die sich weit fortgeschrittener Globalisierung verdankte. Im Jahr 1999 hatte nur eine Minderheit einen Internet-Zugang, wir bezahlten noch mit Deutscher Mark, Franc oder Gulden, Google und Amazon waren nur etwas für eine kleine Gruppe von Enthusiasten. Eine weitgehend papierlose Arbeits- und Alltagswelt lagen noch weit außerhalb unserer Vorstellungskraft. Mobiltelefone waren zwar auf dem Markt, aber nicht weit verbreitet. Ein niederländischer Filmemacher befragte Leute auf der Straße dazu, und fast niemand sah einen Nutzen in tragbaren Telefonen: »Überflüssig, ich habe schon einen Anrufbeantworter.« »Fände ich schrecklich, immer erreichbar zu sein.« Dabei hatten viele Unternehmen die nationalen Grenzen längst überschritten. Ein Renault oder Volvo wurden nicht mehr in einer einzigen Fabrik in Frankreich oder Schweden gebaut, sondern die Einzelteile kamen aus der ganzen Welt und wurden erst ganz zuletzt zu einem Auto zusammengesetzt – was ebenso gut in Deutschland wie in Tschechien geschehen konnte.

Ähnliches galt für Lebensmittel und zahlreiche andere Produkte. Ich habe noch ein Bild aus dem grauen Görlitz vor Augen, einen Kühlwagen mit knallgelben Bananen auf den Seitenwänden, und erinnere mich an die Aufregung, die er verursachte. Das war kurz nach dem Fall der Mauer. Weniger als zehn Jahre später konnten auch die Ostdeutschen sämtliche Waren aus der ganzen Welt kaufen, von Wein über elektronische Geräte bis hin zu den exotischsten Früchten, oft zu auffallend niedrigen Preisen. Ein chinesisches Radio kostete kaum mehr als die Weihnachtsausgabe des Economist.

Die ganze Welt profitierte, überall stieg die Lebensqualität, wenn auch die Ungleichheit sehr groß blieb. Der indische Schriftsteller Pankaj Mishra sprach von der Entstehung eines gigantischen, homogenen Weltmarktes, in dem Menschen darauf programmiert werden, den Eigennutz zu maximieren und die gleichen Dinge haben zu wollen, ungeachtet ihres kulturellen Hintergrundes oder ihres persönlichen Temperaments. Es schien sich zu bestätigen, was die Philosophin Hannah Arendt schon 1968 vorausgesagt hatte: dass alle Völker der Welt zum ersten Mal in der Geschichte in einer gemeinsamen Gegenwart leben würden.

Eine völlig neue Zeit brach an, und an jenen letzten Tagen des 20. Jahrhunderts hatte man hin und wieder schon einen Blick in diese Zukunft werfen können, als wäre kurz ein Fensterladen geöffnet worden. Zum Beispiel wütete an den Weihnachtstagen 1999 in Frankreich, Deutschland und der Schweiz ein außergewöhnlich schwerer Sturm, der Millionen von Bäumen entwurzelte, ein Viertel der französischen Haushalte war ohne Strom, 130 Menschen kamen ums Leben. Der Begriff »Klima« hielt allmählich Einzug in unseren Alltagswortschatz.

In jenen Wochen vervollkommnete an der Universität von Delaware ein Ingenieur namens Wayne Westerman, der an chronischen Beschwerden in Unterarmen, Händen und Fingern litt, eine neue Technik, die ihm das Arbeiten mit dem Computer erleichtern sollte. Er hatte ganz im Geheimen den sogenannten Multi-Touch-Screen entwickelt – die Grundlage unter anderem für das Smartphone, dieses kleine Gerät, in dem sich eine bessere Welt zu verbergen schien, das Tag und Nacht verführerische Botschaften aussandte, Menschen verband und entzweite und zusammen mit dem Internet das neue Jahrhundert mitprägen sollte, so wie der Buchdruck mit beweglichen Lettern das 15. und 16. Jahrhundert geprägt hatte.

Und dann war da noch dieser Brief, der eine Woche vor dem festlichen Jahreswechsel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien. Verfasserin war die Politikerin Angela Merkel, früher auch als »Kohls Mädchen« bekannt. Dennoch hatte die Aufsteigerin den Mut, in ein paar glasklar formulierten Absätzen mit dem Patronagesystem Helmut Kohls abzurechnen. Sie tat es mitten in einem politischen Sturm: Die CDU hatte die Bundestagswahl im Vorjahr verloren, und Kohl war tief in eine Affäre um den rechtswidrigen Umgang mit Parteispenden verwickelt; dennoch hielten ihm viele Parteimitglieder die Treue. Merkel wagte es, die pubertäre Abhängigkeit vom alten System Kohl zu kritisieren. Die Partei müsse sich zutrauen, »auch ohne ihr altes Schlachtross […] den Kampf mit dem politischen Gegner aufzunehmen. Wir kommen nicht umhin, unsere Zukunft selbst in die Hand zu nehmen.« Mit ihrer ausgewogenen und mutigen Stellungnahme katapultierte sie sich ins Zentrum der Macht. Es war typisch Merkel: Durch nichts ließ sie sich aus dem Konzept bringen. Sie war die nüchtern veranlagte Tochter eines in die DDR übergesiedelten Pfarrers, der sich, seine Familie und seine Gemeinde durch schwierige Zeiten und Situationen hatte lotsen müssen. Für die Heranwachsende war es der größte Traum, mit sechzig einmal die Vereinigten Staaten besuchen zu können – für Frauen endeten in diesem Alter die Reisebeschränkungen. Als die Mauer fiel, an jenem historischen Abend des 9. November 1989, an dem Ost- und Westberliner einander euphorisch um den Hals fielen, war sie selbst wie an jedem Donnerstagabend mit einer Freundin in die Sauna gegangen.

Als Kind der DDR war sie eine Außenseiterin, sie gehörte nicht der »angepassten Assistentengeneration« an, den traditionellen, machtbesessenen christdemokratischen Seilschaften. Und sie war nicht ängstlich. Das war ihre große Stärke. Sechzehn Jahre nach dem Mauerfall wurde sie zur Bundeskanzlerin gewählt. »Es kann kein Zweifel daran bestehen«, schrieb die Financial Times 2012, »dass Merkel heute der mächtigste Politiker Europas ist.«

Noch ein Zeichen der neuen Zeit: der Euro. 1999 war auch das Jahr, in dem die neue Währung im Geldverkehr zwischen den Banken und an den europäischen Börsen eingeführt wurde. Es war ein spektakuläres Unternehmen; all die Währungsdifferenzen, die den europäischen Handel verkomplizierten, verschwanden auf einen Schlag, das Reisen wurde einfacher, und gegen den einen, großen, soliden Euro hatten Spekulanten keine Chance mehr. Es war ein gewaltiger und folgerichtiger Schritt in Richtung einer weiteren europäischen Einigung.

Ein bisschen Angst machte uns die Sache schon: Würde durch Umrechnungstricks nicht alles teurer werden? Doch die Warnung einiger weniger Spezialisten, eine gemeinsame europäische Währung ohne gemeinsame Finanzpolitik werde zwangsläufig große Probleme verursachen, entging fast allen. Das Gleiche galt für die wiederholten negativen Berichte über den griechischen Staatshaushalt, weit hinten in den Zeitungen versteckt. Wenn im Hinblick auf das europäische Projekt ein Gefühl vorherrschte, dann war es Triumph. Der Eiserne Vorhang war verschwunden, der Kommunismus tot, der Marxismus hoffnungslos aus der Mode, die neuen Ideologen feierten den freien Weltmarkt und den gesunden Egoismus. Europa machte mit.

3

Knapp 70 Jahre nach dem Ausbruch des Großen Krieges, am 22. September 1984, standen der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl und der französische Präsident François Mitterrand zusammen auf der blutgetränkten Erde von Verdun. Musik wurde gespielt, Lieder für gefallene Kameraden. Es regnete in Strömen. Mitterrand und Kohl standen still nebeneinander, triefnass. Unerwartet streckte Mitterrand die Hand zur Seite aus. Kohl wurde, wie er selbst später sagte, von Gefühlen »überwältigt«. Hand in Hand blieben die beiden stehen – ein historisches Bild, für alle Zeiten.

»Den Vätern war nicht bewusst, wie dünn die Schicht der Zivilisation war, welche vulkanischen Kräfte unter der Oberfläche arbeiteten«, sollte György Konrád später schreiben. 1944 war er elf, damals waren schon fast alle Juden aus seiner kleinen Provinzstadt in Güterwaggons abtransportiert worden. Auch seine Eltern. Nur die vier Kinder waren noch da und schlugen sich mehr schlecht als recht durch, lebten von fast nichts. Für den Preis eines Hauses beschaffte der Elfjährige eine Reiseerlaubnis, damit er und seine Geschwister zu Verwandten nach Budapest reisen konnten. Viel später schrieb er: »Ich verabschiedete mich von meiner Cousine Vera. Zwei Wochen später ging ich am Donauufer entlang, da war sie schon in einer Gaskammer erstickt und in einem Krematorium verbrannt worden.« Von den 200 jüdischen Kindern des Städtchens überlebten nur die vier Geschwister.

Es war ein Frühlingsnachmittag in Budapest, als ich zum letzten Mal mit ihm sprach, fast ein Dreivierteljahrhundert danach, wir tranken Cognac, feine Lichtstrahlen wanderten durch sein halbdunkles Haus. Vorher hatte ich bei ungarischen Freunden zu Mittag gegessen, Vera und Peter. Auf den ersten Blick glückliche Menschen, erfolgreich, erfüllt von ihrer Arbeit.

Veras Mutter war eine von sehr wenigen Überlebenden ihrer Familie, siebzehnmal musste sie während des Krieges in ein neues Versteck wechseln. Ihr erster Mann wurde bei einem der letzten Pogrome ermordet. Ihr zweiter Mann musste, als Vera drei war, Hals über Kopf fliehen, weil er als Soldat am Ungarischen Volksaufstand von 1956 teilgenommen hatte. Jahrelang wohnte er in Schweden, von Frau und Kindern getrennt.

Von Peters Verwandten haben 64 den Krieg nicht überlebt. Seine Mutter entschied sich nach einer Jugend in Israel für den Kommunismus statt für den Zionismus. Sie wurde Agentin des ungarischen Geheimdienstes und lebte ein regelrechtes Doppelleben. Peter: »Erst heute verstehe ich gewisse Dinge.«

Auch Želimir Žilnik in Novi Sad war ein solches Kriegskind, aufgezogen von seinen Großeltern und drei Tanten. »Meine Mutter war Hochschuldozentin, Mitglied der illegalen Kommunistischen Partei, Partisanin. Als sie bei einer Aktion verwundet wurde, durfte sie sich irgendwo in den Bergen erholen. Dort ist sie meinem Vater begegnet, auch er war Partisan. Sie ist kurz nach meiner Geburt in einem Konzentrationslager gestorben, er 1944 an der bulgarischen Grenze ums Leben gekommen.«

Ich begegnete Bronisław Geremek, dem polnischen Politiker und einflussreichen Mitglied des Europäischen Parlaments. Als magerer Zehnjähriger hatte er im Sommer 1942 in einer Warschauer Straßenbahn gesessen, buchstäblich zitternd vor Angst, weil er glaubte, jeder müsste ihm ansehen, dass er Jude und vor wenigen Augenblicken aus dem Ghetto entkommen war. Er überlebte, spielte viel später eine Führungsrolle in der polnischen Oppositionsbewegung, verbrachte ein Jahr im Gefängnis, wurde Jahre später Mitglied des polnischen Parlaments und schließlich Außenminister – die ganze europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts in einer Person. Er wusste, wovon er sprach: Ein Europa ohne Recht, in dem sämtliche zivilisatorischen Werte mit Füßen getreten wurden, diese Erfahrung seiner Jugend hatte sein Leben geprägt.

Während meiner Reise im Jahr 1999 verbrachte ich einen Tag bei dem deutschen Industriellen Winrich Behr. Er zeigte mir ein Kästchen in seiner obersten Schreibtischschublade: die Eisernen Kreuze von vier Generationen. »Mein Urgroßvater, mein Großvater, mein Vater und ich haben eins gemeinsam: Wir haben alle vier in einem Krieg gegen Frankreich gekämpft, und alle vier sind wir dabei verwundet worden. Mein Urgroßvater 1870, mein Großvater und mein Vater 1914, ich 1940. Früher war das für eine deutsche Familie eine große Ehre. Dabei ist es natürlich eine elende Sache.« Behr gehörte später zu den Pionieren des europäischen Projekts, zusammen mit dem Franzosen Jean Monnet, während des Krieges Mitglied der französischen Exilregierung, und dem Niederländer Max Kohnstamm, aktiv im studentischen Widerstand und unter anderem im Konzentrationslager Amersfoort interniert. Und dann ist da noch Helmut Kohl, der erste Bundeskanzler nach der Wiedervereinigung, der den britischen Zeitgeschichtler Timothy Garton Ash einmal unvermittelt fragte, ob ihm klar sei, dass er dem direkten Nachfolger Adolf Hitlers gegenübersitze. Niemand wusste besser als er, dass man alles anders anpacken musste, das empfand er als seine historische Pflicht.

Ehrlich gesagt habe ich die vorigen Absätze in erster Linie für die junge Historikerin des Jahres 2069 geschrieben, die dann vielleicht auch dieses nicht mehr ganz frische Buch aus dem Regal ziehen wird, neugierig auf die Welt von damals. Eine Bemerkung speziell für sie: Unterschätzen Sie auf keinen Fall, welch tiefe Spuren all diese europäischen Kriege und Massenmorde in unseren Generationen hinterlassen haben. Fast 70 Jahre später beschäftigten sie uns immer noch, bewusst oder unbewusst, auf den unterschiedlichsten Gebieten.

Die Geschichte ist bekannt. Europa verdankte seine Stärke und Dynamik zwei Eigenschaften: Vielfalt und Beweglichkeit. Im technisch sehr fortschrittlichen China reichte 1433 ein kaiserlicher Befehl aus, um allen chinesischen Entdeckungsreisen ein Ende zu machen. Das Reich war eine starre Einheit. In derselben Epoche klopfte Christoph Kolumbus, als der französische König kein Interesse daran hatte, ihm eine Reise zu finanzieren, einfach an der nächsten Tür an, bei der spanischen Konkurrenz. In Europa hatte man die Wahl, immer wieder.

Die verhängnisvolle andere Seite der Medaille war die Zerrissenheit Europas, waren Spaltung und zahllose Kriege. Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse hat dafür ein ausdrucksstarkes Bild erdacht: Würde man auf der Karte dieses großartigen Kontinents Europa mit schwarzem Filzstift sämtliche politischen Grenzen einzeichnen, die es im Lauf der Geschichte gegeben hat, dann wäre das Ergebnis am Ende garantiert eine fast geschlossene schwarze Fläche. Würde man anschließend auf einem anderen Exemplar derselben Karte für jeden Krieg der europäischen Vergangenheit mit rotem Stift die Fronten und Schlachtfelder markieren, dann würden all die blühenden Städte, all die Flüsse und Täler allmählich von der einen Farbe überdeckt sein: Rot.

Auch das war Europa, immer wieder.

Nachdem den Anschlägen vom 11. September 2001 fast 3000 Menschen zum Opfer gefallen waren, sprach man auf der Welt monatelang fast von nichts anderem mehr. Doch im Zweiten Weltkrieg kamen Tag für Tag durchschnittlich 17 000 Menschen ums Leben, fast sechsmal so viele. Dieser Krieg dauerte sechs Jahre und forderte insgesamt fast 40 Millionen Todesopfer. Fünf Millionen Polen haben den Krieg nicht überlebt, 20 Prozent der Bevölkerung. Die Anzahl der zivilen Opfer in der Sowjetunion wird auf 14 Millionen geschätzt. Innerhalb von drei Monaten des Jahres 1916 war bei Verdun die Zahl der Gefallenen auf französischer Seite höher als die aller amerikanischen Streitkräfte in allen Kriegen außerhalb der Vereinigten Staaten zusammen. In jedem französischen Dorf erzählen die Gefallenendenkmäler die gleiche Geschichte: 1913 herrschte auf den Tanzböden noch Gedränge, 1918 waren sie halb leer. Und das wiederholte sich im Mai 1940: sechs Wochen Krieg, 112 000 tote Franzosen. All dies wurde, so gut es eben ging, mit Ritualen verschleiert, unter Scham verdeckt, oft auch totgeschwiegen. Aber die Nachwirkungen, unter der Oberfläche, waren überwältigend.

Nehmen wir meine eigene Geschichte als Beispiel. Ich bin im ersten vollen Friedensjahr zur Welt gekommen und mit einem ganzen Dachboden voller Kriegserinnerungen aufgewachsen. Mein Elternhaus stand an einer Gracht in Leeuwarden. Unterm Dach gab es zwei kleine Zimmer und einen großen Raum mit knarrendem Gebälk, in dem an mehreren Stellen ausgediente militärische Ausrüstung herumlag – jahrelang haben wir mit einem alten Sender und einem englischen Kopfhörer gespielt. Bei starkem Wind flüsterten zwischen den Bodenbrettern die Überreste eines großen, nur halb fertiggestellten Kartonmodells, von meinem ältesten Bruder irgendwann entnervt weggeworfen, ein britischer schwerer Bomber, eine Avro Lancaster. An einer anderen Stelle hatten wir zwischen den Bretterböden sogar einen Hohlraum mit einer Matratze darin entdeckt, vermutlich ein Versteck aus der Kriegszeit. Meine Mutter, eine meiner Schwestern und zwei meiner Brüder waren in Niederländisch-Indien in japanischen Lagern interniert gewesen, mein Vater hatte als Kriegsgefangener den Bau der Thailand-Birma-Eisenbahn, auch Todeseisenbahn genannt, überlebt. Als ich fünf war, hörte ich manchmal böse Geister heulen, wenn eine alte, grüne kanadische Militärambulanz, in meiner Erinnerung der einzige Krankenwagen, den es in Leeuwarden gab, jaulend durch die Straßen fuhr. Die Geister, so glaubte ich, wären in diesem Wagen eingesperrt und würden heulend aus der Stadt geschafft, weit weg.

Tatsächlich wurde nach dem Krieg das Böse fortgeschafft, nicht in Lazarettwagen eingesperrt, sondern in unendlich vielen Erzählungen. In Heldenerzählungen, in Erzählungen von nationaler Größe, aber auch in einer europäischen Erzählung – einer Erzählung von Frieden und Zusammenarbeit, von durchlässig werdenden Grenzen, von unaufhörlich wachsendem Wohlstand in dieser neuen Wertegemeinschaft Europa. Wir hörten sie aus dem Mund unserer Eltern und Großeltern, übernahmen sie und trugen sie unser Leben lang mit uns herum.

Es war etwas Seltsames an der Generation, der ich angehöre: Wir hatten den Krieg nicht erlebt, wir waren typische Friedens- und Wohlstandskinder, alles andere als Opfer, und doch saß der Krieg jeden Tag bei uns am Tisch. Schweigend. Im Stadtmuseum Dresden stieß ich auf ein großes Blatt Papier, das in den 1990er Jahren hinter einer Dachschalung entdeckt worden war, der Verzweiflungsschrei eines Familienvaters: »Ein Hungerjahr, 1947, wir fallen bald um.« Der Krieg war längst vorbei, und doch herrschte in weiten Teilen Europas noch große Not.

So hatten unsere Eltern und Großeltern überall in Europa Hunger und Elend überstanden, Bombenangriffe und Lager überlebt, in Stalingrad, auf den Stränden Siziliens oder der Normandie gekämpft, hatten Menschen gejagt und ermordet, waren untergetaucht oder im Widerstand aktiv gewesen. Aber was auch immer sie getan hatten, fast niemand sprach darüber. Es musste weitergehen.

Erst viel später ist mir klar geworden, dass ein großer Teil dieser Generation, von Warschau bis Berlin, Amsterdam oder Madrid, eine merkwürdige Jugend gehabt hatte. Viele von uns sind in verletzten Familien aufgewachsen, einige sogar mit schwer geschädigten Eltern. Ich glaube, dieser indirekte Krieg, der Krieg, der mit am Tisch saß, hat uns alle mehr geprägt, als uns bewusst ist. Und er hat auch die europäische Politik geprägt. Denn dieser schweigende Krieg am Tisch hat den europäischen Einigungsprozess mit vorangetrieben, nicht selten gab er europäischen Politikern den Mut, über ihren Schatten zu springen.

4

Für uns behielten die Vereinigten Staaten eine ungeheure Faszination. Mindestens viermal haben sie die Europäer vor sich selbst und voreinander gerettet: als sie in den Ersten und Zweiten Weltkrieg eintraten, als sie von 1948 an mit dem Marshallplan dem zerstörten und hungernden Westeuropa wieder auf die Beine halfen und – eine Art Zugabe – als sie in den 1990er Jahren erneut intervenierten, weil Europa sich als unfähig erwies, den Brand der Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien selbstständig zu löschen. Vor allem für viele ältere Europäer blieb Amerika immer ein großer Bruder, der nichts Böses tun konnte – trotz Vietnam, trotz der undemokratischen und oft auch brutalen Interventionen diverser amerikanischer Regierungen in anderen Teilen der Welt, hauptsächlich in Mittel- und Südamerika. »Wir Europäer sind nicht nur durch Amerika als einer Art äußerer Präsenz und Kraft beeinflusst, nein, die amerikanische Präsenz ist auch tief in das eigene, europäische Selbstbild eingebettet«, schrieb der norwegische Europa-Spezialist John Erik Fossum zu Beginn des 21. Jahrhunderts. »Für viele Europäer sind die Amerikaner nicht ›sie‹, sondern ›wir‹.«

Mit den Amerikanern teilten die Europäer, zumindest theoretisch, die Werte von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Toleranz, von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Das war ihr gemeinsames Evangelium für den Rest der Welt. Allerdings zogen sie daraus unterschiedliche Konsequenzen. Zum Beispiel hatte sich unter Westeuropäern die pazifistische Haltung viel weiter verbreitet; nicht wenige hatten aus dem Zweiten Weltkrieg ihre Lehren gezogen. Sie kannten Krieg und Verfolgung nicht nur aus Filmen und Heldengeschichten, sondern aus erster Hand, sogar den jüngeren Generationen steckte der Schreck noch in den Knochen. Europäische, genauer gesagt westeuropäische Macht wurde vor allem in Form von »Soft Power« ausgeübt. An die Stelle von Waffengewalt traten Hilfe, Hoffnung auf Wohlstand, teilweise die Aussicht auf Beitritt zur Europäischen Union. Abgesehen von Jugoslawien verlief deshalb der Zerfall des sowjetischen Imperiums in Mittel- und Osteuropa auffallend friedlich: Die Aussicht auf Mitgliedschaft in der EU überdeckte wenigstens vorläufig alle religiösen, ethnischen und nationalen Gegensätze. Die meisten Europäer dachten darüber kaum nach, es erschien ihnen selbstverständlich – was es natürlich nicht war.

In den Nachkriegsjahrzehnten hegte man in Europa – und auch dies war typisch – eine starke Abneigung gegen allzu große soziale Ungleichheit. Nicht zuletzt deshalb boten die Wohlfahrtsstaaten Westeuropas den Durchschnittsbürgern ein hohes Maß an sozialer Sicherheit und Lebensqualität, das im Rest der Welt einschließlich der Vereinigten Staaten unerreichbar blieb. Zu guter Letzt war Europa tonangebend, wenn es um humanitäre Hilfe, die Verteidigung von Menschenrechten und das Eintreten für Werte wie Toleranz und Gerechtigkeit ging. Als zum Beispiel im Frühjahr 2000 in Österreich die ultrarechte Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) an der Regierung beteiligt wurde, waren die Reaktionen heftig; die übrigen 14 EU-Staaten einigten sich auf diplomatische Sanktionen. Die Europäer schreckten nicht einmal davor zurück, um des Ganzen willen ihre nationale Souveränität einzuschränken. All dies verführte den damals populären amerikanischen Publizisten Jeremy Rifkin zu einer gewagten These: Europa werde die Vereinigten Staaten in den kommenden Jahrzehnten wahrscheinlich überholen; der Kontinent sei für die Zukunft bereit. Europäer hätten eine höhere Lebenserwartung, seien besser ausgebildet, weniger durch Armut oder Kriminalität bedroht, hätten mehr Freizeit und einen höheren durchschnittlichen Lebensstandard.

Das große historische Experiment, die Entwicklung eines großen europäischen Marktes mit einer gemeinsamen Währung und einer allmählich vertieften politischen Gemeinschaft, die irgendwann auch eine Art supranationale Regierung haben würde, schien in der Geschichte einmalig zu sein. Das europäische Projekt, meinte Rifkin, würde mehr und mehr zu einem gigantischen Labor für den Rest der Welt werden. Hier würden neue Formen der Zusammenarbeit ausprobiert, hier gebe man nicht unbegrenztem materiellem Wachstum, sondern der Lebensqualität den Vorrang. »Während der amerikanische Geist rückwärtsgewandt erlahmt, erleben wir die Geburt eines neuen Europäischen Traums«, so Rifkin. »Dieser Traum passt besser zum nächsten Schritt der menschlichen Entwicklung – er verspricht in einer zunehmend vernetzten und globalisierten Welt der Menschheit zu globalem Bewusstsein zu verhelfen.«

Für viele waren Europa und die EU also auf dem besten Weg, eine neue Art von Weltmacht zu werden. Völlig glatt verlief diese Entwicklung nicht. Nach Ansicht von Tony Judt war die Europäische Union »zum größten Teil das unbeabsichtigte Produkt jahrzehntelanger Verhandlungen westeuropäischer Politiker, die hauptsächlich versuchten, ihre nationalen Interessen durchzusetzen«.

Der europäische Einigungsprozess schritt deshalb schubweise voran, angetrieben von einer ordentlichen Portion Optimismus. Meistens wurden irgendwann vollendete Tatsachen geschaffen – mit der Einführung eines gemeinsamen Marktes, viel später einer gemeinsamen Währung oder mit der nächsten Erweiterung; alles Übrige, wie etwa eine Verfeinerung der entsprechenden Regeln, würde sich dann schon ergeben, hoffte man. Das war das Prinzip, und jahrzehntelang hat dieser »Fortschritt durch vollendete Tatsachen« gut funktioniert.

In den 1980er Jahren erkannten führende europäische Politiker, dass es auf die Dauer nicht so weitergehen konnte, dass vielmehr eine politische Vertiefung der europäischen Einheit notwendig war. Schließlich ging es längst um viel mehr als um den Verkauf von deutschen Oberklassewagen in Italien, spanischen Tomaten in Großbritannien oder holländischem Käse in Österreich. Eine gemeinsame Außenpolitik erschien immer dringlicher, es bestand Diskussionsbedarf hinsichtlich der europäischen Prioritäten und der europäischen Identität, die Gemeinschaft brauchte ein neues Fundament. Außerdem hatten schon die sechs Pionierländer oft nur mühsam zu einem Konsens kommen können; bei zwölf und mehr Mitgliedern konnte es schon schwierig sein »zu entscheiden, in welchem Restaurant man abends essen sollte«, wie ein Europapolitiker es einmal ausdrückte.

Der Fall der Mauer unterbrach den eingeleiteten Vertiefungsprozess. Plötzlich hatte die »Wiedervereinigung« West- und Osteuropas Vorrang; die organisatorische und politische Vertiefung würde später folgen. Und ein Triumphgefühl machte sich breit: Wir können über unseren Schatten springen; endlich gestalten wir unsere Zukunft selbst. Intern wurde die Zusammenarbeit immer enger, auch auf der persönlichen Ebene. In bestimmten Formationen des Rates der Europäischen Union trafen sich die Minister nun monatlich, die Beamten wöchentlich. Das Vertrauen nahm zu, es entstand das Gefühl, demselben Klub anzugehören. Das selbstbewusste Brüssel schien ein Leuchtfeuer der Zivilisation und des Fortschritts zu sein, und es verdankte seinen Einfluss nicht militärischer Macht, sondern allein der Überzeugungskraft der eigenen Werte, der eigenen Kultur und vor allem des eigenen Erfolgs.

Für die meisten Länder des ehemaligen Ostblocks gab es nach dem Fall der Mauer keine Alternative. Bis auf das frühere Jugoslawien steuerten sie alle wie gewünscht in Richtung des westlichen demokratischen Modells. In den mittel- und osteuropäischen Hauptstädten wurden Gesetze angepasst, Nachbarschaftsstreitigkeiten beigelegt, Ställe ausgemistet. Man machte sich fein, um in den Klub aufgenommen zu werden.

Auf meiner Reise im Jahr 1999 begegnete ich Juristen, die wie Schausteller durch Europa zogen und nichts anderes taten, als Verfassungen umzuschreiben, sie auf die EU zuzuschneiden – darin waren sie bereits sehr versiert. Ein befreundeter Diplomat sagte mir, die EU-Unterhändler würden oft nicht so genau hinsehen und wüssten sehr gut, dass viele Vereinbarungen in den Beitrittsländern kaum umsetzbar sein würden. »Der Prozess muss eben weitergehen«, lautete das Motto. »Man wird sehen, wie lange das alles gut geht; irgendwann in zehn Jahren wissen wir es, fürchte ich.«

Am Ende des Beitrittsparcours lag als letzter Prüfstein der sogenannte Besitzstand der EU oder Acquis de l’Union européenne, ein monströses, rund 50 000 Seiten umfassendes Werk – ausgebreitet auf der obersten Etage des Hauses der Europäischen Geschichte in Brüssel. Es enthält die für alle Mitgliedsstaaten verbindlichen Rechtsakte, Grundlage für das gigantische System von Regeln und Kompromissen, die Ruhe und Ordnung garantieren sollen. Einem Land, das diesen »Besitzstand« im vollen Umfang übernahm, winkte die Mitgliedschaft in der Union – für ewig, denn ein Austritt war nach den damaligen Regeln nicht möglich.

Schon 1990 hatte Kommissionspräsident Jacques Delors im französischen Fernsehen gesagt: »Mein Ziel ist es, dass Europa vor dem Ende des Jahrtausends eine echte Föderation ist.« Der französische Präsident Mitterrand hatte zu Hause vor dem Fernseher wütend ausgerufen: »Das ist lächerlich! Was bildet er sich ein? Niemand in Europa würde das wollen!« Trotzdem hat Delors’ Zukunftsvision noch lange die Richtung des europäischen Projekts bestimmt. Wie der sogenannte Exzeptionalismus – wir haben eine Sonderstellung, wir sind besser als alle anderen Nationen – das Grundübel der amerikanischen Außenpolitik war, so litt die EU in jenen Jahren an einem gefährlichen Triumphalismus – wir haben den historischen Fluch Europas gebrochen, Kriege sind Vergangenheit, alles kann nur immer besser werden.

Das war zum Beispiel die Aussage des historischen Fotos, das am 14. Juni 1985 im luxemburgischen Grenzstädtchen Schengen aufgenommen wurde: fünf relativ junge Politiker, die nervös lachend auf einem Ausflugsschiff posieren. Sie hatten soeben ein Übereinkommen unterzeichnet, mit dem Belgien, Luxemburg, Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland und die Niederlande sich verpflichteten, die Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen schrittweise abzubauen. Es war der erste Schritt zu einem der wichtigsten Erfolge der EU, der größten passfreien Zone der Welt, in der man bald mit 100 Kilometern pro Stunde Grenzen überqueren durfte. Nur: Wie konnte man dergleichen ohne wirksame gemeinsame Kontrolle der Außengrenzen beschließen? Und ohne durchdachte gemeinsame Einwanderungspolitik? In dieser Hinsicht war »Schengen« eine grandiose Geste ohne Inhalt. Alles würde sich finden, glaubte man, die Politik würde sich, wie Jean Monnet immer sagte, nach den Fakten richten. Doch das geschah nicht.

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In dem Buch Dem Land geht es schlecht, seinem letzten bewegenden Appell für eine sozialere Demokratie, erinnert Tony Judt daran, dass kurz nach dem Krieg fast alle großen politischen Debatten in Europa und den Vereinigten Staaten stark moralisch geprägt waren. Arbeitslosigkeit (das größte Problem in Großbritannien, den USA und Belgien), Inflation (die größte Angst in Mitteleuropa, wo immer wieder private Sparguthaben vernichtet worden waren), viel zu niedrige Preise für landwirtschaftliche Produkte (in Italien und Frankreich), weshalb Bauern von ihrem Land vertrieben wurden und sich in ihrer Verzweiflung extremistischen Parteien zuwandten – all diese Missstände seien nicht als rein ökonomische Probleme wahrgenommen worden, vielmehr seien sich alle, von den Geistlichen bis zur säkularen Intelligenz, darüber einig gewesen, dass diese Probleme den ethischen Zusammenhalt der Gemeinschaft auf die Probe stellten. Die Übereinstimmung in dieser Hinsicht sei erstaunlich breit gewesen, auch unter Wirtschaftspolitikern und zweifellos unter den Pionieren der europäischen Einigung. Alle glaubten an den Staat.

Für Judt ist es ein faszinierendes Paradox, dass in jenen harten Nachkriegsjahren der Kapitalismus dank einer tüchtigen Dosis Sozialismus gerettet wurde. Vernünftige Konservative hatten zum Beispiel nichts gegen staatliche Kontrolle der Lebensmittelversorgung einzuwenden und auch wenig gegen eine progressive Besteuerung. Vom Wirtschaftswachstum und allen anderen Erfolgen des europäischen Projekts, davon waren alle überzeugt, würden nicht zuletzt diejenigen profitieren, die es am nötigsten brauchten. Daher der »sanfte« Kapitalismus, der für Europa charakteristisch war, mit allerlei regionalen Varianten wie dem »rheinischen« Modell in Deutschland, dem skandinavischen Modell oder dem niederländischen »Poldermodell«.