Die vielen Leben des Jan Six - Geert Mak - E-Book

Die vielen Leben des Jan Six E-Book

Geert Mak

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Beschreibung

Die Buddenbrooks der Niederlande. Das neue große Familienepos von Geert Mak

Sie sind die Buddenbrooks der Niederlande: Die Six-Dynastie gehört seit dem Goldenen Zeitalter zu den politisch und kulturell bedeutendsten Familien des Landes. Bestsellerautor Geert Mak folgt den Spuren dieser Familie, die seit mehr als vierhundert Jahren in Amsterdam ansässig ist, und erweckt ihre Geschichte und Geschichten zu neuem Leben. Er erzählt die Biographie der Familie bis heute und entwirft zugleich ein ebenso farbiges wie schillerndes Panorama ihrer unterschiedlichen Epochen.

Jan Six – Mäzen, Aufklärer, Kunstsammler, Amsterdamer Regent und verewigt auf einem der schönsten Porträts, das Rembrandt je schuf – gilt als Begründer der Dynastie und hatte eine ganze Reihe von Nachkommen, von denen der jeweils Erstgeborene seinen Namen trug. Wie er gelangten viele von ihnen in den darauffolgenden Jahrhunderten in Kunst, Politik und Wissenschaft zu Reichtum und Ruhm. Andere Familienmitglieder wiederum verbrachten ihr Leben in Armut und Einsamkeit. Zahlreiche Tagebücher, Briefe, Notizen und Aufzeichnungen, die sich zusammen mit dem Rembrandt-Bildnis bis heute im Besitz der Familie befinden, zeugen davon. »Die vielen Leben des Jan Six« ist die Geschichte einer Familie und ihrer Stadt über viele Generationen hinweg. Es ist eine Geschichte von Ambitionen und Scheitern, von Größe und der ewigen Angst vor dem Niedergang.

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Seitenzahl: 681

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Zum Buch

Die Six-Dynastie gehört seit dem Goldenen Zeitalter zu den politisch und kulturell bedeutendsten Familien Amsterdams. Jan Six – Mäzen, Aufklärer, Kunstsammler, Stadtregent und verewigt auf einem der schönsten Porträts, das Rembrandt je schuf – gilt als ihr Begründer und hatte eine ganze Reihe von Nachkommen, von denen der jeweils Erstgeborene seinen Namen trug. Wie er gelangten viele von ihnen in den darauffolgenden Jahrhunderten in Kunst, Politik und Wissenschaft zu Reichtum und Ruhm. Andere Familienmitglieder wiederum verbrachten ihr Leben in Armut und Einsamkeit. Zahlreiche Tagebücher, Briefe, Notizen und Aufzeichnungen, die sich zusammen mit dem Rembrandt-Bildnis bis heute im Besitz der Familie befinden, zeugen davon. Die vielen Leben des Jan Six ist nicht nur die Biographie einer Familie und ihrer Stadt über viele Generationen hinweg, sondern auch ein ebenso farbiges und schillerndes Panorama europäischer Geschichte.

Zum Autor

Geert Mak, geboren 1946, ist einer der bedeutendsten Publizisten der Niederlande und gehört zu den wichtigen Sachbuchautoren des Landes. Zu seinen bekanntesten Veröffentlichungen zählen Amsterdam (1997), Das Jahrhundert meines Vaters (2003) und In Europa (2005). Zuletzt erschien Amerika! Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (2013). Für sein vielgestaltiges Werk erhielt Geert Mak 2008 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Seine Bücher sind internationale Bestseller und wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

Geert Mak

Die vielen Leben des Jan Six

GESCHICHTE EINER AMSTERDAMER DYNASTIE

Aus dem Niederländischen vonGregor Seferensund Andreas Ecke

Siedler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel De levens van Jan Six. Een familiegeschiedenis bei Uitgeverij Atlas Contact, Amsterdam/Antwerpen. Erste Auflage

Oktober 2016

Copyright © 2016 Geert Mak

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe bei Siedler Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg, unter Verwendung einer Fotografie von © Leo Erken/LAIF

Lektorat: Jonas Wegerer, Freiburg

Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

Abbildungen: © 2016, Collectie Six, Amsterdam

Reproduktionen: Aigner, Berlin

ISBN 978-3-641-19979-1V001

www.siedler-verlag.de

Es gibt kein Leben, das nicht,Und sei es auch nur für einen Moment,Unsterblich gewesen ist.

WISŁAWA SZYMBORSKA

INHALT

I AMSTEL

II ANNA

III »SCHÖNE CHLORIS, DIE ICH BEMINNE …«

IV »DAS SCHICKSAL WIRBELT WIE EIN KREISEL …«

V JANS KUNSTKAMMER

VI ZWEI GESICHTER

VII SPLITTER EINER FREUNDSCHAFT

VIII UNSERE EWIGE SEELE

IX JUNKER JAN

X KATASTROPHENJAHR

XI BLUTBAND

XII »OMNIA ORTA OCCIDUNT«

XIII DIE FERNE ZUKUNFT

XIV LIBERTÉ, ÉGALITÉ, FRATERNITÉ

XV»SCHERZE, ÜBLE SCHERZE«

XVILUCRETIA

XVII»ELEKTRIZITÄT, INDUSTRIE, DAMPF«

XVIIIREVANCHE

XIX DOPPELLEBEN

XXEPILOG

DANK

KOMMENTIERTE BIBLIOGRAPHIE

LITERATUR

I AMSTEL

Jetzt, nachdem ich schon seit so langer Zeit durch diese Flure und Zimmer gehe, mir die Porträts vertraut sind wie alte Freunde, jetzt, da ich ihre viele Kartons füllenden Briefe lese, Tag für Tag, jetzt fangen sie an, zu mir zu sprechen. Ich wusste, dass dieser Moment kommen würde. Ich höre sie von den Wänden und aus der Bibliothek, oft flüsternd, manchmal auch schrill, einer lispelt, mit seinem goldenen Gebiss aus dem Jahr siebzehnhundertirgendwas.

Sie sehen mich an, ich spüre ihre Blicke, und aus dem Archiv auf dem Dachboden höre ich ihre Stimmen, aus Tausenden von Briefen und Notizen:

»Um Mangold zuzubereiten, nimmt man Kerbel, den ersten Schnitt. Rübchen, Petersilie, Zwiebeln, dahinein streut man Weizenmehl, während man das Ganze hackt. Die Masse in kochendes Wasser geben, etwas Salz hinzufügen, dazu am besten Reis, etwas Weizenbrot und etwas Butter.«

»Und ich änd’re die häuslichen Sitten

Um Euretwillen allein

Ich hatt’ geschworen, nimmermehr zu minnen

Doch als ich Euch sah, änderte sich mein Sinnen …«

»Der Staatsrat wird wahrscheinlich meinem Mann zufallen, die Generalität dem Bürgermeister Sautijn. Witsen hat die Hälfte seiner Posten für Bürgermeister Munter niedergelegt.«

»Es gefällt uns bisher recht gut hier, obwohl wir nicht zu größeren Festen gehen, wir sind einmal bei Hofe gewesen, und dieses Fest war sehr schön.«

»Nach den vielen Unannehmlichkeiten, die Ihr mir gestern und vorgestern erneut bereitet habt (…), indem Ihr Euch überhaupt nicht in das fügen wolltet, was Euch Eure Pflicht als Frau gebietet, nämlich das Haus für Euren Mann angenehm zu machen, während der Zeit, die er da ist …«

»Liebe Kinder, Knuddelchen. Mir bleiben fünf Minuten, um mit Euch zu reden und Euch zu fragen, wie es Euch bei dem schlechten Wetter geht. Heute Morgen hat es hier so furchtbar geregnet, dass wir im Kontor nicht genug sehen konnten, um unsere Arbeit zu erledigen …«

»Wann werde ich Euch hier sehen, danach sehne ich mich sehr, denn schon seit drei Wochen habe ich Euch nicht gesehen? Wie viele Drosseln habt Ihr schon gefangen? Die Drosseln, die Papa uns geschickt hat, waren sehr gut.«

»Geht Ihr so zu Bett, ohne mich zu küssen? Und soll ich Euch dann mal küssen?«

Im Salon, am Klavier aus der Zeit Napoleons, höre ich eine leise Stimme singen, nach den Noten, die dort stehen, Rondeau de Gulnare:

Sexe charmant, j’adore ton Empire,

mon bonheur est de te céder …

Ich habe ihre Bücher in den Händen gehalten, ihre Gedichte, ihre Spielsachen, ihre ersten Briefentwürfe an eine liebe Tante, in großen, zögerlichen Buchstaben geschrieben:

Liebe Tante,

ich habe ein schönes Service von Großmama bekommen und kleine Bälle und ich bin in Meer en Berg gewesen als Papa Geburtstag hatte hat er ein Feuerwerk entzündet und ich habe eine Zeichnung gemacht und meine Börse ist fertig. Auf Wiedersehen liebe Tante ich bin Eure Euch liebende Nichte Anna van Lennep

20. Juli 1814

Nie werde ich vergessen, wie ich das erste Mal hier vor der Türe stand und hinaufsah. Es hatte ein vornehmes Gesicht, dieses Haus. Mit Wangen aus Stein, einem hohen Treppenpodest mit zwei Mündern und mindestens zwölf Augen. Es strahlte eine gewisse Strenge aus, doch rund um die Haustür schien ein ständiger Tanz stattzufinden. Die Tür, das Muschelrelief darüber, die beiden Laternen links und rechts, alles wogte und wirbelte. Auf dem Dach war es dann auf einmal wieder so, wie es sein muss. Entschlossen überragten die beiden quadratischen Schornsteine alles. Unterdessen strömte die Amstel am Ufer entlang, träge und gelangweilt.

Drinnen duftete es nach Kaffee, vermischt mit einem Hauch von Bohnerwachs. Ich betrat einen breiten Flur, unten im Haus. An der gefliesten Wand hörte ein Bauer nicht auf, friedlich zu pflügen, Papageien kreischten und plapperten, die Uhr stand für alle Zeit auf halb elf, die schwarzen Hände einer Lampe hielten das Licht empor. An den Wänden, ein Stück weiter, querformatige Stiche. Da war das IJ, der Meeresarm im Norden Amsterdams, und dahinter die Stadt in ihren goldenen Jahren, all ihre Fassaden, Türme und Schiffsmasten detailgetreu abgebildet. Dort galoppierte ein Edelmann, neben der Kutsche eines fürstlichen Paars, wacker auf seinem sich aufbäumenden Pferd. Eine Jahreszahl: 1660.

Bei meinem ersten Besuch führte mich der Hausherr herum. In einer Rumpelkammer standen Archivschränke voller Unterlagen aus dem 18. Jahrhundert: Katasterpläne, Quittungen, Dokumente von Nachbarschaftsstreitigkeiten. Es ging dabei um ein Landgut in Hillegom, irgendwann um 1730 oder 1740, doch niemand hatte sich jemals die Mühe gemacht, die Papiere zu ordnen. Überall hingen Porträts: stolze Männer, gleichsam erstarrte Frauen, Kinder als Draperie, still sehen sie den Maler an. Daneben, nachlässig, eine Winterszene aus dem 19. Jahrhundert.

Eine vornehme Familie schleppt einiges mit durch die Zeiten. In diesem Haus gab es Schrankbretter voll von silbernen Eierbechern, Trinkgläsern, antiken Pfeifenköpfen und Zahnbürsten aus Elfenbein – mit lauter kleinen Löchern, die Borsten mussten vermodert sein. Dort stand venezianisches Glas, und so manche schmalen Trinkgläser der Vorfahren aus dem 17. Jahrhundert waren auch noch da, schlank und hoch, um die riesigen Krägen jener Epoche zu schonen. Hier hing ein Bisamapfel, eine zierliche Kapsel gefüllt mit Ambra, die vornehme Damen früher an einem Kettchen zwischen den Rockfalten trugen, um Läuse und »böse Gerüche« zu vertreiben. Gedenkmünzen und Reiterorden lagen ein wenig ungeordnet aufeinander, neben einem Diamantring von Zar Alexander I., ein Geschenk, das er zu einem Besuch mitbrachte: »L’ empereur Alexandre à M. Van Winter, 4 Juillet 1814«. In der Bibliothek stapelten sich Tausende Zeichnungen, Tagebücher, Notizen und Briefe, gesammelt über viele Jahrhunderte, und alles immer noch quicklebendig.

Am Treppenaufgang schaute ein Mädchen schüchtern in die Welt, das irgendwann in der Mitte des 18. Jahrhunderts geboren wurde. Fest geschnürt war es, und auf dem Kopf trug es einen dick wattierten Sturzhut. Damit lernten reiche Kinder damals laufen. In der Hand hielt es eine Puppe, ein Püppchen mit einer Puppe.

Oben stieß ich dann auf den Salon, das große Wohnzimmer, das es in jedem Grachtenhaus gibt. Die Fenster waren hoch und hell und gaben den Blick frei in einen Garten mit hohen Bäumen, Taxushecken, Rosenbeeten, Hortensien und Rhododendren. Mit dem uralten Spielhaus für die Kinder und der Sonnenuhr in der Mitte, durch die hin und wieder ein grüner Schwarm von zwitschernden Sittichen flog, war er eine Oase der Stille.

Von hier oben sah der Garten aus wie ein Modell: Einst hatte man die Bäume so kunstvoll gruppiert, mit viel Gespür für Achsen und Perspektiven, dass der Betrachter sich auf einem Landgut wähnt, hier, inmitten der Straßen von Amsterdam. An den orangegelben Wänden herrschte indes ein ziemliches Gedränge. »Hier haben wir Nicolaes Tulp«, sagte der Hausherr. Tulp, einer seiner Vorfahren, ist die zentrale Figur in Rembrandts berühmtem Bild Die Anatomie des Dr. Tulp. Er sollte einer der mächtigsten Männer der Stadt werden. Auf einem ersten Porträt, das der Hausherr mir zeigte, ist Tulp noch jung, mit einem Bärtchen und einem hitzköpfigen Gesichtsausdruck. Später, 1658, entstand dann ein weiteres Porträt von Tulp, der nun in einem großen Stuhl sitzt und in feierliches Schwarz gekleidet ist. In seinem Blick funkelt so etwas wie Ironie – vielleicht weil sein Sohn sich, im Gegensatz zu seinem genügsamen Vater, schon seit Jahren in den farbigsten Stoffen kleidete; das Haar seiner gewaltigen Perücke fällt bis über seine Brust herab.

Da hing auch Großmutter Tulp; sie hatte an einer Seitenwand ihren Platz gefunden. Friedlich sitzt sie unter einem Baum und beobachtet das Spiel ihrer Enkel, daneben steht die Arztkutsche ihres berühmten Sohns. Doch was für seltsame Familienwappen hatte man später darübergemalt, fast wie Aufkleber, die man auf einem Kühlschrank anbringt. Das war, so erfuhr ich, das Werk eines traurigen Onkels, irgendwann im 19. Jahrhundert, ein verdorrter Zweig der Familie, der Onkel blieb ledig. Er hatte einen Buckel und sei, so erzählt man sich, als Kind mit einem Auge in eine Schere gefallen. Ruhig war es hier nie, alle schauten sie mir ständig über die Schulter. Hinter mir hing ein früher Lord Byron, mit feurigem Blick, einer dunklen Perücke, Stoppelbart und üppigem Brusthaar. »Das ist der womanizer des Hauses, Jan van den Bempden, Ende des 17. Jahrhunderts.« Ein kleines, aus dem 16. Jahrhundert stammendes Bild von Pieter Bruegel dem Älteren – das einen Advokaten zeigt. Ein Verlobungsporträt, dem Augenschein nach ein Jahrhundert später. Ach, wie traurig sie guckt, für immer festgehalten, nur wegen des Geldes und der Familie.

Dieses Haus hat mehr als vierzig Zimmer, es beherbergt rund zweitausend Stiche und Gemälde, und im Archiv lagern, wie man mir sagte, mindestens hunderttausend Dokumente. Es gibt Schränke voll von silbernen Kerzenständern, Damasttischdecken und vollständigen Services – vor allem das »Kornblümchen« war beliebt, »wenn man vornehm war, aß man von nichts anderem«. Hinzu kommen all die Kuriositäten, die dazugehörten, wie etwa die silbernen Becher in Mühlenform und andere Gerätschaften, deren es bedurfte, um eine Gesellschaft des 17. Jahrhunderts im Eiltempo unter den Tisch zu trinken.

Die Küche im Souterrain, das habe ich bei meinen vielen Besuchen, die meinem ersten Rundgang folgten, gelernt, ist das Herz des Hauses. Die Balken sind niedrig, der Rauchfang ist groß und geräumig, die Atmosphäre changiert zwischen dem 19. und 21. Jahrhundert. Hier wird auch heute noch Tag für Tag Kaffee getrunken, zu Mittag gegessen – Milch, Käse, Schokoladenstreusel, Marmelade in allen möglichen Varianten –, und alle versammeln sich am Tisch: Annabelle, die Frau des Hauses, die Söhne Jan und Bas, die Restaurateure, die Mitarbeiter aus dem Archiv und dem Sekretariat und wer sonst noch gerade da ist. Die Gespräche wechseln munter hin und her. »Die Kupferplatte von Rembrandt ist auch wieder da, hast du jemals so etwas in den Händen gehabt?« – »Ja, das ist wirklich ein interessantes Ding.« – »Gütiger Gott, hat Tante Totie darauf auch rumgekritzelt?«

Es ist und bleibt ein Familienhaus, das Haus der Familie Six an der Amstel. Six van Hillegom heißen sie offiziell, und die ältesten Söhne tragen – fast – alle den Namen Jan. Das ist eine Tradition, die 1618 mit dem Stammvater begann, mit Jan Six – Tuchfärber, Dichter, Kunstliebhaber, Bürgermeister der Stadt Amsterdam, ein Freund Rembrandts und des Dichters Joost van den Vondel. Der heutige Hausherr ist der zehnte Jan Six. Sein Sohn, Kunsthändler, ist der elfte, und den zwölften Jan Six gibt es auch schon, ein strahlendes Bürschchen in einem Buggy.

Als ich vor rund zehn Jahren Bekanntschaft mit dem Haus und der Familie machte, stand die große Restaurierung des Gebäudes noch bevor. Alles zeigte Spuren jahrelangen Gebrauchs, der Zahn der Zeit hatte an jeder Teppichfaser und -falte genagt. Es war ein Haus voller Kunst und Geschichte, und zugleich war es ein Haus, in dem Kinder herumgetobt hatten, in dem gelacht und gestorben worden war, in dem man Gäste empfangen und Streit ausgetragen hatte.

Es war ein Haus, in dem man die traditionellen Feste – Nikolaus, Weihnachten, Neujahr, Ostern – bis vor kurzem als große Familienrituale begangen hatte, in dem man stets korrekt gekleidet war – die Jungen früher immer in Matrosenanzügen –, in dem ein jeder seinen oder ihren Platz kannte. In dem aber der Hausherr auch schon mal einen Eimer Wasser über einen allzu heftig brennenden Weihnachtsbaum gegossen hatte. Und wenn dabei unglücklicherweise ein Schwall Wasser auf diesem oder jenem ehrwürdigen Vorfahren gelandet war: soit.

Dieses Haus hat etwas Bezauberndes. Das liegt, wie mir mit der Zeit bewusst wurde, vor allem an der großen Kontinuität, die in dieser Familie herrscht, Generation um Generation. Man stelle sich vor: Es gab einen Jan Six im 17. Jahrhundert, der als Jan Six im Amsterdam des 18. Jahrhunderts weiterlebte, in seinem Sohn, seinem Enkel, seinem Urenkel. Als es mit der Stadt bergab ging, ging es auch mit der Familie bergab, doch im 19. Jahrhundert knüpfte Jan Six an die alten Zeiten an und machte große Karriere: als Kunsthistoriker, als Universitätsrektor, als Mitgründer des Rijksmuseums. Im 20. Jahrhundert machte er dann Geschäfte: als Direktor einer Brauerei, als Werbefachmann. Jetzt ist er wieder in der Kunst tätig.

Auf dem oberen Flur und in den Nebenzimmern hängen sie noch immer, all die Inkarnationen des Jan Six. Der erste Jan, auf dem Höhepunkt seines Lebens brillant gemalt von seinem Freund Rembrandt, weise und melancholisch zugleich. Sein Sohn, lange Zeit Bürgermeister, ein typischer Regent des 18. Jahrhunderts, aufgedunsen und mit schwerer Perücke. Ein Kinderporträt des Enkels, ebenfalls ein Jan, als kleiner Kaiser ausstaffiert, von Symbolen umgeben: eine Flöte, Blumen – ach, der kleine Kerl hat nur ein paar Jahre gelebt. Ein zweiter Enkel namens Jan, eine arrogante Person aus dem 18. Jahrhundert. Ein kleiner Scherenschnitt von dessen Sohn Jan, ein glückloser Diener Napoleons – seine Tochter brannte mit einem Gehilfen des Schulzen durch, noch ein Jahrhundert später sprach man Schimpf und Schande über sie. Sein Sohn Hendrik, der die Familie wieder nach oben brachte, indem er die Tochter eines steinreichen Holzhändlers heiratete. Der Jan Six aus dem 19. Jahrhundert, ein grauer, etwas wehmütiger Mann und ein berühmter Münzsammler. Sein Sohn, Professor, ein schöner Mann mit Sean-Connery-Bart – und jetzt sind wir bereits im 20. Jahrhundert.

Und da sind die Frauen: die robuste Urmutter Anna Wijmer, von Rembrandt gemalt, die sanfte, schwangere Margaretha Tulp, die mit dem ersten Jan verheiratet wurde, die harten Gesichter ihrer Schwiegertöchter, die ungestüme Lucretia van Winter, die sich 1822 des Geldes und des Status von Hendrik wegen in einen goldenen Käfig sperren ließ, die hübsche Hieronyma Bosch Reitz, die jahrzehntelang, bis ins Jahr 1951, die vielköpfige Familie regierte.

Die Sixe sind eine Familie von Sammlern und Hütern. Familienporträts wurden grundsätzlich nicht verkauft, das war – und ist – in diesen Kreisen nicht üblich. Sie gingen meist auf den ältesten Sohn über. Deshalb ist dies das einzige von einer Familie bewohnte Haus der Welt, in dem noch zwei Porträts von Vorfahren hängen, die Rembrandt gemalt hat. Dieses Prinzip des Sammelns und Bewahrens galt in der Familie Six allerdings auch für das Porzellan, das Silber, die Gläser und Tausende andere Gebrauchsgegenstände, große wie kleine. Ein Familienmitglied schrieb: »Es ist faszinierend, sich bewusst zu machen, dass man sich heute den Mund mit einer Damastserviette abwischt, in die schon die Großmutter deines Urgroßvaters ihr freundliches Gesicht gedrückt hat.«

Jeder dieser Gegenstände bildet eine Art Brücke. Sie alle sind Brücken in die Zeit, wie die Münze, die den Amsterdamer Bürgermeistern am 29. Juli 1655 anlässlich der Einweihung des Rathauses – dem späteren Paleis op de Dam – überreicht wurde. Sie sind Brücken in den Raum, wie die dunkelgrüne Jaspisschale, die der erste Jan irgendwann um 1643 mit über die Alpen gebracht hat, als er aus Italien zurückkehrte. Sie sind, fast wie Reliquien, Brücken zwischen Himmel und Erde, zwischen Sterblichkeit und Unsterblichkeit, wie die wunderbar verzierte Dose, die vergessen in einer Vitrine liegt und in der sich zwei Haarlocken befinden – wem die gehören, weiß niemand mehr.

Jeder einzelne Six war ein Kind seiner Zeit. Während all der Jahre waren die Sixe ein Teil der Stadtmaschinerie, oft hielten sie sogar, zusammen mit anderen, das Steuer in der Hand. Sie gingen mit der Zeit und den Moden, sie mussten sich politischen Veränderungen und technischen Revolutionen und einer sich permanent erneuernden Stadt anpassen, manchmal drehten sie sich wie eine Wetterfahne im Wind. Und dennoch trugen sie, Generation um Generation, diese angehäufte Vergangenheit mit sich. Einerseits indem sie dieses Haus mit all seinen Porträts, Briefen, Pfeifenköpfen, Zahnbürsten und Taschentüchern aus dem 17. Jahrhundert über die Jahrhunderte hinweg unterhielten. Und andererseits indem sie gewisse Eigenschaften und Talente, entweder angeboren oder durch Tradition anerzogen, fortführten und kultivierten. Die kunstsinnigen Qualitäten des Jan Six aus dem 17. Jahrhundert treten in späteren Generationen immer wieder zutage, bis heute. Und auch dem geschäftlichen Talent des Jan Six aus dem 18. Jahrhundert begegnet man häufiger.

»So empfinde ich das auch«, sagt der elfte Jan Six. »Ich habe Eigenschaften meines Ururgroßvaters, des Kunsthistorikers, das weiß ich genau. Und vielleicht auch welche des ersten Jan. Aber ich habe auch Teile all der anderen Jans in mir und der vielen Nebenzweige. So lebt die Familie in einem weiter.«

»Und doch«, fügt er hinzu, »bin ich ich selbst.«

In einem Wohnzimmer stoße ich auf das Porträt einer jungen Frau. Sie ist etwa neunzehn Jahre alt und schaut still und schüchtern. Es handelt sich um ein Brautbild: das schwarze Brautkleid – weiß wurde erst im 19. Jahrhundert modern – ist aufwendig gearbeitet, die junge Dame trägt den Ehering am rechten Zeigefinger, um die Taille hat sie eine große Kette – das übliche Hochzeitsgeschenk – für die Schlüssel zu den Schränken im ehelichen Haus. Und, tatsächlich, sie trägt exakt einen solchen Bisamapfel, wie hier einer aufbewahrt wird.

Sie war ganz offensichtlich ein Mädchen aus reichem Hause: In der Linken hat sie ein Paar wunderbar bestickte Brauthandschuhe, auf denen Perlen und goldene Fäden glitzerten.

»Nicht mal ein Jahr später war sie tot«, sagt der Hausherr. Sie überlebte die Geburt ihres ersten Kindes nicht. Er öffnet eine Schublade. »Möchtest du die Handschuhe, die sie auf diesem Bild hält, einmal sehen?«

Plötzlich habe ich die Brauthandschuhe in der Hand, mit den Perlen und den festen Goldfäden, dem etwas steifen Stoff.

Für einen Moment ist es 1612.

II ANNA

In gewisser Weise ist es ein mysteriöses Gemälde, das Porträt von Anna Wijmer, der Frau von Jean Six und der Mutter des ersten Jan. Es hängt in einem der oberen Zimmer, stammt aus dem Jahr 1641 und wurde von Rembrandt gemalt. Anna wirkt auffällig jung für eine Frau von Mitte fünfzig, nur an den Rändern ihrer Haube lugen ein paar graue Haare hervor.

Eines Morgens, als ich kurz im Hause Six vorbeischaute, herrschte ziemliche Aufregung am Küchentisch. Eine schwedische Fotografin, Margareta Svensson, war zu Besuch gewesen, um Bilder von den Rembrandts zu machen, die hier hängen. Es waren Hightech-Aufnahmen, genauer und schärfer als je zuvor. Und ja, die Rückseite musste mit derselben Genauigkeit abgelichtet werden. So wurde Anna Wijmer bis ins kleinste Detail fotografiert, und anschließend musste man das Gemälde umdrehen.

Nun wurde Anna Wijmer nicht auf Leinwand gemalt, sondern auf eine bleischwere hölzerne Tafel. Umdrehen war also gar nicht so einfach. Als sie dann wieder an der Wand hing, machten die Experten mit ihren ultrascharfen Kameras eine überraschende Entdeckung: Der Schnitt am unteren Rand des Bildes sah ein klein wenig anders aus als die anderen drei. Sagen wir es so: Anna Wijmer wurde abgesägt, und zwar von Rembrandt persönlich, der auf diese Weise das Porträt einer stehenden Frau in das einer sitzenden umarbeitete. Der Restaurator des Gemäldes, Laurent Sozanni, hatte so etwas bereits geahnt. Unter dem alten Firnis schien es an sehr vielen Stellen Korrekturen und Übermalungen zu geben. Und jetzt hatte man Gewissheit!

»Komm mit«, sagte der Herr des Hauses, »dann kannst du es selbst sehen.« Wir gingen nach oben und drehten Anna um. Das dicke Tropenholz ließ sich tatsächlich nur schwer anheben. »Siehst du dort die quadratische Aussparung? Das sind die Reste der Scharniere. Wahrscheinlich handelt es sich um den Deckel einer Kiste, in der allerlei Sachen aus Brasilien nach Amsterdam transportiert wurden. Und schau, da ist der Schnitt. Vollkommen anders, oder nicht?«

Wir drehten das Gemälde erneut um. »Als die alte Firnisschicht herunter war, sahen wir sofort Rembrandt bei der Arbeit. Die Korrekturen wurden all die Jahrhunderte lang von dieser bräunlichen Schicht verdeckt. Jetzt konnte man plötzlich sehen, dass an dem schwarzen Kleid ein Stück hinzugemalt wurde. Das gilt auch für den Stuhl, der steht so merkwürdig hinter ihr, und wenn du genau hinsiehst, stellst du fest, dass Rembrandt ihn mindestens dreimal übermalt hat. So machte er aus einem stehenden Porträt ein sitzendes. Dieses Suchen, dieses immer wieder Ändern, das ist typisch für ihn.«

Warum aber musste Anna sitzen? »Die Komposition ist jetzt stimmiger, die Betonung liegt nun viel stärker auf dem Gesicht. Und außerdem: Stehend wäre sie irgendeine Frau gewesen. Sitzend wurde sie eine Herrin, eine würdevolle Dame, die mächtige Kauffrau, zu der sie im Laufe der Jahre geworden war.«

Viel weiß man nicht über diese Anna Wijmer. Bereits in jungen Jahren war sie Witwe geworden, ihr Mann, der Färber und Tuchhändler Jean Six war 1617 gestorben, und sie hatte sein Geschäft weitergeführt. Im Amsterdam des 17. Jahrhunderts entpuppten sich einige Frauen – häufig waren es Witwen – als hervorragende Unternehmerinnen, und Anna war eine von ihnen. Der Dichter Joost van den Vondel schien die Familienverhältnisse gut zu kennen, als er in einem Gedicht schrieb:

Welch ein Vergnügen war’s für die bejahrte Witwe,

dass ihr gehorsam Blut ihr so zu Diensten war.

Anna muss eine starke und zupackende Frau gewesen sein. Sie war die treibende Kraft der Familie Six, jahrzehntelang. Ihre Eltern stammten aus der nordfranzösischen Stadt Saint-Omer – »Wijmer« ist wahrscheinlich eine Verballhornung von »Omer«. Anna gehörte einer protestantischen Familie an, die um 1585 herum in den Norden geflohen war, als die Verfolgung der »Ketzer« und Andersdenkenden unerträglich wurde.

Ein ähnliches Schicksal ereilte auch die Familie Six. Sie stammte ursprünglich aus der Gegend von Kamerijk, dem heutigen Cambrai in Nordfrankreich. In der Bibliothek gibt es Stammbäume, Urkunden und anderes Material über die ersten Sixe, und aus diesen Dokumenten ergibt sich das Bild einer führenden Familie, die schon seit dem 11. Jahrhundert dem – niederen – Adel angehörte.

Die Sixe waren früh eine vermögende Familie: Ein gewisser Alexandre Six kämpfte 1415 in der Schlacht von Azincourt, dem historischen Aufeinandertreffen von Karl VI. von Frankreich und Heinrich V. von England. Alexandre wurde von den Engländern gefangen genommen und konnte sich gegen ein hohes Lösegeld freikaufen. Für die übrige französische Aristokratie war die Schlacht zu einem regelrechten Gemetzel geworden. Mit ihren schweren Helmen und Rüstungen waren die Grafen und Ritter den beweglichen englischen Bogenschützen hoffnungslos unterlegen. Hunderte von Edelleuten wurden gnadenlos getötet.

Auf die Dauer konnte sich die Familie in dem ritterlichen Umfeld jedoch nicht behaupten. 1511, so vermerkt der örtliche Chronist, zog sich ein Jean Six, ein »geachteter Edelmann und ehrenwerter Schildknappe«, nach Flandern zurück, »weil er sah, dass der Adel viele seiner alten Privilegien verlor und dieser Stand keinen Vorteil mehr bot«. Über Armentiers und Lille kam die Familie nach Saint-Omer, wo Jeans Sohn Charles, der Großvater des ersten Jan, »sich dem Handel widmete«.

Wann die Familie Six dazu überging, mit Tuchen und kostbaren Farben zu handeln, weiß man nicht genau, doch es ist wahrscheinlich, dass sie ihr Glück sehr bald damit versuchte. Saint-Omer ist heute eine etwas heruntergekommene Stadt; die Abtei Saint-Bertin, früher einmal eine der größten Kirchen Nordfrankreichs, befindet sich in einem elenden Zustand und ist halb eingestürzt. Doch die Wände des örtlichen Museums zeugen noch immer von dem überwältigenden Reichtum der Farben, der dieses alte Handelszentrum auszeichnete. Saint-Omer war ein dynamischer Vorposten von Brügge und Gent, eine wichtige Station auf dem Handelsweg von Venedig nach Antwerpen, den städtischen Zentren des damaligen Europas.

Farben gehörten zum reichen Leben in der Stadt. Sie waren die leuchtenden Ausnahmen in einer Welt, die ansonsten meist grau und verschlissen aussah. Wer früher Farben brauchte – zum Malen, um Stoffe zu färben, um Kirchen auszuschmücken oder um buntes Glas zu gestalten –, benötigte dafür natürliche Grundstoffe, etwas anderes gab es nicht. Für Ölfarben wurden manchmal farbige Steine und Mineralien chemisch bearbeitet. Sie wurden gemahlen und mit Bindemitteln wie Zitrone oder Urin gemischt. Deutsches Blau zum Beispiel wurde aus dem bläulichen Belag von Kupfer gemacht, Bleiweiß aus Blei und Essig, Kupfergrün aus Kupfer und Essig, Grün wurde aus den Beeren von Geißblattgewächsen gewonnen, Goldgelb aus den Stempeln einer Krokusart, roter Lack aus dem Saft des Efeus, in Urin gekocht.

Überseeblau machten die Maler – man frage nicht wie – aus dem tiefblauen Edelstein Lapislazuli, der nur an einem einzigen Ort auf der Erde zu finden war, in einem Tal im Nordosten Afghanistans. Ein Gramm Lapis war jahrhundertelang ebenso teuer wie ein Gramm Gold. Einfaches Blau stellten die Farbenmacher aus Kobalt her. Aus gemahlenen Schildläusen gewannen sie eine Farbe wie Karmesin; oder sie benutzten das Sägemehl tropischer Holzarten. Auch für das Färben von Kleidung verwendete man die merkwürdigsten Ausgangsmaterialien. Pflanzensaft etwa eignete sich für grüne Farbtöne. Blau in allerlei Spielarten gewann man aus den Blättern von Färberwaid, einer heute seltenen Pflanze. Später kam noch ein Blauschwarz in Mode, das sehr viel farbechter war. Es wurde in einem komplizierten Verfahren, unter Verwendung von Indigo, Gallapfel und Eisenerz, hergestellt. Schönes Schwarz war exorbitant teuer. Tyrischer Purpur wurde aus Purpurschnecken gewonnen. Als sich Forscher Jahrhunderte später an der traditionellen Herstellungsweise versuchten, wurde ihnen bald bewusst, wie unwahrscheinlich aufwendig dieser Prozess gewesen sein muss: Für 1,4 Gramm Farbstoff brauchte man nicht weniger als zwölftausend Purpurschnecken.

Vor allem auf dem Land blieb die Kleidung meist ungefärbt. Die Menschen hatten weder das nötige Geld für Farben, noch verfügten sie über die Technik, um diese herzustellen. Alles war braun, naturfarben oder irgendwie blassgrün. Die »graue Masse« als Bezeichnung für die einfachen Leute, spiegelte weit über das Mittelalter hinaus schlicht die Realität wider. Gefärbte Kleidung gehörte zur Kaufmannsstadt. Dorthin kamen die Händler, die über die seltenen Rohstoffe wie Lapislazuli und Indigo verfügten. Dort lebten reiche Kaufleute und mächtige Regenten, dort war das Geld, dort war die Kleidung Ausdruck der sozialen Position, die sich auch in den Farben zeigte. Nicht der Stoff und der Schnitt eines Mantels waren wichtig, sondern die Farbe, und das einzig und allein, weil Farben so unglaublich viel kosten konnten.

Rang, Stand, Alter, all das ließ sich an Farben ablesen. Blau zum Beispiel war die Farbe des Himmlischen, Schwarz stand für Einfachheit, Demut und Distanz zu allem Irdischen, bunte Farben verwiesen auf volkstümliche Vergnügungen.

Der Advokat auf dem kleinen, aus dem 16. Jahrhundert stammenden Gemälde von Bruegel im Hause Six trägt einen knallroten Mantel: »Wem das Recht steht zu Gebot, der darf tragen Scharlachrot.« Der fromme alte Tulp ist immer ganz schlicht in Schwarz gekleidet. Stammvater Jan Six trägt auf einem Porträt Schwarz, auf den beiden anderen hat er einen wertvollen roten Umhang an. Den mochte er offenbar sehr gerne, und ein solcher Umhang konnte ein Leben lang halten.

Kurzum, es ist kein Zufall, dass das aus gelben Backsteinen errichtete Siegelhaus der Tuchmachergilde den Großen Markt von Saint-Omer dominiert: Mit der Fertigung von Tuchen und Farben wurde sehr viel Geld verdient.

Auch das Färben als solches gehörte zum reichen Stadtleben. Maler und Tuchfärber befanden sich in einem fortwährenden Wettstreit, mit Tausenden von Farbrezepten, eines komplizierter als das andere. Den Färbern wurde ein unfehlbares Auge für Farbtöne und Mengenverhältnisse abverlangt. Weil die Farbe rasch eintrocknete, mussten Tag für Tag neue Mengen der exakt gleichen Mischung hergestellt werden. Die Färbereien, und ganz besonders die Seiden- und Tuchfärbereien, waren daher ein Handwerkszweig, der von Scharfsinn geprägt und von Geheimnissen umgeben war. Farbenmacher waren so etwas wie Alchemisten.

Saint-Omer genoss einen besonderen Ruf. Die Stadt war schon seit dem 13. Jahrhundert berühmt wegen der Güte der Stoffe, die dort gewoben und gefärbt wurden. Die Tuchherstellung war straff organisiert, es gab eine Reihe von Qualitätsstandards – »Kategorien« –, die, mit Hilfe von Inspektionen, exakt eingehalten wurden. Das galt auch für die Farben. In ganz Frankreich trugen Fürsten, Herzöge, Grafen und Höflinge Farben aus Saint-Omer.

Es ist, angesichts der wenigen Quellen, die uns nicht mehr als einige Namen, ein Geburtsdatum und ein paar Hinweise wie »Bürger von Saint-Omer« oder »Tuchhändler« verraten, schwierig, einen Eindruck von der damaligen Familie Six zu gewinnen.

Auch von Charles Six, dem Großvater von Jan, ist fast nichts erhalten geblieben. Er lebte von 1535 bis 1595 und muss unweigerlich von den großen gesellschaftlichen und religiösen Entwicklungen mitgerissen worden sein. Fremde Welten öffneten sich in Amerika und im Fernen Osten, mit ihren bis dahin nicht gekannten Gütern und Kulturen. Dank der Erfindung des Buchdrucks konnten sich Laien wie Charles ein Wissen aneignen, das früher nur der Geistlichkeit und einer Handvoll Wissenschaftlern zugänglich war. Das ging alles sehr schnell, vor allem in den Niederlanden: Als der spanische Thronfolger Philipp II. 1549 durchs Land reiste – er besuchte unter anderem Saint-Omer –, da wunderten sich seine Höflinge darüber, dass bis in die fernsten Winkel der Provinz fast alle Menschen lesen konnten, selbst die Frauen. Die ewigen Wahrheiten des Mittelalters wurden seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts überall in Europa hinterfragt, der allgegenwärtigen Autorität von Kirche und Staat stand vermehrt eine freigeistige Atmosphäre gegenüber. Was Fürsten und Päpste lehrten und was man selbst dachte, war nicht länger identisch. So wurde der Weg für die Trennung von Staat und Kirche und für einen persönlicheren Glauben geebnet. Individuelle Freiheit erhielt einen immer höheren Stellenwert, und der Ruf nach Grundrechten wurde laut. Dies war der Beginn des Rechts auf Individualität und Gewissensfreiheit.

Währenddessen diskutierte man auf dem ganzen Kontinent über die Reformation. In den Niederlanden und den umliegenden Teilen Europas wurden die meisten Reformierten, auch die Familien Six und Wijmer, vor allem durch den Genfer Reformator Johannes Calvin inspiriert. Verwunderlich war das nicht. Calvins Familie stammte aus dieser Gegend, seine fromme Mutter kam wie die Sixe aus Kamerijk.

Ein endgültiger Bruch mit der katholischen Kirche konnte weitreichende Folgen haben und einen Umzug in eine Stadt oder Gegend, in der die eigene Konfession vorherrschend war, nach sich ziehen. So wurde zum Beispiel ein gewisser Salomon Six 1593 für zehn Jahre verbannt, weil er eines seiner Kinder von einem Prediger hatte taufen lassen. Er ging nach England, sein Name findet sich später unter den protestantischen Predigern in Sandwich.

Die Konsequenzen konnten jedoch auch sehr viel gravierender sein: Gefängnis, Verbannung, Verstümmelung und nicht selten der Scheiterhaufen. So wurde zum Beispiel im nahegelegenen Menen während einer der vielen Ketzerverfolgungen Claudine le Vettre, eine fromme Mennonitin, zusammen mit ihrem Baby und ihrem Bruder gefangen genommen. Ihr Mann, von einem Freund gewarnt, konnte mit dem dreijährigen Sohn im letzten Moment flüchten. Das Kind, das sie noch stillte, wurde ihr weggenommen und verschwand. Ihr Bruder wurde verbrannt. Nach einem Schauprozess in Ypern, bei dem sie sich standhaft zu ihrem Glauben bekannte, wurde sie lebendig begraben.

Für Charles Six muss die Glaubensfrage eine sehr ernste Angelegenheit gewesen sein: Er ließ seine Tochter Chrétienne später in die äußerst fromme Familie von Claudine le Vettre einheiraten. Sie nahm den Jungen, der mit seinem Vater entkommen konnte, zum Mann.

Es gibt im Haus an der Amstel einen Gegenstand, der an Charles Six erinnert: ein rotes Stück Blei. Es ist recht grob und unregelmäßig ausgestanzt, unten das Wappen von Amsterdam, darüber der Text »Gheverft Amsterdam door Charles Six van Armentier« (Gefärbt Amsterdam von Charles Six van Armentier) und dann die Jahreszahl: 1589. Es handelt sich um ein Bleisiegel, mit dem die Tuchprüfer, welche die Qualität und die Farbe der angebotenen Tuche kontrollierten, die für gut befundene Ware versahen. Solche Siegel wurden zu Hunderten geschlagen, und vermutlich wurde dieses Exemplar einst aufbewahrt, weil es eine besondere Bedeutung hat: Es ist das erste Prüfsiegel, das in Amsterdam für die Familie Six gefertigt wurde. Bereits der erste Jan Six erwähnt es in seinen Notizen, und auch die Jahreszahl könnte stimmen. Denn tatsächlich operierte die Familie Ende des 16. Jahrhunderts plötzlich von Amsterdam aus. Wie zahlreiche andere Familien auch hatte sie das reiche Saint-Omer verlassen.

Der Exodus begann gut zwanzig Jahre zuvor. Als es 1565 Missernten gab und der Import von Getreide aus dem Ostseeraum zum Erliegen kam, schossen die Getreide- und Brotpreise in die Höhe. Hier wie dort brachen Hungersnöte aus. Die sowieso schon angespannte Stimmung in den Niederlanden – der neue König Philipp II. hatte nach dem Tod seines Vaters die Ketzerverfolgung verschärft wieder aufgenommen – war jetzt denkbar schlecht.

Philipp II. regierte über ein gewaltiges Weltreich, das von der Iberischen Halbinsel bis nach Kalifornien, Chile und zu den Philippinen reichte. Zu den Niederlanden hatte er keinerlei Bindung, des Niederländischen war er nicht mächtig, und nicht einmal die Sprache des Adels, Französisch, beherrschte er. Die Regierungsgeschäfte in der fernen Provinz überließ er seiner Halbschwester Margarethe von Parma, die als Statthalterin in Brüssel residierte.

1566 kam alles, was gärte – Protestantismus, Humanismus, der Machtverlust des Adels, extrem hohe Steuern, religiöse Verfolgung, Hunger und ein immer stärker werdendes bürgerliches Bewusstsein –, zur Explosion. Rund fünfhundert Mitglieder des niederen Adels überreichten der Statthalterin eine Petition, in der sie um ein weniger strenges Auftreten den Protestanten gegenüber baten. Von manchen Angehörigen des Hofes wurden die Überbringer der Forderungen verhöhnt – »Ils ne sont que des gueux!« (Sie sind nichts als Bettler!), spottete der königstreue Graf Charles de Barlaymont –, doch von der Bevölkerung wurden diese Edelmänner bejubelt: »Es leben die Geusen!« So wurde ein Schimpfwort im Handumdrehen zum Ehrentitel, und die Rebellen hatten einen Namen: Geusen.

Die Statthalterin musste die Bittschrift, wohl oder übel, ernst nehmen. Sie stoppte die Ketzerverfolgung, doch weiterreichende Maßnahmen blieben aus. Nun begann auch das Bürgertum, die Autoritäten herauszufordern: Die calvinistischen Prediger nutzten die neuen Freiheiten und hielten noch im selben Sommer außerhalb der Städte Gottesdienste unter freiem Himmel ab, sogenannte Heckenpredigten. Diese Gottesdienste, in denen die Prediger gegen den Luxus und die »weltlichen Lüste« der »papistischen Götzendiener« wetterten, hatten einen gewaltigen Zulauf. Gleichzeitig stiegen die Preise immer weiter.

Ausgerechnet in der Umgebung von Saint-Omer kam es zu ersten Gewalttaten. Am 1. August 1566 erschien ein gewisser Sebastian Matte, ein aus der englischen Verbannung zurückgekehrter Protestant, mit zweitausend Mann vor den Toren der nahegelegenen Stadt Veurne. Der Angriff wurde zurückgeschlagen, doch am 10. August gelang es seinen Anhängern nach einer aufwiegelnden Predigt vor den Mauern von Steenvoorde, ein Kloster zu erstürmen. Alles, was heilig und wertvoll war, wurde zerstört oder gestohlen. Danach gab es kein Halten mehr: Innerhalb einer Woche wurden mehr als einhundert Kirchen geplündert und zerstört. In Ypern hausten die protestantischen Rebellen zwei Tage lang, nicht eine einzige Kirche blieb verschont. In Antwerpen zog eine große Menge raubend und plündernd von Kirche zu Kirche. In Amsterdam wurde ein Priester während der Messe von Kirchenbesuchern niedergebrüllt: »Du Papist! Hör auf, den Teufel in den Kindern zu beschwören! Du hast die Welt lange genug betrogen!« Jungen warfen Steine auf den Altar, der Jungfrau Maria flog ein Schuh an den Kopf.

Saint-Omer selbst entging als eine der wenigen flämischen Städte diesem Bildersturm. Im letzten Moment gelang es dem Magistrat, die Tore der Stadt vor einer wütenden Menge zu schließen. Die Kirchen blieben unversehrt, doch für die protestantische Minderheit in der Stadt, darunter auch Charles und seine Familie, wurde es infolge der Unruhen immer ungemütlicher. Stimmen wurden laut, die forderten, alle Calvinisten aus der Stadt zu jagen. Das aber konnte gerade noch verhindert werden.

Die Nachrichten von den Unruhen erreichten auch, mit einiger Verzögerung, das Arbeitszimmer von Philipp II. in Madrid. Der König reagierte unnachgiebig. In erster Linie standen wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel. Die Niederlande waren, für die damalige Zeit, dicht bevölkert. Um 1565 lebten dort rund drei Millionen Menschen; Spanien hatte sieben Millionen Einwohner und England vier Millionen. Unruhen in den Niederlanden konnte sich das spanische Reich einfach nicht leisten. Philipps Vorgehensweise beruhte jedoch keineswegs nur auf Berechnung. Er ließ sich vor allem durch nackte Wut leiten. Hals über Kopf entsandte er ein spanisch-italienisches Söldnerheer unter Führung des Herzogs von Alba in die Niederlande. Eine sechs Jahre währende Schreckensherrschaft begann. Claudine le Vettre, die in Ypern lebendig begraben wurde, war eine von vielen Tausend Toten.

Mit seiner Raserei lieferte Philipp II. ungewollt einen wichtigen Beitrag zum Ausbruch des folgenden Aufstands: Sein Fanatismus trug zur Bildung einer Gelegenheitskoalition aus Adel, Bürgern und Protestanten bei, ein Bündnis das viele Jahre halten und sowohl Erfolge als auch Rückschläge erleiden sollte.

Typisch für diese chaotische Zeit ist die Rolle, die der spätere Anführer des Aufstands, Willem von Oranien, spielte. Willem hatte eine lutheranische Erziehung genossen. Im Alter von elf Jahren fiel ihm plötzlich eine gewaltige Erbschaft in den Schoß, zu der das französische Fürstentum Orange sowie große Ländereien in Brabant, Holland, Zeeland, Luxemburg und Lüttich gehörten. Er galt nun als vielversprechender adliger Spross, und Kaiser Karl V. nahm ihn in seine persönliche Obhut. Am Hof in Brüssel wurde ihm eine gründliche katholische Umschulung zuteil. Willem war ein charmanter, intelligenter Jüngling und einer der Lieblinge des alten Fürsten. Auch Philipp II. erkannte sogleich seine Qualitäten und ernannte ihn 1555 zum Mitglied des Staatsrats und zum Statthalter des Königs in den Grafschaften Holland und Zeeland.

Ein großer protestantischer Glaubensheld war dieser Willem von Oranien ganz bestimmt nicht. Lange noch blieb er katholisch und fühlte sich dem toleranten Denken der frühen Humanisten wie ein Erasmus von Rotterdam und Dirck Volkertszoon Coornhert verbunden. Der geborene Freiheitskämpfer war er ebenso wenig. In erster Linie war Willem ein mächtiger Vertreter der Interessen des Adels und ein Hüter seiner traditionellen Rechte gegenüber dem Fürsten.

Man kann nur spekulieren, ob Willem von Oranien in das Lager der Rebellen übergelaufen wäre, wenn Philipp und Alba nicht zu ihren brutalen Racheexpeditionen aufgebrochen wären, in deren Folge zahllose Todesurteile gegen vermeintliche Aufständische gefällt wurden. Sogar Adelige wurden gnadenlos exekutiert, Männer wie Willem selbst, und auch er war dem Tod nur knapp entronnen. Nun blieb ihm keine Wahl mehr. Willem von Oranien war ein unfreiwilliger Rebellenführer, der erst mit der Zeit in seine Rolle als Symbol einer neuen Nation hineinwuchs, in seine Rolle als »Vater des Vaterlands«.

Es war ein »eisernes Jahrhundert«, ein »siècle de fer«, schrieb der vertriebene Hugenotte Jean Nicolas de Parival über das 16. Jahrhundert, ein Jahrhundert, »dessen bittere Früchte des Unrechts und der Angst nichts anderes sind als ununterbrochene Blutströme und eine ewige Sturzflut von Tränen«.

In diesem verfluchten Europa, bevölkert von umherziehenden und gewaltbereiten Heerhaufen, war Saint-Omer ein relativ ruhiger und sicherer Ort. Doch auch in dieser Gegend nahm der Widerstand gegen die Spanier zu, was vor allem den fortwährenden Plünderungen durch spanische Söldnerheere geschuldet war. Wenn sie längere Zeit ihren Sold nicht erhielten – und das kam unter Philipp II. immer häufiger vor –, fielen die Soldaten über die nächstgelegene Stadt her. In Antwerpen wüteten meuternde spanische Söldner derart – rund achttausend Bürger wurden ermordet –, dass man von der »spanischen Furie« sprach.

Willem von Oranien, der als Einziger das nötige Charisma besaß, um die nördlichen und südlichen Städte zusammenzuhalten, wurde am 10. Juli 1584 ermordet. Nach seinem Tod fiel eine flämische Stadt nach der anderen in spanische Hand: Brüssel im März 1585, Mechelen im Juli, und im August des Jahres eroberten die Spanier auch Antwerpen. Philipp hatte hinzugelernt, diesmal wurden die Bürger verschont: Es kam zu keinen Plünderungen, und wer wollte, konnte seine Sachen packen und gehen.

Um diese Zeit herum muss sich bei Großvater Charles die Erkenntnis durchgesetzt haben, dass es für ihn und seine Familie in Saint-Omer keine Zukunft mehr gab. Irgendwann im Sommer 1586 wagte die Sippe die Reise nach Amsterdam. Aus Dokumenten im Hausarchiv geht hervor, dass der aus Saint-Omer geflohene Charles Six sich am 15. August 1586 mit seiner Frau Alix de Lattre und seinen Kindern Guillaume, Chrétienne, Charles und Jean am Nieuwezijds Voorburgwal niederließ, in »Het Roode Liggende Hart« (Das rote liegende Reh) am Sint Nicolaassteeg.

In Amsterdam war es acht Jahre zuvor zum politischen Umsturz gekommen. Am 26. Mai 1578 waren die Bürgermeister und Ratsmitglieder von den Anhängern der Geusen aus dem Rathaus gejagt worden. Der Pfarrer der Nieuwe Kerk und die am meisten verhassten Geistlichen, die Minoriten, waren unter »unter lautem Geschimpfe« durch die Straßen getrieben worden. Anschließend hatte man die ganze Gesellschaft »holterdiepolter« auf ein Boot geworfen, aus der Stadt gefahren und auf dem Deich ausgesetzt, »von wo ein jeder zu Fuß seines Weges gehen durfte«.

Das war das ziemlich abrupte Ende des mittelalterlichen Amsterdam und der »sakralen Einheit« der Stadt. Fortan war innerhalb der Stadtmauern Raum für mehrere Religionen. Eine neue Generation von Kaufleuten übernahm die Macht. Diese entstammten protestantischen Familien, die wegen ihrer Prinzipien große Gefahren auf sich genommen und oft jahrelang in der Verbannung gelebt hatten, sich dadurch aber auch neue Netzwerke aufgebaut und nicht zuletzt gelernt hatten, in anderen Dimensionen zu denken. Die Amsterdamer Katholiken mussten ihre Ämter, Kirchen und Klöster aufgeben, doch verfolgt wurden sie nicht. Der Calvinismus war zur offiziellen Religion geworden, aber das war auch schon alles: Im Prinzip war jeder frei zu glauben, was er für richtig hielt.

Jemandem wie Charles Six – ein Kaufmann, aber vermutlich auch ein gebildeter Bürger – musste Amsterdam aufgrund dieser vorteilhaften Konstellation als ein geradezu zwangsläufiges Ziel erscheinen. Amsterdam galt als einzigartig, da die Stadt, wie man sagte, reich und frei war, während andere Städte zwar reich, aber alles andere als frei waren. Diese Kombination erschien Außenstehenden erstaunlich, faszinierend und nicht selten auch neiderweckend.

Doch längst nicht alle Sixe zogen nach Amsterdam. Noch immer gehörte der Name Six zu den fünfzig am häufigsten vorkommenden Nachnamen in der Gegend um Artois. Manche Sixe gingen nach Deutschland oder England; die englischen Sixe führen nach wie vor dasselbe Wappen wie die niederländischen. Der Auslöser für ihre Emigration war aber der gleiche: Verfolgung aus religiösen Gründen und wirtschaftlicher Niedergang.

Unsere Familie Six gelangte aus dem zerrissenen und allmählich still gewordenen Saint-Omer in eine völlig andere Welt. Das damalige Amsterdam war mindestens so geschäftig wie das heutige. Groß war die Stadt nicht. Es gab noch jede Menge mittelalterliche Häuser, halb aus Holz und halb aus Stein, mit vornübergeneigten Giebeldächern. Die Bebauung endete irgendwo mitten im heutigen Zentrum, an der Oude Schans, der Munt und der Haarlemmer Schleuse. Jenseits des Hafens erstreckte sich groß und breit das IJ, beinahe wie ein kleines Meer. Dort, wo heute der Hauptbahnhof steht, begann ein merkwürdiges Übergangsgebiet, eine salzig schwappende Wasserlandschaft, ein langer Streifen aus Stegen und faulenden Duckdalben, mit vor Reede liegenden Seeschiffen, so weit das Auge reichte.

Durch die engen Straßen drängte sich Tag für Tag eine beispiellose Menschenmasse. Ein englischer Reisender, Fynes Moryson, sah »ein Feld oder einen Marktplatz« am Hafen – er meint den heutigen Dam –, wo die Bürger »ihren aufs Meer hinausfahrenden Verwandten und Freunden« winkten. »Im Sommer treffen sich die Kaufleute in großer Zahl auf der Brücke, im Winter in der Oude Kerk, wo sie in zwei Strömen auf und ab gehen. Es gibt keine Möglichkeit, diesem Strom zu entfliehen, außer sich in ihm bis zu einer Tür mittreiben zu lassen.«

Alles war anders, als Charles und die Seinen es gewohnt waren. Und überall erklangen Lieder: auf der Straße, in den Herbergen, auf den Schuten, auf den Märkten, im Chor, aber ebenso oft auch solo. Das war etwas, das allen ausländischen Besuchern auffiel, sie schrieben über die hübschen Melodien, die überall zu hören waren, und wunderten sich über die Musikalität der ansonsten recht abweisenden Holländer. Das NeueGeusenliederbuch, ein kleines, billiges Büchlein, hatte die halbe Stadt in der Tasche. Lieder verbanden, Lieder ließen die Herzen schneller schlagen, Lieder waren ein Propagandainstrument ersten Ranges in dem sich dahinziehenden Krieg.

Die Eroberung von Antwerpen, die die Spanier so ausgelassen gefeiert hatten, erwies sich schon bald als Pyrrhussieg. Die Geusen blockierten die Schelde, die Lebensader der Stadt. Zehntausende Emigranten, darunter viele reiche Kaufleute und Handwerker, zogen innerhalb weniger Jahre in den Norden und nahmen ihr Wissen, ihr Können und ihre Handelsnetzwerke mit. Das einst so blühende Antwerpen sollte sich von diesem Aderlass nie wieder ganz erholen: Die Einwohnerzahl der Stadt sank rasch auf die Hälfte. Brabant verlor seine mächtige Stellung.

Die nördlichen Niederlande wiederum sahen sich einem gewaltigen Strom von Flüchtlingen und Emigranten gegenüber. Dieser bestand aus mindestens hunderttausend Menschen, möglicherweise sogar aus hundertfünfzigtausend, und das bei einer Bevölkerungszahl von kaum mehr als einer Million. Die Einwohnerzahl von Leiden und Haarlem verdoppelte sich innerhalb weniger Jahrzehnte, Amsterdam zählte 1620 dreimal so viele Einwohner wie 1550. Die Verkehrssprache in der Stadt wandelte sich, an die Stelle eines bäuerlichen Holländisch trat der melodiöse Antwerpener Tonfall.

Und nicht nur das, auch die Mentalität änderte sich. Mit der Familie Six und all den anderen Kaufleuten kamen nicht nur deren Handel und Technik in den Norden, sondern auch ihre Malerei und Literatur, ihre Kultur der Eleganz, der Allüre und des Kosmopolitismus. In Städten wie Brügge und Gent trat im Laufe der Zeit die spanische Hofkultur Brüssels an die Stelle der traditionellen Kaufmannskultur. Im Norden sollte die Immigration das spektakuläre Goldene Jahrhundert nach sich ziehen. Die Familie Six musste sich als Einwanderer aus dem Süden kaum anpassen. Amsterdam passte sich ihnen an.

Der gewaltige Wegzug in Richtung Norden auf Tausenden von Schiffen und Karren voller Hausrat, Kleidung, Stoffen und Kostbarkeiten muss zu unvorstellbaren Szenen geführt haben. Es handelte sich um eine der größten Migrationswellen der frühen Neuzeit, zudem war es eine außergewöhnlich erfolgreiche: Innerhalb einer Generation beherrschten die Südniederländer ein Drittel des Amsterdamer Stapelmarkts.

Das galt auch für die Textilarbeiter aus dem Süden, mit ihren leichteren Stoffen und raffinierteren Färbemethoden. Von den 344 Männern, die von 1585 bis 1604 als Seidenweber registriert wurden, stammten 286 aus den südlichen Niederlanden.

Kurzum, Charles Six hatte Rückenwind. Sehr bald fand er eine Unterkunft, er wohnte und arbeitete laut seinem Enkel Jan in »De Kluizenaar« (Der Einsiedler) hinter dem Rathaus, »wo mein Großvater mit einem Siegel von anno 1588 mit Tuch handelte, wie aus seinen in meinem Besitz befindlichen Büchern aus jener Zeit hervorgeht«. Das Haus »De Kluizenaar« kann im Stadtarchiv übrigens nicht nachgewiesen werden; möglicherweise meinte Jan das Haus »De Blauwe Kluis« (Die Blaue Klause), in dem es tatsächlich eine Färberei gab.

Die Familie Six wohnte damals in unmittelbarer Nachbarschaft des Schöffen Frans Reael, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass der mächtige Reael und andere protestantische Familien sie während der ersten Jahre unterstützten. Sie hatten schließlich selbst jahrelang in der Verbannung gelebt, die Erinnerung an ihre eigene desolate Lage und Entwurzelung war noch frisch, und eine gewisse Solidarität mit Schicksals- und Glaubensgenossen war in jenen Jahren mehr als selbstverständlich. Auch darauf weist Jan Six hin: »Denen, die in den schweren Zeiten wegen der Religion oder aus anderen Gründen hierhin gekommen sind, ist man den größten Dank für ihre Hilfe schuldig.«

Großvater Charles war Experte im Blaufärben und zudem ein geschickter Unternehmer. Vermutlich hatte er bereits in Saint-Omer mit seinem Tuchhandel ein ordentliches Vermögen erwirtschaftet, und offenbar verfügte er immer noch über genug Kapital, um einige größere Investitionen zu tätigen. Vor dem Heiligewegtor – dort wo heute die Leidsestraat ist – gründete er eine Bouratmanufaktur, in der schwere, geblümte Seidenstoffe hergestellt wurden. Außerdem betrieb er noch im Färberviertel an der Raamgracht die Tuchfärberei »Het Swarte Laeken« (Das schwarze Tuch).

Als er 1595 starb und seine Söhne Guillaume und Jean das Geschäft übernahmen, lebte die Familie vermutlich schon wieder in Wohlstand, und wahrscheinlich sogar mehr als das. Die Familie genoss in der geheimnisvollen Welt der Farben und des Färbens einen hervorragenden Ruf. Über Guillaume schrieb der Leidener Tuchfärber van der Heyden später, er wolle seinen Lehrlingen die Kunst des Karmesinfärbens, »so rot, purpurn und scharlachfarben«, ebenso gut und perfekt beibringen, »wie Guillaume Six und die Witwe des genannten Guillaume sie auszuüben pflegen«.

Die Umstände spielten der Familie Six in die Karten. Amsterdam blühte auf wie nie zuvor. 1602 wurde die Vereinigte Ostindische Compagnie (VOC) gegründet, der erste multinationale Konzern der Welt, der auf dem Prinzip »Anteil« basierte. So entstand eine vollkommen neue Form des Investierens und der Risikostreuung. 1611 nahm auch die erste Amsterdamer Kaufmannsbörse ihren Betrieb auf, mit allem, was diese Institution sonst noch so mit sich brachte: die ersten Zeitungen, die ersten Wechselbanken mit dem ersten Papiergeld der Welt. Ein deutscher Besucher schrieb über die Börse: »Sie ist ebenso groß wie die Antwerpener, aber schöner. Inmitten der viel Kaufleute drinnen sieht und hört man tagtäglich die Neuigkeiten aus der ganzen Welt. Die Zeitungen werden an den Tagen, an denen sie mit der Post ankommen, wie Predigten vorgelesen.«

Es waren diese Erfindungen auf dem Gebiet des Handels und der Kultur, die Amsterdam zu einem frühen Vorposten der Moderne machten. Die Familie Six schwamm im Strom mit. Guillaume kaufte 1609 einen großes Haus am Turfmarkt, das Haus »Vredenburgh« (Friedensburg), und 1615 gelang es ihm, seine Tochter Aeltge mit einem Sohn des überaus reichen Amsterdamer Bürgermeisters und Spekulanten Cromhout zu verheiraten. Sein Bruder Jean bezog, ebenfalls 1609, das Haus »De Drie Codden« am Nieuwezijds Voorburgwal, in der Nähe der heutigen Paleisstraat, und auch seine Kinder heirateten später in die besten Familien der Stadt ein. Die Sixe waren, würde man heutige Maßstäbe anlegen, Multimillionäre. Als Jean 1618 starb, hinterließ er ein Vermögen von 353 000 Gulden; das entspricht rund fünfundzwanzig Millionen Euro im Jahr 2016. Soweit wir wissen, kaufte die Familie Land, vor allem im soeben trockengelegten Polder Beemster – auch das ein Geschäft, das mit der Risikostreuung und dem neuen Weitblick aufgekommen war. Die Familie Six wurde, wie ein Zeitgenosse schrieb, »mit ehrlich verdientem Geld« reich.

Lange Zeit hielten die Flüchtlinge aus Saint-Omer und Umgebung Kontakt untereinander. Die Familien sprachen miteinander weiterhin fast nur Französisch; bei den Sixen, wie in vielen Familien der Oberschicht, blieb das bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts so. Sie gingen vorzugsweise in die Waalse Kerk (die Wallonische Kirche), wo ausschließlich Französisch gesprochen wurde, und dort befand sich zunächst ihr Familiengrab.

Auch sämtliche Ehepartner stammten anfangs noch aus den eigenen Kreisen. Chrétienne, die älteste Tochter von Großvater Charles, heiratete, wie gesagt, den Sohn der frommen Claudine de Vettre, Nicolaas Mulerius aus Menen. Der war ein wissenschaftlicher Tausendsassa: Arzt, Professor für Mathematik und Physik in Groningen und Fachmann für orientalische Sprachen und Astronomie.

Guillaume und Jean heirateten zwei Schwestern aus Vlissingen, Johanna und Anna Wijmer. So entstanden die beiden Familienzweige. Jean Six und Anna Wijmer stehen am Beginn des »Amsterdamer« Zweigs Six van Hillegom; sie sind die Eltern »unseres« ersten Jan Six. Guillaume wurde der Stammvater des »Haager« Zweigs der Familie, Six van Oterleek. Die Oterleeks lasse ich hier außen vor, obwohl ihre Geschichte ebenfalls die Mühe lohnte, erzählt zu werden. Sie brachten Generation für Generation städtische Ratsherrn hervor, später auch höfische Würdenträger und einen Minister. Ein Urenkel, Gesandter in Sankt Petersburg, sollte sogar einen kurzen Auftritt in Tolstois Roman Krieg und Frieden haben, als holländischer Gesandter, der bei einem Fest zugegen ist: ein alter Herr »mit üppigem silbergraugelocktem Haar, umringt von Damen, die er mit irgendwas zum Lachen brachte«.

Ich sehe noch kurz bei Anna vorbei. Aus ihrem vergoldeten Rahmen schaut sie ruhig ins Zimmer, Aug in Aug mit ihrem Sohn Jan, der ihr gegenüberhängt. Das Mittagslicht gleitet über ihr rundes Gesicht, ihren – damals schon altmodischen – Mühlsteinkragen, ihre dunkle, vornehme, fromme Kleidung. Sie – oder besser: ihr Porträt – hat etwas Geheimnisvolles. Ein Hellseher, der einmal hier war, behauptete sehr entschieden: »Diese Frau hatte ein Verhältnis mit dem Maler.« Vondel, so heißt es, schrieb über dieses Gemälde:

So scheint Anna hier zu leben

Die Six das Leben hat gegeben

Ein Arm, der ihre Brüste schützt

Man sieht, dass sie seine Mutter ist.

Aber: Passen das Bild und der Text überhaupt zueinander? Ihre rechte Hand liegt im Schoß, mit der linken Hand bedeckt sie ganz und gar nicht ihre Brust, sondern sie ruht ungefähr in Höhe der Taille. Und die Familienähnlichkeit – tja.

Lange herrschte Zweifel hinsichtlich der Frage, ob dieses Porträt wirklich von Rembrandt stammt. Darüber sind sich die Experten inzwischen aber einig: Dieses endlose Korrigieren ist typisch für Rembrandt, der oft impulsiv arbeitete, gerne improvisierte und nie zufrieden war.

Dieselben Experten haben im Rahmen des Rembrandt-Research-Projects allerdings auch die Vermutung geäußert, dass unsere Anna Wijmer nicht die echte Anna Wijmer ist. Sie sei viel zu jung, heißt es.

Aber damit darf man dem Hausherrn nicht kommen. »Ich sag dir was: Als ich drei Jahre alt war, saß ich auf dem Arm meines Großvaters, und wir schauten uns die beiden Bilder an. ›Das ist dein Vorfahre Jan I.‹, sagte mein Großvater dann. ›Und das ist seine Mutter.‹ Das wusste er wiederum von seinem Großvater, Jan VI., und der hatte es von seinem Großvater, Jan IV., der im 19. Jahrhundert lebte, und der wusste es wiederum von seinem Großvater, der noch im 18. Jahrhundert gelebt hat, und der hat bestimmt noch ein paar Menschen aus dem 17. Jahrhundert gekannt. Dann ist man ganz nah dran! Es könnte doch durchaus sein, dass diese Überlieferung den Tatsachen entspricht.«

Schauen, ganz genau hinschauen, das ist das Einzige, was man machen kann, um diese Frage zu klären. Anna Wijmer sieht tatsächlich auffallend jung aus, das lässt sich nicht leugnen. Aber die Hände. Und das füllige Kinn. Und in ihrem Nacken die Falten und die grauen Härchen … Schöne Haut – das schon noch …

Anna hütet ihre Geheimnisse.

III »SCHÖNE CHLORIS, DIE ICH BEMINNE …«

»Ich wurde zwei Monate und einen Tag nach dem Tod meines Vaters Jean Six geboren«, sollte Jan Six später schreiben, in einer der vielen Tausend Notizen und Bemerkungen, die er hinterließ. Er kam am 14. Januar 1618 zur Welt, Jean war am 13. November 1617 gestorben. Wie es in solchen Fällen üblich war, gab man ihm den Namen seines Vaters. Als Jehanne wurde er in der Waalse Kerk getauft, aber man rief ihn auch Jean oder Joannus, meistens aber nannte man ihn Jan. Er hatte zwei Brüder, Karel und Pieter, und vermutlich auch zwei Schwestern, Marie und Alix, über die wir ansonsten nichts wissen. Als Jan vierzehn war, starb Karel; Jan und Pieter blieben zeit ihres Lebens eng beisammen, obwohl die Brüder einen sehr unterschiedlichen Charakter hatten.

Jahrzehntelang lebte Jan im Umkreis der Zuiderkerk. Ich weiß nicht, wo Mutter Anna Wijmer mit ihren Söhnen kurz nach dem Tod von Vater Jean gewohnt hat, aber fest steht, dass die Familie irgendwann in das Viertel zog, wo alle Färbereien der Stadt lagen, gleich hinter der Oude Cingel, dem heutigen Kloveniersburgwal.

Das abgesonderte Färberviertel war infolge einer der ersten Umweltschutzmaßnahmen der Stadt entstanden: Seit 1593 durften die Färber ihr Gewerbe nur noch auf einem Stück Polder am Rand der Wälle ausüben. Die Straßennamen sprechen für sich: Die Raamgracht ist nach den »Rahmen«, den Gerüsten benannt, auf die die Stoffe zum Trocknen gehängt wurden; die Staalstraat heißt so wegen des Gildehauses, in dem die Vorsteher der Tuchmacherzunft, die »staalmeester«, die Qualität der Tuche prüften; und natürlich die Verversstraat, die »Färberstraße«.

Der Kloveniersburgwal lag auf der Grenze zu diesem Handwerkerviertel, schlicht und chic zugleich. 1626 kaufte Annas Bruder, Pieter Wijmer, dort das Haus »De Blauwe Arent«, die heutigen Hausnummern 101 und 103, mehr oder weniger um die Ecke. Früher war hier einmal eine Glasbläserei gewesen – auch so ein Betrieb, den man, wegen der Brandgefahr, lieber nicht in der Stadt haben wollte –, und später eine Färberei. Auf einer Karte aus dem Jahr 1625 ist der ganze Komplex aus der Vogelperspektive deutlich zu erkennen: Im Garten sieht man das große Dach der Werkstatt – einst arbeiteten dort rund siebzig Leute –, davor liegt der Innenhof, dann folgt, nicht weniger als drei Treppengiebel breit, das riesige Wohnhaus.

1631 sollte Anna Wijmer sich dort endgültig niederlassen, mit ihrem dreizehnjährigen Sohn Jan. Sie verfügte, laut der Steuerliste, über ein Vermögen von hunderttausend Gulden. Damit man einen Eindruck bekommt: Ein gelernter Arbeiter verdiente damals rund dreihundert Gulden pro Jahr. Ich vermute, dass ein Großteil von Jeans Erbe damals bereits bei ihren Söhnen gelandet war. Doch auch Anna Wijmer gehörte noch immer zur absoluten Oberschicht.

Als ihr Bruder Pieter, ein Junggeselle, 1637 starb, gelangte das gesamte Haus in Annas Besitz. Später kam noch ein zweites Hinterhaus hinzu, das bis auf den Groenburgwal reichte. In diesem Gebäudelabyrinth sollte Jan mehr als die Hälfte seines Lebens verbringen.

Wenn wir uns eine Vorstellung von Jans Jugendjahren machen wollen, müssen wir raus auf die Straße. Es war ein besonderer Teil von Amsterdam, in dem er aufwuchs, die paar Häuserblocks zwischen der Jodenbreestraat und dem Kloveniersburgwal, und dazwischen die Raamgracht und der Groenburgwal. Der Kloveniersburgwal hatte erst vor kurzem als Stadtwall ausgedient, das Gelände vor der Stadt war frisch aufgeschwemmt, und als Jan geboren wurde, war die Zuiderkerk ganz neu.

In seinem Possenspiel De klucht van de koe (Der Schwank von der Kuh) lässt der Amsterdamer Volksdichter Gerbrand Bredero zwei Bauern am frühen Morgen an der Amstel entlang in die Stadt gehen, und man vernimmt ihr Erstaunen über das neue Viertel, das sich vor ihnen erhebt:

Wie herrlich zeigt das Land sich ihm, mit all den neuen

Häusern.

Das ganze Land, so höre ich, wird gesichert mit Deichen

und Schleusen.

Es ist ein Wunder, wirklich wahr, und wie schön man die

Zuiderkerk sieht mit dem weißen steinernen Turm,

ein wahrlich vortreffliches Werk.

Wie glitzert die Sonne mit leuchtendem Schimmer

auf den glasierten Dächern und dem neuen Gemäuer.

Seitdem haben die meisten Häuser in diesem Viertel eine neue Fassade bekommen, den Trends des 17. und 18. Jahrhunderts folgend, und die Dächer wurden oft angehoben, um noch ein oder zwei Stockwerke einzuschieben. Durch die hohen Fassaden wirkt heute alles – Häuser, Straßen, Grachten – noch enger als damals. Aber die Lage der Plätze und Gässchen ist immer noch dieselbe wie vor vierhundert Jahren. Man kann noch immer problemlos Jans damaligen Wegen nachgehen, und dabei wird deutlich, wie es hier in jenen Jahren zuging.

Fußläufig vier Minuten vom Haus der Familie Six entfernt lag die alte Ausfallstraße nach Osten, die Breestraat – ein Teil wurde schon bald in Jodenbreestraat umbenannt, wegen der vielen jüdischen Kaufleute, die dort zusammenkamen und oft großes Wissen und immense Bildung mitbrachten. Dies war auch die Straße, in der sich die ersten Maler aus den südlichen Niederlanden ansiedelten: David Vinckboons, Johannes Torrentius, Jan Tengnagel und noch mindestens zehn weitere. Hendrick van Uylenburgh hatte dort, an der Ecke zur St. Anthonis-Schleuse, sein legendäres Atelier, für Jan fünf Minuten Fußweg. Rembrandt war während seiner ersten Amsterdamer Jahre im Atelier von Pieter Lastman in die Lehre gegangen, gegenüber der Zuiderkerk, drei Minuten. Später zog er bei Uylenburgh ein, heiratete dessen Nichte Saskia und bezog schließlich eine Wohnung mit angeschlossener Gemäldefabrik in der Jodenbreestraat, fünf Minuten entfernt.

Gleich um die Ecke, an der Houtgracht, wuchs zur gleichen Zeit Baruch de Spinoza auf, der große europäische Denker, vier Minuten. Das Ostindische Haus, von wo aus die riesige VOC verwaltet wurde, lag ein Stück weiter am Burgwal, ebenfalls vier Minuten. Dahinter wiederum befand sich der Dam mit dem Rathaus, das geschäftliche und administrative Herz der Stadt, acht Minuten Fußweg.