Grrrimm - Karen Duve - E-Book + Hörbuch

Grrrimm Hörbuch

Karen Duve

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Beschreibung

Karen Duves bissige Hommage an die Brüder Grimm. Hinterhältige Zwerge, unerzogene Wölfe, enttäuschte Prinzen und gefühlskalte Prinzessinnen Karen Duve ist seit jeher eine begeisterte Leserin von Märchen, Heldensagen und Rittergeschichten.Besonders liebt sie die Märchen der Brüder Grimm. Darin allerdings geschieht viel, was mit dem gesunden Menschenverstand nicht zu erklären ist!Wie wahrscheinlich ist es zum Beispiel, dass eine außergewöhnlich gut aussehende junge Frau den Haushalt für sieben mittelalte kleinwüchsige Junggesellen führt und sich nicht einer der Herren an sie ranmacht? Und: Wer glaubt wirklich, dass ein echter Prinz sein Leben mit einer Frau verbringen will, die bereits mit sieben Männern gelebt hat? Wie kann es sein, dass eine wichtige Fee von einer Taufe ausgeladen wird, nur weil nicht genügend Teller vorhanden sind? Wie gestaltet es sich praktisch, wenn man nach einem hundertjährigen Schlaf unter Zentimeter dicken Staubschichten aufwacht? Und überhaupt: Wie hält sich ein Prinz fit, der hundert Jahre warten muss, bis er seine Prinzessin wach küssen kann? Karen Duve kam nicht umhin, ihre eigenen Versionen der Geschichten zu erzählen. Und die sind voll von dem, was Duves Romane sonst auch auszeichnet: familiäre Abneigungen, Bindungsängste, bizarre Liebesvorstellungen, Vaterkomplexe, Selbstzweifel, Trotzreaktionen und Minder wertigkeitsgefühle. Was dabei herauskommt, sind komische, unbarmherzigseelensezierende Geschichten in bester Duve-Manier. «Bei dieser Autorin liegen Weisheit und Lakonie, Melancholie und wache Wahrnehmung so eng beieinander, dass die Übergänge kaum wahrzunehmen sind.» Volker Hage, Der Spiegel

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Zeit:2 Std. 38 min

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Karen Duve

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Inhaltsverzeichnis

ZwergenidyllDie Froschbraut
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Zwergenidyll

s war mal wieder stockfinster, als wir nach Hause kamen. Grimbold hatte eine kleine Goldader entdeckt und uns ewig im Stollen herumkratzen lassen, weil er glaubte, die Ader müsste noch irgendwo weiterlaufen, aber wie üblich hatte er sich geirrt. Ich frage mich langsam, ob es wirklich ein kluger Brauch ist, wenn immer der Älteste und Verkalkteste in einer Gruppe das Sagen hat. Jedenfalls, wir kommen heim, und bei dem mickrigen Licht der Grubenlampen bemerken wir nicht gleich, dass außer uns noch jemand im Haus ist. Also setzen wir uns an den Tisch. Hungrig.

»He«, sagt Bertil, »wieso ist mein Becher nur halb voll? Ist das jetzt die neueste Sitte, dass der, der am härtesten arbeitet, am wenigsten zu trinken kriegt?«

Und »Verdammtnochmal«, ruft der Venetianer, »wer hat von meinem Brot abgebissen? Das ist doch eine Riesensauerei! Wer hatte eigentlich heute Morgen Tischdienst?«

Hobo hatte Tischdienst, und das ist sein Pech, denn Leute, die gerade vierzehn Stunden unter Tage geschuftet haben, mögen es gar nicht, wenn ihr Abendbrot angefressen ist. Auf allen Tellern fehlt irgendetwas. Und jedes Mal was anderes. Bei mir ist es bloß ein Stück von der Schwarzwurzel. Damit kann ich leben; Wurzel ist sowieso nicht mein Fall. Aber bei Helmerich fehlt die halbe Dauerwurst, und der wird richtig sauer.

Natürlich schwört Hobo Stein und Bein, dass er nichts genommen hat, und natürlich glauben wir ihm nicht, sondern hetzen ihn rund um den Tisch und dann zu den Betten. Dort erwische ich ihn und drehe ihm den Arm auf den Rücken, während Bertil ihm den Kopf auf eine Matratze drückt.

»Ich schneid dir ein Ohr ab«, brüllt Helmerich und hat schon das Messer in der Hand, als Grimbold ruft:

»Aufhören! Da liegt jemand!«

Er hält seine Grubenlampe hoch und beleuchtet das siebte Bett, das als letztes ganz außen an der Wand steht. In dem Bett liegt tatsächlich ein Mädchen. Das Mädchen ist verteufelt schön, und wenn ich sage schön, dann meine ich richtig schön – also, da stimmte alles: Sie war ganz jung, wirklich sehr jung, lange schwarze Haare und schneeweiße Haut und ein Paar Lippen, bei denen man echt auf Gedanken kam. Außerdem hatte sie feine weiße Hände. Das sah man gleich, dass die noch nie gearbeitet hatte. Sie trug ein blaues und ziemlich schmutziges Kleid mit gelben Litzen und Borten. Und sie lag in meinem Bett. Das siebte Bett ist nämlich meines, nicht nur, weil ich als Letzter dazugekommen bin, sondern auch, weil es das längste ist. Mit einem Meter zweiundvierzig bin ich der Größte von uns sieben. Eigentlich kann man mich kaum noch als Zwerg bezeichnen. Jedenfalls, die kleine Idiotin liegt in meinem Bett und starrt uns so schreckerfüllt an, als hätte sie nie und nimmer damit gerechnet, dass in einem Haus, in dem der Tisch gedeckt und der Wein bereits eingeschenkt ist, irgendwann womöglich auch die Bewohner eintrudeln könnten. Sie fleht uns an, ihr nichts zu tun, und ich weise bei der Gelegenheit die anderen darauf hin, dass es immerhin mein Bett ist, in dem wir sie gefunden haben. Leider muss Grimbold gerade jetzt wieder den Anführer raushängen lassen.

»Fürchte dich nicht, du liebes Mädchen«, sagt er mit seiner weinerlichen Altmännerstimme. »Bei uns wird dir nichts Böses geschehen. Aber sag, wie kommst du hierher?«

Na, vor dem alten Tattergreis brauchte sie sich ganz bestimmt nicht zu fürchten. Jedenfalls, das Mädchen erzählt, dass es sich im Wald verlaufen und schließlich unser Häuschen gefunden hat. Sie sagt tatsächlich »Häuschen«. Geht’s noch? Ich meine, wir wissen schon, dass wir klein sind, und dass das hier nicht gerade ein Palast ist. Muss sie es uns auch noch unter die Nase reiben?

»Wie heißt du denn, und wo wohnst du, mein armes Kind«, greint Grimbold. Er hat sich neben sie gesetzt und ihre Hände in seine genommen. Das Kind heißt Schneewittchen. Und dann behauptet sie doch ohne mit der Wimper zu zucken, sie sei eine Königstochter. Ich muss laut lachen, aber die anderen funkeln mich sofort strafend an. Die können es gar nicht abwarten, sich von ihr einwickeln zu lassen.

»Ja, eine Königstochter«, fährt das Schneewittchen unbeirrt fort, und ihre Stiefmutter hätte den Hofjäger beauftragt, sie in den Wald zu führen und dort abzustechen. Der hätte aber Mitleid gehabt und sie laufen lassen.

Respekt! Die Geschichte muss sich erst mal einer einfallen lassen.

Bickerl und der Venetianer schütteln auch ganz betroffen die Köpfe. Doch so schnell lass ich mich nicht ins Bockshorn jagen.

»Sag mal, kennen wir uns nicht aus Molly Weichbrodts Freudenbude«, frage ich so harmlos wie möglich, einfach, um mal auf den Busch zu klopfen. Aber Schneewittchen sieht mich dermaßen verständnislos an, dass ich vor so viel Schauspielkunst erst mal kapitulieren muss. Grimbold schiebt mich zur Seite und salbadert weiter.

»Du hast viel durchgemacht, du armes Kind. Aber wenn du uns den Haushalt führen, für uns kochen und waschen willst, dann kannst du bei uns bleiben, und es soll dir an nichts fehlen.«

Das Schneewittchen stimmt freudig zu, und ich denke, das beweist dann ja wohl, dass sie gelogen hat. Oder kann sich jemand eine Prinzessin vorstellen, die ohne Wenn und Aber bereit ist, die dreckigen Hemden und Hosen von sieben Männern zu waschen und mit ihnen im selben Haus zu schlafen? Kann mir keiner erzählen.

 

Mir hätte es nichts ausgemacht, mein Bett mit Schneewittchen zu teilen, aber Grimbold ordnete an, dass ich in dieser Nacht neben Hobo schlafen sollte. Am nächsten Tag haben wir alle zusammen ein neues Bett für sie gezimmert. Das hat dann neben der Feuerstelle gestanden, und Grimbold hat noch einen Teppich davorgehängt. Danach sind wir wieder jeden Tag ins Bergwerk gegangen. Schneewittchen hat währenddessen geputzt und unsere Sachen geflickt und für uns gekocht – richtiges warmes Essen, Brei und Suppe und so ’n Zeug. Und die Hütte hat geblitzt! Ist doch was anderes, wenn ’ne ordnende, weibliche Hand im Haus ist.

 

So ist das erst mal ein paar Wochen gegangen. Alle waren viel besser gelaunt als je zuvor, und während wir die Steine aus dem Stollen hackten, haben wir die ganze Zeit von Schneewittchen gesprochen. Wie hübsch und lieb sie war und was sie jetzt wohl gerade tat und was wir ihr schenken wollten, wenn wir nur endlich wieder auf eine große Goldader stoßen würden. Ich weiß nicht, wie es den anderen ergangen ist, aber mich hat das verrückt gemacht, immer bloß von Schneewittchen zu reden. Ich meine, man kann doch nicht nur für die Zukunft leben und davon träumen, eines Tages genug Gold zu finden. Man muss sich auch einfach mal an dem freuen, was man bereits hat. Da robbten wir Tag für Tag durch den engen, dreckigen Stollen, und zu Hause saß dieses wunderschöne Ding herum und langweilte sich zu Tode.

 

Also krieche ich eines Tages zu Grimbold rüber und sage, ich hätte Bauchschmerzen, ziemlich schlimm, und dass ich zu Schneewittchen gehe, damit sie mir einen Kräutertee aufbrüht.

Wie ich zu Hause ankomme, riecht es nach Essigwasser. Schneewittchen ist gerade dabei, die Fenster zu putzen. Sie kocht mir den Sud, und ich setze mich mit meinem Becher aufs Bett und schaue ihr beim Putzen zu. Schneewittchen ist nicht sehr viel größer als ich. Sie tunkt den Lappen in den Eimer, und dann reckt sie sich und wischt die oberen Vierecke im Fenster. Sie steht im Sonnenlicht, Staubpartikel flirren um sie herum, und ihr neuer roter Rock, für den wir alle zusammengelegt haben, rutscht ihr beim Putzen fast bis zum Knie hoch, und ihr Hintern wippt im Takt der Wischbewegungen. Ich merke gleich, die legt es darauf an. Ich lass sie aber erst mal zappeln und trinke ganz in Ruhe meinen Tee zu Ende. Dann stelle ich den Becher auf den Boden und schleiche mich an sie heran, bis ich direkt hinter ihr stehe.

»Schneewittchen«, sage ich, und sie erschreckt sich so, dass sie fast ins Fenster fällt und ich sie festhalten muss. Das Wasser im Eimer schwappt.

»Nun mal langsam, Prinzessin«, sage ich. »Ich wollte dich ja bloß darauf aufmerksam machen, dass dein Miederband offen ist.«

Natürlich ist ihr Mieder vollkommen in Ordnung. Aber da es auf dem Rücken geschnürt wird, kann sie das nicht sehen. Ist ein guter Trick. Sag einer Frau, dass sie einen schwarzen Fleck am Kinn hat oder dass ihr Lippenrot verschmiert ist, und sofort wird sie unsicher, fummelt sich im Gesicht herum, und du bist obenauf und bestimmst, wie es weitergeht.

»Soll ich es dir zuschnüren?«, frage ich.

Sie errötet prompt – also wenn eine fällig ist, dann sie – und haucht: »Ja, wenn du so freundlich sein willst.«

Ich mache mich also an ihrem Mieder zu schaffen. Und da es da nichts zuzuschnüren gibt, binde ich es ganz gemütlich auf. Es dauert eine Weile, bis sie mitkriegt, was ich da tue. Aber dann ist plötzlich die Hölle los. Sie faucht wie eine Katze und springt mir beinahe ins Gesicht. Dabei kreischt sie, ob ich wahnsinnig sei, und nennt mich einen hässlichen Gnom und eine Missgeburt.

»Bind es zu!«, kreischt sie. »Bind es sofort wieder zu! Ich werde Grimbold sagen, was du getan hast.«

»Ach ja«, antworte ich, »willst du ihn dann auch eine Missgeburt nennen? Das hast du ja gerade sehr deutlich gemacht, was du eigentlich von uns hältst.«

Jetzt sitzt sie schön in der Patsche. Wenn sie petzt, petze ich auch. Grimbold ist schließlich noch kleiner als ich. Und prompt macht sie auf Prinzessin, schaut über mich hinweg und sagt in einem ganz unangenehmen Befehlston: »Schnür mir sofort das Mieder wieder zu, aber wage es ja nicht, mich dabei anzufassen.«

Sie dreht mir den Rücken zu und ich nehme das Band und fädele es wieder durch die Ösen – ohne sie zu berühren – und ziehe stramm.

»Fester«, sagt sie. »Was hast du dir eigentlich eingebildet? Los doch, du musst fester ziehen. Nun mach schon – oder bist du dafür zu schwach?«

Und da habe ich eben fester gezogen. Richtig fest. Sie japste nach Luft und warf die Arme hoch und wollte sich zu mir umdrehen. Aber ich habe ihr meinen rechten Fuß in den Rücken gestemmt und noch fester gezogen. Und dann habe ich einen doppelten Knoten gemacht und sie mit dem Fuß von mir gestoßen. Ich war aber auch stinkwütend. Wie sie dann so totenblass und mit blauen Lippen auf dem Boden lag und sich nicht mehr rührte, habe ich einen Riesenschreck bekommen. Ich meine, ich wollte sie ja nicht umbringen. Ich war bloß so wütend. Also habe ich mich hingekniet und versucht, den Knoten wieder aufzumachen. Aber meine Finger sind von der Arbeit im Bergwerk voller Schwielen und Narben, und der Knoten war verdammt stramm zugezogen. Schließlich schnitt ich ihn einfach mit meinem Messer durch. Da geht die Tür auf und Grimbold, Bickerl, Hobo und der Rest drängen herein. Sie sind mir nachgelaufen. Unglaublich! Seit über zwei Jahren arbeite ich nun schon mit ihnen zusammen. Da kann man doch wohl ein Mindestmaß an Vertrauen erwarten.

»Was ist passiert?«, ruft Grimbold und alle stürzen zu Schneewittchen und knien sich auf den Boden.

»Ist sie tot?«

»Oh, nein!«

»Schneewittchen!«

»Sie ist doch nicht tot?«

»Ich weiß es nicht«, sage ich. »ich habe sie so gefunden. Ich denke, es ist am besten, wenn wir erst mal das Mieder aufmachen, damit sie mehr Luft bekommt.«

Ich ziehe das Band aus den Ösen und in diesem Moment kehrt ein klein wenig rote Farbe in Schneewittchens Lippen zurück und sie macht einen tiefen, keuchenden Atemzug.

»Sie lebt!«

»Schneewittchen lebt.«

Alle schreien durcheinander, und ich nehme Schneewittchen schnell auf meine Arme und trage sie zu ihrem Bett. Ich schaue in ihr Gesicht, ob sie schon wieder ganz bei sich ist, und ihre Augen bohren sich hasserfüllt in meine. Sie hat schwarzbraune Augen.

Wie ein Tier.

»Ein Wort zu den anderen, und ich sage Grimbold, dass du uns alle als Missgeburten bezeichnet hast«, flüstere ich ihr ins Ohr, während ich sie sanft auf ihr Bett lege. Jetzt schart sich die ganze Bande um sie. Grimbold stützt ihr den Rücken, und Hobo hält ihr einen Becher Wasser an den Mund. Schneewittchen trinkt in kleinen Schlucken, und ich nutze den Augenblick, in dem alle Augen auf sie gerichtet sind, um meinen eigenen Becher, der immer noch auf dem Boden steht, mit dem Fuß unter mein Bett zu schieben.

»Was ist passiert?«, frage ich mit unschuldigem Augenaufschlag, als Schneewittchen zu Ende getrunken hat.

»Ich weiß nicht«, sagt Schneewittchen langsam und sieht mich dabei direkt an, »da war eine alte Krämerin an der Tür und hat Schnürriemen feilgeboten. Da habe ich sie hereingelassen, und die Alte sprach zu mir: ›Wie du aussiehst. Ich will dich einmal ordentlich schnüren.‹ Aber dann schnürte sie mich so fest, dass mir der Atem verging. Von da an weiß ich nichts mehr.«

Die Geschichte ging ihr glatt von der Zunge. Sie war einfach eine geborene Lügnerin. Der treudoofe Grimbold stieg auch sofort darauf ein.

»Die alte Krämerfrau war niemand anders als die gottlose Königin, die dir schon einmal nach dem Leben trachtete«, jammerte er. »Hüte dich, und lass fortan keinen Menschen herein, wenn wir nicht bei dir sind.«

 

Das Leben ging wie gewohnt weiter, das heißt, Schneewittchen putzte, kochte, buk und wusch, und wir wühlten in der Erde. Leider wurde die Ausbeute von Tag zu Tag schlechter. Grimbold überlegte schon, ob wir unseren Stollen aufgeben und uns wieder in einem fremden Bergwerk verdingen sollten. Die Bezahlung dort war allerdings katastrophal schlecht, weil man inzwischen fast überall Kinder arbeiten ließ, die man mit ein paar Kreuzern abspeisen konnte. Ich bot an, das Problem auf meine Art zu lösen und den kleinen Scheißern richtig Angst einzujagen, um den Weg für uns frei zu machen, aber davon wollte der ehrpusselige Grimbold nichts wissen. Also fraßen wir weiterhin den ganzen Tag Dreck, um am Ende eines Tages mit einem kleinen Amethyst oder zwei winzigen Goldgraupen nach Hause zu kommen. Der einzige Lichtblick war Schneewittchen, die jeden Abend auf uns wartete und aus einer Handvoll Linsen und einem Knochen immer noch ein prächtiges Abendessen zu zaubern verstand. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und mich wie die anderen zu behandeln, aber da war natürlich ständig eine Spannung zwischen uns.

Ja, und dann fand ich diesen dicken, fetten Goldklumpen. Grimbold hatte uns angewiesen, jeweils zu zweit Seitenstollen zu hauen, und zum ersten Mal war eine seiner Ideen gut gewesen. Ich klopfte mit Bertil zusammen, und Bertil schob gerade den Karren mit dem Schutt nach draußen, als mir plötzlich dieser Goldklumpen entgegenkullerte. Er funkelte und schimmerte im Licht meiner Grubenlampe, es musste unglaublich reines Gold sein. Ich hörte den Karren zurückrattern und steckte den Klumpen schnell in mein Hemd.

»Mir ist schlecht«, sagte ich zu Bertil. »Ich muss an die frische Luft. Sag den anderen nichts, die machen sich sonst bloß über mich lustig. Wahrscheinlich geht’s mir gleich besser und ich bin im Handumdrehen zurück. Falls nicht, treffen wir uns zu Hause.«

 

Kaum war ich draußen, rannte ich so schnell ich nur konnte zu Schneewittchen. Aber ich kam nicht ins Haus. Sie hatte die Tür abgesperrt. Als ich klopfte, machte sie nur ein Fenster auf.

»Grimbold hat gesagt, ich soll niemanden hereinlassen«, keifte sie, »und das gilt ganz besonders für Leute wie dich.«

Ich zog den Goldklumpen aus meinem Hemd.

»Schau dir das an«, sagte ich, »damit kann ich uns ein eigenes Haus bauen, ein richtiges, großes, nur für uns beide.«

»Das Gold gehört dir nicht allein«, erwiderte Schneewittchen besserwisserisch, »es gehört euch allen zusammen.«

»Bevor die anderen vom Stollen zurück sind, können wir schon längst über sieben Berge sein.«

»Das sieht dir ähnlich«, sagte Schneewittchen, »die anderen für sich schuften lassen und dann ganz allein mit der Ausbeute weglaufen. Dass du dich nicht schämst. Du bist wirklich ein Wicht.«

Ich wurde wieder so wütend. Ich weiß, das ist ein Fehler von mir, dass ich meine Wut nicht kontrollieren kann – aber was musste sie mir auch die ganze Freude verderben? Jedenfalls, ich schmeiße den Goldklumpen auf den Misthaufen, und dann schwinge ich mich einfach auf den Blumenkasten und klettere durchs Fenster hinein. Schneewittchen rennt zur Haustür und schiebt den Riegel zurück, aber bevor sie die Tür aufreißen kann, habe ich sie an den Haaren gepackt und zu Boden gerissen. Sie kreischt und wehrt sich mit Händen und Füßen, und ich werfe mich auf sie und packe ihren Kopf mit beiden Händen, und dann küsse ich ihren wundervollen blutroten Mund. Sie kratzt und beißt und windet sich wie eine Natter, aber ich halte sie an ihren schwarzen Haaren fest und küsse einfach weiter. Plötzlich liegt sie ganz still und rührt sich nicht mehr. Ich denke schon, sie hat endlich nachgegeben, da höre ich es auch: Die anderen kommen zurück. Ich kann gerade noch von Schneewittchen herunterkrabbeln, da geht auch schon die Haustür auf, und Grimbold stürmt herein. Bertil und Helmerich hinter ihm her, und dann der Rest der Bande.

»Was geht hier vor«, heult Grimbold und: »Schneewittchen, was hat er dir getan?«

Bertil und Helmerich packen mich und zerren mich hoch.

Schneewittchen, die Haare völlig aufgelöst, richtet sich auf und sieht sich um, als sei sie eben erst aus einem tiefen Schlaf erwacht.

»Oh, Grimbold, verzeih mir«, sagt sie zu meiner allergrößten Überraschung, »verzeiht mir, meine guten Freunde, aber ich habe euren Rat nicht befolgt und wieder die Tür geöffnet.«

Und dann gibt sie, ohne mit der Wimper zu zucken, eine haarsträubende Lügengeschichte zum Besten, nämlich dass abermals ein altes Weib – ein anderes diesmal – angeklopft und Ware feilgeboten hätte.

»Ich öffnete bloß einen Spalt und sagte ihr, dass sie nur weitergehen solle, weil ich niemanden hereinlassen dürfe. Da zeigte sie mir einen Kamm und meinte: ›Das Ansehen wird dir doch erlaubt sein.‹ Ach, und dann gefiel mir der Kamm so gut, dass ich die Alte hereinließ und fragte, was er kosten solle, und als wir uns einig waren, sagte sie: ›Nun will ich dich einmal ordentlich kämmen.‹ Von da an weiß ich nichts mehr. Und wenn Nag nicht den Kamm gefunden und wieder herausgezogen hätte … – wer weiß, ob ich noch leben würde.«

Mit offenem Mund starre ich auf den Kamm, den ich tatsächlich in der Hand halte. Ich muss ihn ihr bei unserem Kampf aus den Haaren gerissen haben. Wie ich schon sagte: Sie ist eine geborene Lügnerin.

»War es so?«, fragt Grimbold. Ich schlucke und nicke.

»Ja. Als ich im Stollen war, überkam mich plötzlich so eine böse Ahnung, und ich dachte mir, wenn ich euch etwas davon sage und ich habe mich geirrt, steh ich schön dumm da. Am besten, ich laufe schnell allein nach Hause und sehe nach dem Rechten.«

»Ich muss dich um Entschuldigung bitten«, sagt Grimbold, »wir hatten dich in falschem Verdacht.«

Auch die Übrigen wollen mir anerkennend auf die Schulter klopfen, aber ich bleibe unzugänglich. Schlimm, wenn einem nicht mal die eigenen Freunde vertrauen. Schneewittchen wird von Grimbold noch einmal verwarnt, auf der Hut zu sein und nun aber gewiss niemandem mehr die Tür zu öffnen.

»Ich verstehe sowieso nicht, warum du unbedingt diesen Kamm kaufen musstest. Für mich sieht er haargenau so aus wie der, den du sonst immer trägst. Bickerl soll ihn im Wald vergraben.«