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Taxi E-Book

Karen Duve

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Beschreibung

Eine ziellose Jugend, eine spießige Familie, eine frustrierende Ausbildung: Alex Herwig hat keinen Plan, was aus ihr mal werden soll. Da kommt die Annonce »Taxifahrerin gesucht« schon fast wie die Rettung schlechthin daher. In ihrem neuen Job wird Alex – halb wider Willen – von einer Kollegenclique aufgesogen, die aus abgebrochenen Studenten, gescheiterten Künstlern, misanthropischen Gar-nicht-Akademikern und frauenfeindlichen Verklemmten besteht – bis sie Marco trifft, einen extrem kleingewachsenen, aber umso bestimmter agierenden jungen Mann ... Karen Duve erzählt von einer jungen Frau, der das Leben nichts schenkt, die einen Beruf hat, in dem sie andauernd Leute trifft, denen das Leben erst recht nichts schenkt.

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Seitenzahl: 356

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Karen Duve

Taxi

Roman

Kurzübersicht

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Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Karen Duve

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

1. Teil: 1984–1986

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

2. Teil: September 1989–Juni 1990

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

Inhaltsverzeichnis

1. Teil

1984–1986

1

So ging das nicht weiter. Ich hatte die Ausbildung bei der Versicherung abgebrochen, die einzige Ausbildung, die ich je angefangen hatte. Danach versuchte ich, ohne Geld von Hamburg nach München zu laufen, in der Hoffnung, dass sich unterwegs irgendetwas ergeben würde. Ich hätte ja zum Beispiel mitten im Wald auf ein Auto stoßen können, ein Auto mit einem halb verwesten Toten hinter dem Lenkrad. Und neben ihm, auf dem Beifahrersitz, hätte zwischen lauter Maden ein Koffer mit zehntausend Hundert-Mark-Scheinen in unsortierter Nummerierung gelegen. Hätte doch sein können. In Göttingen wickelte ich das, was von meinen Füßen übrig war, in ein doppeltes Paar Socken und trampte wieder nach Hamburg zurück.

»Ich hoffe, du weißt, was du zu tun hast, wenn du in der Gosse gelandet bist«, sagte mein Bruder, »nicht, dass einer von der Familie nachher noch für dich aufkommen muss.«

Mein Bruder tat immer so, als wäre unsere Familie eine verschworene Gemeinschaft, in der nur ich querschießen würde, aber in Wirklichkeit wohnte er mit mir zusammen in einer Gartenlaube, die unser Vater auf der Rasenfläche hinter seinem Haus hochgezogen hatte, um uns beide nicht mehr sehen zu müssen. Die Laube hatte zwei Zimmer, für jeden eins. Ein Badezimmer gab es nicht, dafür mussten wir zum Haus rüberlaufen. Bei Schnee und Regen und in finsterster Nacht. Gewöhnlich saß ich in meinem Zimmer auf dem Bett, lehnte den Rücken gegen das Kopfkissen und die schlecht isolierte Holzwand und las ein Buch über Schimpansen. Oder ich sah aus dem Fenster in die Zweige eines giftigen Goldregens. Ich musste mir langsam etwas einfallen lassen. Meine ehemaligen Mitschüler studierten schon seit anderthalb Jahren, und wenn ich nichts tat, würden sich meine Eltern wieder irgendeinen langsamen Tod in einem Büro für mich ausdenken.

Ich fing an, die Stellenanzeigen in der Bild-Zeitung zu lesen. Gesucht wurden Mitreisende für Drückerkolonnen, Barfrauen auf Provision und Taxifahrer. Drückerkolonne ging nicht, weil ich ja überhaupt kein Durchsetzungsvermögen hatte. Ich hoffte immer noch, dass sich irgendetwas von selbst ergeben würde, etwas Großes und Besonderes, ohne dass ich deswegen selber handeln musste oder gezwungen war, Entscheidungen zu fällen, die ich dann den Rest meines Lebens zu bereuen hatte. Aber bis es so weit war, konnte ich ja Taxi fahren. Ich meldete mich auf eine Anzeige, in der nicht nur Taxifahrer, sondern ausdrücklich auch Taxifahrerinnen gesucht wurden. 1984 war es in Stellenanzeigen noch nicht üblich, jedem Beruf auch noch eine weibliche Endung anzufügen. Man tat es nur, wenn man andeuten wollte, dass man praktisch jeden nahm.

2

Ich bestand die Führerscheinprüfung zur Fahrgastbeförderung, weil ich alle Straßen aufzählen konnte, die vom Klosterstern abgingen, und weil ich wusste, dass die Farbe, in der sämtliche Taxis gestrichen waren, RAL 1015 hieß – hellelfenbeinfarben, also wie blasser Eiter. Den Verbindungsweg vom Horner Kreisel in die Elbvororte hatte ich allerdings nicht mehr parat, obwohl ich wochenlang Verbindungswege auswendig gelernt hatte und sie auch noch alle mit dem Fahrrad abgefahren war. Das Ganze fand im Verkehrsamt statt. Die beiden Prüfer saßen hinter einem Tisch, die Beine ausgestreckt und die Stühle weit zurückgeschoben, damit ihre Bäuche vor die Tischplatte passten. Ich saß mit einem älteren Türken und zwei Studenten vor ihnen – nebeneinander wie Zielscheiben. Ohne Tische.

Ich legte langsam das linke Bein über das rechte und fragte einen der dicken und unsympathischen Prüfer, ob ich mit dem Aufzählen der Straßen nicht andersherum, nämlich in den Elbvororten beginnen dürfe. Erstaunlicherweise hatte er nichts dagegen.

»Elbchaussee …«, fing ich an, »Elbchaussee … also die ganze Zeit erst mal die Elbchaussee entlang … äh, kilometerweit … dann Königstraße … Reeperbahn … dann auf den Ring Eins, nein falsch, lieber weiter auf der Ost-West-Straße, beim Rödingsmarkt in den Großen Bustah, Steinstraße hoch und dann äh, Berliner Tor, äh … Berliner Tor … und die Hammer Dings …«

Hamm und Horn, Horn und Hamm, diese einsilbigen Nachkriegsstadtteile voll identischer Wohnblocks, Rentner und Kleingärten bekam ich ständig durcheinander!

»Äh … Berliner Tor durch und immer geradeaus die … äh …«

Ich riss die Augen weit auf und flatterte hilflos mit den Wimpern.

»Genau. Und so weiter und so fort«, sagte der unsympathische Prüfer. Den älteren Türken, der bloß eine einzige Straße vergessen hatte, ließen die beiden Dicken durchfallen. Mit Gerechtigkeit hatte das alles nichts zu tun, aber ich tat natürlich den Teufel, mich zu beschweren. Noch am selben Nachmittag schwang ich mich auf mein Fahrrad und fuhr zu dem Taxibetrieb, den ich mir in der Bild-Zeitung ausgesucht hatte.

3

Die Firma Mergolan bestand aus einem gläsernen Büro, einer Werkstatt und zweiundzwanzig Taxis. Der Chef sah aus wie ein Postkarten-Ungar, mit seinem scharf gescheitelten schwarzen Haar und dem melancholischen Hirtenbart im runden Gesicht. Über seinem Schreibtisch hing jedoch eine goldgerahmte Fotografie des Schahs von Persien. Mergolan verkaufte mir ein Kellnerportemonnaie und einen Stadtplan Großraum Hamburg.

»Billiger als bei uns kriegst du die sowieso nirgends«, sagte er. Eine Pistazienschale stahl sich über den Rand seiner Unterlippe und fiel auf den Betonboden. Mergolan ging mit mir nach draußen, wo ein schwarzhaariger Mann im blauen Overall gerade die Motorhaube eines Taxis schloss.

»Das ist Mustafa. An den musst du dich wenden, wenn irgendetwas an deinem Taxi kaputt ist.«

Mustafa hob grüßend die schmierige Hand. Mergolan setzte sich mit mir in den Mercedes. Heiße Luft schlug uns entgegen. Es war Juni, und der Wagen hatte sich in der Sonne aufgeheizt. Wir ließen die Türen offen. Mergolan knipste Dachschild und Funkgerät an.

»Wir sind beim Wandsbeker Funk angeschlossen. Alle Wagen, die so ein Hamburg-Wappen hinten drin haben, gehören zum Wandsbeker.«

Auf dem Wappen stand die Nummer zweihundertvierundvierzig. Mergolan zog den Tourenblock hinter der Sonnenblende hervor und zeigte mir, wie ich die besetzt und unbesetzt gefahrenen Kilometer und den Geldbetrag von Taxameter und Kilometerzähler abschreiben und in die Tabelle übertragen musste.

»Bei uns kriegst du fünfzig Prozent von dem, was du einfährst. Und zweihundert Mark sollten eigentlich immer drin sein – also hundert für dich plus Trinkgeld. Wenn du tanken musst, lässt du dir ’ne Quittung geben und legst die nachher mit in den Briefumschlag. Das Geld kannst du natürlich abziehen. Und wenn das Geschäft gut läuft, dann fährst du auf der Tankstelle die Dieselzapfsäule für Lkws an. Dann ist dein Tank in zwanzig Sekunden voll und du kannst gleich weiterfahren. Alles klar?«

Er stieg aus. Ich verstaute den Stadtplan, einen Apfel und ein Tränengasspray neben dem Fahrersitz, packte meine alte Schweinsleder-Aktentasche in den Kofferraum, klemmte den Tourenblock wieder unter die Sonnenblende und fuhr los. Der Himmel war blau, nur an wenigen Stellen von durchsichtigen Wolkenstreifen schraffiert. Ich hatte die Nachtschicht genommen, die von achtzehn Uhr bis sechs Uhr morgens ging. Nachts fahren und tagsüber schlafen, davon versprach ich mir mehr Abenteuer.

Der erste Taxi-Posten, der mir vor die Kühlerhaube kam, war der Posten Hagenbecks Tierpark. Mein Wagen war das einzige Taxi dort, und ich konnte gleich bis ganz nach vorn rollen. Schräg gegenüber, auf der anderen Straßenseite äugten zwei langhaarige Esel über den Zoo-Zaun und ließen die wolligen Ohren in der Hitze hängen. Ich kurbelte das Seitenfenster herunter, verteilte mein Wechselgeld im Kellnerportemonnaie und wartete. Ich wartete und wartete. Ein weiteres Taxi hielt hinter mir und dann noch eines. Jedes Mal, wenn das Funkgerät knackte und die Stimme etwas sagte, zuckte ich zusammen. Technische Geräte schüchterten mich ein. Außerdem hatte ich seit jeher große Angst, etwas falsch zu machen. Und ich musste ja nicht nur auf die Funkerin achten. Da draußen gab es auch noch eine grüne Telefonsäule, den sogenannten Mini, der jede Sekunde klingeln konnte. Was sollte ich eigentlich tun, wenn beides gleichzeitig passierte – wenn die Funkerin den Posten Hagenbeck rief und genau in dem Moment auch der Mini klingelte? Ich drehte den Kopf, um herauszubekommen, ob die Wagen hinter mir beim selben Funk angeschlossen waren und mich anschwärzen konnten, falls ich einen Fehler machte. In diesem Augenblick stieg eine Frau in mein Taxi ein und setzte sich auf die Rückbank. Sie trug ein kariertes Kostüm und hatte ein liebes, müdes Gesicht. Ihre Handtasche war auch kariert.

»Zur Meerweinstraße, bitte.«

»Gut«, sagte ich, »zur Meerweinstraße. Alles klar. Wo geht die noch mal ab, die Meerweinstraße?«

»Von der Großheidestraße.«

Ich zog den Straßenatlas neben dem Sitz heraus und begann zu blättern. Meerweinstraße, Meerweinstraße – warum nicht gleich Meerschweinchenstraße?

»Fahren Sie einfach mal los. Ich sage Ihnen, wo es langgeht.«

Ich stellte den Taxameter an, fädelte mich in die Julius-Vosseler-Straße ein, schaltete, blinkte, wechselte die Spur, überquerte den Siemersplatz. Es war ein langer Weg, quer durch Eppendorf und Winterhude, und es fühlte sich seltsam an, jemanden, den man noch nie zuvor im Leben gesehen hatte, so dicht hinter sich sitzen zu haben, dass man meinte, seinen Atem im Nacken zu spüren. Die Meerweinstraße war eine kleine Wohnstraße mit roten Backsteinhäusern, eine Einbahnstraße. Ich kassierte, schaltete den Taxameter wieder aus, schrieb eine Quittung, ließ die Frau aussteigen und stellte mich an den nächsten Posten, der an der Jarrestraße lag. Ein Taxi hielt neben mir. Der Fahrer schob seine Ledermütze aus der Stirn und kurbelte sein Seitenfenster herunter. Mein Fenster war ja schon unten.

»Ist das ein Mergolan-Wagen?«

»Ja. Wieso?«

»Hab ich doch gleich gesehen, haha. Mergolan!«

Er wollte sich gar nicht wieder beruhigen.

»Kampnagel«, rief die Funkerin. Ich brauchte vier Sekunden, bis mir einfiel, dass der Posten an der Jarrestraße nach der Kampnagelfabrik »Kampnagel« hieß.

»Niemand am Posten Kampnagel? Bereich.«

»Zweihundertvierundvierzig«, schrie ich und hieb auf die Funktaste. »Zweihundertvierundvierzig, zweihundertvierund…«

»Nun mal ganz ruhig, Zwodoppelvier. Ich höre Sie sehr gut. Sie brauchen nicht so zu schreien. Stehen Sie am Posten Kampnagel? Meerweinstraße 33 für Kantereit.«

»Meerweinstraße 33 für Kantereit. Danke Zwodoppelvier.«

»Danke Zwodoppelvier.«

Und diesmal brauchte ich nicht einmal im Straßenatlas nachzuschlagen.

4

Nach drei Wochen hatte ich den Dreh so ungefähr raus. Taxifahrer sprachen nicht nur von Taxis (sächlich), sondern auch von Taxen (weiblich). Manchmal benutzten sie beide Wörter in ein und demselben Satz. Weiß der Teufel, warum. Ein alter Taxifahrer, der ohne Funk fuhr, hieß Graupe. Jemand, der am Straßenrand winkte und zu mir in die Taxe stieg, ohne mich vorher per Funk bestellt zu haben, war ein Anläufer, und ihn irgendwohin zu bringen, war eine Tour. Trinkgeld hieß Tip, Taxameter hieß Uhr, und eine Tour, bei der die Uhr nicht eingeschaltet war und ich den ganzen Fahrpreis alleine einstrich, nannte man einen Sieger fahren.

Abends zwischen sechs und acht lief das Geschäft eigentlich von selbst – jedenfalls im Innenstadtbereich. Um diese Zeit waren die Leute mit dem, was sie den Tag über beschäftigt hatte, fertig und wollten so schnell wie möglich heim. Nach acht wurde es ruhig. Alle Leute waren dort, wo sie hingehörten, zu Hause vor dem Fernseher oder im Theater oder im Restaurant, und die nächsten zwei Stunden konnte ich in einem meiner Bücher über die großen Affenarten lesen, ohne allzu oft unterbrochen zu werden. Gegen zehn ging es dann wieder los: Musikhalle und Staatsoper. Bis Mitternacht lief es. Der Springer Verlag in der Kaiser-Wilhelm-Straße bestellte reichlich Taxis über Funk. Oder man kreuzte zwischen den verschiedenen Amüsiervierteln hin und her. Am Posten Gänsemarkt konnte man keine Funktouren annehmen, weil man von den anderen Taxis eingekeilt war, aber dafür kamen hier viele Anläufer vorbei. Großneumarkt ging sogar noch bis eins. Allerdings waren die späten Fahrten hier oft Schrott-Touren. Die Büroangestellten, die es in den Wein- und Bierkneipen nicht geschafft hatten, eine Frau für umsonst mit nach Hause zu nehmen, ließen sich für fünf Mark zur Reeperbahn fahren. Dort konnte man gleich stehen bleiben. Reeperbahn war das Einzige, was wochentags auch noch nach eins ging. Und die Taxiposten, die in der Nähe eines Clubs lagen. Gegen drei Uhr morgens wartete ich immer am Posten Siemersplatz, um eines der Mädchen vom Funny Club nach Hause zu bringen. Die Mädchen, die in den Clubs arbeiteten, fuhren alle mit dem Taxi nach Hause.

5

»Schieb mal die Kassette rein«, sagte er und tat es selbst. Er hatte dicke, hellrote Locken, bis auf die massigen Schultern herunter. Im Gesicht gingen sie in einen Vollbart über. Ein richtiger Löwenkopf. Er sah überhaupt nicht aus wie ein Zuhälter. Sein Mädchen saß auf der Rückbank und verschränkte die Finger ineinander. Sie war sehr klein und unscheinbar und wirkte auch nicht wie eine Prostituierte. Die Kassette war von Hans Hartz. »Die weißen Tauben sind müde«, sang Hans Hartz, während wir uns im Feierabendverkehr den Ring entlangschoben, »sie fliegen lange schon nicht mehr. Sie haben viel zu schwere Flügel, und ihre Schnäbel sind längst leer.« Das war sicher auch keine typische Zuhältermusik. Trotzdem zweifelte ich nicht daran, dass der Mann mit der mächtigen Mähne einer war. Was mich so sicher machte, war seine unentrinnbare Präsenz, seine herablassende Art und die lauernde Aggressivität. Als Schimpanse in einer Schimpansenhorde wäre er ein unbeliebtes, aber respektiertes Alphatier gewesen, das alle Weibchen für sich beansprucht und alle männlichen Schimpansen in Angst und Schrecken versetzt hätte. Natürlich konnte man diese Aura brutaler Dominanz auch bei vielen Managern, Politikern oder sogar Zeitungsredakteuren finden. Aber zu denen gehörte der löwenmähnige Mann ganz sicher nicht. Der Status, die Frauen und die Kontoauszüge, die ein dominantes und aggressives Exemplar wie er nun einmal beanspruchte, waren innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft für ihn unerreichbar. Also agierte er in einem Umfeld, in dem er bekam, was ihm zustand. Ich wollte ihn so schnell wie möglich wieder loswerden.

»Nach Pinneberg«, sagte er. Fast eine Ferntour. Dann fiel ihm plötzlich ein, dass er vorher noch ins Pickenpack wollte.

»Du wartest hier«, sagte er, als ich am Schulterblatt hielt, und drückte mir fünfzig Mark in die Hand. Er verschwand mit dem Mädchen in der Kneipe. Ich fluchte leise in mich hinein. Das war Mist. Scheiße war das. Wartezeit brachte auf dem Taxameter gerade mal zwanzig Mark Umsatz die Stunde. Und jetzt war es kurz nach sieben, der Abend hatte gerade erst angefangen, jetzt konnte man leicht das Doppelte verdienen. Nach einer halben Stunde stieg ich aus, nahm einen Zwanzig-Mark-Schein aus dem Portemonnaie und steckte ihn in die Hosentasche. Wie ich das hasste: den Fahrgästen hinterherzulaufen.

Der Löwenmensch saß am Tresen mit einer Flasche Bier vor sich. Außer ihm war das Pickenpack völlig leer. Nicht einmal hinter dem Tresen stand jemand. Als er mich hereinkommen sah, winkte er mich heran, um aus meiner Beschwerde einen Gehorsam zu machen.

»Komm her. Du trinkst jetzt erst mal einen mit mir«, sagte er.

»Nee«, sagte ich, »geht nicht. Ich muss arbeiten. Ruf dir nachher einfach ein anderes Taxi. Das wird sowieso günstiger. Bei mir sind jetzt schon dreißig Mark auf der Uhr.

»Nein«, sagte er, »du wartest.«

Wie alle Zuhälter, die ich bisher gefahren hatte, war er ein unangenehmer, angsteinflößender Schweinehund. Die Romantisierung des Rotlichtmilieus hatte ich noch nie verstanden.

Sein Mädchen kam von der Toilette zurück. Sie steuerte einen der hohen Tresenstühle an und setzte sich.

»Nichts da«, sagte der Löwenmensch, »du stehst.«

Beschämt rutschte das Mädchen wieder vom Hocker und blieb tatsächlich mit gesenktem Kopf stehen.

»Weißt du was«, sagte ich, während mir das Herz bis zum Hals schlug, »mir ist das zu blöd. Darauf habe ich keine Lust. Hier hast du deine restlichen zwanzig Mark. Fahr mit wem du willst, aber nicht mit mir.«

Ich klebte den Zwanziger in die Bierpfütze auf dem Tresen und ging hinaus.

»He«, rief er, »he! Das kannst du mit mir nicht machen. Komm sofort zurück. Du kommst zurück!«

Ich beschleunigte meinen Schritt, drückte mich durch die Schwingtür und stieg in mein Taxi. Auf der Uhr waren bereits mehr als fünfunddreißig Mark. Als ich sie ausschaltete, schoss plötzlich das Mädchen aus dem Pickenpack, riss die Beifahrertür auf und setzte sich neben mich.

»Du musst zurückkommen. Bitte, komm zurück. Der gibt mir jetzt die Schuld, dass du weg bist. Wenn du nicht zurückkommst, schlägt der mich tot.«

Ich drehte den Schlüssel halb um, wartete, bis das rote Licht auf dem Armaturenbrett erlosch, und startete den Motor. Das Taxi dieselte sich warm.

»Nee«, sagte ich, »nee, geht echt nicht. Warum bist du auch bei so einem Arschloch? Mann, was war das denn für ’ne Nummer: Du stehst. Das war ja wohl das Letzte.«

»Er ist nicht immer so. Hast du mal ’ne Kippe?«

Ich zog eine halb volle Zigarettenschachtel neben dem Sitz hervor.

»Hier, kannst du behalten. Hat jemand liegen lassen.«

»Nein«, sagte das Mädchen. »Dann lieber nicht. Mit so was bin ich empfindlich. Ich steck mir doch nichts in den Mund, was jemand hier im Taxi vergessen hat.«

Ich steckte die Zigarettenschachtel wieder neben den Fahrersitz.

»Und jetzt?«, fragte das Mädchen und sah bittend zum Pickenpack.

»Entweder du gehst zu deinem Freund zurück und sagst ihm, dass ich schon weg war, oder du haust mit mir ab. Aber entscheide dich. Ich will nicht, dass der hier auch gleich noch rauskommt.«

»Fahr los«, sagte das Mädchen.

»Ich wollte ihn sowieso verlassen«, sagte sie. »Neulich hat er mich total zusammengeschlagen. Aber er kann auch sehr lieb sein.«

»Wo willst du denn jetzt hin?«

»Ich weiß nicht. Ich komm eigentlich aus Lohne, das ist in der Nähe von Celle.«

Sie kam tatsächlich aus einem Dorf.

»Und? Kannst du dahin nicht wieder zurück?«

»Meine Eltern wohnen immer noch da. Aber ich habe kein Geld.«

»Pass auf, ich fahr dich jetzt zum Bahnhof, dann gebe ich dir das Geld, und dann kaufst du dir eine Fahrkarte und fährst nach Hause.«

»Echt? Das würdest du tun?«

»Klar«, sagte ich. Mein Magen krampfte sich vor Kummer zusammen. Geld bedeutete mir sehr viel. Auf der anderen Seite war das natürlich eine Geschichte, die sich später gut erzählen ließ.

»Aber dann musst du mir eins versprechen …«

»Was?«

»Du musst mir versprechen, dass du nichts mit Holger anfängst, wenn ich weg bin. Ich habe das nämlich mitgekriegt, wie der dich angesehen hat.«

»Was? Ich kenne deinen Holger doch überhaupt nicht. Ich weiß noch nicht mal, wo der wohnt. Außerdem ist der hässlich.«

Das schöne Geld. Hätte ich ihr bloß nicht die Fahrkarte versprochen. Was war das nur für eine bescheuerte Idee gewesen, so eine dämliche Hure retten zu wollen.

»Wieso, der sieht doch unheimlich gut aus. Findest du nicht, dass der gut aussieht?«

»Nee, der ist hässlich.«

»Wieso denn? Magst du keine Bärte? Der sieht doch toll aus.«

»Ich habe das Gefühl, du bist dir noch gar nicht darüber im Klaren, was du eigentlich willst«, sagte ich. »In Wirklichkeit willst du doch gar nicht fahren, stimmt’s?«

Es war erschreckend, wie leicht sie zu manipulieren war. Willensmäßig völlig unterbelichtet. Das ideale Opfer.

»Du hast recht«, sagte sie. »Eigentlich will ich nicht fahren. Du kannst mich aber trotzdem am Bahnhof rauslassen. An der Langen Reihe. Ich mach noch ’n paar Freier. Wenn ich mit Geld zurückkomme, ist Holger nicht so sauer, dass ich abgehauen bin.«

»Ja«, sagte ich, »vielleicht bricht er dir dann bloß einen Arm.«

Jetzt, wo mein eigenes Portemonnaie aus der Diskussion war, versuchte ich, noch einmal zu missionieren.

»Sei nicht blöd, gib diesem Mistkerl nicht dein ganzes sauer verdientes Geld, sondern kauf dir davon eine Fahrkarte und hau ab.«

»Nein, ich geh zu Holger zurück. Du hast schon recht: Eigentlich will ich gar nicht weg.«

6

Gegen zwei Uhr morgens wartete ich am Siemersplatz. Regen klopfte leise aufs Autodach und auf die Windschutzscheibe. Ich war bereits zu müde, um ein Buch zu lesen, und blätterte stattdessen den neuen Stern durch. Zwischendurch stellte ich den Scheibenwischer an, um besser eine riesige Ratte und einen jungen Großstadtmarder beobachten zu können, die sich über eine Pfütze hinweg angifteten. Hinter mir hielt ein weiteres Taxi. Marder und Ratte sausten einträchtig unter eine Hecke. Der Fahrer des Taxis stieg aus. Er kam zu mir nach vorn, öffnete die Beifahrertür und setzte sich neben mich. Ich betrachtete ihn im Licht der kleinen Leselampe. Er war groß und schlank und hatte halblange Schnittlauchhaare, die ihm über ein Auge fielen, und einen altmodischen Oberlippenbart, zwei dünne Striche, die rechts und links der Nase begannen und bis zu den Mundwinkeln reichten. Er trug ein kanarienvogelgelbes Hemd. Ich kannte niemanden, der so aussah, und schätzte ihn der Aufmachung wegen zunächst auf vierzig Jahre.

»Hallo, ich fahr auch für Mergolan«, sagte er. »Ich bin Dietrich.«

Geh weg, dachte ich.

»Du bist die Neue, ja? Alex, stimmt’s? Seit wann fährst du?«

Ein drittes Taxi hielt am Posten, und auch dessen Fahrer stieg aus, kam nach vorn, öffnete diesmal die Hintertür und setzte sich auf den Rücksitz.

»Das ist Rüdiger«, sagte Dietrich. »Und das ist Alex. Fährt auch bei uns.«

Rüdiger war ein pummeliger Typ mit einem ballonartig großen Schädel. Er trug eine Prinz-Heinrich-Mütze und hielt ein altes, in Leder gebundenes Buch in der Hand. Dünne braune Ponyfransen klebten an seiner runden Stirn. Das Gesicht war gleichzeitig schwammig und kindlich. Auch wegen der Pickel. Er sah aus wie ein verlebter Vierzehnjähriger.

»Hey«, schrie Rüdiger, auf eine geradezu manische Art aufgekratzt und mit unmenschlich hoher Stimme. Er nahm seine runde Brille ab, um die Gläser mit einem Hemdzipfel trocken zu wischen. »Du bist die Neue, ja?«

Wenn er den Mund öffnete, sah man die silbrige Verklammerung seiner Vorderzähne.

»Wie lange bist du denn sch-schon dabei?«

Anscheinend stotterte er auch noch.

»Zwei Wochen«, sagte ich. Das Funkgerät knackte.

»Vierdreiacht.«

Rüdiger beugte sich linkisch über mich und drückte auf meine Funktaste.

»Vierdreiacht, ich sitz hier bei, äh …«

»Zwodoppelvier«, sagte ich.

»… bei Zwodoppelvier.«

»Vierdreiacht, wann könnten Sie beim Funny Club sein?«

»In zwei Minuten«

»Dann möchten Sie bitte Melanie abholen, Vierdreiacht.«

»Danke, Vierdreiacht.«

»Na, dann will ich mal los, die blöde Schlampe nach Hause kutschieren«, sagte Rüdiger. Erstaunt drehte ich mich zu ihm um.

»Was meinst du, was die erst mal über mich sagt?«, keifte Rüdiger. »Als die zum ersten Mal b-bei mir eingestiegen ist, hat die mich angesehen und gesagt, Was bist du denn? Frau oder Mann? Was? Ein Mann? Das glaub ich nicht. Du willst doch nicht behaupten, dass du ein Mann bist. Hahahahaha.«

Als er das Hurengelächter parodierte, kippte seine ohnehin gewöhnungsbedürftige Stimme, und ich verstand, was Melanie gemeint hatte.

»Ein paar von den Mädchen im Funny Club haben Stammfahrer«, erklärte Dietrich, als Rüdiger verschwunden war. »Die halten sich gerne ihre Privatsklaven. Und wehe, du bist nicht zur Stelle, wenn die rufen. Bei Rüdiger ist es Melanie, und ich warte hier auf Tanja.«

»Siemersplatz«, sagte die Funkerin.

»Zwodoppelvier.«

»Zwodoppelvier. Der Funny Club für Natascha.«

»Funny Club für Natascha. Danke, Zwodoppelvier.«

»Danke, Zwodoppelvier.«

»Natascha – das ist ’ne gute Tour«, sagte Dietrich, während er ausstieg. »Um fünf gehen wir alle frühstücken. Wahrscheinlich im Gestern und Heute. Hast du nicht Lust dazuzukommen?«

Ich startete das Taxi.

»Mal sehen. Eigentlich wollte ich durcharbeiten.«

»Ich sag dir dann über Funk Bescheid. Wahrscheinlich G und H.«

7

Im Gestern und Heute war es morgens um fünf gestopft voll. Wirklich erstaunlich, wie viele Menschen um diese Zeit Appetit auf eines der schweren warmen Gerichte, meist Rührei- oder Bratkartoffelvariationen, hatten. Dietrich und Rüdiger saßen in der hintersten Ecke. Ich musste erst einige Stufen hinaufsteigen, um sie zu finden. Mit ihnen am Tisch saßen noch drei Taxifahrer. Jedenfalls sahen sie aus wie Taxifahrer – Lederjacken über der Stuhllehne, Hosen mit stark ausgebeulten Knien und übermüdete Gesichter.

»Ich versteh nicht ganz, warum du mir das Geld nicht jetzt zurückgeben kannst«, sagte Dietrich gerade zu dem hageren, dunklen Typ mit Schnauzbart, der ihm gegenübersaß und Bratkartoffeln mit Sülze aß. »Du bist die ganze Nacht gefahren und hast die Taschen voller Scheine. Warum machst du nicht einfach dein Portemonnaie auf, nimmst zwei Fünfziger heraus und gibst sie mir? Wo ist das Problem?«

»Das geht nicht«, sagte der mit dem schwarzen Schnäuzer. »Verstehst du das nicht? Ich habe die ganze Nacht gearbeitet. Ich muss das Geld erst zu Hause haben. Ich meine, ich muss es erst sehen und zählen. Dann kannst du es kriegen.«

»Da seid ihr ja«, sagte ich, »fast hätte ich euch nicht gefunden.«

»Wenn ein Norde in ein mäßig besetztes Lokal kommt, so wird er unweigerlich nach einem noch freien Tisch Ausschau halten«, schrillte Rüdiger los. »Und zwar wird er sich den Tisch auswählen, der von den bereits besetzten Tischen am weitesten entfernt steht. Niemals wird er – wie es der Südländer täte – sich an einem Tisch dazusetzen. Eher noch wird er dieses Lokal wieder verlassen und sein Glück im nächsten versuchen.«

Ich verstand nicht ganz, was er sagen wollte. Schließlich saßen sie hier zu fünft. Ich fragte aber nicht, sondern zog mir einen Stuhl vom Nebentisch heran und erfuhr, dass der mit dem schwarzen Schnäuzer Udo-Dreidoppelsieben hieß – zur Unterscheidung von Udo-Zwonullfünf, der danebensaß, bartlos war und auffallend kurzes und dichtes Haar hatte. Es sah aus wie ein Mäusefell. Udo-Zwonullfünf las in einem violetten Suhrkamp-Taschenbuch, während die anderen sich unterhielten. Auch Rüdiger hatte wieder sein Buch dabei. Es lag vor ihm auf dem Tisch.

»Der Norde braucht die Distanz«, referierte er immer noch. Aus dem Glas in seiner Hand schwappte Cola.

»Und das ist Taximörder«, stellte Dietrich einen traurig und etwas konturlos wirkenden jungen Mann im Rautenpullover vor. Taximörder hieß so, weil er einmal einen Selbstmörder zum Schauplatz seines Suizids gefahren hatte.

»Dem war nichts anzumerken, dem war absolut nichts anzumerken«, sagte Taximörder und schwenkte schwermütig seine braune Poppertolle aus dem weichen Gesicht.

»Das Geld hatte er mir vorher gegeben. Das muss der sich alles genau überlegt haben. Er hat zwar nicht weiter mit mir geredet, hat aber vollkommen normal gewirkt, nicht so, als wenn er unter Spannung wäre oder so.«

Taximörder sah mich nicht richtig an, während er erzählte, sondern immer gerade so über meine Schulter hinweg, als würde ich eigentlich einen halben Meter weiter links sitzen.

»Der wollte in den Hafen. Über die Köhlbrandbrücke. Und als wir genau auf dem höchsten Punkt der Köhlbrandbrücke sind, greift der mir plötzlich in die Automatikschaltung und knallt die hoch auf Parken. Ich wusste überhaupt nicht, was los ist: Plötzlich bricht der Wagen aus und macht ’ne Vollbremsung. Da reißt der Typ auch schon die Tür auf, springt raus und rennt geradewegs auf das Brückengeländer zu. Der flankt da rüber, ohne auch nur zu zögern. Und weißt du, was das Merkwürdigste war?«

Hier machte er eine kurze Pause, um dann ruhiger fortzufahren: »Das Merkwürdigste war, dass ich zuerst gar nicht begriffen habe, was da gerade passiert ist. Es war wie in einem Traum oder so. Ich bin nicht einmal ausgestiegen, um nachzusehen, sondern ich bin ganz langsam wieder losgefahren. Irgendwie habe ich mir eingeredet, dass da wahrscheinlich eine Leiter war, auf der er zu seinem Schiff klettern konnte.«

»Ja, klar«, sagte Udo-Zwonullfünf, legte seinen Suhrkamp-Band neben sich auf den Tisch und nahm der Bedienung den großen Rührei-Krabben-Teller ab, »und das Schiff hätte dann genau in der Mitte der Fahrrinne unter dem höchsten Punkt der Brücke geankert. Ganz bestimmt.«

»Als ich die Köhlbrandbrücke runtergefahren bin«, nahm Taximörder den Faden wieder auf, »kamen mir auch schon die Typen vom Zoll oder was entgegen – die beobachten die Köhlbrandbrücke wahrscheinlich den ganzen Tag. Die haben mir das dann gesagt, dass der da runtergesprungen ist.«

»Ist ja eigentlich auch ’n guter Selbstmord«, sagte Udo-Dreidoppelsieben und schaufelte Bratkartoffeln auf seine Gabel. »Ich meine, war sicher nicht schön für dich oder für die Leute, die ihn da rausfischen mussten. Ich meine, ist aber doch eigentlich ’ne saubere Sache. Also selbst wenn der beim Aufprall aufplatzt, das wird doch alles sofort durchgespült. ’ne völlig saubere Sache.«

»Du hast ja überhaupt keine Ahnung«, sagte Taximörder düster.

»Ich weiß nicht, würdet ihr jemanden aufhalten, wenn der sich umbringen will?«, fragte Udo-Dreidoppelsieben in die Runde. »Ich meine, vielleicht hat der ja einen echten Grund, sich umzubringen, vielleicht hat er echt was Schlimmes angestellt, dass er sich nirgendwo mehr blicken lassen kann.«

»Dann könnte er ja immer noch in die Fremdenlegion gehen«, sagte Dietrich mehr zu der Tischplatte als zu irgendjemandem sonst. Er hatte sehr leise gesprochen, aber sofort wurden alle still und wandten ihm ihre Gesichter zu.

»Beim Erste-Hilfe-Kurs der Fahrschule hatten wir einen Rettungssanitäter als Lehrer«, sagte ich, »und der hat erzählt, dass von allen Selbstmördern, die sie gerettet haben, niemand dabei gewesen ist, der hinterher immer noch sterben wollte. Die waren alle froh, dass sie noch lebten, obwohl einige danach erst einen richtigen Grund hatten, sich umzubringen, weil nämlich die Niere hin war, von den ganzen Tabletten, und die jetzt an die Dialyse mussten.«

Rüdiger verzog spöttisch das Gesicht.

»Seit wann haben Rettungssanitäter hinterher noch Kontakt zu den Leuten, die sie gerettet haben? Der Typ hat Märchen erzählt. Außerdem lässt er dabei natürlich das Faktum des Bilanzselbstmords außer Acht. Selbstmord ist ja durchaus nicht immer eine Kurzschlusshandlung, sondern kann auch das Mittel der Wahl nach sorgfältiger Abwägung sämtlicher negativer Umstände sein, ergo also eine vernünftige Entscheidung.«

»Hab ich eigentlich schon erzählt, dass ich heute ein Model gefahren habe?«, fragte Taximörder.

»Nee, echt?«, sagte Udo-Dreidoppelsieben.

Und Taximörder beschrieb ausführlich, wo er das Model hingefahren hatte und wie es ausgesehen hatte und was das Model zu ihm gesagt hatte. Leider nicht viel.

8

In den nächsten Wochen ließ Dietrich mich mehrmals über Funk fragen, ob ich Pause machen wollte oder später mit zum Frühstücken käme. Ich sagte jedes Mal ab. Dietrich und seine Freunde frühstückten immer gegen fünf Uhr morgens. Dann hatte ich gerade meinen toten Punkt überwunden und fühlte mich, als könnte ich noch stundenlang weiterarbeiten. Außerdem gingen jetzt viele Funktouren ein. Zum Flughafen oder zum Hauptbahnhof. In der letzten Stunde kamen oft noch mal dreißig oder vierzig Mark auf die Uhr. Dietrich und seine Freunde sah ich sowieso ständig, weil wir mehr oder weniger immer an denselben Posten warteten. Karl-Muck-Platz, Staatsoper, Siemersplatz, Großneumarkt – wo ich auch hinkam: Entweder standen dort schon Dietrich und Rüdiger, oder Udo-Zwonullfünf kauerte in seinem Wagen und hatte die Nase so tief in einen roten, gelben oder blauen Suhrkamp-Band gesteckt, dass über dem Buchrand nur noch seine pelzartigen Haare hervorschauten. Oft stellten sich dann auch noch Taximörder und Udo-Dreidoppelsieben hinten an, und alle zogen in das Taxi um, das am weitesten vorne stand. Manchmal saßen wir zu viert oder fünft im ersten Wagen, bis ein verstörter Fahrgast zaghaft gegen das Fenster klopfte und fragte, ob frei wäre.

Ich kam kaum noch zum Lesen. Ständig wurde geredet. Anfangs redete ich sogar von allen am meisten. Das ist so, wenn man gerade mit dem Taxifahren angefangen hat. Alles scheint so außergewöhnlich spannend und erzählenswert. Ich erzählte die Geschichte von dem Zuhälter mit der Löwenmähne, und wie ich einmal im Funny Club an der Bar gestanden hatte und einer der Gäste mich für eines der Mädchen gehalten hatte. Ich erzählte, wie ein Fahrgast nicht hatte zahlen wollen und was ich daraufhin gesagt hatte und was er. Wie ich eine Tour vom Gänsemarkt nach Rahlstedt bekommen hatte und mir dann gleich in Rahlstedt jemand über den Weg gelaufen war, der zurück in die Innenstadt wollte, und kaum war ich wieder am Gänsemarkt angelangt, »steigt doch dort einer ein und will wieder nach Rahlstedt, und da hatte ich doch tatsächlich hundert Mark Umsatz in kaum mehr als einer Stunde.« Die anderen hörten höflich zu und gähnten hinter vorgehaltener Hand. Ich langweilte sie tödlich, aber sie wussten auch, dass da nichts zu machen war. Jeder Taxifahrer-Neuling quasselt am Anfang so viel. Es sind zu viele Eindrücke auf einmal, zu viele nie gesehene Welten. Ich war noch nie zuvor in einem Bordell gewesen, noch nie in einer Obdachlosenkneipe oder in den Hafengegenden, wo die Containerschiffe lagen. Ich konnte mir die Straßennamen schlecht merken und musste so oft nach dem Weg fragen, dass ich schon davon träumte. Ich hatte mir keine Vorstellung vom Ausmaß der Schlechtigkeit meiner Mitmenschen im Umgang mit Dienstleistenden gemacht, und ich musste es erst lernen, zahlungsunwilligen, betrunkenen Fahrgästen das Geld gewaltsam abzuknöpfen. Wer kein Taxifahrer ist, ahnt ja gar nicht, wie viele Verrückte und ambulant Schizophrene frei herumlaufen. Und dann der Schmutz. Unvorstellbar, wie viel Dreck die Fahrgäste jede Nacht in mein Taxi schleppten. Ich fragte mich, wo der herkam, der ganze Dreck; ob der den Leuten aus der Tasche fiel oder vom Körper bröselte oder wie. Und dann war da noch der Dreck, den sie ausdünsteten, und der als stinkender Belag das Lenkrad und das Armaturenbrett überzog und schließlich auch mich, und der am Ende einer Nacht in braunen Schlieren von meinen Händen in den Abfluss des Waschbeckens strudelte. Und dann die Gefühlsachterbahn. Die ganze Nacht saß ich in dieser engen rollenden Kapsel, die Türen gingen auf und zu, und die Leute stiegen ein und aus und brachten ihren fremden Geruch und ihre jeweilige Stimmung mit, und am Anfang war ich wehrlos. Einmal fuhr ich eine alte Frau. Ihr Mann war gerade gestorben und sie hatte seine Sachen aus dem Pflegeheim an der Mundsburg abgeholt. Zusammengesunken und verschrumpelt wie ein greiser Maulwurf saß sie in ihrem grauen Persianer auf dem Rücksitz und hielt die Plastiktüte im Arm.

»Mein armer kleiner Schatz«, sagte sie leise. »Wir haben uns so lieb gehabt.«

Meine Güte, das ging mir vielleicht an die Nieren! Aber kaum hatte ich die alte Frau abgesetzt und mich geschnäuzt, standen da zwei winkende Männer am Straßenrand. Wenn du jemanden am Straßenrand winken siehst, bremst du als Taxifahrer automatisch, auch wenn dir noch der Rotz aus der Nase läuft. Das ist wie ein Reflex. Du bremst also, und die Männer steigen ein und sind betrunken, und der eine fragt dich, ob du ihm nicht einen lutschen willst. Und der andere greift in deine Haare und sagt: »Dreh dich doch mal um. Lass dich doch mal ansehen.« Und dann sagst du, dass hier jetzt schon wieder Endstation ist und sie aussteigen müssen, aber hopphopp! Und kaum sind sie draußen, steigt schon der Nächste ein, ein bulliger Zwei-Meter-Kerl mit blauviolettem Gesicht und zugeschwollenem Auge, und er sagt: »Fahr mich zur Segeberger Chaussee, aber mach ja keinen Umweg. Ist das klar? Ich kann das nicht leiden, wenn Taxifahrer mich bescheißen wollen.«

Ständig musst du emotionale Vollbremsungen machen, um gleich darauf in eine völlig andere Richtung zu galoppieren. Und wieder Vollbremsung und wieder woandershin. Ich glaube, in den ersten zwei Monaten nahm ich ungefähr zehn Kilo ab. Und ich musste einfach ständig erzählen. Das musste raus. Ich quasselte und quasselte. Manchmal konnte ich mich nicht beherrschen und redete sogar auf meinen Bruder oder meine armen Eltern ein.

»Oh, bitte, Alexandra«, sagte meine Mutter dann unglücklich, »bitte nicht wieder eine von deinen schrecklichen Taxi-Geschichten.«

Aber etwas anderes hatte ich nun mal nicht zu bieten.

Am geduldigsten von allen hörte Dietrich zu.

»Die Fahrgäste sind alle Schweine«, sagte er, »richtige Dreckhecken.«

Udo-Zwonullfünf und Rüdiger stimmten sofort zu. Fahrgäste waren Feinde, die verachtet werden mussten. Das Letzte.

»Ich frag mich manchmal, ob die Leute sich überhaupt noch trauen würden, Taxi zu fahren, wenn sie wüssten, was Taxifahrer von ihnen halten«, sagte Dietrich.

9

»Oh, Mann, das hätte ich nicht gedacht, dass das tatsächlich passiert«, sagte Dietrich, nachdem er mich geküsst hatte. Er schaute mich lange an. Ich kannte solche Blicke. Mir war schon klar, dass ich ziemlich gut aussah. Und Dietrich kaute auf diesem Köder bereitwillig herum und konnte sein Glück kaum fassen.

Er hatte mich gefragt, ob ich einen Film, ob ich Badlands mit ihm im Fernsehen anschauen wollte.

»Ein sehr guter Film. Der fängt um Viertel nach acht an und geht bis kurz vor zehn. In der Zeit ist doch sowieso kaum was los, da kannst du ruhig mal Pause machen. Wenn die Musikhalle aus ist, bist du wieder auf der Straße.«

Da hatte er recht. Also hatte ich Ja gesagt, und in dem Moment war für mich auch klar gewesen, dass wir uns küssen würden. Dabei mochte ich Dietrich gar nicht besonders. Obwohl ich inzwischen sein richtiges Alter kannte, hielt ich ihn immer noch für zu alt. Achtundzwanzig, das war ja fast schon dreißig. Mit den Jungen, mit denen ich bisher zu tun gehabt hatte, hatte er nichts gemein, und ich fühlte mich in seiner Gegenwart unbehaglich. Ich hatte trotzdem zugesagt, weil ich fand, dass ich so schnell wie möglich wieder jemanden küssen sollte. Das letzte Mal war jetzt schon über ein Jahr her. Die ganze Zeit, während der ich in der Versicherung gearbeitet hatte, war nichts gelaufen. Diese Versicherungspolicen hatten mich richtiggehend gelähmt. Einmal nicht aufgepasst, den falschen Beruf gewählt, und schon hatte ich das Leben eines Mauerblümchens geführt. Aber das hier war ein Anfang. Jetzt musste ich einfach bloß wieder in den alten Trott kommen.

Kurz vor acht hatte ich bei Dietrich geklingelt. Draußen war es noch hell gewesen, aber in seiner Hinterhofwohnung waren sämtliche Jalousien heruntergelassen. Es hatte abgestanden gerochen, wie bei alten Leuten. Als sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, sah ich, dass seine Wohnung aus einem einzigen großen Raum bestand. Eine acht Meter lange und drei Meter hohe Wandseite war vom Boden bis zur Decke mit Regalen zugestellt. Alle voller Bücher.

»Das war früher mal eine Werkstatt«, sagte Dietrich. »Da hinten ist natürlich noch ein abgetrenntes Klo.«

Er hatte aufgeräumt, aber trotzdem wirkte die Wohnung schmuddelig, besonders an den Wänden, und die besonders um die Lichtschalter herum. Dietrich selbst trug ein blütenweißes Hemd und hatte seine Haare nass nach hinten gekämmt. Wir setzten uns auf die einzige Sitzgelegenheit, eine Matratze, auf der muffelige Bettwäsche lag, und als der Film zu Ende war, küsste Dietrich mich. Normalerweise fand ich es aufregend, wenn ich jemanden zum ersten Mal küsste. Vielleicht war ich mir meiner Sache diesmal einfach zu sicher gewesen. Ich küsste höflicherweise noch bis Viertel nach zehn weiter, damit es so aussah, als fiele es mir schwer zu gehen. Aber dann stand ich endgültig auf, um wenigstens noch die Staatsoper mitzunehmen. Dietrich ging mit mir hinaus, und wir stiegen in unsere Taxis und fuhren los. Die ganze Nacht über tauchte Dietrich immer wieder an den Posten auf, an denen ich gerade stand – jedes Mal –, und ich bekam ein bisschen Angst. Ich wusste nicht, wie ich ihm sagen sollte, dass es das schon gewesen war. Dass ich entweder am ersten Abend mit jemandem ins Bett ging oder gar nicht. Ich hatte noch nie einen festen Freund gehabt, und ich wollte auch keinen. Mir wurde schon schlecht, wenn ich nur daran dachte. Erst rückten einem die Leute auf die Pelle, und dann überschwemmten sie einen mit ihren Erwartungen. Ich kam nicht dagegen an. Straßenbettler witterten das und wählten selbst im dichtesten Gewühl immer zielstrebig mich aus, um mir eine Mark nach der anderen abzuknöpfen. Und wenn ich zu lange mit jemandem zu tun hatte, wurde ich zu dem, was derjenige von mir erwartete, und von dem, was ich eigentlich war, blieb bloß eine kleine verschrumpelte Mumie übrig, so klein, dass man sie in einem ausgewaschenen Marmeladenglas aufbewahren konnte. Ich hatte ja sogar in einer Versicherung gearbeitet, bloß weil meine Eltern es sich so sehr gewünscht hatten. Wie gesagt – ich wollte auf gar keinen Fall einen Freund. Das durfte einfach nicht passieren.

10

Irgendwie gingen alle davon aus, dass ich mit Dietrich zusammen war. Besonders Dietrich. Ich konnte die Sache nicht klären, ohne ihn zu kränken. Das Beste wäre gewesen, ich hätte Firma und Funk gewechselt und mich rargemacht. Aber dazu hätte ich ja ein Minimum an Flexibilität besitzen müssen. Wenn ich die Firma gewechselt hätte, hätte ich einen anderen Mercedes mit einer anderen Funknummer fahren müssen, es hätte völlig andere Funkrituale gegeben, und ich hätte erst wieder lernen müssen, an welchen Posten der neue Funk die meisten Touren aufrief. Eine grauenhafte Vorstellung. Also ging ich lieber mit Dietrich ins Bett. Zwei-, dreimal die Woche übernachtete ich bei ihm, und manchmal schliefen wir dann auch miteinander, aber die meiste Zeit waren wir viel zu kaputt dafür. Ich arbeitete jetzt oft vierzehn bis sechzehn Stunden am Stück. Mein Tagfahrer hatte die Firma gewechselt. Die Fluktuation im Taxenbetrieb Mergolan war hoch, Ersatz war nicht immer zu kriegen, und wenn keiner tagsüber fuhr, arbeitete ich halt ein paar Stunden länger. Manchmal war ich nach einer Schicht so fertig, dass mir beim Aussteigen die Knie zitterten. Wenn ich dann zu Dietrich kam, schlief er schon, und ich schaffte es gerade noch, mir die Kontaktlinsen aus den Augen zu pulen und die Zähne zu putzen, dann fiel ich wie ein Stein ins Bett. Im Grunde war mit jemandem zusammen zu sein nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Wenn ich nicht schlief, arbeitete ich ja ständig.

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