Anständig essen - Karen Duve - E-Book
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Anständig essen E-Book

Karen Duve

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Beschreibung

»Ich wollte ein Sachbuch schreiben, aber es ist ein Entwicklungsroman geworden. Meine ganze Sicht aufs Leben hat sich geändert« Karen Duve Irgendwann beschloss Karen Duve, fortan anständig zu essen. Sie beschloss, ihre ganze Ernährung umzustellen. Aber wie? Grillhähnchenpfanne im Supermarkt für 2,99 Euro, weil es so schnell und lecker und praktisch ist? Damit sollte nun Schluss sein. Karen unternahm einen Selbstversuch, um herauszufinden, wie sie am besten gesund und ethisch korrekt einkaufen, kochen, essen und leben sollte. Sie verzichtete zwei Monate auf konventionell hergestellte Lebensmittel, dann zwei Monate auf Fleisch, anschließend auf alle tierisch hergestellten Produkte – und am Ende sogar auf Kartoffeln und Möhren, weil bei deren Ernte die Pflanzen zerstört werden. Sie stellt fest: Gewohnheiten zu verändern muss sich lohnen … Schonungslos und mit der ihr eigenen knochentrockenen Komik setzt sie sich jenseits aller Ideologien mit der Frage auseinander: Wie viel gönne ich mir auf Kosten anderer?

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Seitenzahl: 397

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Karen Duve

Anständig essen

Wie ich versuchte, ein besserer Mensch zu werden. Ein Selbstversuch

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Karen Duve

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Inhaltsverzeichnis

1 Dezember 20092 Januar – alles Bio3 Familienbande4 Februar – immer noch alles Bio5 Mitgefühl – ohne Gefühl6 März – vegetarisch7 April – weiterhin vegetarisch8 Mai – vegan9 Juni – veganer10 Die Sache mit der Milch11 Juli – noch veganer12 August – am vegansten13 September – frutarisch (fruktarisch/frugan/frugivorisch)14 We are the Champions15 Oktober – frutarisch16 November – Wie geht es weiter?AnhangLiteraturverzeichnis
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1Dezember 2009

»Ich habe nichts erreicht. Was will man mit Filmchen bewirken, wenn nicht mal Tschernobyl was bewirkt?«

(Horst Stern)

An dem Tag, an dem ich beschloss, ein besserer Mensch zu werden, stand ich morgens in einem Rewe-Supermarkt und hielt einen flachen Karton mit der Aufschrift »Hähnchen-Grillpfanne« in der Hand. Ein gern und häufig von mir gekauftes Produkt, das sowohl schmackhaft wie auch preisgünstig und einfach in der Zubereitung war. Dank der beigefügten Aluminiumschale musste man noch nicht einmal eine Pfanne schmutzig machen. Ofentür auf, zack rein, auf 180 Grad stellen und eine Stunde später konnte man das knusprige und vor sich hin blubbernde Fleisch auf einen Teller schieben. Aber bevor ich die Hähnchenpfanne in meinen Einkaufswagen legen konnte, preschte Jiminy Grille aus der Tiefe des Supermarkts heran und riss sie mir aus den Fingern. Jiminy Grille hieß eigentlich Kerstin und hatte vor einem halben Jahr ein Zimmer in meinem Haus in Brandenburg bezogen. Im Gegenzug durfte ich ihre Wohnung in Berlin-Kreuzberg mitbenutzen. Seitdem prallten zwei Welten aufeinander. Kerstin ernährte sich nämlich überwiegend vegetarisch und kaufte die meisten Lebensmittel in Bio-Läden ein. Und sie fühlte sich aufgerufen, meine Essgewohnheiten zu kommentieren. Deswegen nannte ich sie auch Jiminy Grille nach der Zeichentrickfigur aus der Disney-Verfilmung von Pinocchio. Als Pinocchio von einer Fee zum Leben erweckt wird, verfügt er vorerst nämlich noch nicht über ein Gewissen. Deswegen wird eine Grille abgestellt, um Pinocchio zu begleiten und ihm in Gewissensfragen tadelnd zur Seite zu stehen. Bei Disney trägt die Gewissens-Grille einen Zylinder, Gehrock, Weste, ein Hemd mit Vatermörderkragen, Kniehosen, Halstuch, Gamaschen und einen zusammengefalteten Regenschirm über dem Unterarm.

»Wie kannst du dieses Qualfleisch kaufen?«, schrie Jiminy jetzt. »Du weißt doch ganz genau, wie diese Hühner gehalten werden.«

Richtig. Irgendwo weit draußen an der Peripherie meines Bewusstseins wusste ich, dass die Bedingungen, unter denen dieses Huhn einmal gelebt hatte, wohl eher unerfreulich waren. Ich räumte es ein.

»Je günstiger der Preis, desto unerfreulicher die Bedingungen. So einfach ist die Rechnung«, sagte Jiminy, beugte sich über die Tiefkühltruhe und legte die Hähnchenpfanne ordentlich zurück. Sie zeigte auf das Preisschild, das außen an der Kühltruhe klebte.

»Und 2,99 Euro für ein ganzes Huhn lässt auf verbrecherische Grausamkeit schließen.«

Bilder aus Fernsehdokumentationen des ZDF-Spätprogramms flackerten vor meinem inneren Auge auf, Junghühner mit kahlen Hälsen, zu Tausenden auf engsten Raum gequetscht, Hühner mit teilamputierten Schnäbeln und gebrochenen Beinen, die auf einem kotverkrusteten Boden verreckten, während andere Hühner über sie hinwegtrampelten. Es kostete Willen und Überwindung, daran zu denken, was alles hatte geschehen müssen, bevor die anonyme Masse Fleisch in der Aluminiumschale lag. Es machte überhaupt keinen Spaß, daran zu denken – insbesondere auch deshalb nicht, weil mir am Ende dieser geistigen Anstrengung natürlich nichts anderes übrig blieb, als auf die Hähnchenpfanne zu verzichten.

 

Am frühen Nachmittag des Tages, an dem ich beschloss, ein besserer Mensch zu werden, saß ich vor dem Fernseher, aß ein fleischloses, zugegeben gar nicht mal so übles Currygericht, das Jiminy Grille für uns gekocht hatte, hörte mir ihre Vorhaltungen über meine Fernsehgewohnheiten an und fragte mich, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, ihr ein Zimmer zu überlassen. Neben dem Sessel lag mein krebskranker Bulldoggenhund Bulli und warf mir hin und wieder einen enttäuschten Blick zu. Normalerweise hätte er mir jetzt bei dem Verzehr der Hähnchenpfanne assistiert. Der NDR zeigte einen für das Mittagsprogramm der Vorweihnachtszeit typischen Einspieler über einen Gänsemäster aus Niedersachsen, der seine Gänse noch auf die gute alte Art hielt, also auf eine Wiese ließ. Im Fernseher war der Himmel frühlingshaft blau, ein Kirschbaum blühte und die Gänse watschelten eifrig schnatternd herum und bissen ins frische Gras. Darüber geriet die Moderatorin in helles Entzücken, und der Begriff glücklich – glückliche Gänse, glückliche Tiere, Fleisch von glücklichen Gänsen – fiel gleich dreimal.

»Wenn du zu Weihnachten wieder unbedingt eine Gans essen musst, kannst du dir ja so eine aus guter Haltung bestellen«, schlug Jiminy versöhnlich vor.

»Wie kommst du darauf, dass es denen gut geht?«, giftete ich zurück. »Die sind nicht glücklich, die sind jetzt alle tot.«

Ich trug ihr immer noch die moralische Belehrung nach. Wer lässt sich schon gern bevormunden? Ich zeigte auf den Fernseher.

»Viel zu große Herde«, sagte ich, obwohl ich gar nicht wusste, wie groß eine ideale Gänseherde sein sollte. »Glaubst du, die fühlen sich in dem Gedränge wohl? Und siehst du irgendwo Wasser? Das sind Gänse, Mensch! Gänse! Das sind Wasservögel, die haben die Schwimmfüße nicht, um das Gras platt zu trampeln, die wollen schwimmen.«

Jiminy schaute betreten auf den Bildschirm. Ich lehnte mich zurück. Es tat gut, jemanden, der moralisch über einem stand, in die Schranken zu weisen.

»Außerdem halte ich es für äußerst unwahrscheinlich, dass auch nur eine einzige von denen jemals ihre Mutter gesehen hat«, legte ich nach. »Die kommen aus der Brutmaschine. Die sind alle Waisen. Verstört und orientierungslos haben die die Glühbirne der Welt erblickt und nirgendwo eine Mutter, die ihnen beruhigend hätte zuschnattern können. Nichts als Hunderte anderer Waisen um sie herum und weit und breit kein Wasser unterm Schwimmfuß.«

»Ich finde es sowieso viel besser, wenn du Weihnachten vegetarisch isst«, sagte Jiminy. Ich knurrte etwas Unverständliches.

 

Am Abend des Tages, an dem ich beschloss, ein besserer Mensch zu werden, saß ich immer noch vor dem Fernseher. Jiminy war nach Berlin auf eine Party gefahren, und ich musste keine Kritik fürchten. Neben mir stand ein Glas eiskalter Coca-Cola light, Bulli schlabberte sein aufgeweichtes Trockenfutter, und im Fernsehen lief die britische Komödie »Notting Hill«. Hugh Grant, bzw. die Person, die von Hugh Grant gespielt wurde, war von der Frau seines Lebens (Julia Roberts) verlassen worden, und nun versuchten seine Freunde, ihn nacheinander mit drei verschiedenen neuen Frauen zu verkuppeln. Für diesen Teil des Films hatte der Drehbuchautor nicht allzu viel Zeit vorgesehen – etwa zwei Minuten. Er stand also vor dem Problem, die jeweilige Frau innerhalb weniger Sekunden so zu charakterisieren, dass jedermann klar wird, dass sie für unseren Helden nicht infrage kommt. Bei Frau Nummer zwei hat er es so gelöst: Frau mit albernen Zöpfen sitzt am Tisch, ihr wird »etwas Weinschnepfe« angeboten, Frau sagt: »Nein, vielen Dank, ich bin Frutarierin.«

Hugh Grant: »Ohh … was ist ein Frutarier, Keziah?«

»Na ja, wir glauben, Gemüse und Früchte besitzen eine Seele, und deshalb halten wir Kochen für grausam. Wir essen nur Dinge, die von allein von den Bäumen und Sträuchern runterfallen, weil nur die richtig tot sind.«

»Ahh, alles klar … so ist das also … also diese Möhren hier …«

»… sind ermordet worden! Ja.«

»Ermordet … die armen Möhren, das, äh, ist ja bestialisch.«

Ich musste sehr lachen. Das kam natürlich gar nicht infrage, dass der lässige Hugh Grant sich mit so einer verkniffenen Spaßbremse zusammentat, da war ich völlig einer Meinung mit dem Drehbuchautor.

Aber während ich lachte, fühlte ich mich seltsamerweise etwas unbehaglich. Ehrlich gesagt, wusste ich ja nicht einmal genau, wie sich eine Frutarierin überhaupt ernährte. Nachdem Hugh Grant und Julia Roberts sich gekriegt hatten, setzte ich mich vor meinen Computer und streifte auf der Suche nach näheren Informationen durchs World Wide Web. Aha, ein Frutarier war jemand, der nur Pflanzenteile aß, die man nehmen konnte, ohne die Pflanze zu zerstören. Meistens eben Früchte. Einen Apfel kann man essen, ohne dass man die eigentliche Pflanze, den Apfelbaum, dadurch verletzt. Bei Salat geht das nicht, bei Wurzeln und Kartoffeln auch nicht. Nüsse, Tomaten und Sonnenblumenkerne sind wiederum erlaubt. Nun ja, ein bisschen lächerlich schien mir das immer noch, vor allem aber sehr anstrengend und kompliziert. Gleichzeitig rührte es mich, dass ein Mensch so viele Einschränkungen und Komplikationen ertrug, um Pflanzen und Tiere zu schonen, und dafür auch noch den Hohn der restlichen Menschheit in Kauf nahm. Einer Menschheit, die es für so selbstverständlich ansah, dass Tiere schwer misshandelt wurden, dass sie das Einhalten eines Minimalstandards, wie den schlichten Umstand, dass Gänse auch mal an die frische Luft dürfen, für eine bemerkenswerte Sache hielt. So außergewöhnlich, dass man darüber einen kleinen Mittagsmagazin-Einspieler machen und die Tiere zu Glückspilzen erklären konnte.

Und ich selber? Ich kriegte es aus lauter Gedankenlosigkeit ja noch nicht einmal auf die Reihe, wenigstens so ein scheinglückliches Tier zu erwerben. Dabei galt ich weit und breit als großer Tierfreund. Für Bullis Operationen und seine Chemotherapie hatte ich ohne mit der Wimper zu zucken bereits mehrere Monatsgehälter hingelegt, und auf Familienfeiern wurde immer wieder gern erzählt, wie ich als Erstklässlerin einmal heulend und tobend aus dem Religionsunterricht gelaufen war, weil meine Klassenlehrerin Frau Meyer-Arndt gesagt hatte, Tiere kämen nicht in den Himmel. Wenn die nicht in den Himmel durften, so hatte ich gewütet, dann würde ich da auch nicht hingehen, sondern dahin, wo die Tiere hinkämen. Und trotzdem hätte ich ohne Jiminys Eingreifen wieder die Hähnchenpfanne gekauft, deren Inhalt in seinem freudlosen, nur fünf Wochen dauernden Leben wahrscheinlich nicht einen einzigen Sonnenstrahl gesehen hatte.

Ich versuchte mir vorzustellen, was für ein Monstrum ich in den Augen eines Frutariers sein musste. Und dann ging mir das Eigentliche auf. Was die Frutarierin aus dem Film »Notting Hill« von mir unterschied, war nicht, dass unsere Ernähungsweisen auf verschiedenen Wertvorstellungen beruhten. Nein, der eigentliche Unterschied war, dass die Frutarierin eine moralische Entscheidung getroffen hatte, nach der sie ihre Ernährung ausrichtete, während ich mir überhaupt keine Rechenschaft über mein Tun ablegte. Oh Gott, ich war tatsächlich Pinocchio – eine gierige, selbstsüchtige Holzmarionette ohne Gewissen. Und ich konnte mich noch nicht einmal damit herausreden, ich wäre schlecht informiert. Bereits in meiner 70er-Jahre-Kindheit waren Horst Sterns gesellschaftskritische Tier-Dokumentationen »Sterns Stunde« oder »Bemerkungen über das Huhn/Rind/Schwein« zur besten Sendezeit im Fernsehen gelaufen. Seitdem wusste ich, dass ein Huhn ein Lauftier war und nicht in den Käfig gehörte, dass ein Kalb nicht mutterlos in dunkler Einzelhaft stehen sollte und Schweine nicht eng aneinandergequetscht auf Spaltenböden. Und wenn ich im Fernsehen oder in einer Illustrierten Horrorbilder aus Mastbetrieben sah, war mir durchaus klar, dass es sich nicht um die Verbrechen einzelner krimineller Subjekte und skrupelloser Sadisten handelte, die das Tierschutzgesetz brachen, sondern um die übliche Vorgehensweise guter Staatsbürger, die innerhalb erlaubter Grenzen ihren Profit maximierten. Das machte es ja so unerträglich: dass die Grausamkeit nicht als Grausamkeit geächtet wurde, sondern innerhalb der Norm stattfand. Meiner Meinung nach war es Aufgabe des Staates, hier Abhilfe zu schaffen. Eine schon 1997 veröffentlichte Umfrage der Zeitschrift »Brigitte« hatte ergeben, dass 92,3% der Verbraucher dafür waren, nicht artgerechte Massentierhaltung ausnahmslos zu verbieten. Was die meisten nicht davon abhielt, weiterhin große Mengen Fleisch und Wurst aus genau dieser Haltungsform zu kaufen. Eine derart wichtige ethische Frage durfte eben nicht durch den Geldbeutel entschieden werden. Wer hat schon Lust, jedes Mal darüber nachdenken zu müssen, ob er gerade ein Verbrechen unterstützt, wenn er bloß fürs Mittagessen einkaufen will. In einem zivilisierten Land sollte man sich doch eigentlich darauf verlassen dürfen, dass die Kontrolle der Produktionsbedingungen bereits erledigt ist, bevor das Fleisch in den Supermarkt gelangt – wie ich ja auch mehr oder weniger gedankenlos die Verkehrsregeln befolgen kann, ohne mich bei jedem einzelnen Straßenschild fragen zu müssen, ob es eigentlich ethisch vertretbar ist, dessen Gebot zu befolgen. Allerdings wurden die Zustände in den Schlacht- und Mastbetrieben ja durchaus kontrolliert. Nur so, wie es aussah, lebte ich in einem Staat, dessen politische Entscheidungsträger einen Grad von Tierquälerei tolerierten, der für mich nicht akzeptabel war. Der Staat und ich, wir hatten einfach sehr unterschiedliche Standards, was man einem Schwein, Rind oder Huhn zumuten durfte. Je länger ich darüber nachdachte, desto fassungsloser stand ich vor der großen Diskrepanz zwischen dem, was ich wusste, und dem, wie ich bisher eingekauft hatte. Was war ich bloß für eine Pfeife! Es mochte ja vielleicht hingehen, im Straßenverkehr seine Autorität abzugeben und um des lieben Friedens willen Strafzettel zu bezahlen und Regeln zu befolgen, deren Sinn und Nutzen sich einem beim besten Willen nicht erschlossen. Aber kein Staat der Welt konnte mir die Verantwortung dafür abnehmen, selbst zu entscheiden, was gut und was böse war. Leute wie ich, die eigentlich wussten, was los war, die das Grauen sahen, aber nicht sehen wollten und aus Gedankenlosigkeit und bereitwilliger Selbsttäuschung einfach so weiterkauften, wie sie es schon immer getan hatten, machten industrialisierte Massentierhaltung erst möglich.

Nun gut, das Jahr ging sowieso gerade zu Ende. Es war der passende Zeitpunkt für gute Vorsätze. Vom ersten Januar an würde ich aus meinen alten Kaufgewohnheiten aussteigen und mich nur noch meiner Überzeugung entsprechend ernähren. Doch was war eigentlich meine Überzeugung? Beziehungsweise, was war ein Schnitzel für mich? Ein Zeichen von Esskultur und Lebenslust und völlig okay, wenn es vom Bio-Tier kam? Aber auch Bio-Schweine wurden nicht totgestreichelt. Hätte ich im Grunde längst Vegetarierin sein müssen? Und Frutarier – waren das allesamt Witzfiguren oder fand ich sie bloß lächerlich, weil ich nicht über meinen Tellerrand hinaus denken konnte und meine ausgeprägten Gewohnheiten für das Maß aller Dinge hielt? »Urteile nie über einen anderen, bevor du nicht einen Mond lang in seinen Mokassins gegangen bist«, lautete eine alte Weisheit der Indianer.

»… der indigenen Bevölkerung Amerikas!«, hätte Jiminy mich verbessert, wenn sie anwesend gewesen wäre. Egal, wahrscheinlich stammte der auf zig Kirchentagen abgenudelte Spruch sowieso von einem Deutschlehrer im ersten Referendariatsjahr. Jedenfalls wusste ich plötzlich, was ich tun wollte – ich würde die verschiedenen Ernährungsweisen einfach ausprobieren. Je einen Mond lang würde ich in den Mokassins einer Bio-Lebensmittel-Konsumentin, einer Vegetarierin, einer Veganerin und einer Frutarierin gehen. Nein, lieber gleich zwei Monate. Es braucht drei bis sechs Wochen, um eine neue Gewohnheit im Stammhirn zu verankern. Natürlich hätte ich mir die Ansichten und Argumente der Vegetarier, Veganer und Frutarier auch einfach in einem Buch durchlesen können – aber was wäre das für ein Wissen? Ich hätte mich wie ein Tourist benommen, der mal eben für drei Stunden von Bord seines Kreuzfahrtschiffes springt und hinterher behauptet, Thailand würde er jetzt auch kennen. Um die mir fremde Kultur der Vegetarier, Veganer und Frutarier wirklich zu verstehen, musste ich Teil ihrer Kultur werden, mich nicht nur entsprechend ernähren, sondern auch mit der jeweiligen Lebensanschauung beschäftigen und sie nach außen vertreten. Die zwei Monate jeweils sollten genügen, um mich neu zu konditionieren. Am Ende dieses Selbstversuchs würde ich mich dann bestens informiert und vor dem Hintergrund, jede Ernährungsweise einmal emotional nachvollzogen zu haben, entscheiden können, wie ich von nun an essen wollte. Und damit ich nicht etwa auf halbem Wege schwächelte, würde ich ein Buch darüber schreiben.

 

Am nächsten Tag rufe ich meinen Verleger, Wolfgang Hörner, an. Er freut sich, meine Stimme zu hören. Vielleicht denkt er, ich wolle ihm mitteilen, dass ich endlich den Roman angefangen habe, für den er bereits vor anderthalb Jahren einen Vorschuss bezahlt hat. Ich erkläre ihm, warum dieses Buch viel wichtiger ist.

»Ich muss es jetzt schreiben. Ich kann das nicht verschieben.«

Wolfgang Hörner bleibt gefasst. Er findet die Idee gar nicht mal so schlecht, hat sie allerdings auch nicht ganz verstanden.

»Du solltest die Bio-Ernährung auf den März schieben und das Jahr damit beginnen, erst einmal den Alkohol wegzulassen«, schlägt er vor. Sofort frage ich mich, was er über meinen Alkoholkonsum zu wissen glaubt.

»Ach«, sage ich, »meinst du? Aus was für einem Tier, denkst du, wird denn Alkohol gewonnen? Vielleicht aus dem Alkofanten? Oder dem großen Riesen-Alk? Und werden die beim Auspressen sehr gequält?«

»Um Askese geht es doch gar nicht«, sage ich. »Ich will mir nicht künstlich das Leben schwer machen, sondern bloß ein besserer Mensch werden. Wie viel ich saufe, ist ja wohl meine Sache.«

 

Merkwürdigerweise versteht mich auch mein Hausarzt erst einmal grundfalsch. Nach einem Blick auf meinen Körper legt er sofort los, dass Ernährung sowieso sein Spezialgebiet sei.

»Allerdings bin ich fest davon überzeugt, dass nicht ein und dieselbe Diät für alle Menschen gleich gut ist, sondern dass für jeden einzelnen eine individuelle, genau auf ihn abgestimmte Ernährungsweise gefunden werden muss. Leider sind wir nun einmal oft in Versuchung, Dinge zu essen, die uns schaden.«

Er spricht die ganze Zeit von »wir«, als ob er und ich die gleichen Probleme hätten. Dabei besitzt er den perfekten, gewiss sehr aufwendig erarbeiteten Körper eines Cool-Water-Fotomodels, während ich überhaupt nicht so aussehe. Bei der Auswahl meiner Nahrungsmittel habe ich nicht nur die Bedürfnisse anderer Lebewesen missachtet, sondern auch meine eigenen. Es rührt mich, dass ein so gut aussehender Mensch bereit ist, sich mit den weniger Disziplinierten gemeinzumachen. Ich erkläre Dr. Zeisler, dass es mir nicht um meine eigene Gesundheit, sondern um die der Hühner, Schweine und Rinder geht. Nicht um Cholesterinspiegel und die nächste Bikinisaison, sondern um ein Mindestmaß an Anständigkeit. Er möge mir bitte nur alle paar Monate Blut abnehmen, die Laborwerte festhalten und Alarm schlagen, falls sie einmal in einen kritischen Bereich rutschen sollten.

»Das Alter zwischen fünfundvierzig und fünfundsechzig ist die entscheidende Zeit«, sagt Dr. Zeisler ernst. »Wenn man dann nicht auf seinen Köper achtet, hat man mit über siebzig kaum noch Lebensqualität.«

Mir ist durchaus bewusst, dass Handlungsbedarf besteht. Eigentlich kann man mich jetzt schon als körperliches Wrack bezeichnen: Übergewicht, Asthma, chronische Achillessehnenentzündung an beiden Füßen, und ständig bin ich müde, müde, müde. Aber ich habe noch einen Abgabetermin für ein Drehbuch, und ohne laufend hochkalorische Kohlehydrate zu essen und literweise Cola light in mich hineinzuschütten, bekomme ich das nie fertig. Mir fällt dann einfach nichts ein. Deswegen habe ich vor, meine Fehlernährung erst einmal mit Bio-Lebensmitteln konsequent fortzusetzen. In ein paar Monaten, spätestens wenn ich Frutarierin geworden bin, wird sich das eine oder andere Problem vielleicht ja von ganz allein lösen.

 

Es scheint mein Schicksal zu sein, dass niemand mir meine altruistischen Absichten abnehmen will. Nach dem Motto »Trau keinem erhabenen Motiv, wenn sich nicht auch ein handfesteres finden lässt«, vermutet selbst Jiminy, ich wolle bloß abnehmen.

»Wird auch Zeit. Endlich kümmerst du dich mal um deinen Körper. Das ging ja nicht mehr so weiter.«

Sie hilft mir, Inventur im Kühlschrank und in der Speisekammer zu machen. Das gute Aldi-Hühnerfrikassee, Steaklets von Iglo, Seelachsfilet, gefrorener Brokkoli, gefrorener Blumenkohl. Der Blumenkohl liegt da schon ein halbes Jahr. Bis Jahresende muss das alles aufgegessen oder verschenkt sein. Von nun an wird nichts mehr dazugekauft, was nicht Bio ist.

 

Jiminy bringt mir aus ihrem Kreuzberger Bio-Supermarkt schon mal Bio-Gewürze, Bio-Zucker und Bio-Salz mit. Ich frage, was Bio-Salz sein sollte? »Kratzt man Salz nicht einfach so aus einem Stollen?«

»Ursalz«, sagt Jiminy, »da ist keine Rieselhilfe oder so etwas drin.«

Rieselhilfe im Salz? Und ich habe immer gedacht, dafür tut man ein paar Reiskörner in den Salzstreuer, und gut is. Jiminy hat eine Salzmühle mitgebracht, in die sie jetzt die Salzbrocken füllt. Ich mahle zur Probe über der schwarzen Herdplatte. Die Salzkörner, die aus der Mühle fallen, sind immer noch ganz schön groß.

»Wenn du im Supermarkt einkaufst, musst du unbedingt darauf achten, dass du nur Ware mit Bio-Siegel nimmst«, sagt Jiminy.

Bauernschlaue Massentierhalter, die vom Bio-Boom profitieren wollen, ohne die entsprechenden Gegenleistungen zu erbringen, schreiben nämlich einfach »Aus kontrollierter Aufzucht« auf die Plastikfolien ihrer Koteletts und Putensteaks. Das heißt gar nichts – jede Tieraufzucht ist eine kontrollierte Aufzucht –, soll dem Kunden aber suggerieren, er hätte es mit Bio-Fleisch zu tun. Diese Betrügerei im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten ist inzwischen so weit verbreitet, dass viele echte Öko-Anbieter schon wieder auf den Begriff »kontrolliert« verzichten, um nicht in den Verdacht der Augenwischerei zu geraten. Das Bio-Siegel hingegen garantiert ein paar Minimalstandards, etwa, dass die Hühner Auslauf haben müssen.

Jiminy hat mir noch eine Hautcreme mitgebracht, die wie die von meiner Oma riecht – Weleda Iris.

»Madonna benutzt dieselbe Marke«, strahlt Jiminy.

»Das gehört aber nicht dazu«, mache ich vorsichtshalber deutlich. »Ich stell jetzt erst mal bloß meine Ernährung um. Ich muss nicht auch noch Öko-Klamotten tragen und Bio-Cremes benutzen. Jedenfalls nicht, bevor ich Veganerin werde.«

 

Als ich am nächsten Morgen in den Garten komme, liegt Betty ohne Kopf auf dem Rasen. Betty ist bzw. war ein Sussex-Huhn. Jetzt hängt ihre Gurgel frei in der Luft und Blut sickert zwischen den weißen Federn hervor. Vom Kopf ist weit und breit nichts zu sehen. Von den anderen beiden Hühnern auch nichts. Eines finde ich schließlich bei meinem Nachbarn, wo es mit einem irren Gesichtsausdruck auf dem Boden hockt und sich von den Nachbarhühnern picken lässt. Das andere bleibt für immer verschollen. Ich schließe das traumatisierte Huhn im Hühnerstall ein. Dann schnappe ich mir Bettys immer noch warme Überreste und beginne, sie zu rupfen. Bis auf den fehlenden Kopf und einen tiefen Biss in Rippenhöhe ist der Körper noch völlig in Ordnung. Betty ist das erste Huhn, das ich rupfe, und ich bin erstaunt, wie schnell und einfach so etwas geht. Allerdings bleiben am Schluss einzelne haarfeine Federn übrig, die sich beim besten Willen nicht packen lassen. Zum Glück weiß meine Nachbarin Beate, was zu tun ist. Sie gießt Spiritus auf eine Kehrichtschaufel, zündet es an und fackelt Betty die restlichen Federchen ab. Außerdem schimpft sie die ganze Zeit, weil ich das Huhn noch essen will.

»Das ist nicht gut. So ein Fuchsbiss, das ist wie eine Impfung. Wenn der krank war, hat er seine Bazillen direkt in das Huhn reingeimpft. Das Herz hat ja noch geschlagen, das verteilt sich dann im ganzen Körper.«

»Hast du eine Ahnung, was ein Bio-Huhn in der Größe kostet?«, sage ich. Dabei weiß ich das selber nicht. In der Küche säbelt Beate Betty die Gurgel ab, greift ihr mit geübter Hand in den Schritt und zieht einen Haufen bestialisch stinkender und mit Kot und Körnern gefüllter Darmschlingen und Eingeweide heraus. Kurz durchgespült, dann wandert Betty ins Tiefkühlfach.

Jiminy findet es pietätlos. Ich behaupte, dass ich gleichzeitig traurig sein und Betty essen kann.

»Wenn ich mit einem Flugzeug in einer unzugänglichen Andenregion abgestürzt wäre, würde ich auch zu denen gehören, die ihre toten Mitpassagiere aufessen. Denen tut es nicht mehr weh. Und Betty auch nicht.«

Außerdem ist dies die einmalige Gelegenheit, Fleisch essen zu können, ohne dass ich dadurch für den Tod des Tieres verantwortlich bin.

 

Am Nachmittag begleitet mich Jiminy nach Fürstenwalde. Bulli muss zur Chemotherapie in die Tierklinik. Zum Glück ist Bulli nicht der Hellste. Selbst im Wartezimmer hat er noch beste Laune, während die anderen Hunde schon bedrückt vor sich hin starren oder sich zitternd an die Beine ihrer Besitzer schmiegen. Bulli hingegen rennt erwartungsvoll in den Behandlungsraum, versucht mit dem Tierarzt zu knutschen, und erst, als er auf den Untersuchungstisch gehoben wird, dämmert ihm allmählich, was gleich wieder passieren wird. Dr. Lenzke schiebt die Spritze ins rechte Vorderbein, er schiebt und bohrt und zieht die Nadel hin und her, aber kein Blut will in die Spritze laufen, die Venen sind von der monatelangen Chemotherapie bereits völlig verätzt. Links auch. Mit schweißnassen Händen halte ich Bullis Kopf. Der riesige Bulldoggenschädel scheint immer kleiner zu werden, die Gesichtszüge fallen in sich zusammen, Bulli röchelt, und die Lefzen hängen herunter wie schwere Gardinen. Erst am Hinterbein findet der Tierarzt eine Vene, in die er spritzen kann.

In Fürstenwalde erledigen Jiminy und ich die ersten Einkäufe für die kommenden Bio-Monate. Bulli döst auf dem Rücksitz. Einen richtigen Bio-Laden haben wir in Fürstenwalde nicht gefunden, deswegen versuchen wir es in den großen Supermärkten. Bei Aldi gibt es nur wenige Bio-Produkte, Tees, die ich entweder sowieso schon habe (Bio-Kräuter) oder auf keinen Fall probieren will (Bio-Früchte), dunkle Finn-Korn-Brötchenhälften, die man in den Toaster schiebt und die dann recht passabel schmecken, ein paar Bio-Joghurts, Bio-Bananen, Bio-Wurzeln, Bio-Tomaten, Bio-Steaks und Bio-Aufschnitt. Also die Rundumversorgung ist hier sicher nicht möglich, eher mal eine Ergänzung. Bei Rewe sieht es schon besser aus. Der erste Bio-Stand ist direkt hinter dem Eingang, bei Obst und Gemüse, und bietet dem modernen Konsumenten die Basics: Orangen, Äpfel, Bananen, Tomaten, Zwiebeln, Kartoffeln. Eine Bio-Kokosnuss ist erstaunlicherweise auch dabei. Das konventionell angebaute, also gespritzte, Obst steht gleich gegenüber, sodass man prima die Preise vergleichen kann. Zum Beispiel ist der Beutel Bio-Orangen für 1,99 Euro zu haben, die mit den vergifteten Schalen kosten 1,79 Euro. Wieso habe ich bisher eigentlich immer die vergifteten gekauft? Weil ich Orangen kaufen wollte und auf dem Schild bei den gespritzten Früchten »Orangen« angeschrieben stand. »Bio-Orangen«, das klang wie eine Sonderform, eine aufbereitete Spezialnahrung für hysterische Umweltaktivisten. Ich wollte aber einfach bloß Orangen kaufen. Hätte allerdings auf dem Schild bei den Bio-Waren statt »Bio-Orangen« einfach nur »Orangen« gestanden und auf dem Schild bei den konventionell angebauten Früchten »Mit als krebserregend geltenden Wurm-, Pilz-, Unkraut- und Insektenvernichtungsmittel behandelte Orangen«, hätte ich aller Wahrscheinlichkeit nach die Bio-Apfelsinen als die eigentlichen Orangen wahrgenommen und gekauft, ohne auf den Preis zu schauen. Und hätte am Ausgang des Supermarkts ein Mensch gestanden und mir mit heiserer Stimme zugeflüstert: »He, du da! Pscht! Ich fürchte, du hast die teuren Orangen gekauft. Das war doch sicher keine Absicht. Komm her, ich gebe dir 20 Cent zurück, wenn ich dafür Orthophenylphenol, Thiabendazol und Imazalil auf die Schalen deiner Orangen schmieren darf. Die gelten zwar als krebserregend, das ist aber noch gar nicht 100% erwiesen«, so hätte ich dankend abgelehnt.

Wenige Schritte hinter dem Gemüsestand gibt es ein Regal, das den größten Teil des Rewe-Bio-Sortiments auf 5 Metern Breite und 2 Metern Höhe anbietet. Zwei verschiedene Tafeln Schokolade, sechs verschiedene Nudelarten, Reis, Hirse, Gewürze, ein paar Konserven, Mehl und Zucker. Es ist ein bisschen wie bei Mutti. So, das gibt es jetzt und damit basta. Wenn’s dir nicht schmeckt, kannst du ja woanders hingehen. Andererseits muss ich nicht mehr durch kilometerlange Gänge irren und mich zwischen 60 verschiedenen Marmeladen oder zwölf Buttermarken entscheiden. Nur die Auswahl an Bio-Müslis ist immer noch unangenehm groß. Ich erledige meinen Bio-Einkauf in fünfzehn Minuten, und es sind haufenweise Produkte dabei, die ich noch nie in meinem Leben gegessen habe. Ein Paprika-Brotaufstrich, ein Glas mit rötlich-grauem Johannisbeer-Apfel-Mus und eine Schokoladentafel in einer unattraktiven schwarzen Verpackung. Im Kühlregal finde ich dann noch vier Bio-Fertiggerichte, drei davon mit Nudeln. Ich kaufe sie alle. Das stundenlange Zubereiten von Nahrungsmitteln ist was für Tagediebe und masochistische Hausfrauen. Jedes Fertiggericht kostet 2,99 Euro. Ähnliche Produkte ohne ökologisches Zertifikat sind für 2,49 im Angebot. Von allen Bio-Produkten ist nur das Olivenöl wirklich teuer, über fünf Euro. Unterm Strich habe ich etwa zwanzig Prozent mehr bezahlt, als wenn ich mies und unfair gehandelte, mit Pestiziden bespritzte und unter Einsatz von Tierfolter hergestellte Waren gekauft hätte.

 

Als Jiminy und ich mit dem Auto nach Hause kommen, ist es bereits dunkel. Mitten auf der Straße, im Lichtkegel der Straßenlaterne steht ein Fuchs. Er wittert zum Stall hinüber, in dem das letzte lebende Huhn schläft, und hat uns noch nicht bemerkt. Ich mache das Fahrlicht aus, schalte in den Leerlauf und lasse das Auto langsam auf ihn zurollen. »Was hast du vor?«, sagt Jiminy, »der kann doch auch nichts dafür. Das ist doch seine Natur.«

»Niemand tut ungestraft meinen Hühnern weh«, antworte ich hart.

Ich lege den ersten Gang ein und rase mit Vollgas auf den Fuchs zu. Jiminy hält sich die Augen zu. Lässig trabt der Fuchs quer durch meinen Garten davon. Jiminy atmet auf.

 

Als ich die Orangen auspacke, hat eine davon eine Matschstelle. Die Orangenindustrie besprüht ihre Früchte ja auch nicht aus Jux und Dollerei mit Orthophenylphenol, Thiabendazol und Imazalil. Ich probiere eine nichtmatschige. Sie glänzt nicht ganz so fein, wie vergiftete Orangen das tun, schmeckt aber mindestens genauso gut. Ob sie nun besser schmeckt … – hm, schwer zu sagen.

In den folgenden Tagen treffen haufenweise Pakete ein. Ich habe mir beim Internet-Antiquariat ZVAB Bücher über Bio-Ernährung und Vegetarismus bestellt. Zwei Fachbücher über vegane Ernährung sind auch schon dabei. Nur zum Stichwort »Frutarismus« hat die Suchmaschine überhaupt keine Treffer angezeigt. Auch nicht, wenn ich »Fructarier«, »Fruitarier« oder »Fruganer« eingegeben habe. Die Ernährungsweise scheint so unbeliebt zu sein, und die wenigen Frutarier scheinen so verstreut und isoliert zu leben, dass noch nicht einmal über eine allgemeingültige Bezeichnung Einigkeit besteht. Zum Stichwort »Kannibalismus« gibt es hingegen 309 Treffer. Offenbar spielen die Leute lieber mit dem Gedanken, ihren Speisezettel zu erweitern, als ihn einzuschränken.

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2Januar – alles Bio

»Es tun mir viele Sachen weh, die anderen nur leidtun.«

(Georg Christoph Lichtenberg)

Vorgabe: Ich esse in diesem Monat ausschließlich Lebensmittel, die das sechseckige EU-Bio-Siegel tragen oder bei denen mir die Produktionsbedingungen bekannt sind (Kartoffeln und Wurzeln, die mein Nachbar Zappi in meiner Anwesenheit aus der schwarzen Erde gebuddelt hat, selbst gekochte Marmelade von meiner Nachbarin Beate und Eier von den Hühnern unseres Bürgermeisters). Ausnahme: Wenn ich eingeladen bin oder in ein Restaurant gehe, darf ich auch Lebensmittel ohne Bio-Siegel essen, dann allerdings auf keinen Fall Fleisch oder Fisch.

 

»Sonst könnte ich ja nie mehr eine Einladung annehmen, und hauptsächlich geht es mir doch um die Tiere.«

Ich habe Jiminy zu einem umweltverträglich hergestellten und fair gehandelten Frühstück eingeladen, Roggenbrötchen mit Butter, Käse und Marmelade und Paprika-Streich (so heißt das Zeug tatsächlich). Dazu Tee und Eier. Jiminy, die sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch Schnee und Eis zu mir heraus kämpfen musste, hat aus ihrem Kreuzberger Bio-Supermarkt noch Alfalfa-Sprossen, Tomaten und die Januarausgabe von »Schrot und Korn«, der »Apothekerumschau« des Bio-Handels, mitgebracht. Gleich auf der ersten Seite hat mein neues Leib- und Magenblatt die Argumente aufgelistet, warum man »Bio« kaufen sollte. Jiminy liest sie mir vor:

»Weil

ich keine Lust auf Chemie im Essen habe.

Bio die Arbeiterinnen und Arbeiter auf den Plantagen schützt vor Pestiziden und anderen Giften.

Bio Nein zur Gentechnik sagt.

Bio in puncto artgerechter Tierhaltung besser ist.

Bio das Klima schützt.

Bio die Ackerböden vor Erosion und Fruchtbarkeitsverlust bewahrt.

Bio das Grundwasser vor Pestiziden und Nitraten schützt.

ich einfach ein gutes Gefühl dabei habe.«

»Ich einfach ein gutes Gefühl dabei habe? Was ist das denn für ein blödes Argument? Und was heißt ›in puncto artgerechter Tierhaltung besser‹? Ich dachte, die halten ihre Tiere komplett artgerecht, das wäre da Vorschrift.«

Jiminy zuckt mit den Schultern. Interessant ist auch, dass Chefredakteurin Barbara Gruber in ihrem Grußwort an die Leser unverblümt zugibt, dass es wissenschaftlich nicht geklärt ist, ob Bio-Lebensmittel tatsächlich gesünder sind. Davon war ich bisher allerdings ausgegangen. Ist das nicht logisch, dass etwas, auf dem sich keine Pestizidrückstände befinden, gesünder ist als etwas mit Pestizidrückständen? Außerdem weiß ich aus einem meiner neuen Bücher über Bio-Ernährung, dass alle in Versuchen getesteten Hühner, Kaninchen, Mäuse und Ratten Bio-Futter gegenüber konventionell erzeugtem Futter eindeutig den Vorzug gaben. Jiminy und ich machen den Menschenversuch: Der Paprika-Streich, die Gemüsepampe, die man sich aufs Brot schmieren soll, schmeckt langweilig und glitschig. Jiminy behauptet, man könne nur die Streichs mit Tomaten nehmen, alle Streichs, die auf Tomatenbasis hergestellt sind, würden ziemlich gut schmecken. Na fein. Die kann ich dann ja später ausprobieren, wenn ich Vegetarierin bin. Die aufgebackenen Roggenbrötchen finden hingegen unsere Zustimmung, aber von den Tomaten sind wir wieder bitter enttäuscht. Bio-Tomaten sollen angeblich doch so geschmacksintensiv sein, aber die hier schmecken wie nasser Teppich. Kein Unterschied zur gewöhnlichen Supermarkt-Tomate.

Ein klägliches Miauen kommt unter dem Tisch hervor. Freddy, ein uralter, grauer Karthäuserkater, versucht vergeblich, sich unter Bullis massigem Körper hervorzuwinden. Bulli fixiert ihn mit einer Pfote auf dem Boden und schleckt dem unglücklichen Tier das Ohr aus. Jiminy will, dass ich eingreife.

»Da muss Freddy durch«, sage ich, »dafür hat er es jetzt schließlich warm und trocken.«

Ich wollte nie Katzen. Erstens habe ich eine Katzenhaarallergie, zweitens sind das für mich sadistische Killer, die kleine Tiere zu Tode foltern. Aber als ich vor einem halben Jahr in dieses Haus zog, wohnten im Garten bereits zwei Kater, Simbo und Freddy. Ein Nachbar hatte sie zurückgelassen, als er mit seiner neuen Freundin in einer neuen Wohnung ein neues Leben begann, in dem für alte Kater kein Platz war. Und irgendjemand musste sie schließlich füttern. Und kraulen. Beide waren so ausgehungert nach menschlicher Zuwendung, dass sie schon sabberten, wenn man sie bloß auf den Arm nahm. Als dann nach Weihnachten der viele Schnee kam, ließ ich die Stromer ins Haus. Simbo, ein getigerter Feld-Wald-und-Wiesenkater mit glänzendem Fell und prächtigem Selbstbewusstsein, hätte die Kälte vermutlich überstanden. Aber um Freddy, den ständig haarenden, alten Karthäuser mit dem abgebrochenen Schwanz und den Leckaugen, der auf einem Strohballen in einem offenen Schuppen residierte, machte ich mir ernsthaft Sorgen. Es gibt ja militante Tierschützer, die die Ansicht vertreten, dass Tiere grundsätzlich nur in einen natürlichen Lebensraum gehören. Ich fürchte, die haben nicht die geringste Vorstellung davon, wie sehr das Leben in freier Wildbahn an der Substanz zehrt. Ein Dach über dem Kopf erhöht nicht nur die Lebensqualität, sondern verlängert auch die Lebenserwartung ganz beträchtlich. Haustiere, die nicht für die Schlachtung vorgesehen sind, werden meist sehr viel älter als ihre wild lebenden Verwandten. Das liegt nicht nur daran, dass sie vor Fressfeinden geschützt sind, sondern auch daran, dass das Catering besser ist, sie keine Parasiten haben, medizinisch versorgt werden, weniger durch Revierkämpfe und Todesangst gestresst sind, und dass ihnen die Kälte nicht so entsetzlich zusetzt. Für Menschen gilt das übrigens auch. Wer einen festen Wohnsitz hat, lebt deutlich länger als die 47 Jahre, die die obdachlosen Mitglieder unserer Gesellschaft durchschnittlich erreichen. Simbo und Freddy jedenfalls, vor die Wahl gestellt, die unendliche Freiheit der brandenburgischen Wälder und Wiesen gegen das beengte und überheizte Leben in einem Haus einzutauschen, entschieden sich ohne zu zögern für Katzenklo und Sofa. Die erste Woche schliefen sie fast ununterbrochen durch. Und obwohl sie es jederzeit könnten, weigern sie sich bis jetzt beharrlich, auch nur eine Pfote in den Schnee hinauszusetzen. Bulli ist von der Vergrößerung des Rudels natürlich begeistert und überschüttet beide Kater mit unerwünschten Liebesbeweisen.

Ich greife zur selbst gemachten Brombeermarmelade meiner Nachbarin.

»Ich glaube kaum, dass Beate die mit Bio-Zucker eingekocht hat«, bemerkt Jiminy.

»Na und?«

»Du hast doch gesagt, dass du von jetzt an nur noch Bio essen willst.«

Das war ja zu erwarten. Kaum gibt man sich ein bisschen Mühe, schon springt aus irgendeiner Ecke ein Müsli-Fresser und schreit: »Das ist nicht genug! Du hast schon wieder etwas nicht bedacht. Nur ich, ich, ich krieg es auf die Reihe, ein guter Mensch zu sein. Du hingegen wirst ewig eine unverbesserliche Umweltsau bleiben.«

Ich kontere mit der wahnsinnig guten Klimabilanz dieser Marmelade. »Beates Beeren sind mit dem Mist meines Maultiers gedüngt, den sie sich eigenhändig mit der Schubkarre abgeholt hat. Sie hat die Beeren im Garten gepflückt und vermutlich ohne nennenswerten Benzinverbrauch in ihre Küche getragen, dort eingemacht, diese Portion in ein ausgewaschenes altes Senfglas gefüllt und mir das fertige Produkt über den Gartenzaun gereicht. Willst du ernsthaft behaupten, es wäre besser für die Umwelt, wenn ich mir eine Bio-Marmelade aus China einfliegen lasse, bloß weil die dort den richtigen Zucker verwendet haben?«

Jiminy erklärt sich bereit, Beates Marmeladen ausnahmsweise zu genehmigen, und ich erkläre mich bereit, Beates Marmeladenproduktion in der nächsten Saison mit Bio-Gelierzucker zu sponsern.

»Außer mir gibt es sowieso keinen einzigen Menschen in Deutschland, der ausschließlich Bio-Produkte kauft.«

»Doch«, sagt Jiminy, »Mütter. Wenn Frauen Kinder kriegen, fangen die ja plötzlich an, nur noch Bio-Sachen zu kaufen. Oder wenn jemand Krebs kriegt. Ich kenne zwei Männer, die nach der Krebsdiagnose ihre gesamte Ernährung auf Bio umgestellt haben.«

Aha. Der durchschnittliche Kunde interessiert sich vielleicht doch nicht so sehr für Klima und Bodenerosion, sondern mehr für den bislang unbewiesenen Gesundheitsaspekt. Das erklärt, warum der Bio-Handel in den letzten Jahren zweistellige Zuwachsraten verzeichnen konnte. Von allen Ernährungsformen mit moralischem Anspruch kommt Bio-Konsum den Eigeninteressen am weitesten entgegen. Gesund soll es sein, und endlich wieder so wie früher schmecken.

Da ich 70 km von Berlin entfernt lebe und nach Weihnachten so viel Schnee gefallen ist, dass man freiwillig keine größeren Touren unternehmen mag, habe ich bisher nur die Einkaufsmöglichkeiten für Bio-Produkte in den Supermärkten der näheren Umgebung ausprobiert. Sie waren viel besser, als ich gedacht hatte. Bio-Bananen, -Orangen, -Tomaten und -Kartoffeln fehlten nirgends. Außerdem gab es fast überall Bio-Aufschnitt. Wurstbrot muss ein ungeheuer beliebtes Nahrungsmittel sein, so wie der Aufschnittesser von der Bio-Branche umgarnt wird. Jiminy meckert natürlich. Ihr ist das alles nicht genug. Außerdem wurde der Plus-Supermarkt in Neuhardenberg, auf den wir einige Hoffnung gesetzt hatten, gerade von einem anderen Konzern geschluckt und heißt seit dem Jahreswechsel plötzlich »Netto«. Eine der ersten Amtshandlungen der neuen Leitung war es, das Bio-Hack aus den Kühltruhen zu entfernen. Das ist besonders für Jiminy bitter. Sie ist Frikadellen-Vegetarierin – an 361 Tagen im Jahr isst sie kein Fleisch, aber bei Gehacktem à la Mutti wird sie schon mal schwach. Deswegen wird Netto von uns jetzt boykottiert. Bei Lidl gibt es nur wenige Bio- und einige Fairtrade-Produkte. Die faire Entlohnung der Arbeiter ist natürlich erfreulich, reicht mir als ethische Mindestanforderung aber nicht. Beim Riesendiscounter Kaufland sieht es schon besser aus. Im Gegensatz zu Rewe und Edeka sind die Bio-Marken hier nicht auf ein einzelnes Regal konzentriert, sondern über die ganze, hektargroße Verkaufsfläche verteilt. Überall dort, wo sich Bio-Lebensmittel befinden, ragen Pappschilder mit dem Bio-Siegel wie kleine Verkehrszeichen in den Raum und leiten das von einer Million Kaufoptionen überforderte Individuum durch ein Meer der Unübersichtlichkeit an die richtige Stelle. Im ersten Moment denkt man, das sind wirklich viele Schilder, hier gibt es wohl alles, was das Bio-Herz begehrt. Aber sowie man bei einem der Siegel angekommen ist, weist es mit schöner Regelmäßigkeit auf das unattraktivste Produkt im ganzen Regal. Entweder handelt es sich um Grundnahrungsmittel wie Mehl, Reis und Nudeln oder um einen abwegigen Genuss wie eingemachte Sojasprossen. Dass bei den Salzsachen gleich mehrere Bio-Zeichen in den Raum ragen, bedeutet noch lange nicht, dass man dort auch nur eine einzige Tüte Bio-Chips findet. Stattdessen gibt es gleich zwei Varianten jener widerlichen Salzbrezeln, die ich schon als Kind verabscheut habe, und Sesamcräcker, die wie zerbrochenes Knäckebrot aussehen. Na toll. Immerhin gibt es aber eine Bio-Putenkeule, Bio-Rohmarzipan, und ich finde bei Kaufland auch endlich einen Bio-Orangensaft. (Bei Rewe vertritt man anscheinend die Auffassung, Bio-Konsumenten würden bloß Apfel-, Gemüse- oder Tomatensaft trinken.) Eine Bio-Cola habe ich allerdings weder hier noch in einem anderen Supermarkt entdeckt.

»In Berlin, in der Bio-Company, gibt es die garantiert«, lockt Jiminy.

Ich habe ihr nämlich versprochen, es wenigstens mit einer Bio-Cola zu versuchen, bevor ich wieder auf mein Lieblingsgetränk Coca-Cola light zurückgreife. Ehrlich gesagt, gebe ich dem Versuch keine große Chance. Ich hoffe sehr, dass ich Coke light auch während meiner Bio-Phase weiter trinken darf. Bisher gehe ich davon noch aus. Coca-Cola, so meine Vermutung, besteht doch sowieso fast ausschließlich aus Chemie. Das einzig Natürliche darin ist der Zucker, und selbst der ist im Light-Produkt durch Chemie ersetzt, sodass sich die Bio-Frage gar nicht erst stellt. Oder gibt es irgendwo biologisch-dynamische hergestellte Chemikalien?

»Cola light ist das Getränk der Dicken«, stänkert Jiminy Grille.

»Völlig falsch«, sage ich, »Cola light ist das Lieblingsgetränk wahnsinnig gut aussehender und mit nacktem Oberkörper herumlaufender Bauarbeiter, du musst nur mal wieder Werbung kucken.«

Unter dem Tisch kommt ein lautes Zischen hervor. Freddy hat beide Vorderpfoten in Bullis üppige Gesichtsfalten gekrallt und zerrt sie in verschiedene Himmelsrichtungen, sodass Bulli unfreiwillig Grimassen wie aus einer Peking-Oper schneidet. Er versucht zu kläffen, bringt aber bloß ein paar gehauchte Rachenlaute zustande, weil er keine Stimmbänder mehr hat. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund lassen die Krebszellen in seinem Körper die Atemwege zuschwellen. Sport, Spiel und Gassigehen ist nur noch in homöopathischen Dosen möglich. Bei seiner letzten Operation, der dritten innerhalb von fünf Monaten, wurde ihm alles aus dem Hals geschnitten, was seiner eingeschränkten Luftzufuhr noch im Weg sein könnte – auch die Stimmbänder. Freddy zerrt Bullis Lefzen mit den Krallen zu sich heran, und Bulli versteht das als Aufforderung, auch noch Freddys zweites Ohr zu reinigen.

 

Heute fahren Jiminy und ich nach Berlin zur Bio-Company. Wie in der konventionellen Lebensmittelbranche haben auch im Bio-Handel längst Supermarktketten die meisten der kleinen Tante-Emma- bzw. Eine-Welt-Läden um die Ecke verdrängt, und Bio-Ernährung haftet schon lange nicht mehr der Ruch von Öko-Mief und Selbstgestricktem an. Die Kunden sind vor allem schicke, gut verdienende, fitnessbewusste junge Leute. So habe ich das wenigstens in meinen Büchern über Bio-Ernährung gelesen. Kann ja sein, dass das anderswo so ist, in der Kreuzberger Bio-Company hängen jedenfalls immer noch Angebote für schamanistische Workshops am Schwarzen Brett und die Kunden sehen erfreulicherweise immer noch wie Kreuzberger aus – schon schick, aber die alternative Variante. Bei dieser Witterung tragen sowieso alle dicke Wollschals und Sukkulenten-Mützen. Ich schnappe mir einen Einkaufswagen. Es ist ein normal großer Gitterwagen, wie es sie früher überall gab, bevor sie in den konventionellen Discountern durch kunststoffverstärkte Super-Size-Einkaufspanzer mit dem Ladevolumen mehrerer Bruttoregistertonnen und extra breiten Griffen für die Wurstfinger der 200-Kilo-Kunden ersetzt wurden. Das Angebot in der hellen, 500 qm großen Bio-Company wirkt übersichtlich und kultiviert. Was es in den gut sortierten Regalen nicht gibt, braucht der intelligente und disziplinierte Kunde nicht. Jiminy drängt mich, zwei Walnuss-Brownies am Backwaren-Tresen zu kaufen – für 1,85 Euro das Stück nicht gerade geschenkt! Allerdings – Jiminy will, dass ich sofort probiere – sind es wirklich unglaublich gute Brownies, einfach phantastisch, die Art von Brownies, nach deren Vorkommen man sein Urlaubsziel aussuchen würde. Ebenfalls sehr, sehr gut, wie Jiminy versichert, aber mit einem Preis von 2,95 Euro pro Stück so teuer, dass einem schwindlig werden kann, sollen die Mandelhörnchen sein.

Überhaupt kommt mir schon bald der Verdacht, die Bio-Company wolle durch ihre Preisgestaltung erzieherisch auf den Konsumenten einwirken. Gesunde und naturbelassene Produkte wie Obst, Gemüse und Salate gehören zu den günstigen Waren. Also häufig kaufen, schont den Geldbeutel und die Herzkranzgefäße! Fleisch, Käse und Kuchen sind hingegen nicht nur fett oder zuckerhaltig, sondern oft auch ganz schön teuer. Selten kaufen und in kleinen Mengen als etwas Besonderes genießen, sagt die Preisgestaltung des Biomarktes. Dann dürfte es aber auch nicht so verdammt gut schmecken. Die Käsetheke zum Beispiel! Hinter der Theke steht der junge Herr Rodriguez, und nachdem ich ihm erklärt habe, was für Käse ich bisher gern aß, schneidet er ohne zu zögern von einem Uralt-Gouda, einem Heudammer und einem Ziegenkäse ab und lässt mich probieren. Wahnsinn!!! Der Uralt-Gouda ist so gut und Herr Rodriguez nicht nur kompetent, sondern auch so freundlich, dass am Ende doch mehr Käse als Gemüse im Einkaufswagen liegt. Und Fleisch. Und Schokolade. Mit Verzicht hat Bio-Ernährung nichts zu tun, allenfalls mit Luxus. Sogar eine Bio-Cola habe ich gefunden. Es handelt sich um ein schwarzes, kohlensäurehaltiges Getränk der Firma Bio-Zisch, das sich Guarana-Cola nennt. Guarana ist eine brasilianische Lianenart mit viel Koffein, das aber deutlich langsamer an den Körper abgegeben wird als bei Kaffeebohnen. Eine Light-Version davon gibt es natürlich nicht.

 

Zu Hause werfe ich ein paar Eiswürfel in ein Glas, schenke ein, schwenke kurz und halte das Getränk fachmännisch gegen das Licht. Sieht aus wie Cola. Ich nehme einen Schluck. Jiminy und Bulli schauen erwartungsvoll zu. Pfui Deibel! Ich spucke das Zeug sofort in die Spüle. Die Guarana-Cola schmeckt wie ein fieses Medikament mit 25 Nebenwirkungen. Völlig ungenießbar. Möglicherweise tue ich der Firma Bio-Zisch unrecht. Geschmack ist ja auch immer eine Frage von Gewohnheiten, und ich kenne Leute, die auch mein Lieblingsgetränk Coca-Cola light schon als »krankes Gesöff« oder »ekelhafte Plörre« bezeichnet haben. Vielleicht wären diese Leute von der Guarana-Cola hellauf begeistert. Ich werde mich in diesem Leben allerdings nicht mehr daran gewöhnen.

Nachdem ich also tapfer den Versuch mit der Bio-Cola durchgestanden habe, bin ich berechtigt, wieder Cola light zu trinken – immer vorausgesetzt, dass Cola nicht am Ende doch aus Pflanzen hergestellt wird. Die würden dann aller Wahrscheinlichkeit nach natürlich nicht aus biologischem Anbau stammen, was wiederum bedeuten würde, dass ich zwei Monate lang keine Cola light mehr trinken dürfte. Eine grauenhafte Vorstellung. Ohne Cola kann ich nicht arbeiten. Weil ich ja ständig so müde bin. Völlig erschöpft, zum Umfallen müde. Das Erste, was ich morgens tue, nachdem ich meinen Computer angestellt habe, ist, dass ich mir ein Glas eiskalter Cola light einschenke. Kaum habe ich das getrunken, knipst sich das Hirn an, und ich kann loslegen. In regelmäßigen Abständen dosiere ich nach, sodass ich je nach Arbeitspensum ein bis zwei Literflaschen Cola am Tag trinke. Die Light-Version natürlich. Ein Handwerker, der die meterhohen Ansammlungen von Pet-Leergut bei mir bestaunte, schlug einmal vor, ich solle mir doch eine Zapfanlage ins Haus legen lassen.

»Wusstest du, dass die Süßstoffe, die in Light-Produkten sind, auch in der Schweinemast eingesetzt werden?«, fragt Jiminy. »Weil sie Heißhunger auslösen.«Ich weiß gar nicht, wo die ganzen Hetzkampagnen gegen Cola immer herkommen. Vielleicht liegt es daran, dass das Getränk schwarz ist. Eine deutlich negative Farbe. Auch schwarze Hunde bleiben in Tierheimen immer am längsten sitzen. Als ich Kind war, hieß es, Cola würde die Magenwände verätzen, und wenn man ein Stück Fleisch in ein Glas Cola täte, wäre es am nächsten Tag verschwunden. Zum Glück stoße ich im Internet auf eine Seite, die mit den Vorurteilen gegen Cola light aufräumt. Also, Süßstoffe werden zwar in der Schweinemast eingesetzt, aber nicht um Heißhunger auszulösen, sondern weil das Mastfutter in der konventionellen Schweinehaltung anscheinend aus so ekelhaften Zutaten besteht, dass die Ferkel es ohne Süßstoffe nicht runterwürgen könnten.

»Das heißt gar nichts«, sagt Jiminy, »deswegen kann es ja außerdem auch noch den Appetit anregen.«

Und Fleisch löst sich auch nicht in Cola auf, egal wie lange man es darin liegen lässt. Dieses Gerücht sollen möglicherweise die Nazis gestreut haben, um die Deutschen zu trösten, als Coca-Cola während des Zweiten Weltkrieges nicht mehr an den deutschen Markt geliefert wurde. Allerdings steht auf einer anderen Website, dass Fleisch sich sehr wohl in Cola auflöst, dass es das aber auch in jedem anderen säurehaltigen Getränk – wie etwa Apfelsaft – tut. Ja, was denn nun? Na, eigentlich kann mir das egal sein. Für mich ist schließlich bloß relevant, ob Coca-Cola aus Pflanzen gemacht wird. Nervös blättere ich im Internet. Pech gehabt: Das Cola-Rezept beinhaltet tatsächlich Vanille und Orangen-, Zitronen- und Zimtöle. Warum nehmen die eigentlich keine Bio-Produkte? Auf der Homepage von Coca-Cola steht doch, dass dem Konzern gesellschaftlich verantwortliches Handeln besonders am Herzen liegt:

»Deshalb sehen wir unsere Verpflichtung in vier wesentlichen Bereichen: im Markt, als Arbeitgeber, für unsere Umwelt und für das Gemeinwohl.«

Mal schauen, was Wikipedia dazu sagt. Ach du meine Güte:

»Der weltgrößte Pensionsfond TIAA-CREF verkaufte 2006 seine Coca-Cola-Anteile im Wert von 52,4 Millionen Dollar, nachdem bekannt geworden war, dass der Konzern gegen Kinderschutz-, ILO- und Umweltstandards verstoßen haben soll.« Und es kommt noch dicker:

»… wird Coca-Cola beschuldigt, in Kolumbien mithilfe rechter Paramilitärs Druck auf die Belegschaft dortiger Anlagen auszuüben. Sogar Morde an Gewerkschaftlern von Sinaltrainal, einer Lebensmittelgewerkschaft, werden der Firmenleitung in Kolumbien zur Last gelegt.«

Das war’s dann ja wohl. Wieso, frage ich mich, kann ein Konzern, der die klebrig-süße Globalisierung bis in die letzten Winkel der Welt betrieben hat, nicht mit ein bisschen Großzügigkeit auf die sicher nicht ganz unberechtigten Forderungen seiner Angestellten reagieren?

»Was ist los mit denen?«, tobe ich. »Haben die den Hals immer noch nicht voll? Denken die, den Arbeitnehmern in Mittelamerika geht es zu gut? So ein wunderbares Getränk – und dann das. Ich versteh’s nicht.«

Jiminy sieht mich besorgt an, weil plötzlich ein starkes asthmatypisches Lungengeräusch, das sogenannte Giemen, aus meinem Mund kommt. Das passiert manchmal, wenn ich mich aufrege. Statt einfach auszuatmen, mache ich dann das lächerliche Geräusch einer Gummi-Ente.

»Das handelt sich da doch um ein Lizenzunternehmen«, versucht Jiminy abzuwiegeln.

»Na und? Dann muss die Zentrale den Banditen da unten mal die Ohren lang ziehen! Da werden Leute umgebracht! So eine Scheiße! Und in Indien haben die den Bauern das Wasser weggenommen. Jetzt darf ich nicht nur die nächsten zwei Monate keine Coke light mehr trinken, jetzt kann ich die nie mehr trinken. Jetzt muss ich mir irgend so eine fiese, zuckerhaltige Bio-Cola suchen.«

Giemend trete ich gegen den Küchenschrank. Bulli, Simbo und Freddy, die es sich zusammen auf dem Sofa gemütlich gemacht haben, schauen erstaunt hoch. Ist doch aber auch wahr! Wenn stinkreiche Konzernmanager es noch nicht einmal auf die Reihe kriegen, das Lebensrecht ihrer gewerkschaftlich organisierten Mitarbeiter in Kolumbien zu achten, wie soll man da von sorgengeplagten Hartz-IV