Hagenbusch - Adrian W. Fröhlich - E-Book

Hagenbusch E-Book

Adrian W. Fröhlich

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Beschreibung

Alle Menschen sind frei zu sein, wer sie sind. In diesem Buch zieht einer aus, dies in jeder Hinsicht auszuloten, und andere begleiten ihn durch die Welt seiner Abenteuer. Wenn es auch aussehen mag, als seien die in diesem Buch geschilderten Ereignisse gefaked, als seien ihre Performer die idealisierten Vorläufer der heutigen Großnarren, die - vor sich hinträllernd - den Abbruch Delphis verfügen und durchpeitschen, so ist dies doch ein Irrtum. Die spezifische Differenz zwischen den Narren in diesem Buch und den heutigen Clowns dort draußen heißt: Esprit, Gentlemanship, Kultur.

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Wir werden mit allem, was wir je haben geboren, und wir lernen nichts. Wir bekommen nie was Neues hinzu. Im Anfang ist alles fix und fertig.

Ernest Hemingway

Dieses Buch wurde zur Hauptsache in den Jahren 1984 und 2005 geschrieben. Für die jetzige BoD-Publikation wurde es marginal überarbeitet. Der Text war aufgrund eines ganz anderen Publikationsmodells bis anhin nur wenigen ausgewählten Leserinnen und Lesern zugänglich. Er war, ist und bleibt in vielerlei Hinsicht prophetisch, ist aber auch recht schwierig. Er ist satirisch, philosophisch, politisch, psychologisch, poetisch, romantisch - und tabulos. Eine Art Gruss durch die Jahrtausende an Petronius Arbiter.

Für diese Ausgabe gab es kein Lektorat, man sehe also grosszügig über damit verbundene Mängel des Textes hinweg.

Gewidmet ist das Buch all denen, die es lesen.

Inhaltsverzeichnis

ERSTER BAND 1984

Vorbemerkung

Antonioni

Mailand

Gesellschaftsspiel

Venedig

Finale

ZWEITER BAND 2005

Kaiserleben

Der Schlamm

Habemus Deum

Verschwinden

Himalaya

EIN GESPRÄCH 1998

Am Darro

ERSTER BAND 1984

Problem ist, dass wir nur herauskommen, wenn wir hineingehen.

Hagenbusch

Vorbemerkung

Ich lebe seit längerem unter merkwürdigen Umständen, halb als Bohémien, halb als Philosoph, beschäftige mich mit diesem und mit jenem. Gelegentlich übernehme ich Drehbucharbeiten für mir bekannte Filmemacher. Ich vermute, dass mein Name über die einschlägigen Pfade der Szene, die ja oft die breitesten Highways des Fortschritts sind, bis nach London und dort bis ins Büro meines heutigen Freundes Charles Classen gelangt ist, weniger seines guten oder schlechten Rufes wegen, als vielmehr aufgrund ihn begleitender und mit ihm verknüpfter Erkenntnisse, über die die folgende Geschichte berichtet. Classen arbeitete schon damals bei der BBC und betreute für sein Ressort Fiction den kontinentalen Anteil an der Menge der Stückeschreiber, Ideenlieferanten und Szene-Journalisten.

Eines Tages erhielt ich einen mehrseitigen Brief, worin Charles mich aufforderte, für ihn eine gewisse Arbeit zu übernehmen, zu deren Erledigung ich vermutlich gut disponiert wäre. Die Arbeitsbedingungen indes waren absonderlich. Es wurde mir verboten, während eines vollen Jahres die mir für die Erledigung der Arbeit zugewiesene Region zu verlassen. Diese lag in Dänemark, genauer gesagt, zwischen Ringköbing und Lemvig an der jütländischen Westküste. Der Bauer, bei dem ich wohnen sollte, telefonierte mir und lud mich ein, sobald als möglich meine Wohnung in der Südwestecke seines Vierkanthofs in Beschlag zu nehmen. Die Jahresrechnung wäre beglichen, und ich sei herzlich willkommen.

Das war nun in der Tat ein merkwürdiges Angebot, aber ich hatte Gründe, die Schweiz so rasch wie möglich zu verlassen. Ich willigte in den Vorschlag ein, ein Abenteuer witternd und ein neues Kapitel meiner Biografie eröffnend, was beides so recht nach meinem Geschmack war. Ich belud meinen Wagen, packte die Schreibmaschine und einen Haufen Papier ein und fuhr los.

Bertelsens Hof liegt am Strand, von den rauschenden Nordseewellen nur durch die schmale, mit Gras bewachsene Düne getrennt. Baekbygaard ist einer jener Höfe, die in grossen und regelmäßigen Abständen links und rechts der damals wenig befahrenen Küstenstrasse zwischen Nymindegab im Süden und Lemvig im Norden liegen. Die Gegend ist flach, von Lagunen und riesigen, sandigen Äckern geprägt, eintönig, aber fein in den Farben, durchzogen von niederen, sturmzerzausten Nadelgehölzen und dornigen Hecken. Nach mitteleuropäischen Begriffen eine menschenleere Landschaft.

Ausser dem Dünenzug ragt nichts Prominentes in den chamäleonhaften Himmel, worin flache Wolken dahinjagen, tief und flüchtig, Spielmaterial in den Händen des Nordwestwindes. Bei guter Witterung kann man ein paar weißgetünchte Windmühlen moderner Bauart ausmachen, darunter jene mächtige, von Schülern gebaute von Tvind, die über fünfzig Meter hoch sein soll1. Im Frühling und im Herbst bevölkern Zehntausende von Wildgänsen die küstennahen Felder und die Ufer der Lagunen, die man Fjorde nennt. Alles ist einsam hier, ruhig und monoton. Der Mensch ragt in den Himmel, der so niedrig ist, dass man meint, man könne die Wolken mit den Händen greifen. Diese Landschaft ist wie geschaffen für die Erholung des Kopfes, zur Mäßigung der Sinne und zur Entwicklung des Freiheits- und Einzigkeitsgefühls, der Gelassenheit und des inneren Gleichgewichts.

Während des Hochsommers war der Strand mäßig bevölkert mit Badenden und Spaziergängern, meistens Deutschen2. Mächtige Betonbunker aus dem Weltkrieg liegen wie Zyklopenköpfe im Sand und erinnern an die europäische Geschichte, an ihr infernalisches Finale. Ich kam mir ein bisschen verloren vor zwischen diesen Findlingen aus der Vergangenheit, fühlte mich unsäglich fremd, eine andere Sprache sprechend, mit den Wurzeln einer anderen Kultur, deren einzelne Teile ebenso in Afrika, Südamerika und Ostasien liegen wie hier, an den Küsten der Nordsee. Und doch sollte ich ein Jahr hier ausharren, bei Viggo Bertelsen, dem Bauern, einem überaus feinfühligen, gewitzten und gelassenen Mann. Viggos Wohnung lag direkt neben der meinen und war von dieser durch eine unverschlossene Zimmertüre getrennt. Wenn wir uns besuchten, gingen wir jedoch stets aussen herum, von Haustür zu Haustür. Eine Ausnahme von dieser Regel machten wir nur bei stürmischem Wetter und im Winter, selbst dann jedoch nie, ohne einander zuvor dazu ermuntert zu haben. In regelmäßigen Abständen luden wir uns gegenseitig zum Essen ein, tranken bei schönem Wetter Kaffee in der Düne und verzehrten Viggos selbstgebackene Kuchen, die wie alles, was aus seiner Küche kam, hervorragend schmeckten.

Als ich auf Baekbygaard ankam, lag dort ein Paket für mich bereit. Es enthielt einen ungeordneten Haufen Papiere, Manuskripte und anderes Material, und ich war gefordert, mir innerhalb zweier Monate einen Überblick über die Materie zu verschaffen. Ich tat's und erfuhr so zum ersten Mal von jenen Begebenheiten, von denen ein großer Teil des ersten Bandes dieses Buches handelt. Nach Ablauf jener Frist erhielt ich neues Material und ein dünnes Heft mit der Projektbeschreibung. Der Auftrag lautete, das Material zu einer philosophischen Lebensgeschichte zu verweben, in deren Mittelpunkt die Person und Problematik Hagenbuschs stehen.

Hagenbusch hiess bürgerlich François René Delby. Die Delbys stammten väterlicherseits aus Boulogne-sur-Mer und mütterlicherseits aus Samara an der Wolga. Hagenbuschs Vater kam 1944 bei einem Bombenangriff ums Leben, seine Mutter starb in den sechziger Jahren an Leukämie. Im Verlauf der hier erzählten Begebenheiten wurden wir Freunde und entdeckten unsere tiefgreifende Seelenverwandtschaft. Diese betonend, nennen wir uns heute Cousins. Oft verflüchtigt sich in diesem Buch die Grenzziehung zwischen seiner und meiner Lebensgeschichte, so dass sowohl Fakten, als auch Fakes bisweilen den Mann wechseln, was durchaus gewollt ist.

Ich nehme in diesem Buch, wo ich in ihm vorkomme, selber den Namen Delby an, unter Verwendung des Vornamens Aren, der Hagenbuschs wirklichem Cousin gehört hatte, der ein unerschütterlicher Optimist gewesen sein soll und bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam.

1 Die Mühle von Tvind ist mir ans Herz gewachsen. Sie wurde seinerzeit durch ein Kollektiv von Idealisten erbaut. Heute erheben sich überall im Land riesige, industrielle Windparks.

2 Hunde gab es damals noch kaum, Spazierende waren allein unterwegs und insgesamt selten. Sie setzten sich diskussionslos Wind und Wetter aus und spazierten angesichts des Ozeans, während man heute den Strand - entgegen Wind und Wetter - bloss benutzt, was am Verhalten der Menschen deutlich zu erkennen ist.

Antonioni

DIE IDEE EINER VERWANDLUNG IM VOR- UND IM RÜCKBLICK

AN CHARLES CLASSEN

Brig, 22. Sept. 1984

Mein Lieber: Ich höre, Du bist in der Schweiz. Ich möchte Dir kurz schreiben, denn ich habe ein Problem, das Du vielleicht lösen kannst. Wir haben uns lange nicht mehr ausgesprochen, es ist wahr, und ich nehme diesbezügliche Schuld auf mich. So lass uns jetzt zusammenkommen, um zu sehen, was wir noch aneinander haben: Vielleicht ist es sehr wenig, sind wir uns fremd geworden, vielleicht ist es sehr viel, sind wir uns nähergekommen. Ich habe für diesen Vorschlag, wie gesagt, einen konkreten Grund, und es liegt mir diesbezüglich NUR an DEINEM Urteil. Ich sage Dir jetzt nicht, worum es sich handelt. Richte es so ein, dass Du in den nächsten drei Tagen kurz nach Brig kommen kannst. Ich bin im Hotel Zermatt. Findest Du mich dort nicht sofort, hinterlasse in der Rec. eine Notiz, gib an, wo ich Dich finden kann, wenn ich zurück bin. Ich verspreche Dir einen superben Abend und wirkliche Gespräche, denn ich habe mich sehr verändert. Keine „Theorie" mehr und keine Beeinflussung Deiner Gedanken.

Du bist, wenn ich in mich gehe, der Allereinzige, den ich für mein Problem brauchen kann, und es ist mit ihm eine sehr wichtige Frage verbunden.

Rhodanus-Rubicon 21. Sept.

H.

Schon am nächsten Tag, also am 23. September, erscheint Charles Classen. der alte Freund aus "wilderen Tagen" im Hotel Zermatt in Brig. Und macht einen sehr besorgten Eindruck. Wie befohlen hinterlässt er am Desk des Concierge eine Notiz. Als sich die beiden Freunde am Abend treffen, ist die Begrüßung überaus herzlich, und der gemeinsame Abend artet bald in ein unbeschreibliches Gelage aus. Classen schreibt in seinem Buch "Many Times In Time": "Ich war so vollkommen überrascht von Hagenbuschs Brief, dass ich eine gute Weile kaum wusste, ob ich lachen oder weinen sollte. Ich tat schliesslich keines von beiden. Ich folgte seiner Aufforderung und bestellte eine Fahrkarte Bern-Brig ich weilte damals in der Schweiz -, um mich nächsten Tags in meiner „unausgelüfteten Managergestalt“ „illico presto“ auf den Weg in Cäsars Lager zu machen, das ich vor Arriminum vermutete, da er nach eigener Angabe tags zuvor erst seinen Rubicon überschritten hatte.

Nun, ich fand Hagenbusch in der besten Stimmung. Heiter, gelöst und braungebrannt, und wie in alten Tagen fielen ihm wieder dicke Strähnen braunblonder Haare in Stirn und Nacken, wirkten aber diesmal äusserst gepflegt. Überhaupt machte er mir einen überraschend soignierten Eindruck. Er trug weisse Seidenhosen neusten Zuschnitts, dazu ein meergrünes Hemd mit weißer Krawatte und einen schneeweißen Blazer. Weichledergaloschen machten seinen Gang federnd und lautlos wie den einer afrikanischen Antilope. Ich wurde mit der Weltmannskunst des Engländers empfangen. Es konnte kein Zweifel mehr bestehen: Er brauchte Geld, und zwar dringend. So etwas hatte ich vorausgesehen und war disponiert. Sogleich führte mich mein Freund in ein Walliser Stübchen und bestellte Wein und Trockenfleisch. Anfangs sprachen wir natürlich von den alltäglichsten Dingen. Ich rapportierte ihm aus meiner Arbeitswelt in London, in die er vernarrt schien. Dann kamen wir zum "Tacheles". Zuerst eröffnete er mir, wie sehr ihn die Fusswanderung über die Gemmi innerlich gewandelt habe. Ich wollte natürlich genau wissen, in welchem Sinne diese Veränderung vor sich gegangen ist, um ganz sicher zu sein, ihn nicht wieder ins alte Fahrwasser des Freaking-out einsteuern zu sehen, oder - falls dies doch geschähe, ihn davor zu warnen. Unsere Devise war von jeher QUALITÄT, an sie erinnerte ich ihn nun eindringlich, wie man es unter Freunden tun darf und muss. Er erwiderte sofort, er kenne meine Befürchtungen nur zu gut, denn sie wären auch die seinen, und eben darum brauche er mich als Richter. Er selbst habe noch zu wenig Distanz zu seiner Verwandlung gewonnen, um nicht zu sagen, gar keine. Dann bohrte ich so lange, bis er fähig schien, den Schwenk zu formulieren, den er gemacht hatte.

Die beiden Freunde waren sich lange nicht mehr begegnet. Ihre Wege hatten sich Mitte 1974 getrennt. Damals ging Classen nach London zur BBC, zuerst als Pop-Journalist, später wurden ihm die verschiedensten Ressorts übertragen. Er schrieb Drehbücher, Hörspiele, moderierte eine bekannte Sendung und wurde berühmt. "Wenn man bedenkt, was ich war, ein Nichtsnutz voller Bluesriffs und Marihuana, dann begreift man, was ich wurde," schreibt er über sich, "und lernt die eminente Bedeutung des Zufalls und der Frauen schätzen, waren es doch nichts als Zufälle, die mich zum Radio brachten, und es war Marjorie, die diese Zufälle redigiert und regiert hat. Solange ich den Finger krümmte, war ich ein Nobody - als ich ihn Marjorie überließ, hiess man mich einen hochkarätigen Insider. Das einzige, was ich tun musste war zu akzeptieren. Ich hatte die göttliche Einsicht einzulenken und mich zu verkaufen. Wie wählen, wenn man gar keine Alternative hat?" Romanciers wären hier gewiss der Überzeugung, dass es sehr wohl eine Alternative gegeben hätte: die Ehrlichkeit des Naivlings, des Provinzlers. Und sie alle würden diese Alternative zum Anlass eines Romans nehmen, der heissen müsste: Charles Classen, oder die Versuchung des Heiligen Antonius. Wir wollen verhindern, dass ein solcher Roman geschrieben wird. Denn Charles hat diesen Roman selbst bereits geschrieben. Er hat ihn geschrieben unter der Voraussetzung, nicht über sich selbst zu schreiben. Um auf sich selbst hinzuweisen, ist das die beste und erprobteste Methode, die einem Genie zur Verfügung steht. Classen ist einer jener modernen Lebenskünstler, wie man sie unter erfahrenen Journalisten gelegentlich antrifft. Hier findet man eine spezifische Mischung aus Bohémien und Manager, aus Toleranz und Koketterie, die besticht.

Das Genie Classens besteht zweifellos auch in seiner Diskretion. Wie alle wahrhaft herzlichen Menschen ist auch Classen ein Meister des diskreten Understatements, in dem alles enthalten ist, was zu sagen wäre, gäbe es für die Sache Worte, "die nicht platzen wie die Molotow-Cocktails auf der Gasse". Es ist äusserst schwierig, den bezaubernden Eindruck, den Classen auf den Zuhörer macht, während man ihn bei der Rede beobachtet, in Worte zu fassen. Da ist der blaue, filigrane Charme eines bis zum Äußersten gebildeten Homosexuellen, eines in allen Tiefen und Höhen des modernen Lebens erfahrenen Matadors, der auch das grösste Publikum, die weiteste und heißeste Arena nicht scheut. Mit der Präzision des Pikadors, der spannungsgeladenen Geduld des Toreros steht er da und berechnet das Gedicht, das er dem Zuschauer in Form von Stichen und Pirouetten bieten wird. Als die Sprache auf Hagenbusch kam, versuchte Classen eine grobe Wesensbestimmung: "Sehen Sie, Hagenbusch hiess bürgerlich Francois René Delby. Er ist mein bester Freund. Doch mit wem will ich ihn vergleichen? Ein Caligula-Typ, im Innersten frei von Moral, vitalistisch, phänomensüchtig und hybrid - aber auch, und doch: fein wie die Rose, sanft wie der Capri Wind, duftend wie das geliebteste Parfum." Auf meine Frage, ob er schön war, antwortete mir Classen mit einem Lächeln: "Er ist jener europäische Rätselmensch - und ich meine, es gibt solche Menschen nur in Europa -, der in der Gotik meinetwegen Troubadour, zur Zeit des Rinascimento Condottiere, am barocken Fürstenhof Kardinal, in der Grande Révolution Jakobiner, im frühkapitalistischen, neunzehnten Jahrhundert Gründer, Pionier oder Bankier, zur Zeit der Jahrhundertwende Künstler, und schliesslich in der dunklen Epoche tausendjähriger Reiche und obskurer Weltrevolutionen ein rotschwarzer Avantgardist geworden wäre. Ja, er war schön! Ein Caligula reinsten Wassers, nobel in der Blüte und im Wort, aber an der Wurzel war er verdorben. Seine Ideen waren epigonenhaft, wie er mir selbst immer wieder geklagt hat. In der Liebe war er maßlos und in der Philosophie Marodeur und Kosak. Und nun staunen Sie: Ein solcher Mensch war Arzt geworden. Incredibile! Eine Geschmacklosigkeit, ein unverzeihlicher Fehler. Und er wusste es. Darum hasste er alles, was ihn an seinen Beruf erinnerte. Er hasste den Bluff, zu dem er gezwungen war, und der ihn verdarb. Und darum hasste er auch alle Augenblicke, in denen er nicht träumen konnte.

Unter der Maske seines hygienischen und lächerlichen Berufs waren sein haltloser Geist – „der Geist Enlils“ wie er ihm sagte -, sein leeres Herz, seine unbefriedigte Sexualität, seine süchtige Natur verborgen, und nur der Skalpell Schnitt der logischen Argumentation ließ den Virtuosen ahnen, das verborgene Genie, den Dramaturgen, den Verschleuderer und Trittbrettfahrer mühsam verbürgerlichter Kultur."

"Passt auf ihn nicht Robert Musils Ausspruch: 'Der Mensch, die Krone der Schöpfung, das Schwein'?" - "Genau! Und ich kenne niemand, der so verkannt worden wäre wie Hagenbusch. Das unausrottbare Gerücht stilisierte ihn zum Geistmenschen, beraubte ihn aller Ausschweifigkeit im Sexus und sublimierte ihn zum Idealtyp des wissenschaftlichen Zeitalters, zum Forscher über Reagenzgläsern und vollgekritzelten Diagrammen, zum Redner auf Symposien über AIDS und die ganze Virologie des Schicksals. Woher dieses Missverständnis kam, woraus es schliesslich immer wieder ernährt wurde, wussten weder er noch ich."

Über jenes Zusammentreffen in Brig schreibt Classen in "Many Times In Time": "Hagenbusch begann seine sorgfältig vorbereitete Eröffnung damit, dass er mir aus seinem Buch über die Ganzheit und den sogenannten „harmonischen Begriff“ Partien über das Wesen der Wahrheit vorlas, deren Wortlaut mir heute nicht mehr erinnerlich ist. Dem Sinne nach behauptete er, dass die Wahrheit nicht, wie Aristoteles geglaubt habe, in der Identität von Vorstellung und Wirklichkeit bestehe, aber auch nicht im Sinne Heideggers die sogenannte apophantische Offenheit des Seienden meine, und im Übrigen käme es nirgends auf den hermeneutischen Zirkel an. Nun! Über diese Raffinessen philosophischer Wortklauberei sah ich hinweg. Wahrheit, so sagte mir mein Freund in Brig, sei weiter nichts als die Harmonie des Wahrgenommenen in ihm selbst. Auch die Lüge sei nämlich grundsätzlich wahr, insofern Wahrheit selbst nur erlogen werden könne. Wie mir schien, verwechselte er da verschiedene Ebenen der Wirklichkeit. Aber er räumte gleich ein, dass unter LÜGE nicht etwa die bewusste Täuschung zu verstehen sei, sondern, wie er sagte, „die transzendentale Behauptung eines Seins, von dem wir noch nichts wissen, welches nur in und durch diese Behauptung Wirklichkeit wird.“ Er sprach gesetzt und trank viel Wein dazu, so dass er bald in angeheiterte Stimmung geriet. Um ihn zu provozieren, lenkte ich ihn des Öftern mal vom Hauptgegenstand unserer Diskussion ab, aber er ließ es lächelnd geschehen und griff den roten Faden jeweils mühelos wieder auf. Er war seiner Sache sicher. Unterdessen hatten wir beschlossen, in ein größeres Restaurant am Platze zu wechseln. Wir gingen also, wobei ich ihm von Anfang an klarstellte, dass alles auf MEIN Konto gehen würde. Er sollte seine Gedanken frei und unbekümmert formulieren können, denn es sind ja recht eigentlich diese kleinen Dinge, z.B. die Höhe einer Rechnung, die uns am meisten daran hindern, die Wahrheit ganz und unverblümt auszusprechen. Er war sichtlich zufrieden.

Um in seiner Angelegenheit transparenter zu werden, rückte er schliesslich damit heraus: „Ich kann nicht mehr in meinem Beruf arbeiten. Ich schaffe diese Farce nicht mehr.“ Mit einem Male war ich auf die trivialsten Probleme zurückgeworfen und runzelte die Stirn. Aber er fuhr fort: „Es ist ein Fulltime-Job, ganz gleich wie und wo du arbeitest. Und ich bin ein UNENDLICH anderer Mensch. Ich bin Dichter, Künstler, Ateliermensch, ich bin einer, der sich ausschliesslich mit der Konstruktion der Unendlichkeit befasst. Dieser Beruf ist mir ein Eisenkorsett, eine Endlichkeitsfalle für den ewigen Geist, dem mein Herz gehört. Na, das sind grosse Worte, und sie haben selbst wenig Inhalt.“ Ich zitierte ihm Thomas Carlisle: „Glücklich der, welcher seinen Beruf erkannt hat. Er verlange nach keinem anderen Glück. Er hat seine Arbeit und Lebensaufgabe und wird ihnen obliegen.“ Hagenbusch hatte dafür nur ein müdes Lächeln übrig. „Bester Charles, Thomas Carlisle! Gerade so gut hättest Du mir Goethe zitieren können. Ich behaupte: Mache ich mich HEUTE nicht frei, frei überhaupt von Berufen, Endlichkeitsfallen, Mausefallen für den Menschen, DANN mein Lieber, brauche ich Perversion, sexuelle und geistige, maßlose und grausame.“ Das sagte er mir mit der ironischsten aller Mienen, aber ich sah die Verzweiflung, die durch diese Maske sprach, kannte ich doch meinen Freund zu gut, um nicht über die Massen zu erschrecken. Sofort hatte ich begriffen: Hier waltet ein tiefer Ernst, ein reifer Ernst, ein erwachsener und wehrhafter Ernst. Doch seine Lage war hoffnungslos. Ohne Beruf gibt es kein Leben!

„Charles, einst gab es ein Leben ohne Beruf! Wir irren, wenn wir denken, HEUTE, ja, das wäre immer so gewesen! Nein! Die Jugend Athens, hatte SIE einen Beruf, wie wir ihn haben? Rede mir nicht von den Sklaven, den Theten, den Metöken. Von diesen spreche ich nicht. Wir alle gehören zu diesen Klassen, davon lohnt die Rede nicht. Nein, der angestammte Beruf der Bürger Athens war die Politik, und herkulische Kräfte waren gefragt. Nun gut, mein Lieber, du meinst, all das wäre veraltet und überhaupt unmöglich. Ja, du hast recht. Aber das Verteufelte ist: ICH bin so, und ich kriege es nicht hin, so zu leben, wie die Anderen leben, es geht nicht. Du weißt: Ich habe es versucht, und wie! Und überall glänzte mein Erfolg. Aussen! In der Außenwelt. Aber innen, da wurde ich zur Wüste. Ich wurde hässlich, gemein und gierig. Vampirzähne wuchsen mir, um das Blut der Lebenden zu saugen, um heranzukommen an ihre Hälse und an ihre Schlagadern, und dies in Windeseile, und niemand hat es bemerkt. Sie haben alle keine Augen. Und ich weiss, dass es nicht die Medizin allein ist, denn ich wählte nicht einfach den falschen Beruf, es ist der BERUF an sich, diese Ungeheuerlichkeit, sich aus der Sicht einer ökonomischen Tätigkeit zu sehen und zu DEFINIEREN! Und was in diesen Krebspanzer nicht hineingeht, das geht in das Hobby, in den Nebenverdienst, in den Job, Charles, das ist das Fahrzeug, die höllische Ausgeburt des Satans! Und Luthers Berufsethik! Seine Gattenliebe! All diese DEUTSCHEN Begriffe! Fort damit, zu den Vätern! Ich kann das nicht, ich gehe drauf. Ich würde pervers, falsch, brutal, gierig. Ich komme mir vor wie die Hure, die verkauft, was nur Gott geben kann, und was auf immer unbezahlbar ist. Es ist ein dämonischer Bluff, ich beherrschte ihn, zugegeben, eine Scheintotenschmiere. Die Lüge ist offensichtlich: Anstelle des Nachvornetretens das Aufsteigen in die Schnürböden! Anstatt wie der Nazarener ehrlich hervorzutreten, hier und jetzt, wie der Schuft Karriere machen, auf dass SIE dich nie von Angesicht zu Angesicht sehen! Das wahre Leben aber ist keine Peep-Show! Nein, ich verweigere. Ich greife nach den Sternen, ich drehe die Zeit um, ich lebe aus der Unendlichkeit der ZUKUNFT. Zum Teufel mit der Moral! Zum Teufel mit der Vergangenheit! Zum Teufel mit dem Staat und mit der Politik, mit der Geschichte und dem Bordellbrevier, das man die bürgerliche Moral nennt! Wahr ist nur das Zukünftige - und ich beginne es JETZT. Damit erfülle ich ein wichtiges Postulat der Existenzphilosophie, ganz nebenbei gesagt. Doch das ist unwichtig, wichtig bin nur ich selbst. Doch wer bin ich? Bin ich überhaupt eine Wahrheit? Sage, Charles, siehst Du MICH?“ Man kann sich vorstellen, dass ich stumm blieb. Meine Finger bearbeiteten ein Stück Brot. Eine konfuse Schwärmerei! „Und was willst du tun?“ fragte ich schliesslich. Um mich zu trösten, als wäre der Verlust auf meiner Seite und nicht auf der seinen, legte er mir die Hände auf die Schultern und sagte durch ein strahlendes Lächeln: „Ich werde der Liebling des Zukünftigen sein!" Immer noch schwieg ich, beklommen. Wäre mir in meinem Büro in London einer so vorbeigekommen, ich hätte ihn rausgeschmissen. Aber DIESER DA war mein Freund. Ich erkannte die Schwäche unserer Urteile: über den Unbekannten fallen sie zu früh, über den Freund zu spät. Hagenbusch, der meinen erstaunten Blick wohl bemerkt haben musste, rief: "Ich werde das Leben erfinden. Es gibt noch gar kein LEBEN! ARTE DIVINA! Jedem voraus sein, der mir begegnet, ganz inwendig, im Gegenstand meiner Transzendenz, und so der Welt abhandengekommen, ihr wirklich immanent sein, unangreifbar von aussen und unwiderlegbar von innen." Wenn ich gestehe, dass ich vexiert war, muss ich erklären, dass unser Verhältnis ein sonderbares ist. Meine erotische Neigung ihm gegenüber war ihm natürlich bekannt, und ich verheimlichte sie niemandem. Und nun spricht er, der sie mir nie erfüllt hat, plötzlich eine Sprache, die mich physisch treffen musste. Ich küsste ihn auf die Stirn und blickte ihm lange in sein schönes Gesicht mit den grossen Augen. Hagenbusch selbst hat später geschrieben: „In seiner ganzen unausgelüfteten Managergestalt war er erschüttert."

Der Liebling des Zukünftigen! Strebte er nach Ruhm? Womöglich nur ein raffinierter Kunstgriff, eine Selbsttäuschung, ein träumerischer Schwindel? Ich entschied es damals nicht."

Die beiden Freunde speisten gut. Hagenbusch schreibt in sein Tagebuch, an das er sich allmählich zu gewöhnen scheint: "Zuerst nahmen wir Hummersalat und Champagner. Dann Tournedos und Salate, die Gemüsebeilagen bestellten wir ab. Wein aus Santenay. Zum Nachtisch wie IMMER französische Käsesorten, schliesslich Himbeer-Soufflés und Cognac, Kaffee, Gebäck, ECHTEN Zitronenkuchen, Vin de Graves. - Das war ein Essen für Verliebte, die, weil's zu früh am Abend ist, ihre Zeit bis zur heure exquise mittels kulinarischer Keulen und Tomahawks totschlagen müssen, um nicht vorzeitig über einander herzufallen. So auch wir."

Am folgenden Morgen eröffnet Charles Classen das "Urteil". Natürlich war es salomonisch. Hagenbusch schreibt: "Das erste, was er mir sagte war, dass ich ihn äusserst beeindruckt hätte, ein Umstand, der mir leidtat, denn damit war ja wohl sein Urteilsvermögen kompromittiert. Ich warnte ihn mit der Bemerkung (in Wahrheit war ich geschmeichelt), dass er DAZU nicht hier wäre, er aber konterte mit der Eröffnung seiner Sentenz, und ich gestehe, dass mir ein Felsbrocken vom Herzen rollte, und dass es wohl noch keine so jähe Liebe zwischen zwei alten Freunden gegeben hat, wie die meine in diesem Augenblick!" Classen schreibt in "Many Times In Time": "Nun, ich gab ihm zu verstehen, was man einem Freund zu verstehen gibt, den keine Macht der Welt umstimmen kann. Ich sagte ihm, wenn er in Mailand sei, möge er daran denken, dass ich in London weile, und was er in Mailand unternehme, werde auch in London getan sein. Was auch immer ich in London darüber denke, würde ich auch in Mailand denken. Ich sagte, ich würde mit ihm sein, im Geiste und - wo nötig auch im Fleische. Ich sagte ihm, ich wünschte, dass er gehe, und zwar so bald als möglich, denn er habe in gewissem Sinne vollumfänglich recht. Dann gab ich ihm zu bedenken, dass Liebe oft die Kehrseite des Hasses ist - und meist nur das. Widrige Umstände könnten ihm die Liebe dahin verderben. Und dann bestehe wieder die Gefahr des blossen Freaking-out. Aber weder ER, noch ICH, noch sonst jemand von UNS werde jemals wieder Freak sein können! Ich sagte ihm auch, dass ich ihm Geld überweisen würde, sobald er es brauche, denn die Liebe ist ja das Kostspieligste in dieser Welt, mehr noch unter dem Mond als unter der Sonne. Nötigenfalls würde ich zu ihm stoßen - als Sancho zum Don." Aber Hagenbusch, seinerseits in zwiespältiger Freude, schrieb: "Ich schrie auf, ich war ganz verrückt. Doch war ein Stachel in mein Herz gesenkt: Ich hatte der pekuniären Seite zu viel Gehör geschenkt."

Michelangelo Antonioni hatte Hagenbusch 1988 in Montespertoli kennengelernt, und es war die Idee einer Verfilmung von Hagenbuschs Abenteuern in Mailand entstanden. In Antonionis unveröffentlichten Papieren finden sich über diesen Besuch folgende Notizen: "Die Geschichte, die er mir erzählte, war gut, wahr und langweilig. Der Standpunkt des Films verlangt entscheidende Korrekturen. Wir kamen überein, die Mailänder Zeit Hagenbuschs als Folie für eine neue Geschichte zu verwenden, für eine Geschichte, die hätte passieren können, und die gegenüber der Realität den Vorzug haben sollte, vom Zuschauer nachempfunden werden zu können. Anfänglich hatte ich die Idee, Hagenbuschs berühmtes Alibi, die Grenzkontrolle in Iselle, wo er sich unter dem Namen François Delby hatte registrieren und zusammen mit den Polizisten, die ihn nach Domodossola auf die Präfektur abführten, hatte fotografieren lassen, als die ALLEM wirklich zugrundeliegende Wahrheit zu nehmen und den Namen Hagenbusch als Pseudonym zu führen. Ergo: dem Alibi Glauben schenken. Aber das Experiment - wie ich es voraussehe – muss doch an der Grundlosigkeit eines derartigen Identitätswechsels zu Fall kommen, oder an den allzu fantastischen Konsequenzen eines solchen. H. bestand denn auch selbst nicht auf dieser Version, aber sie schien ihn zu amüsieren. Die Story eines jungen Mannes, der sich aus pekuniären Gründen als Graf ausgibt, ist zu trivial, um die Folie zu meinem letzten Film abgeben zu dürfen. Die andere Story eines existentiell verunsicherten Poeten und Philosophen, der sich als Hochstapler eine neue Biografie zulegt, schmeckt mir zu sehr nach Sartre und ist im Fall H.s überhaupt unmöglich. Und schliesslich die Geschichte eines Arztes erzählen, der sich in die Träume und Fantasien seiner kindlichen Wirklichkeit zurückzieht, mag ich nicht. Die Rechnung geht, wie auch immer gerechnet, nicht auf. Also landeten wir wieder beim Alibi als Alibi, was uns aber in gefährliche Nähe zur trivialen Spionagegeschichte rückt, die den "Fall" Hagenbusch nur unzureichend bis gar nicht erklärt. Das Faszinierende an H.s Geschichte ist, dass sie immer ein letztes Geheimnis birgt, würde sie diesen Schleier fallenlassen, wir hielten sie für unmöglich und stünden vor dem Rätsel einer Wirklichkeit, die eine fatale Ähnlichkeit mit einer Ohrfeige hat. Diese Überlegungen, und die langen Gespräche mit Hagenbusch brachten mich dazu, das Rätsel bestehen zu lassen, ja überhaupt nur im Hinblick auf dieses Rätsel zu inszenieren. Bis zum Ende des Films muss es unmöglich bleiben, eindeutig für oder wider eine Schande (und ein jedes Alibi wäre hier eine solche) zu entscheiden. Ich werde so, wie ich denke, Hagenbuschs Wirklichkeitsbegriff am gerechtesten. Es wird also zuerst darum gehen, das Alibi von Iselle filmisch als das vollkommene Rätsel darzustellen. Zweitens muss ein Schauspieler gefunden werden, der diese Zweideutigkeit, um die es hier geht, und wie ich sie jetzt persönlich an H. habe verifizieren können, als Möglichkeit in sich trägt. Wir entschieden uns für Gérard Depardieu, der schon früher zugesagt hatte, einen Part in einem meiner Filme zu übernehmen. Wir sind der Überzeugung, dass dieser durch seine spezifischen Überlieferungen und Begleitumstände schon im Original verfremdete Grenzübergang nicht nur symbolisch, sondern auch in Bezug auf die Wirklichkeit des Spiels von Depardieu gespielt werden könne."

Nach langwierigen Verhandlungen wurde schliesslich mit den ersten Aufnahmen in Sempione begonnen, noch bevor das Drehbuch recht eigentlich entstanden war.

Hagenbusch schreibt: "Gérard Depardieu fragte mich, wie dieser junge Arzt überhaupt dazu komme, eine solche Emigration ins Ungewisse zu Fuß zu unternehmen? Ich gab ihm zur Antwort, es müsse sich bei diesem Individuum um das romantische Exemplar eines geistigen Steppenwolfs gehandelt haben, dessen einzige Sorge die Onanie, dessen Ziel dementsprechend die Macht wäre, und dessen Geschmacklosigkeit sich in Form von Poemen und Metaphysik Geltung verschaffen wollte, anders könne ich mir die Sache nicht zusammenreimen, worauf mein Interpellant belustigt und befriedigt war, mich aber darum bat, nicht übungshalber onanieren zu müssen, was ich ihm natürlich ohne weiteres erließ. Wissen Sie, Gérard, sagte ich zu ihm, bei unserem besagten Narzissten, unserem François René Delby, handelt es sich um das eher komische Produkt dieser zwei besten aller Welten, friedlichsten aller Imperien und freiheitlichsten aller Philosophien: Geboren wurde er, sagen wir - und das erfinden wir nun gerade - in Karl Marx-Stadt am l3. August 1953, und er emigrierte im Gepäck seines Vaters, der Musiker in Leipzig war, als Baby nach Paris und lebte dort unter Kommunisten im Palais Duteuil in der Nähe der Seine. Von Natur aus besserwisserisch, und durch die diversen philosophischen Windeln schon früh äusserst gewitzt, begann der Winzling dann, seinen um ein Jahr jüngeren Bruder, den er auf diese karthagische Art bekommen hatte, mit logischen Lügen zu traktieren. Man muss sich diesen jungen Kuckuck vorstellen, wie er schon im Alter von zehn Jahren Ciceros Reden verschlingt, um sich den Charakter, der sich eben festigen will, wieder abzugewöhnen, wie er erotische, um nicht zu sagen, pornografische Erzeugnisse studiert, was seiner ödipalen und phallokratischen Natur den ersten Feinschliff verschafft - und dergleichen mehr. Stellen Sie sich einfach vor, Sie wären MICH, und Ihr Problem ist fürs Erste gelöst. Ich glaube, bei Ihren Fähigkeiten und Ihrem Lebenslauf dürfte Ihnen das nicht allzu schwerfallen!"

Drei Tage wurde auf dem Simplon auf besseres Wetter gewartet, und Depardieu konnte schliesslich in Delbys weißem Abendanzug die Wanderung vom Hospiz nach Sempione unter die Füße nehmen. Dort wird dann jener weinselige Abend gedreht, den Delby mit Ruggiero Calvi, dem Priester, seiner Famula Ginetta, dem Hausknecht und den beiden Brüdern des Prälaten verbracht hatte. "Einer der Brüder Calvis war Schmuggler, und so war der Gegenstand unserer Unterhaltung gegeben. Und ich war in der Lage, die ökonomische, moralische und schliesslich wissenschaftliche Notwendigkeit dieses edlen Handwerks sauber und elegant zu beweisen."

Am Grenzposten von Iselle erregt die grosse Filmequipe erhebliches Aufsehen. Ein Teil der Strasse wird von der Polizei für den Verkehr gesperrt. Der Polizeichef von Domodossola ist hier ebenso zugegen wie die beiden Polizisten, die Hagenbusch für sein Alibi missbraucht hatte. Das kam so: "Ich erschien damals völlig verschwitzt mitten in der Nacht in meinem weissen Abendanzug und ohne jedes Gepäck auf dem Grenzposten. Den Zöllnern war ich gleich so verdächtig, dass sie mich zur Überprüfung der Personalien in einer Polizeistreife nach Domodossola hinunterbringen liessen. Zwar stimmte die Fahrtrichtung, trotzdem war ich verärgert.

Beim "Ponte di Napoleone" hielt ich meine Chauffeure an, mich per pedes Apostolorum rüber zulassen, und sie willigten ein, neugierig darauf, ob ich mich von der Brüstung schwingen, oder einem versteckten Schmuggler ein Signal geben würde. In einigem Abstand folgten mir zwei Polizisten zu Fuß, während der dritte den Wagen auf die andere Seite fuhr, um uns dort in Empfang zu nehmen. Zur allgemeinen Enttäuschung zitierte ich auf der höchsten Stelle des Brückenbogens ein Gedicht und murmelte ein paar berühmte Namen, deren Träger einst diese Stelle passiert hatten.

Von da an war ich meinen Bewachern harmlos, und wir schieden in Domodossola in pace, nicht ohne vorher ein Gruppenbild mit Akteneintrag gemacht zu haben, den ich großzügig unterschrieb."

Diese Szenen werden nun mit den Originalpolizisten und dem sich peinlich an die Anweisungen haltenden Depardieu auf Celluloid gebannt, während Hagenbusch im Wagen des Präfekten hinterherfährt und in der Prefettura Champagner trinkt. Die Sache scheint ihn ausserordentlich zu amüsieren. Nach einem Toast auf die Grenzpolizei eröffnet er zum Gaudi der Beamten und zum Entzücken Antonionis: "Kaum hatte ich Sie verlassen, Signori, bog ich auf das Festgelände des Partito Communista Italiano ein und ließ mich mit russischen Essenzen volllaufen. Die compagni hielten mich für einen compagno straniero un po' matto e troppo, molto troppo pensieroso. Ich hatte dieser Definition nichts beizufügen als eben, dass ich nachher kata sarka zu wenig pensieroso compagno straniero war, molto più als ich wollte! Eine unrühmliche Hurengeschichte mit einer Genossin auf einer nächtlichen Bank im Park hinter dem Festlokal, die per cosi dire, penitentiale Folgen zeitigte."

Bei fantastischem Herbstwetter fährt der Konvoi der fünf Fahrzeuge von Antonionis Equipe von Domodossola aus nach Stresa: "Es war beinahe hochsommerlich heiß, heißer als DAMALS, fabelhaft blau, blau in allen Abstufungen, vom tiefen Blau des Himmels bis zum Graublau der Felsen, vom Violett ferner Kastanienwälder bis zum schillernden Türkis des Toce, dessen Lauf wir verschiedene Male erblickten oder kreuzten." Kurz vor Mergozzo werden die Wagen von einer Polizeistreife überholt und angehalten. Ein in schwarzes Leder gekleideter Polizist erscheint lächelnd vor Hagenbuschs heruntergekurbeltem Wagenfenster und legt die Hand grüßend an den Schirm seiner funkelnagelneuen Mütze.

Herr Graf! Eine Depesche für Sie. Als sie bei uns in Domodossola eintraf, waren Sie bereits weggefahren. Bitte, entschuldigen Sie den Unterbruch der Fahrt, aber die Sache scheint von höchster Dringlichkeit!

"Wenn ich je etwas gehasst habe", notiert Hagenbusch später in sein Tagebuch über diesen Zwischenfall, "dann waren es diese Eilzustellungen. Eine Depesche ist nur dann entschuldigt, wenn sie das Duell des Lebens ankündigt und jene geliebte Dollar-Rune trägt, die so weise das Symbol der Ärzte und der Heilung ist. Der mir vor Mergozzo zugestellte Telex Auszug allerdings war von anderer Natur, und ich gestehe, dass mir einen Augenblick alles Blut aus dem Kopfe wich. Antonioni musste dies wahrgenommen haben, und rücksichtsvoll stieg er aus dem Wagen, um sich an der benzingeschwängerten Luft der Landstraße die Beine zu vertreten."

Was Hagenbusch las, muss wie ein Keulenschlag auf ihn gewirkt haben. Der Polizist wartete neben dem Wagenfenster und zog eine frische Tageszeitung aus dem Jackett, während Hagenbusch die Nachricht studierte.

"Der Prätorianer fummelte an einer Zeitung herum, und ich las. Die Botschaft war von römischer Kürze und für jeden Eingeweihten niederschmetternd. Sie enthielt die Aufforderung, übermorgen um drei Uhr nachmittags in der Sixtinischen Kapelle des Vatikans an einer gemeinsamen Betrachtung von Michelangelos Jüngstem Gericht teilzunehmen. Gezeichnet: Colmann. Es war besonders dieser Name, welcher meinem Wohlbefinden augenblicklich ein Ende bereitete und der Ordnung in meinen Eingeweiden abträglich war. Überdies befanden wir uns unweit jener Stelle, an welcher ich wurde, was ich heute bin, und ich gestehe, daran gedacht zu haben, diesen seligen Ort in die finsterste Hölle zu verdammen, und das auf ihm geschehene Verbrechen im Hinblick auf eine neue Identität, die ich plötzlich dringend benötigte, zu sühnen." Geistesabwesend ergriff Hagenbusch jene Zeitung, die ihm der Polizist entgegenstreckte, und faltete sie auseinander. Antonioni rauchte ein paar Meter vom Wagen entfernt eine Zigarre und unterhielt sich mit den ebenfalls ausgestiegenen Mitgliedern seiner Kameraequipe. Hagenbuschs eitler Chauffeur, kaugummikauend wie immer, begann, sich mittels eines Gels die schwarzen Haare nach hinten zu frisieren, während er mit der linken Hand den Außenspiegel entsprechend einstellte.

"Die Frontseite der Zeitung brachte den Sensationsbericht über den gerade aufgeflogenen Skandal um Umberto Salernino, der sich dann binnen Tagen zu einer nationalen Krise auswuchs. Mir war blitzartig klar, dass ich in höchster Gefahr schwebte."

Was war geschehen? Die Zeitung berichtete von einem Riesenskandal in Süditalien. Die Polizei befand sich bereits auf höchster Alarmstufe, als bekannt wurde, dass die Mafia auf die Ankündigung der Justiz, eine beispiellose Kampagne gegen die Umtriebe des organisierten Verbrechens in den süditalienischen Zentren zu starten, ihrerseits mit einer Mordserie drohte, die auch höchste Beamte nicht verschonen werde. Der Staat schien gewillt, sich der Herausforderung der Mafia zu stellen, aber es standen Wahlen vor der Tür." Der eigentliche Kern der Enthüllung war jedoch die Nachricht, dass einer der Hauptschuldigen in der vor zwei Tagen aufgeflogenen Betrugsaffäre gefasst worden sei. Ersten, beglaubigten Angaben zufolge soll die Deliktsumme eine halbe Milliarde Dollar erreicht haben, eine astronomische Zahl, welche die Bedeutung des Skandals unterstrich. Salernino hatte im Gefängnis offenbar ausgesagt, dass die Taktik des Betrugs auf der raffinierten Vorspiegelung erfundener, anderer Betrüge beruht habe, und dass die Strategen der Mafia ein Szenario ausgearbeitet hätten, das in der Geschichte krimineller Ingeniosität seinesgleichen nicht habe. Der Betrug war, nach den Angaben Salerninos, der zwei Tage später in seiner Zelle erhängt aufgefunden wurde, so aufgebaut, dass die Betrogenen, allesamt mit der Mafia verfilzt, um ihre eigenen, von jenen verborgenen Strategen unterstützten Betrugsaffären betrogen wurden. Die Nennung der Hauptschuldigen machte Salernino allerdings von gewissen Bedingungen abhängig, ein entscheidender Fehler, gewann die Mafia doch so Zeit und Mittel, ihn im Gefängnis zu ermorden.

"Die Vergangenheit hatte mich eingeholt, und am Fenster meines Wagens stand ein als Polizist verkleideter Camorrist. Die Zeitung, die er mir zusteckte, berichtete ohne Zweifel über meinen bevorstehenden Untergang. Während jener Telex Streifen ein Treffen in Aussicht stellte, welches mir noch eine Minute zuvor nichts als Brechreiz verursacht hatte. So wie die Sache nun stand, wies die Botschaft Colmanns jedoch Züge göttlicher Gnade auf, und eine Weile kam es mir vor, als hielte ich nicht ein Stück Papier, sondern einen Zipfel vom Turiner Grablinnen in Händen, mit dessen gesegneter Hilfe ich die unvermeidlichen Schweißperlen von der Stirne tupfte. Wieder einmal war mir eindrücklich vor Augen geführt worden, wie sehr es im Leben auf die Reihenfolge des Unglücks ankommt, und dass das Glück nur darin besteht, die richtige zu erwischen."

Der Leser mag bereits überfordert sein. Ich kann ihm hier keinen anderen Rat geben, als die Geschichte Hagenbuschs zu Ende zu lesen. Der Leser - und mit ihm die Filmequipe Antonionis - glauben sich kurz vor den entscheidenden Ereignissen von Mergozzo. Für Hagenbusch selbst beginnt hier bereits ein neues Kapitel, und er weiss, dass die Nähe jenes Ortes kein Zufall ist. Zu genau kennt er seine Feinde - und sie ihn. Hören wir aber zunächst, wie sich die Geschichte weiterentwickelt, die zu diesem Zeitpunkt im Grunde genommen noch gar nicht begonnen hat. Kurz nach Mergozzo biegt der Konvoi der fünf Wagen in eine grössere Erlenplantage ein und nähert sich dem Ufer des Toce. Hier war vor drei Jahren aus Delby Hagenbusch geworden. Maske gegen Maske. Spiel im Spiel. Aus einem Menschen mit Pass und Identität, Vergangenheit und Sprache geschieht durch das Wunder der Wandlung, durch das Heilige Sakrament einer überraschenden geistigen Taufe das Unmögliche: Es entsteht ein neuer Mensch, ein leeres, unbeschriebenes Blatt erzwingt einen Neubeginn der Biografie, deren Vergangenheit erst noch heranzureifen hat, in der Zukunft, und diese selbst ist schon jetzt nichts als Vergangenheit. Depardieu legt sich ins Gras des von Abfällen übersäten Ufers am blauschimmernden Wasser und schläft ein. Die Rolle des Morpheus übernimmt das Rohypnol und macht das Schwierige leicht. Während der Akteur seiner ruhigen Tätigkeit überlassen ist, verfolgt durch das gierige Auge einer portablen Kamera, setzt man sich zwischen die schlanken Stämme der Erlen und beißt in die mitgebrachten Köstlichkeiten und lässt den Wein über den runden Mäulern der Kristallgläser kreisen3.

Hagenbusch und Antonioni begeben sich abseits der Gruppe, sie erreichen auf ihrem Spaziergang eine kleine Bar an der Landstraße, setzen sich und trinken Espresso. Antonioni schreibt: "Die Szene am Fluss beschäftigte mich sehr, nicht zuletzt, weil sie schlicht und einfach nicht zu spielen ist, und doch liegt in ihr der Schlüssel zu Hagenbuschs Geschichte. Wir unterhielten uns lange über weiss der Himmel was, aber über das, was uns beide interessierte, sagten wir kein Wort. Warum bin ich so versessen auf diese Geschichte? Was fasziniert mich an H. eigentlich? Ich verabscheue ihn, und doch bin ich ihm mit Haut und Haaren verfallen. Wahrscheinlich ist er ein Verbrecher. Zugleich Kind und Greis ist er zu allem fähig. Kurienkardinal, Autohändler und Regisseur, alles hätte er sein können, und doch war da jenes gewisse Etwas, das den Kartenspieler kennzeichnet, wenn er aus Leidenschaft spielt, eine überhebliche Amoralität, Tollkühnheit, ein nur notdürftig verborgener religiöser Fanatismus ohne Gott. Kaum hatte ich so gedacht, ließ er, als habe er mich durchschaut, eine Bemerkung fallen, die mich aufs Höchste irritierte.

Kennen Sie jene rührende Geschichte vom Kult der Vernunft im Jahre 1793, fragte er mich, mit alleswissendem Blick. Als ich erwartungsgemäß verneinte, fuhr er fort: Der Konvent war gerade dabei, über die Einsetzung des Revolutionären Gerichts zu beraten, das sich später zum eigentlichen Instrument der Terrorherrschaft entwickeln sollte, als die Vernunft mit einem Gefolge unschuldiger Mädchen den Saal betrat. Auf Antrag Dantons entschloss man sich spontan, ihr einen Gegenbesuch in der Notre Dame abzustatten. Der deutsche Philosoph Clootz, damals Vorsitzender im Jakobinerclub, rief begeistert aus: Zwietracht, Hader und Sektiererei verblassen vor der Einheit und Unteilbarkeit der Vernunft! Und Romme, Vorsitzender des Konvents, ein Mathematiker, soll angeordnet haben, der Vernunft als drittes Prädikat die Unwandelbarkeit zuzuerkennen, worauf er von einem Bischof gefragt wurde, ob er etwa die Ewigkeit dekretieren wolle? Romme - und dies scheint mir ins Zentrum der menschlichen Vernunft selbst zu zielen, gab naiv-enthusiastisch zur Antwort: Gewiss! Hagenbusch lächelte. Sehen Sie, Michelangelo, den Trick? Trick? fragte ich verblüfft. In meinen Augen hatten Romme und Clootz gehandelt wie alle fanatischen Metaphysiker. Mit einem Zug grenzenlosen Mitleids wandte mir H. sein Gesicht zu und erwiderte: Michelangelo! Sie sind noch lange nicht bereit, mein Geheimnis zu verstehen. SIE sind der Träumer, während es sich herausstellt, dass ICH der Realist bin."

Man gestatte an dieser Stelle dem Biografen die Öffnung einer Klammer.

Das Portrait eines Genies. Man hat es tausend Male versucht. Fast immer aber handelte es sich zuletzt bei den beschriebenen Genies um Menschen, deren Genialität in Ausdrücken der Leistung, der Produktivität, in Superlativen gemessen worden ist. Ein Genie ist ein Mensch, der in so und so kurzer Zeit so und so viel so und so Gutes, von dem man "weiss", dass es gut ist, hervorgebracht hat. Ein Genie ist ein Mensch, für den in den Augen des posthumen Publikums nur Ausnahmegesetze Gültigkeit haben, nachdem er im Leben mit allen bürgerlichen Trivialitäten fertiggemacht worden ist. Kurz und gut: Genies sind in der Regel Menschen, nach deren endlichem Ableben man kurz aufatmet - um dann tausend Jahre lang in den unerhörtesten und schamlosesten Erinnerungen zu schwelgen. Diese posthume Geniesucht geht gelegentlich so weit, wie zum Beispiel bei Mozart, dass sogar animalische Notwendigkeiten wie Huren und Furzen dort Ausdruck unbändigen Freiheitsstrebens und schillerndster Persönlichkeit werden. In einer Art Gleichgewicht des Schreckens balancieren sich hier die primitivsten mit den sublimsten menschlichen Regungen wunderbar aus. Einem, der die Jupitersymphonie und den Don Giovanni komponieren konnte, werden selbst stundenlange Widerlichkeiten zugestanden und gelten sogar gelegentlich als genialische Notwendigkeiten. Aber, o Wunder! trotz des augenscheinlichen Beispiels der menschlichen Souveränität, die uns derartige Genies geben, hat man noch nie etwas von einem Lerneffekt gehört, den solche Beispiele in unseren bürgerlichen Gehirnen längst haben sollten. Mit mathematischer Unerbittlichkeit beweisen wir tagtäglich im Umgang mit unserer Umgebung und unseren Kindern nur den tiefen Satz aus dem Evangelium: Der Prophet gilt im eigenen Lande nichts! Es wird kein Leser dieses Kapitels die Kühnheit besitzen zu behaupten, dass er in seinem Sohn oder in seiner Tochter ein Genie zu erkennen imstande wäre, bevor diese nicht ihre Lehre oder ihr Hochschulstudium abgeschlossen und danach mindestens zehn Jahre lang bewiesen haben, dass sie dem bürgerlichen Leistungsbegriff ohne seelischen Schaden zu genügen vermögen. Mit anderen Worten: Es ist wohl ganz und gar ausgeschlossen, dass Genies von Menschen erkannt werden, die den konkreten Einzelnen kennen, in dem sie das Genie erblicken sollen. Am allerwenigsten werden die zu einer Erleuchtung befähigt sein, die sich intensiv mit Werk und Leben von anerkannten Genies auseinandergesetzt haben. Ein anerkanntes Genie besteht natürlicherweise vor allem aus seinem Werk. Und nur vor dem Hintergrund dieses Werks wird das Typische dieses Menschen erst so richtig genialisch. Wo aber das Werk fehlt, fehlt auch die Kulisse - und das Theaterstück kann nicht gespielt werden. Es ist eine Trivialität, dass am Anfang einer Laufbahn ein solches Werk zu fehlen pflegt. Aber, was wollen wir wetten? Findet sich in Ihrer Umgebung ein Genie - indem wir unterstellen, Ihre Umgebung sei Ihnen überhaupt bekannt -, und steht es am Anfang seiner Laufbahn, sind Sie mit Sicherheit der Allererste, der ihm das Fehlen irgendeines Werkes zum Vorwurf machen wird. Wir alle würden so reagieren, denn es ist eben menschlich, so zu reagieren. Wir fragen mit Recht: Woran sollen wir denn um alles in der Welt erkennen, dass unser Mitmensch geniale Züge aufweist, wenn er uns nicht ein Werk vorlegt, aus dem diese Genialität heraustrompetet? Ein Genie muss etwas von einem Josua haben, und zwar einfach darum, weil unser Name Jericho ist! Mit andern Worten: Unser ganzes Genie-Studium reicht nicht aus, um uns ein Genie zu zeigen, wenn es noch kein Werk zustande gebracht hat. Selbstverständlich liefern wir da im Nebenschluss den glatten Beweis unserer eigenen Mediokrität. Denn umgekehrt ist wahrscheinlich noch nie ein Genie von einem andern verkannt worden. Was aussieht wie ein Verkennen, ist in Wahrheit das Resultat des Messens mit unendlich viel feineren Maßstäben, wie sie unter den Genies üblich sind, und wie wir sie gar nicht zu handhaben verstehen. So kommt es, dass ein absolutes Genie wie Friedrich Hölderlin von ebensolchen Genies - Goethe und Schiller -, oberflächlich betrachtet, verkannt worden ist. Wenn wir aber selber tiefer sehen, entdecken wir ganz anderes Parkett, ganz anderen Stil, ganz andere Etikette, auf, in und mit denen die Begegnung stattgefunden hat. Das ist ein eigenartiges Gesetz: Je genialer ein Mensch ist, desto härter wird er von den Mitgenies beurteilt, denn sie alle bilden eine Gesellschaft der Geister, die von der unsrigen etwa so verschieden ist wie einst der Versailler Hof von der Gesellschaft der Pariser Bourgeoisie, und fällt ein Genie in dieser Geistessozietät durch, so fällt es auch in der Gesellschaft der Mittelmäßigen durch. Das ist etwas, was man zunächst nicht erwarten würde. Aber es ist so, dass ein von den maßgebenden Zeitgenossen nicht anerkannter Geist auch von den sogenannt gewöhnlichen Menschen nicht anerkannt wird, obschon es diesen Menschen unmöglich ist, die Kriterien der Maßgebenden zu verstehen. Und ist es nicht auch in der Wissenschaft genau gleich? Wenn ein Herzspezialist aus der Corona der vier bis fünf weltbesten Herzspezialisten ausgestoßen wird, wird er bis hinunter zum Straßenkehrer verlacht. Aber kein Nichtmediziner wäre auch nur annähernd in der Lage, die wirklichen Vorfälle und Kriterien zu ergründen, die zum Sturz dieses Grossen geführt haben. Hier zeigt sich denn ein anderes, ein politisches Gesetz unter Menschen: Gewöhnliche Menschen reagieren immer despotisch! Sie reagieren so, als hätten sie nie jemandem gegenüber über ihre Handlungen und Gedanken echte Rechenschaft abzugeben. Das sogenannte Fußvolk hat noch niemals in der gesamten Menschheitsgeschichte demokratisch reagiert. Niemand weiss das besser als gefallene Grosse! Aber es ist ganz falsch, wenn man hier in gewisser linker Tendenz von einer Rache der Kleineren an den Grösseren spricht. Es handelt sich bei dem erwähnten Phänomen nicht um das der an sich verständlichen Rache an Menschen, die vorgeben, mehr zu sein als alle anderen, sondern ausschliesslich um das Phänomen der Unmündigkeit aller Mediokrität. Es ist noch nie vorgekommen, dass ein mittelmäßiger Mensch aus unseren Reihen zu der einfachen Handlung fähig gewesen wäre, etwas von sich aus zu behaupten, was nicht auf irgendeine Weise auf eine der inthronisierten Gesellschaftswahrheiten zurückgeführt werden könnte, in denen wir buchstäblich versaufen. Selbst die nicht so sinnlose und trotzige Behauptung, es gebe gar keine Genies, ist nur eine solche, inthronisierte, gesellschaftliche Halbwahrheit, zu deren öffentlicher Verwendung es keines besonderen Wagemutes und überhaupt keiner Originalität bedarf. Und ich glaube, hier sind wir beim Kernpunkt unserer kleinen Theorie des Genies angelangt. Das Genie wird darum schwerlich erkannt werden, weil diejenigen, die es erkennen sollten, unmündig sind. Umgekehrt lässt sich sagen, dass Mündigkeit die erste Bedingung von Genie ist. Es gibt kein unmündiges Genie. Jedes Genie - und wäre es selbst das Genie Stalins - gründet zuallererst in der vollkommenen Mündigkeit und damit Losgelöstheit von allen primären Bindungen, die immer Machtbindungen sind, und es zeigt sich als eine verletzende Form von Souveränität, von Hochmut, von Amoralität und von Liebesfähigkeit. Und hier liegt wiederum ein neuer, wunderbarer Zusammenhang: Bei einem Genie - und nur bei ihm - gehen Amoralität und Hochmut mit Liebeskraft einher und bilden jenes vielbestaunte und nie wirklich durchschautes Gespann aus sterblichen und unsterblichen Rossen, die den Streitwagen genialer Lebensform durch den Äther ziehen wie die Sonnenpferde einst jenen Phaetons. Das traurige Schicksal Phaetons ist dem Gebildeten bekannt. Es wäre allzu trivial, darauf hinzuweisen, dass es das Schicksal sämtlicher Genies - mit der Ausnahme Goethes - ist. Und man wird sich nach dreitausend Jahren ewiger Wiederholung des Mythos von Phaeton langsam fragen dürfen, ob es denn heute überhaupt noch irgendeine Berechtigung für eine nochmalige Beschreibung derselben Geschichte gebe? Die Welt hat genug Genies gehabt, sie ist ihrer müde. Es ist mit ihnen doch immer das gleiche. Da sollen wir das Leben eines für uns Unerreichbaren bestaunen, und die Schmerzen, die das Genie unseren Mitgenossen zufügt, sollen wir vergessen. Für viele Menschen ist das heute bereits eine zu grosse Zumutung. Ist nicht die Geschichte der Unmündigen unendlich interessanter? Sind die Perversionen und der Hochmut der Mittelmäßigen nicht ein ganz anderes Gewürz als jene von Menschen, die uns ewig überlegen sein müssen? Die Frage ist ja heute mehr als nur aufdringlich gestellt: Was ist pikanter, das Liebesleben Franz Liszts oder jenes unseres Wohnungsnachbarn? Die Frage wurde längst zugunsten unseres Nachbarn beantwortet. Sie werden auch nach tagelangem Suchen keine pornografische Darstellung Mozarts finden, jederzeit aber das pornografische Lebens Herrn Meiers und Frau Müllers! Denn man hat EINES gemerkt: Die Kombination von Amoralität, Hochmut und Liebeskraft, wie wir sie dem Genie zugeschrieben haben, ist letzten Endes trotz allem idealisch, ja vielleicht sogar "gut" - und gerade darum vollkommen uninteressant für Menschen, die sich aus der Schlinge des Hasses nicht mehr befreien können und deshalb alles Idealische verachten, weil es ihres Erachtens keine Wirklichkeit besitze. Interessant hingegen ist die Darstellung des Amoralischen beim Voyeur, das heisst beim Menschen, der vom Objekt seiner Liebe durch die Schranke des Hasses getrennt ist. Interessant ist der pornografische Liebeskampf zweier Menschen, die von einander nichts mehr wissen wollen, weil es nichts Wissenswertes mehr gibt, oder vielmehr, weil das Wissenswerte mit dem Ende des Voyeurismus verbunden wäre - und damit mit wahrer Liebe. Solche aber braucht Kraft. Und gerade auf Kraft will der Mediokre am leichtesten verzichten können. Das ist ja gerade das Erregende, dass der Schwache, der Hässliche, der Unmögliche nur kraft seines Sexualorgans die sublimsten Früchte der Schönheit und der Stärke geniessen kann, ohne dass dagegen alles Starke etwas unternehmen dürfte! Wow! Der Voyeur ist das vollkommene Gegenteil des Genies. Ist sein Antipode. Der Voyeur hat die Mündigkeit ad acta gelegt, er hat es endgültig aufgegeben, sein Gegenüber wirklich zu verstehen. Er will gar keinen Raum für eine Begegnung zweier Menschen mehr schaffen, er will ihn nicht mehr schaffen müssen. Der Voyeur ist wie der Dieb, das einzige, was er unternimmt, um an das Geld zu kommen ist, dass er eine Scheibe einschlägt oder ein Schloss aufbricht. Aber er arbeitet nicht, er bleibt untätig und beschäftigt seinen Geist mit Gedanken an das sogenannte perfekte Verbrechen, welches keine Spuren hinterlässt. Dieses Phänomen ist heute nicht nur im Bereich pornografischer Erzeugnisse weltweit verbreitet, sondern begegnet uns überall und in jeder Art menschlicher Tätigkeit. Wenn die Mediokren anfangen, sich wie Genies zu benehmen, entsteht ein Wust aus Rechten und Forderungen und Anfragen, ein ungeheures Chaos aus Schwächen, die sich das Starke unterwerfen. Und gleichzeitig entsteht auch das notwendige System der Absicherung dieses Chaos gegen jeden Eingriff von aussen. Es entsteht der gordische Knoten sich selbst erfüllender Prophezeiungen. Wie wir alle von uns selbst nur zu genau wissen, beruht unsere Neigung zum Voyeurismus, die eine typisch bürgerliche ist, auf dem fatalen Umstand, dass wir nicht lieben können. Zugleich wissen wir auch warum: Wir wollen nichts mehr wagen! Es ist das traurige Los eines Geistesgestörten, der sein Haus nicht mehr verlassen will. Man soll uns nicht mehr entdecken. Es ist tatsächlich so: Alle Mediokrität und aller Voyeurismus fallen augenblicklich von uns ab, wenn wir zu lieben beginnen. Aber wann - seien wir ehrlich - haben wir denn je wahrhaft geliebt und nicht bloss erotisch parasitiert? Ist das, was wir Liebe nennen in unserem Fall wirklich jemals auch nur eine Sekunde lang wahre Liebe gewesen? Oder sind wir nicht auf der ersten aller Untiefen aufgefahren, die da den Namen "Besitz" trägt? War unsere sogenannte Liebe denn mehr als die Chimäre aus Eifersucht, Gier und Sexualität? Und war unsere Zärtlichkeit etwas anderes als die unbeschreibliche Wonne, was wir endlich besassen, dafür zu belohnen, dass es sich uns unterworfen hatte? Wir wollen uns nichts vormachen, denn geliebt haben wir nie. Und wir sind nie geliebt worden! Trivial wie alle unsere Gefühle sind, waren wir schon sehr geschmeichelt, wenn man uns begehrte. Und wir hielten es für den Gipfel der Leistung, wenn wir jemanden begehrt haben. Und wir hielten es für den Gipfel der Arroganz, wenn die Person unserem Begehren nicht entsprochen hat. Wir waren die Zwerge, die geglaubt haben, sie wären Riesen, nur weil in der Abenddämmerung eines grossen Tages ihre Schatten riesengroß wurden. Wir haben verletzt, mit Worten und mit den kleinen Messerchen geheuchelter Gefühle, an deren Existenz wir am Ende selbst geglaubt haben. Wir haben den unnötigsten Kampf gekämpft. Wie die Insassen eines Invalidenheims wurden wir zornig aufeinander und fuhren in unseren Rollstühlen aufeinander los und kippten den einen oder anderen die Treppe hinunter. Wir konnten uns das leisten, denn da waren ja stets unsere Helfer, die Pfleger und die wirklich Mündigen, die den Schaden, den wir anrichten mussten, um unsere Selbstachtung wiederzugewinnen, beheben konnten. Und dafür waren diese Helfer und Pfleger ja schliesslich auch angestellt. Und wenn sich hie und da der eine oder die andere von uns in solch ein Helferwesen verliebt hat, verbaten wir uns eine Zurückweisung unserer Gefühle mit dem Argument, eine solche Zurückweisung erfolge ja nur darum, weil wir invalide seien, und sie sei darum recht eigentlich eine elitäre Reaktion, die wir niemals zu akzeptieren vermochten. Wir prägten den inzwischen überbekannten Slogan, dass die Normalen die Behinderten seien, und den fanden wir originell. Wir haben es eigentlich immer geglaubt, weil wir sonst vor uns selbst keine Achtung mehr empfinden konnten. Denn wir handeln immer in Notwehr. Und alles, was an uns geschah und geschieht und geschehen wird, ist nichts als Notzucht. Wir sind die Opfer der Gewalt derer, die noch im Vollbesitz ihrer Kräfte sind. Wir sind die eigentlich Verkannten dieser Erde. Und wir würden ewig verkannt bleiben, selbst wenn wir Werke hinterlassen könnten. Wir sind zwar in diesem Punkt immer ehrlich gewesen und haben nie geglaubt, wir wären Genies, aber weil wir keine Genies sind, sind auch die Andern keine. Denn warum sollte einer ein Genie sein, nur weil er im Vollbesitz seiner Souveränität ist?

Hass war und ist unser tägliches Zahlungsmittel. Weil wir uns mit nichts abfinden können, findet sich auch niemand mit uns ab, und wir waren und sind genötigt, uns mit Hilfe des Hasses zu wehren. Aber wir haben dieses Schwert nie richtig zu führen gelernt. Wie alle Kinder waren wir der Ansicht, das müsse man nicht lernen. Überhaupt hatten wir nie Gefühle, in denen wir wirklich ganz enthalten waren. Und wie die Buddhisten sagen, aßen wir, ohne zu essen, liebten wir, ohne zu lieben, arbeiteten wir, ohne zu arbeiten - immer waren wir nicht "bei der Sache selbst", nicht "da". Wir haben nur immer gross davon geredet, man möge kommen und uns bei der Arbeit zusehen, dann werde man endlich lernen, was Arbeiten heisst. Wenn dann durch irgendeine unverzeihliche Torheit einer gekommen ist, um unserer Aufforderung Folge zu leisten, taten wir so, als würden wir WIRKLICH arbeiten und haben dabei gemerkt, dass wir weder vorher noch jetzt WIRKLICH gearbeitet haben, dass wir immer nur so getan haben, "als ob" - und wenn es tatsächlich ernst geworden wäre, hätte man uns schon nach zwei Minuten derart erschöpft gefunden, dass zwei Monate Erholung nicht ausgereicht haben würden, uns zu rekuperieren. Aber es ist bis heute mit den meisten von uns nie so weit gekommen. Und wer wüsste denn besser als Sie und ich, dass wir zur Absicherung vor unnötiger Aufdeckung unserer Unmündigkeit das System des bürgerlichen Anstands ins Leben gerufen haben! Einen von uns des Voyeurismus zu bezichtigen, ist ebenso verwerflich, wie einen Geschlechtskranken öffentlich anzuprangern. Es ist eine profunde Einsicht der angelsächsischen Denker, dass es keine Wahrheit gibt, sondern bloss Konventionen. Nur das Genie kann wagen, die Wahrheit, die es nicht gibt, in eine konventionelle Form zu zwingen, dabei aber geht es zugrunde - und wird unsterblich zugleich.

So sind denn alle genialen Dinge dieser Welt Unmöglichkeiten in der Form konventioneller Möglichkeit. Jedes Kunstwerk ist etwas absolut Unmögliches, aber, da es ein Werk ist, liegt es vor und kann erkannt werden. Aber es fehlt uns dafür die exakte Bezeichnung, weil es immer das Unmögliche bleibt, das es war. Die Menschen haben sich im Laufe der Äonen daran gewöhnt, dass das Unmögliche möglich wird, sie haben sich an Genies gewöhnt. Die Welt hat das Genie "angestellt". Das ist eine grosse Ehre. Denn es besagt so viel - um mit Hagenbuschs Worten zu reden -, "als dass der Teufel die Überlegenheit Gottes auch in der Hölle anerkannt hat. Auch in der Hölle hängt das Kruzifix, auch in den ewigen Feuern wird die Messe gelesen und das Evangelium zitiert. Und umgekehrt lodert auch im Himmel das Feuer der Verdammnis und glühen die Kohlen der Versuchung."

Damit will ich diese Klammer wieder schließen.

Nun, die Fülle der Aufzeichnungen, die das Ereignis am Toce beschreiben, ist enorm. Hagenbusch selbst hat eine kleine Novelle verfasst, die von Aldo Chiesa zu einem Hörspiel umgeschrieben wurde und diverse Male von italienischen Sendern ausgestrahlt worden ist. Unsere hier wiedergegebenen Textstücke entstammen jedoch den Tagebuchnotizen Hagenbuschs. Insgesamt haben über fünf Autoren eingehender über die Szene geschrieben, die meisten in ihren Hagenbuschbiografien. Es liegen auch zwei Dissertationen zum Thema vor. In der Habilitationsschrift des japanischen Germanisten und Professors für Weltliteratur an der Universität Kyoto, Yen Dyo, findet sich ein Vergleich der philosophischen Ideen Hagenbuschs mit den Lehren des Zen-Buddhismus. Aber das sei nur am Rande erwähnt.

Nachdem die Szenen am Toce etliche Male gedreht worden waren, brach man noch gerade rechtzeitig auf, um einem Gewitter auszuweichen, das die Wiesen am Fluss in einen Sumpf verwandelte. Die Equipe nimmt Zuflucht zu einem Grotto an der Hauptstraße.

Hagenbusch, der vorausfuhr, erreicht am Abend die Borromeischen Inseln mit dem Kursschiff. In dem von Antonioni gemieteten Gebäude - ein kleiner, asymmetrisch gebauter Palazzo mit ein paar prächtigen Terrassen und einer winzigen Schifflände, war alles totenstill. Die Equipe, und damit der Lärm, sollten erst in ein bis zwei Stunden eintreffen. Hagenbusch setzt sich auf eine der rot bekiesten Terrassen und kritzelt ein Gedicht auf ein Blatt Papier, das auf dem weiss gestrichenen Gartenmöbel liegt: „Ich war unendlich traurig. Mein Leben ist selbst dann, wenn ich die Wahrheit erzähle, eine einzige Lüge. In meiner Melancholie, die, wie gesagt, schon eher Verzweiflung ist, schrieb ich ein Gedichtehen in der Art meiner venezianischen, kam aber damit nicht zuwege und warf es achtlos auf den Kies. Die Ameisen, die über das Blatt krochen, hätten also ein sentimental-schlechtes Poem lesen können, wäre ihnen nur mehr Distanz zu den Dingen dieser Welt möglich:

This lake, the Maggiore

Golden rings and dreams,

Dreams in garden's last fiore,

Dumb and deaf, and creams

In waves of blue colore.

Morning! Easy sight!

Clouds arise off shore

And fly that flight

And turn no more

To place and site.

The island ‘s burning!

Sun comes and looms!

The hour ‘s turning

We eat with forks and spoons

What's up this morning.

But all day is over!

Heart and lake

I got tobe the rover

Jump in boat and wake

The coast of nowhere.