Hallo, ich lebe noch! - Stephanie Witt-Loers - E-Book

Hallo, ich lebe noch! E-Book

Stephanie Witt-Loers

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Beschreibung

Familien werden durch den Tod oder die lebensbedrohliche Krankheit eines Kindes massiv erschüttert. Die komplexen Auswirkungen eines solchen Verlusts fordern Anpassung an die neue Lebenssituation und prägen auch die Trauerprozesse der gesunden Geschwister. Sie gehören zu den Trauernden, die im privaten, psychosozialen, psychotherapeutischen und präventiven Bereich häufig zu wenig in den Blick genommen werden. Ihre Bedürfnisse in der Familie und in ihrem sozialen Umfeld werden nicht oder viel zu wenig wahrgenommen, wenn die Schwester oder der Bruder schwer erkrankt oder gestorben ist. Trauernde Geschwister im Kindes- und Jugendalter benötigen individuelle, sensible Unterstützungsangebote, damit ein heilsamer Trauerprozess gelingen kann. Die erfahrene Trauerbegleiterin Stephanie Witt-Loers geht auf die besonderen Situationen und Belastungen von verwaisten Geschwistern ein und schärft das Bewusstsein für die Dringlichkeit ihrer Begleitung. Neben theoretischen Grundlagen vermittelt sie zahlreiche praktische Hinweise für eine familienorientierte Begleitung. Erfahrungsberichte trauernder Geschwister und ihrer Bezugspersonen geben zudem einen intensiven Einblick in deren Gefühls- und Gedankenwelt. Ergänzend eröffnen Fachbeiträge wie zum Beispiel vom Bundesverband Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister und vom Deutschen Kinderhospizverein zusätzliche Perspektiven auf das Thema.

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Dieses Buch möchte ich meinen Geschwistern widmen und all denen, die ich in ihrer schwierigen Lebenssituation kennenlernen und begleiten durfte.

Im Besonderen Sabine, Carsten, Michelle, Pascal, Lara, Nils, Mareike, Lotta, Luca, Viktoria, Aziz, Jacob, Luisa, Marcel, Niklas, Anna, Sarah, Leni, Karl, Anton, Philip, Lotti, Mika, Stella und Daria.

Stephanie Witt-Loers

Hallo, ich lebe noch!

Trauernde Geschwister begleiten

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen,

ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Die Hinweise in diesem Buch sind von der Autorin und vom Verlag sorgfältig geprüft. Autorin und Verlag können jedoch keine Garantie übernehmen und schließen jede Haftung für Personen-, Sach- und Vermögensschäden aus.

Für Links zu Webseiten und deren Inhalte, auf die im Buch hingewiesen wird, übernehmen wir keine Haftung.

Umschlagabbildung: pip/photocase.de

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-40530-8

Inhalt

Vorwort

1 Grundsätzliches zum System Familie

1.1 Familiensysteme sind komplex

1.2 Geschwisterbeziehungen

1.3 Geschwisterrollen

2 Trauer und Verlust im Leben von Geschwistern

2.1 Lebensräume sind Trauerräume

2.2 Trauerprozesse und Traueraufgaben

2.3 Trauerreaktionen

2.4 Erschwerte, komplizierte, pathologische Trauerprozesse

2.5 Ressourcen und Schutzfaktoren

3 Geschwistertrauer im Familienkontext

3.1 Trauer im Familiensystem

3.2 Orientierungshilfen für die ersten Stunden und Wochen

3.3 Das Familiensystem nach dem Tod

3.4 Exkurs: Kommunikation und Strategien im Familiensystem (Simone Thill-Claus)

3.5 Externe Unterstützung für Familien

3.6 Exkurs: Trauerarbeit in unserer Familie nach dem Tod meiner Schwester (Michelle Leclaire)

3.7 Exkurs: Geschwistertrauer und innerfamiliäre Belastungen (Davina Klevinghaus)

4 Geschwistertrauer: Aspekte und Rollen

4.1 Schattenkind und Familienretter

4.2 Einzelkind und neue Geschwisterreihenfolge

4.3 Verwaiste junge Geschwisterkinder

4.4 Verwaiste jugendliche Geschwister

4.5 Exkurs: Auswirkungen auf die Biografie (Karoline Benedikt)

4.6 Verlust und Zukunft

5 Weitere Facetten des Geschwisterverlusts

5.1 Trauernde Geschwister in getrennten Familien

5.2 Trauer nach dem Tod eines Halbgeschwisters

6 Plötzlicher Tod eines Geschwisters

6.1 Ich lebe noch – verstehen und unterstützen

6.2 Exkurs: »Paul ist tot – warum er, warum wir?« (Familie Valdor)

6.3 Exkurs: Interview Pascal

7 Lebensverkürzende Erkrankung und Tod

7.1 Geschwistertrauer zwischen Leben und Tod

7.2 Exkurs: Unsere Familie nach Annas Tod (Vera Schimmöller)

7.3 Exkurs: Interview Lara

7.4 Exkurs: Interview Jacob

8 Tabuisierte und stigmatisierende Todesarten

8.1 Zwischen Tabu, Schuld und Scham

8.2 Trauer nach dem Suizid des Geschwisters

8.3 Exkurs: Suizid des Bruders (Margot C.)

8.4 Trauer nach dem Tod durch ein Verbrechen

8.5 Exkurs: Mord an meinem Bruder (Veronika S.)

8.6 Exkurs: Polizeilicher Opferschutz als Unterstützung im Trauerprozess (Kriminalhauptkommissarin Susanne Krämer)

9 Jung gestorbene Geschwister

9.1 Sternenkinder, früh- und totgeborene Geschwister

9.2 Plötzlicher Säuglingstod

9.3 Nachgeborene Geschwister: Bürde und Chance

9.4 Exkurs: Anton

10 Trauernde Geschwister und ihr soziales Umfeld

10.1 Die Geschwisterfrage

10.2 Kita- oder Schulbesuch

10.3 Stolpersteine im sozialen Umfeld

11 Familienorientierte Begleitung

11.1 Familiensysteme begleiten bedeutet Geschwister unterstützen

11.2 Exkurs: Bundesverband Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister in Deutschland e. V. (Kathrin Schreier, Geschäftsführerin)

11.3 Exkurs: Erfahrungen in der Arbeit mit trauernden Geschwistern in der Nachsorgeklinik Tannheim (Jochen Künzel, Ute Löschel, Hilke Fleig)

12 Ressourcenorientiert arbeiten

12.1 Aktive Trauerarbeit im Sinne der Traueraufgaben

12.2 Überleben

12.3 Die Realität begreifen und verstehen

12.4 Gefühle und Gedanken wahrnehmen und ausdrücken

12.5 Anpassung und Neuorientierung

12.6 Neuer Platz, Beziehung und Erinnerung gestalten

12.7 Ressourcenarbeit

12.8 Lebenssinn und Zukunftsperspektiven

13 Exkurs: Deutscher Kinderhospizverein –Selbsthilfe als Unterstützung für erwachsene Geschwisterin der Kinder- und Jugendhospizarbeit (Sandra Schopen)

14 Hinweise und Adressen

14.1 Hinweise für Therapeuten und Fachberater

14.2 Hinweise für betroffene Eltern und Geschwister

15 Literatur

15.1 Weiterführende Literatur

15.2 Hilfreiches Material in der Trauerbegleitung und Therapie

Dank

Für meinen Bruder

Du wirst immer bei mir sein,ganz nah,auch wenn du fern bist.Ich trage dich in meinem Herzenwie eine Wundeund wie ein Geschenk.Du bist mein Beschützer,mein Ratgeber, mein Verbündeterund manchmal der unsterbliche Held,der mir die Luft zum Atmen nimmt.Zu kurz gab es dich in meinem Lebenund dennoch:lebenslang!

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

dieses Buch ist mir persönlich wie fachlich ein ganz besonderes Anliegen. Familiensysteme, bestehend aus Eltern, Geschwistern über Großeltern bis hin zu anderen Verwandten und Menschen des sozialen Umfelds werden durch den Tod eines Kindes massiv erschüttert. Die komplexen Auswirkungen, denen Familien ausgesetzt sind, fordern Anpassung an die neue Lebenssituation und prägen unter anderem Trauerprozesse und die Biografie verwaister Geschwister.

Zurückbleibende Geschwister gehören, wenn auch nicht mehr so extrem wie bis vor einigen Jahren, zu einer Gruppe Trauernder, die im privaten, psychosozialen, psychotherapeutischen und präventiven Bereich noch zu wenig in den Blick genommen wird. In unserer Trauerkultur sind »trauernde«, »verwaiste Geschwister« inzwischen zwar zu festen Begriffen geworden und es existieren in der Trauerbegleitung vielfältige qualifizierte Unterstützungsangebote. Dennoch zeigt die Erfahrung, dass die Bedürfnisse trauernder Geschwister mehr berücksichtigt werden sollten, gerade weil die Integration des Verlusts ein lebenslanger Prozess ist.

Gern möchte ich mit Ihnen deshalb das sehr komplexe Thema der Trauerprozesse von Geschwistern im Kindes- und Jugendalter eines schwerkranken und/oder gestorbenen Geschwisters angehen. Das System Familie spielt dabei eine wesentliche Rolle. Die spezifische Sicht auf trauernde Eltern oder erwachsene verwaiste Geschwister muss aufgrund ihrer Komplexität am Rande bleiben. Dennoch unterstützt und entlastet das Buch bei der reflektierenden Bearbeitung in der biografischen Rückschau auf einen Geschwisterverlust in der Kind- oder Jugendzeit. Ich wünsche mir, dass dieses Buch, auch wenn nicht alle relevanten Aspekte erläutert werden können, dazu beiträgt, die Wahrnehmung für trauernde Geschwister zu schärfen, um deren Unterstützung bedürfnisorientiert auf verschiedenen Ebenen zu verbessern.

Beleuchten möchte ich Verluste nach unterschiedlichen Todesarten wie einer lebensbedrohlichen Erkrankung, einem plötzlichen Tod, Suizid und anderen Todesursachen. Sie sollen in Bezug auf verschiedene Formen des sozialen Zusammenlebens und unterschiedlicher Einflussfaktoren auf den Trauerprozess betrachtet werden. Dabei fließen Orientierungshilfen im Umgang sowie Unterstützungsmöglichkeiten trauernder Geschwister ein. In diesem Buch finden Sie darum weiterführende Hinweise zu Literatur- oder Internettipps, Kontaktstellen, Impulsfragen oder Vorschläge zu kreativem Gestalten.

Ich schreibe dieses Buch als Trauerfachberaterin mit jahrelangen Erfahrungen in der Begleitung trauernder Geschwister und zugleich als Schwester mit meinen eigenen Kindheitserlebnissen im Kontext einer viele Jahre währenden lebensbedrohlichen Erkrankung eines Geschwisters und eines in der Schwangerschaft verstorbenen Geschwisters.

Die Lebensgeschichten, die ich Ihnen im Buch vorstelle, stammen aus der Arbeit mit trauernden Geschwistern und ihren Familien. Ich habe sie an einigen Stellen etwas verändert, um die Privatsphäre zu schützen. Andere haben mir ihr Erleben mit eigenen Worten in Text oder Interviewform zur Verfügung gestellt. Letztendlich soll das Erlebte der Betroffenen dazu beitragen, hilfreiche, konstruktive und praxisorientierte Unterstützungsmöglichkeiten transparent zu machen.

Zudem freue mich, dass viele kompetente Expertinnen und Experten dieses Buch mit ihrem Fachwissen bereichert haben. Ihre speziellen Blickwinkel tragen dazu bei, dass viele relevante Aspekte sowie umfassende Unterstützungsmöglichkeiten im Kontext von Geschwistertrauer wahrgenommen und Beachtung gefunden haben. Ihnen allen gilt mein Dank und meine Wertschätzung.

Möge das Buch eine Stütze und zugleich Ermutigung in der Begleitung trauernder Geschwister für Sie als Bezugsperson, als The-rapeut, Coach, Sozialarbeiterin, Pädagogin oder Trauerfachberater sein. Ich bin überzeugt, dass im direkten und im weiteren sozialen Lebensumfeld noch viel dafür getan werden kann, damit Geschwister in ihrer ohnehin schweren Lebenssituation mehr Entlastung und Stärkung erfahren können.

Ihr eigenes Leben zu leben und zu gestalten, ist für verwaiste Geschwister keinesfalls selbstverständlich, ebenso wenig wie ihren eigenen Trauerweg zu gehen. Das sollten wir gemeinsam ermöglichen und bestmöglich fördern. Wir sind in einer besonderen Verantwortung trauernden Geschwistern gegenüber, denn unsere Achtsamkeit bestimmt mit über ihre weitere Biografie und Entwicklung. Ihnen wünsche ich Zuversicht, immer wieder Kraftquellen für das, was ansteht, und vor allem Freude am eigenen Leben.

Stephanie Witt-Loers

Gern können Sie auch mit mir Kontakt aufnehmen. Ich freue mich darauf, von Ihnen zu hören.

Institut Dellanima: Fortbildungen, Vorträge und Trauerbegleitung

[email protected]

Nachtrag im Februar 2022

Aktuell sorgen die Coronapandemie und der gerade ausgebrochene Krieg in der Ukraine für eine unfreiwillige Auseinandersetzung in unserer Gesellschaft mit tiefgreifenden Verlusten. Die mit den letzten Entwicklungen verbundenen Konsequenzen sind für uns alle noch nicht abzusehen. Vielleicht können die im Buch erarbeiteten Aspekte dazu beitragen, einen bestmöglichen Umgang mit dem Erlebten zu finden. Von Herzen wünsche ich uns allen, dass wir in Frieden leben dürfen.

1 Grundsätzliches zum System Familie

Eine lebensbedrohliche Erkrankung und/oder der Tod eines Kindes und Geschwisters bringt für das gesamte Familiensystem viel Leid, Schmerz und Belastung mit sich. Hilfreiche Begleitung innerhalb der Familie oder im Rahmen einer Profession setzt grundlegendes Wissen zu Familiensystemen und Beziehungen, zu Trauerprozessen, Traueranlässen und -reaktionen voraus. Im Folgenden soll es darum zunächst um Familiensysteme und Geschwisterrollen gehen.

1.1 Familiensysteme sind komplex

Eine Familie ist ein empfindliches, komplexes System. Die Familiendynamik ist ständig im Wandel und wird durch innere wie äußere Faktoren und Lebensereignisse beeinflusst. Diese multiplen Einflussfaktoren, die die Komplexität und zugleich Vulnerabilität des Systems deutlich machen, sind in die familiären Prozesse bei der Bearbeitung eines Verlusts eingebunden. Determiniert werden solche Prozesse beispielsweise von Rollen, Abhängigkeiten, Bindungen, der Interaktion und Kommunikation der Familienmitglieder. Zudem spielen Kultur, Religion, Erziehung, Werte, Bildung sowie personale und familiäre Ressourcen eine wichtige Rolle.

Wie Störungen und Schicksalsschläge verkraftet werden, hängt demnach von vielen unterschiedlichen Faktoren ab. Bereits kleinere Veränderungen können das System je nach Struktur, Ressourcen und Risikofaktoren aus dem Gleichgewicht bringen und sozioökonomische sowie psychosoziale Probleme nach sich ziehen. Einschneidende Veränderungen wie der Verlust ökonomischer Sicherheit, lebensbedrohliche Erkrankungen oder der Tod eines Familienmitglieds können das gesamte System Familie sowie einzelne Mitglieder existenziell bedrohen und die Familie in ihrer Grundstruktur massiv erschüttern. Systemische und individuelle Anpassungsprozesse als Konsequenz auf den oder die Verluste bedürfen enormer Anstrengungen aller Familienmitglieder.

In einer schweren Trauer- und Verlustsituation, wie sie eine lebensbedrohliche Erkrankung oder der Tod eines Kindes darstellt, können Bezugspersonen ihren Kindern nicht immer Zuversicht und Sicherheit vermitteln, da sie häufig selbst höchst belastet und überfordert sind. Dann braucht das gesamte System Familie, deren Mitglieder im Einzelnen und besonders auch Geschwister, qualifizierte Unterstützung und Schutz (Witt-Loers, 2022).

Tipp: In der Begleitung verwaister Geschwister ist es darum wesentlich, Bindungen und Rollen im System sowie die Beziehung zum gestorbenen Geschwister einzubeziehen. Sind durch Trennungen oder Patchworkstrukturen mehrere Familiensysteme miteinander verstrickt, kann die Erstellung eines Genogramms hilfreich sein.

Literaturtipp

Rechenberg-Winter, P. Fischinger, E. (2018). Kursbuch systemische Trauerbegleitung (3., vollständig überarb. und erw. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

1.2 Geschwisterbeziehungen

Geschwisterbeziehungen sind vielschichtig, ambivalent und verändern sich im Laufe des Lebens. Die Beziehungsgestaltung wird durch viele unterschiedliche Faktoren geprägt, wie zum Beispiel durch genetische und familiäre Bindungen, das Teilen der Eltern und Familie, Erfahrungen, Lebenszeit und -raum und zunächst durch die Erziehung auch der gleichen Werte (Kasten, 2003).

Aus der Geschwisterforschung wissen wir, dass Geschwisterbeziehungen zudem durch die Geschwisterposition (erstgeborenes, mittleres, jüngstes Kind), den Altersunterschied, die Geschwisterzahl und Geschlechterverteilung beeinflusst werden und Geschwister sich gegenseitig in ihrer Entwicklung prägen. Hier wirken sich Rollen, die übernommen werden, sowie die grundsätzliche Haltung der Eltern (eines Elternteils), ob ein Kind vorgezogen, eher abgelehnt, einem mehr Schutzraum zugestanden wird oder die Eltern unter der Prämisse der Gleichbehandlung agieren, auf die Entwicklung der Persönlichkeit und die Geschwisterbeziehung aus.

Geschwisterbeziehungen haben in unserem Kulturkreis insbesondere im Hinblick auf Geschlecht und Alter eine Wandlung erfahren. Ältere Geschwister sind meist nicht mehr automatisch für jüngere Geschwister verantwortlich und die Rollenaufteilung hinsichtlich bestimmter Aufgaben (z. B. Haushalt) hat sich zum größten Teil aufgelöst.

Geschwisterkonkurrenz entsteht häufig, so die Erkenntnisse der Geschwisterforschung, aus dem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Anerkennung der Eltern. Rivalitäten können reduziert werden, indem Eltern ihre Kinder nicht miteinander vergleichen oder eines bevorzugen und jedem Kind, individuell sowie der ganzen Familie, Zeit und Aufmerksamkeit zukommen lassen. Beziehungen unter Geschwistern gelingen eher, wenn Kinder sich in ihrer Familie gesehen, geliebt und angenommen fühlen.

Geschwisterbeziehungen an sich sind schon komplex, kommt eine schwere Erkrankung oder der Tod eines Geschwisters hinzu, bedeutet dies eine besondere Herausforderung für das gesamte Familiensystem sowie den professionell unterstützenden Kontext. Aus meiner Sicht ist daher ein ausführliches Vorgespräch obligat (siehe den Abschnitt »Erstgespräch und begleitende Elterngespräche« in Kapitel 2.4), um familiäre sowie individuelle Bedürfnisse im Trauerprozess bestmöglich begleiten zu können.

Literaturtipp

Kasten, H. (2003). Geschwister. Vorbilder, Rivalen, Vertraute. München: Reinhardt.

1.3 Geschwisterrollen

Im Verlauf der Entwicklung kommt es zu Veränderungen in der Beziehung, die durch mögliche Alters- und Geschlechtsunterschiede und damit versetzte Adoleszenzphasen sowie Peergroups entstehen. Die Geschwisterforschung belegt weiterhin, dass das Gefühl der Intimität zwischen Geschwistern in den Jahren als junge Erwachsene häufig wieder zunimmt.

Mit dem Tod eines Geschwisters verlieren Kinder einen bedeutenden Menschen aus ihrem engen Familiengeflecht. In der Begleitung kann der Blick auf mögliche Rollen nützlich sein, die eine Geschwisterbeziehung prägen können. Reaktionen und Bedürfnisse in der Trauer können so eher verstanden und begleitet werden. Hilfreiche Fragen wären zum Beispiel: Gab es starke Rivalitäten oder besonders enge Bindungen unter den Geschwistern? Was fehlt durch den Tod des Geschwisters? Wo sind zurückbleibende Geschwister möglicherweise entlastet?

Geschwister lernen ganz pragmatisch voneinander und in der Beziehung, die sie miteinander führen. Die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit erfährt auch durch die Geschwisterbeziehung eine individuelle Prägung.

Geschwister besetzen meist mehrere miteinander verknüpfte Rollen, zum Beispiel: Dominante, Bewunderer, Verbündete, Spielfreundin, Koalitionspartner, Vertraute, Rivale, Bedroher, Gewaltsame, Zerstörer, Neider, Überlegene, Freund, Partnerin, Solidarische, Vorbild, Humorvolle, Fürsorgender, Kritiker, Sinngeber, Schutzbedürftige, Beschützer, Seelenverwandte, Mutmacher, Zärtliche, Ratgeber oder Begleiterin.

Mit einer schweren Erkrankung verändern sich diese Rollen, kehren sich um, fallen mit dem Tod weg oder erfahren durch die fortgesetzte Bindung zum gestorbenen Geschwister neue Ausprägungen. Veränderte und verlorene Rollen können zu Verunsicherungen und Überforderung führen. Neue Rollen bringen andere Anforderungen mit sich und erfordern die Entwicklung neuer Fähigkeiten. Diese können, in einer durch die vielschichtigen Konsequenzen des Verlusts geprägten Zeit, persönlich und im Familiensystem, als belastendend und beängstigend erlebt werden. Zudem können durch die zuvor besetzten Rollen gleichzeitig wesentliche Ressourcen wegfallen, die bei der Bearbeitung eines Verlusts mit seinen Auswirkungen zentral gewesen wären.

Tipp: In der Begleitung trauernder Geschwister sollte der Blick auch auf die Geschwisterbeziehung sowie den letzten Status quo der Beziehung (letzter Streit, letzte Worte, letzte Begegnung) und die verschiedenen Rollen der Geschwister gerichtet werden, um das Ausmaß des Verlusts für ein Geschwister erfassen zu können. Diese Rollen stehen in Wechselwirkung und/oder in Konflikt mit Rollen, die verwaiste Eltern, Großeltern oder das soziale Umfeld zuweisen. So kann das soziale Umfeld im verstorbenen Geschwister den Sonnenschein sehen, das verwaiste Geschwister jedoch eher den Konkurrenten. In der Begleitung ist es hilfreich, diese Rollen zu verdeutlichen, um so Veränderung und Distanzierung zu bestimmten Rollen zu ermöglichen. In der fortgesetzten Beziehung zum verstorbenen Geschwister können bestimmte Geschwisterrollen weitergelebt werden, determinieren, stärken oder behindern. Diese und neu eingenommene Rollen sollten reflektiert und auf mögliche Überforderung oder Entwicklungseinschränkungen überprüft werden.

2 Trauer und Verlustim Leben von Geschwistern

2.1 Lebensräume sind Trauerräume

Grundsätzlich gilt: Trauer gehört zu unserem Leben. Trauer ist schmerzhaft und entsteht, wenn Menschen etwas für sie Wichtiges verlieren. Sie ist eine natürliche Reaktion auf den Verlust einer Sache, Situation oder Person, zu der eine sinnerfüllte Beziehung bestand. Trauerprozesse sind individuell geprägte, nichtnormative Prozesse, die dem Überleben dienen, die es ermöglichen, mit dem erlittenen Verlust leben zu lernen, sich neu anzupassen, den Verlust in das aktuelle Leben zu integrieren, und dies immer wieder neu, entsprechend den Entwicklungs- und Lebensumständen. Trauer um einen geliebten Menschen kann darum lebenslang bestehen, auch wenn sie sich wandelt, verändert und zugleich ein erfülltes Leben möglich ist.

Trauertheorien im Wandel

Die Sicht auf die Funktion von Trauer hat sich in der Trauerforschung im Laufe der Zeit gewandelt; neue Aspekte wurden einbezogen und verschiedene Theorien zu Trauerverläufen entworfen, die sich heute weitgehend vermischt und gegenseitig bereichert haben. Die Bindungstheorie (Bowlby, 1980, dt.: 2016; 2021) ging davon aus, dass unser Bindungsverhalten als Instinkt das Überleben sichert und verschiedene Bindungsstile Einfluss auf die Verlustverarbeitung haben. Trauerkognitive Stresstheorien sehen die Funktion von Trauer in der Entwicklung von Bewältigungsstrategien, um mit den Folgen der Krisensituation umzugehen. Hinzu kamen sozial-konstruktivistische Grundgedanken, die Trauer als Prozess und Möglichkeit der Anpassung sowie den Aufbau eines neuen Sinn-Werte-Systems verstehen, in das die Verlusterfahrung integriert werden kann (Stroebe u. Schut; 2010 Worden, 2017; Neimeyer, 2011). Heute ist anstelle des Lösens der Bindung zum Verstorbenen (Freud, 1917) die Möglichkeit der fortgeführten, gestalteten Beziehung (continuing bonds, siehe Klass, Silverman u. Nickman, 1996; Klass u. Walter, 2001) zum Verstorbenen getreten (Müller u. Willmann, 2016).

Literaturtipp

Müller, H., Willmann, H. (2016). Trauer: Forschung und Praxis verbinden: Zusammenhänge verstehen und nutzen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Geschwister brauchen die Möglichkeit zu trauern

Trauer ist schmerzhaft und dennoch notwendig, um mit einem Verlust leben zu lernen. Darum stellt die Auseinandersetzung mit Verlusten einen wichtigen Teil von Entwicklungsprozessen dar. Von diesen grundlegenden Erfahrungen dürfen Kinder und Jugendliche nicht ausgeschlossen werden. Haben Eltern mit eigenen Verlustprozessen negative Erfahrungen gemacht, Unterstützung als nicht hilfreich empfunden oder sind mit alten Strukturen und Vorstellungen, wie zu trauern sei, verhaftet, geben sie ihren Kindern diese Erfahrungen häufig weiter beziehungsweise unterbinden und steuern sie die Verlusterfahrungen ihrer Kinder so, dass sie ihnen (in gutem Glauben) eine Auseinandersetzung mit ihren Verlusten vorenthalten. Dabei brauchen Heranwachsende die Chance, sich mit diesen grundlegenden Erfahrungen zu befassen, um Handlungs- und Lösungskompetenzen zu entwickeln, sich selbst zu beruhigen oder einen selbstbestimmten Umgang mit intensiven Gefühlen zu finden. Wesentlich ist die Auseinandersetzung zudem, damit in Bezugssystemen eine natürliche Kommunikation über schwere Themen ausgebildet, Unterstützung eingefordert und in Anspruch genommen werden kann. Darum sollten möglichst auch Bezugspersonen in Unterstützungsangebote involviert werden.

Traueranlässe sind individuell

Trauerprozesse sind vielschichtig und können ausgelöst werden beispielsweise durch den Verlust von Spielzeug, Freunden, dem Abschied von der Kita oder der Schulzeit, von der Zeit als Einzelkind durch die Geburt eines Geschwisters, durch Geschwister, die das Zuhause verlassen, oder den Verlust von Lebensraum (Umzug, Flucht), von Lebensträumen (eigenes Haus, Kinderwunsch, berufliches Ziel), das gestorbene Haustier, Scheidung, den Verlust von körperlichen oder geistigen Fähigkeiten (eigene oder von anderen Menschen, auch zeitweilig) und den Tod eines Menschen.

Multiple Verluste in den Blick nehmen

Mit der Erkrankung und dem Tod eines Bruders, einer Schwester werden Geschwister mit vielen unterschiedlichen Verlusten gleichzeitig konfrontiert. Bestimmte Geschwisterrollen gehen verloren und stellen einen Aspekt dieser Veränderungen dar, die Geschwister erleben, wenn eine Schwester oder ein Bruder schwer erkrankt oder gestorben ist. Um die Situation eines Geschwisters zu verstehen und hilfreich zu begleiten, ist es notwendig, diese multiplen, individuellen Verluste zu erkennen, sie anzuerkennen und die damit verbundenen Trauerreaktionen zu würdigen. Zudem sollten bereits erlebte Verluste und deren Auswirklungen mit in den Blick genommen werden.

Praxisbeispiel: Der elfjährige leukämiekranke Carlo wird bald sterben. Er trauert um sein verändertes Äußeres, um seine verlorenen körperlichen Fähigkeiten, darum, dass er seit Monaten von zu Hause weg ist, und vieles mehr. Antonia, seine jüngere Schwester, trauert ebenfalls. Sie trauert wie Carlo, um den verlorenen Alltag und die Eltern, die sich seit der Diagnose stark verändert haben. Sie sind oft weg, bei Carlo im Krankenhaus, oder müssen sich, wenn er zu Hause ist, sehr um ihn kümmern. Zudem erlebt Antonia die Angst und Trauer ihrer Eltern. Sie muss erfahren, dass sie ihren Bruder nicht, wie angenommen, beschützen können, und verliert dadurch ihre innere Sicherheit und ihr Grundvertrauen in die Welt. Antonia trauert, weil sie oft von Carlo getrennt ist und nicht mehr so mit ihm spielen kann wie früher. Wenn er gestorben ist, wird sie um ihn und um das trauern, was sie alles nicht mit ihrem Bruder hat erleben können, um verlorene Lebensperspektiven und womöglich auch um die Anerkennung, Zuneigung und Aufmerksamkeit der Eltern, die mit ihrer eigenen Trauer befasst und vielleicht überfordert sind.

Mögliche Trauerauslöser

Geschwister einer lebensbedrohlich erkrankten Schwester, eines Bruders und verwaiste Geschwister können um ihre unbeschwerte Kindheit, verlorene Sicherheit, ihren verlorenen Alltag, die elterliche Fürsorge, Zuwendung, Zeit und Zuneigung trauern. Sie können in Trauerprozesse geraten, wenn Eltern sich um ein erkranktes Geschwister kümmern müssen, sie die zeitweilige Trennung von den Eltern beziehungsweise Elternteilen erleben, um verlorene Lebensperspektiven trauern (normales Familienleben, schützende Eltern, unbeschwerte Kindheit, Glauben an die eigene Gesundheit), um ihre Freiheit oder ihre Existenz, wenn sie erleben, wie belastend die Situation sich auf ihre Eltern auswirkt. Zudem können die durch die Erkrankung oder Trauer um ein gestorbenes Geschwister eingeschränkten sozialen Kontakte der Familie Anlass zu Trauer des Geschwisters sein. Die zuvor angesprochenen Verluste, die durch veränderte und verlorene Rollen entstehen, geben zudem Anlass zu trauern.

Die Erkrankung eines Geschwisters kann Veränderungen seines Äußeren zur Folge haben sowie den Verlust von körperlichen, geistigen Fähigkeiten. Solche Veränderungen, die zudem Konsequenzen auf die Art und Gestaltung der Geschwisterbeziehung mit sich bringen, müssen auch von nichterkrankten Geschwistern betrauert werden dürfen.

Stirbt der Bruder oder die Schwester, verliert das Geschwister, in gewisser Weise, seine Eltern, denn sie sind und werden nie mehr sein wie zuvor. Kinder müssen nach dem Tod eines Geschwisters nicht nur mit verminderter Fürsorge und Liebe zurechtkommen, es können auch der Verlust von ökonomischer Sicherheit, des Zuhauses oder sozialen Umfelds damit verknüpft sein.

Aberkennen und Abwertungen

Trauer um nichtgelebte Beziehung wird in unserer Gesellschaft häufig nicht verstanden und anerkannt. In den unterschiedlichsten Facetten erleben gerade Geschwister, dass ihnen ihre Trauer aberkannt wird (disenfranchised grief, Doka, 2011a, 2011b). Trauer um nichtgelebte Beziehung kann entstehen, weil Geschwister ihren Bruder oder ihre Schwester nicht gekannt haben, sie beim Tod des Geschwisters noch sehr jung waren, die Todesursache mit einem gesellschaftlichen Stigma behaftet ist, sie nach der Trennung der Eltern nicht mit dem Geschwister zusammengelebt haben. Trauer um das, was nicht miteinander gelebt wurde und nicht gelebt werden wird, kann sehr schmerzhaft sein und braucht Anerkennung.

Auch Trauerprozesse und Reaktionen, die durch »sekundäre Verluste« entstehen, um das, was durch die Krankheit und den Tod für das Geschwister zusätzlich verloren gegangen ist, werden häufig nicht er- und nicht anerkannt. Geschwister ernten im sozialen Umfeld häufig Missachtung und Unverständnis. Ihre Trauer um das Verlorene wird abgewertet und das Recht, um ihre Verluste zu trauern, ihnen abgesprochen. Nicht selten hören Geschwister Kommentare wie: »Was beklagst du dich, du bist doch gesund«, »Sei du still, dir geht es doch viel besser als deinem Bruder. Der hätte einen echten Grund, traurig zu sein.«

So werden zusätzlich Schuld und Scham hervorgerufen sowie das Gefühl, die eigene Trauer sei unangebracht und falsch. Geschwister lernen daraus, sich nicht mitzuteilen, ihren Kummer für sich zu behalten, und verlieren zudem Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl – wesentliche Ressourcen, um Trauerprozesse zu bearbeiten. Das eigene Denken, Fühlen und Handeln vertrauensvoll einschätzen zu können, ist eine zentrale Grundlage für eine selbstbestimmte Lebensgestaltung, die durch solche Erfahrungen erschüttert und zerstört werden kann.

Tipp: Geschwister brauchen Menschen, die ihre vielfältigen Verluste ehrlich anerkennen, ihre Sorgen und Nöte ernst nehmen und deren Bearbeitung unterstützen.

2.2 Trauerprozesse und Traueraufgaben

Der Tod eines Kindes und Geschwisters stellt für das weitere Überleben und Funktionieren des Familiensystems (hier möchte ich Subsysteme, wie z. B. getrennte Eltern und Patchworkfamilien einschließen) eine enorme Herausforderung dar. Um die Akzeptanz und Bearbeitung der individuellen Trauerprozesse in der Familie zu fördern, sind Grundinformationen im System notwendig. Gemeinsamkeiten und Unterschiede können so eher verstanden und respektiert werden.

Traueraufgaben in der Familie

Trauer ist der Ausdruck des Verlusts und die Fähigkeit, sich an das neu entstandene Lebensgefüge anzupassen. Trauerprozesse verlaufen nicht chronologisch nacheinander in verschiedenen Phasen. Sie werden von multiplen Faktoren (Mediatoren) determiniert wie zum Beispiel vorhandenen inneren und äußeren Ressourcen oder Risikofaktoren. Das im Folgenden dargestellte Modell beinhaltet Themen, die bei der Bearbeitung des Verlusts immer wieder vorkommen und individuell bearbeitet werden. Es ist eine Synthese der Ergebnisse verschiedener Trauerforscher (Klass, 2000; Paul, 2011; Neimeyer, 2011; Neimeyer u. Sands, 2011; Witt-Loers, 2012) und die Basis des Familienbegleitungskonzepts des Instituts Dellanima. Vor allem orientiert es sich an den von Worden (2017) entwickelten Traueraufgaben sowie am DPM (Doppeltes Prozessmodell von Stroebe und Schut, 1999) und ergänzt dieses. Zudem fließen Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie und der Psychotherapie ein. Es kann Orientierung für eine hilfreiche Unterstützung trauernder Geschwister und deren Familien geben und nützlich sein, um Stolpersteine und Ressourcen im Trauerprozess zu identifizieren. Betroffenen kann das Modell helfen, um Verständnis und Respekt für sich und andere Trauernde im System zu entwickeln, zum Beispiel bei der Gestaltung wesentlicher Aufgaben im Familiensystem in Bezug auf den Verlust, eine offene Kommunikation, die Beteiligung aller im System, um Lösungen miteinander zu verhandeln und Schnittmengen zu finden, wenn es beispielsweise um die Neuverteilung von Aufgaben, den Umgang mit Erinnerungsgegenständen oder die Gestaltung des Grabs oder von besonderen Tagen (Geburtstage, Todestag, Weihnachten) geht (Witt-Loers, 2017).

Funktionieren und überleben

Kinder wie Erwachsene verschieben die eigene Bearbeitung des Verlusts häufig zugunsten des Systems. Sie schonen sich gegenseitig und funktionieren, damit das Überleben des Systems und die eigene Existenz gesichert ist. Dieses Verhalten wird oftmals fehlgedeutet. Eltern glauben beispielsweise, das Geschwisterkind sei nicht trauernd, fühlen sich entlastet und denken, es benötige keine Unterstützung nach dem Verlust des Bruders oder der Schwester. Geschwister wiederum nehmen an, dass »funktionierende« Eltern nicht oder nicht richtig um den Bruder oder die Schwester trauern. Häufig befassen sich Mitglieder des Systems erst dann intensiver mit ihrem eigenen Trauerprozess, wenn das Familiensystem wieder erkennbar stabil ist. Vielfach begreift das System und/oder das soziale Umfeld die nachgeholte Bearbeitung des Verlusts nicht als solche, erkennt sie nicht an oder bewertet sie negativ. Damit werden Trauerprozesse erschwert. Zugleich können finanzielle Nöte, Trennungen, ein notwendig gewordener Umzug, Berufstätigkeit oder psychische Belastungen die Grundversorgung von verwaisten Geschwistern nicht mehr gewährleisten und das gesamte System beziehungsweise Teile dessen in existenzielle Gefahr bringen.

Konsequenz: Wesentlich ist zu verstehen und zu würdigen, dass das innere und äußere Überleben Vorrang hat, auch für verwaiste Geschwister, und dass »funktionieren« nicht gleichzusetzen ist mit nicht trauern. Zu bedenken ist, dass Trauerprozesse verschoben sein können und Geschwister eines schwerkrankten oder gestorbenen Geschwisters zunächst die Sicherheit benötigen, dass sie (und damit dies möglich ist, das System) physisch und psychisch überleben können, um sich mit den Themen der Trauer zu befassen.

Tipp: Geschwister und ihre Familiensysteme müssen im Überleben unterstützt werden (manchmal, damit Alltag erhalten und neue Kraft gefunden werden kann, aber auch pragmatisch: Essen kochen, Fahrtdienste, Beaufsichtigung der Kinder, damit die Eltern sich ausruhen können). Existenzängste trauernder Geschwister müssen unbedingt ernst genommen werden. Jüngere Geschwister drücken ihre Existenzsorgen auf kindliche Art aus, die Erwachsene belustigen kann. Die dahinterstehende Not wird nicht erkannt. Beispiel: Die fünfjährige Lauren nach dem Tod der älteren Schwester: »Ich kann kochen und waschen, dann hast du weniger Arbeit. Du kannst mal ins Kino gehen und dich freuen oder dich ins Bett kuscheln.«

Den Verlust als Realität akzeptieren

Die Endgültigkeit des Todes und die damit verbundene neue Lebensrealität kann eher verstanden und akzeptiert werden, wenn der Tod haptisch, visuell und auditiv begreifbar ist. Das bedeutet, den Abschied vom sterbenden oder verstorbenen Geschwister zuermöglichen. Hier sollten unbedingt vorbereitende Informationen zu Todesursachen, Todesmerkmalen, Trauerreaktionen und Bestattungsritualen in einer klaren, eindeutigen Sprache fließen. Es ist normal, dass Zusammenhänge mehrfach erklärt werden müssen, um sie zu verstehen, auch mit zeitlichem Abstand.

Konsequenz: Geschwister sollten vorbereitet, ihrer Entwicklung entsprechend in Abschiedsprozesse einbezogen werden und selbst aktiv sein dürfen. Noch etwas für den Sterbenden oder Verstorbenen zu tun (eine Kerze gestalten, ein Bild oder einen Brief mitgeben), wirkt Ohnmacht und Hilflosigkeit entgegen und kann vor einem Trauma schützen. Geschwister sind sensibel. Ihnen die Realität vorzuenthalten oder Halbwahrheiten zu vermitteln, führt zu Unsicherheit und Vertrauensverlust. Sie und oftmals ihre Bezugspersonen brauchen, um den Verlust als Realität zu verstehen, ehrliche Kommunikation und Wissen zum Themenkomplex.

Trauernde Kinder oder Jugendliche schalten häufig nach einer gewissen Zeit ab, wenn sie die Todesnachricht erfahren, weil sie überfordert sind. Sie können mit einem abruptem Themenwechsel reagieren, was für Erwachsene irritierend sein kann (»Ich gehe zu meinem Freund«, Darf ich spielen?«, »Essen wir heute Pizza?«).

Die Ängste aller im System sollten unbedingt erfragt und bearbeitet werden. Tröstliche Abschiede können so eher ermöglicht werden. Eltern und Bezugspersonen haben häufig die Sorge, etwas falsch zu machen, sind selbst belastet und müssen darum gestärkt, ermutigt, informiert und sensibilisiert werden.

Konsequenz: Nachholen von Wissen und Abschied. Fehlendes Wissen sollte unbedingt im Nachhinein vermittelt werden, damit das Erlebte eingeordnet und unnötige Ängste (»Mara ist nackt in der Holzkiste und friert« – hier fehlen wesentliche Informationen: Tote Menschen spüren nichts mehr und Verstorbene liegen nicht nackt in einer Holzkiste) abgebaut werden können, zum Beispiel zur Erkrankung, zu Todesumständen, zu Merkmalen des Todes, zu Ritualen, zur Bestattung – Sarg, Urne, Feuer-, Erdbestattung – und zu Trauerreaktionen, um sich und das Umfeld besser verstehen zu können.

Wurden Geschwister nicht beteiligt (Abschied vom Gestorbenen, Trauerfeier), sollten diese Abschiede entwicklungsentsprechend und bedürfnisorientiert nachgeholt werden. Hier ist wesentlich, zu erfahren, wo Informationslücken oder bereits Ängste vorliegen. Vielleicht gibt es von der Trauerfeier oder vom gestorbenen Geschwister Fotos, die gemeinsam angeschaut und als Gesprächsimpulse genutzt werden können.

Verwaiste Geschwister begleiten bedeutet Elternarbeit

Eltern sind oftmals besorgt, dass sie ihr Kind überfordern, oder machen sich Vorwürfe, falsch gehandelt zu haben. Entlastend kann es für Eltern sein, zu wissen, dass Geschwister auch im Nachhinein dankbar sind, wenn sie von ihren Bezugspersonen ehrlich informiert werden und Authentizität erfahren. Eltern dürfen sagen, dass sie zum Zeitpunkt des Abschieds selbst sehr mit den Ereignissen beschäftigt waren und nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten. Sie können erklären, dass sie jetzt mehr über die Themen Krankheit, Abschied, Sterben und Tod wissen und sie deshalb gern Gespräche nachholen möchten.

Tipp: Damit solche Prozesse in Gang gebracht werden können, sollte es Vorgespräche und begleitende Elterngespräche zur Begleitung von verwaisten Geschwistern geben. Familiensitzungen bieten meiner langjährigen Erfahrung nach einen geschützten und fachlich begleiteten Rahmen, in dem auch solche Themen miteinander bearbeitet werden können, wenn Eltern sich solche Gespräche allein nicht zutrauen.

Gefühle und Gedanken ausdrücken und bearbeiten

Erwachsene, Kinder und Jugendliche erfahren nach einem Verlust unterschiedliche, intensive und auch widersprüchliche Gefühle, veränderte Gedanken und weitere Reaktionen auf den Verlust. Positive Gefühle, Gedanken und Erfahrungen gehören ebenso dazu.

Konsequenz: Im Familiensystem geht es darum, Raum und Ausdruck für die individuellen Gefühle und Gedanken zu schaffen, eine gegenseitige Anerkennung zu fördern sowie einen selbstbestimmten Umgang mit den Gefühlen und Gedanken zu finden, der andere im System nicht verletzt, gefährdet und selbstschädigend ist. Besonders wichtig ist dies im Hinblick auf Aggressionen, die nicht unterbunden, sondern Ausdruck finden sollten.

Tipp: Eltern sollten wissen, dass sie eigene Gefühle nicht verstecken müssen, dass es für Kinder wichtig ist, daran teilzuhaben, und sie dies als Signal empfinden, selbst Gefühle zeigen zu dürfen. Somit können sie einen selbstbestimmten Umgang mit eigenen, intensiven Gefühlen lernen. Die Sorge, Kinder mit eigenen Gefühlen zu überlasten, ist berechtigt. Daher ist es wesentlich, auch Sicherheit, Zuversicht und Hoffnung zu vermitteln. »Unangenehme Gefühle gehen auch wieder vorbei und es kommen schöne Gefühle«, »Wir werden lernen, ohne Maxim zu leben, er wird uns fehlen und trotzdem werden wir auch fröhlich sein und leben«, »Wir achten gut auf uns«.

Praxisbeispiel: Eine Mutter, deren Mann gestorben war, zwei Kinder, vier und sechs Jahre, funktionierte tagsüber und gab sich am Abend ihrer Trauer hin. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Kinder ihre abendliche Trauer dennoch spürten, und fragte neulich, wann sie denn trauern dürfe.

Eltern und andere Bezugspersonen wissen oft nicht, dass Wut und aggressives Verhalten normale Trauerreaktion sind, und/oder sind mit solchem Verhalten überfordert. Wesentlich ist, dass diese Gefühle Ausdruck finden und gelebt werden dürfen. Es kann helfen, mit trauernden Geschwistern Regeln zum Umgang mit intensiven Wutgefühlen zu vereinbaren.

Wutregeln:

– Niemand darf verletzt werden: kein Mensch und kein Tier.

– Es dürfen keine Gegenstände anderer zerstört werden.

– Du darfst dich selbst nicht verletzten.

Zudem können Angebote und verschiedene Methoden der Affektregulierung zum Einsatz kommen, wie beispielsweise Sockenbomben, schreien, Kissen schlagen, Wutbälle, Wutbox, Schreieimer, Luftballon-schlagen, Papierschlacht, Wutstangen oder ein Boxsack. Darüber hinaus sind gestalterische Methoden hilfreich, um die Vielfalt der Gefühle und Gedanken auch nonverbal auszudrücken. Weitere Hinweise finden sich in Kapitel 12.

Ressourcen aufdecken und aktivieren

Trauerprozesse benötigen körperliche und seelische Kraft. Eine lösungs- und ressourcenorientiert ausgerichtete Trauerarbeit ist aus meiner Sicht deshalb notwendig, um die Themen der Trauer immer wieder unter anderen Aspekten neu angehen zu können. Daher habe ich den Trauerthemen diese Aufgabe hinzugefügt (Witt-Loers, 2017). Trauernde Geschwister und ihre Familien sollten dabei unterstützt werden, persönliche sowie systemische Ressourcen aufzudecken, und Ermutigung erfahren, diese zu nutzen.

Innere und äußere Ressourcen Trauernder erfahren nicht immer Anerkennung und Legitimation durch das soziale Umfeld. Normen, Scham und ein schlechtes Gewissen können daher die Nutzung von Ressourcen behindern und Trauerprozesse erschweren. Psychoedukation zur Individualität von Ressourcen in Trauerprozessen kann für mehr Verständnis sorgen.

Konsequenz: Kraftquellen sollten genutzt und immer wieder neu gefüllt werden. Gerade in Krisenzeiten entsteht der Eindruck, dass nichts mehr trägt. Es kann schwerfallen, Ressourcen wahrzunehmen und zu nutzen. Mit verschiedenen Methoden sollte Ressourcenarbeit mit Geschwistern und deren Familien deshalb in die Trauerarbeit integriert werden.

Sich anpassen an eine Welt ohne das Verlorene

Mit dem Tod eines Kindes/Geschwisters verändern sich Beziehungen sowie familiäre und gesellschaftliche Rollen der Trauernden (z. B. verwaiste Eltern und Geschwister, Einzelkind, plötzlich ältestes oder jüngstes Kind). Meist müssen neue Fähigkeiten erlernt, Aufgaben übernommen und andere Lebensperspektiven entwickelt werden. Das erfordert Neuorientierung, Flexibilität und Anpassung.

Anpassungsprozesse sind komplex und können anstrengend sein. Kindliche Anpassungsprozesse werden oftmals nicht verstanden, nicht ernst genommen oder gar belächelt. Erwachsene reagieren irritiert oder ungehalten, wenn Kinder versuchen, sich an die neue Situation anzupassen, und von Lösungen zu ihren Sorgen erzählen: »Dann brauchen wir einen neuen Bruder«, »Dann hat Papa endlich mehr Zeit für mich«. Anpassungsprozesse werden erschwert und benötigen zusätzliche innere Kapazitäten, wenn Geschwister von ihren Eltern nicht oder mit Halbwahrheiten über die Erkrankung, das Geschehen informiert werden. Sie versuchen Informationslücken mit Konstrukten und Fantasien zu füllen, die häufig beängstigender sind als die Realität. Unsicherheit, Vertrauensverlust zu Bezugspersonen, das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, können Folgen sein.

Konsequenz: Wesentlich ist, wahrzunehmen und anzuerkennen, dass Geschwister enorm anstrengende, komplexe Prozesse bearbeiten, und darauf zu schauen, dass Familienmitglieder nicht Rollen oder Aufgaben übernehmen oder zugewiesen bekommen, die zur Überforderung, zum Verlust der eigenen Identität oder der Zurückstellung eigener Bedürfnisse führen (Kinder, die z. B. das Geschwister ersetzen). Rollenzuschreibungen und Rollenübernahmen sowie damit verbundene Aufgaben sollten individuell und im System reflektiert und eventuell verändert werden.

Eine neue Verbindung zum Verstorbenen finden

Der Verstorbene oder das Verlorene muss nicht losgelassen, sondern darf in das neu entstandene Lebensgefüge integriert werden und einen neuen, tröstlichen Platz finden. Das Erlebte, die Erinnerungen und die daraus gewonnenen Erfahrungen können das weitere Leben bereichern. Diese Aufgabe kann für Geschwister besonders schwer sein, beispielsweise wenn sie beim Tod des Geschwisters noch sehr jung waren oder das Geschwister nur krank erlebt haben. Frühzeitige professionelle Unterstützung für das gesamte System kann eine gesunde Entwicklung von verwaisten Geschwistern fördern und das Familiensystem stärken.

Der Mensch ist gestorben, der Tod als Faktum wird nicht verleugnet, die Beziehung zum Verstorbenen darf jedoch weiter gestaltet werden und sich – wie die neuen Plätze auch – immer wieder verändern (das Foto darf weggeräumt, der Friedhof weniger besucht, das Zimmer verändert werden). Wesentlich ist, dass die neuen Plätze nicht als beängstigend und bedrohlich, sondern tröstlich wahrgenommen werden. Wir unterscheiden diesbezüglich drei Aspekte von neuen Plätzen:

– Äußere Plätze: Grab, Foto, Erinnerungsorte, Musikstücke, Gegenstände, Kleidungsstücke, Pflanzen, Texte.

–Innere Plätze und Beziehungen: innerer Begleiter, Ratgeber, Engel, Beschützender, Bedrohender.

–Jenseitsvorstellungen: Es geht um die Vorstellung, was nach dem Tod kommt. Da dies eine Glaubensfrage ist und noch niemand zurückgekommen ist, sollte jeder für sich individuelle Antworten und eigene tröstliche Jenseitsvorstellungen finden dürfen. Vorgaben können für Kinder zu unnötigen Belastungen führen (»Der Kopf von Laila wurde mit einer Motorsäge abgeschnitten, der ist jetzt im Himmel und der Rest liegt in der Erde«, »Leo ist in der Hölle, da geht es ihm nicht gut, weil er mal was Blödes gemacht hat«, »Oma hat gesagt, Mara ist im Himmel, aber sie hatte immer Angst vor hohen Sachen, bestimmt weint sie jetzt«). Selbst in Gedanken aktiv und liebevoll für das verstorbene Geschwister zu sorgen, kann Hilflosigkeit und Ohnmacht entgegenwirken.

Fortgesetzte Verbindungen zum verstorbenen Geschwister müssen sich wandeln dürfen und stellen einen wichtigen Aspekt in der Trauer dar, der sein darf und für trauernde Familien kraftspendend sein kann. In der Begleitung sollten Beziehungen besonders in den Blick genommen werden, die durch Alkohol, Gewalt oder Abhängigkeit bestimmt, die an ein Versprechen gebunden waren (»Du darfst deinen Eltern jetzt nicht auch noch Sorgen machen«, »Du bist das Einzige, das uns jetzt noch bleibt, pass bloß auf dich auf«, »Du darfst uns jetzt nicht auch verlassen«, »Du bist unsere einzige Freude«) oder die mit negativen Kognitionen verknüpft wurden (»Du wirst das nie wie dein Bruder können«, »Deine Schwester war unser Sonnenschein«, »Deine Schwester war immer die Schlauere von euch«). Hier können fortgesetzte Beziehungen negativ geprägt und belastend sein. Sie sollten professionell unterstützt und eine heilsame Sicht sollte erarbeitet werden.

Konsequenz: Der Verlust kann leichter in das neue Lebensgefüge integriert werden, wenn sich an den Verstorbenen erinnert werden darf. In der Familie sollte über das gestorbene Kind/Geschwister gesprochen und zugleich sollten positive Sichtweisen einbezogen werden (Dankbarkeit, Liebe). Die Bedürfnisse und der Umgang mit »neuen Plätzen« für den Verstorbenen können im Familiensystem sehr verschieden sein. Hier sollten die Bedürfnisse aller beachtet werden. Jeder muss seine eigene tröstliche Jenseitsvorstellung behalten dürfen, ohne dass diese negativ bewertet wird.

Geschwister werden nicht immer in die Zukunftsgestaltungen involviert, zu Erinnerungsgegenständen oder dazu befragt, wie das Zuhause gestaltet werden soll. Damit sie den Verlust ihres Bruders, ihrer Schwester bestmöglich bearbeiten können und mit ihren Bedürfnissen wahrgenommen werden, muss es psychoedukative Angebote für die Familie, Unterstützungsmöglichkeiten für das gesamte Familiensystem wie für jeden Einzelnen im System geben.

Sinnfindung

Nach einem Verlust erscheint das eigene Leben häufig sinnlos und leer. Lebensfreude oder der Lebenswille können verloren gehen. Das eigene Wertesystem und der Sinn des Lebens werden hinterfragt. Die Aufgabe der Sinnfindung muss jeder Trauernde aus der Familie individuell für sich lösen. Aus der Bearbeitung dieser Aufgabe sind interessanterweise viele Stiftungen, Selbsthilfegruppen und Vereine hervorgegangen. Sinnstiftende Perspektiven für das eigene Leben nach dem Tod des Geschwisters helfen einerseits zu überleben, andererseits können sie dem Tod im Nachhinein auch einen tröstlichen Sinn geben und zugleich dem gestorbenen Geschwister einen neuen würdigen Platz zuweisen.

Konsequenz: Unterstützer können bei dieser Sinnsuche bereits Bewältigtes würdigen und wertschätzend begleiten sowie Trauernde ermutigen, neue Lebensperspektiven zu entwickeln.

Praxisbeispiel: Eine trauernde Schwester gründet nach dem Tod ihres herzkranken Bruders die nach ihrem Bruder benannte Stiftung »Fred’s Herzenswünsche« (www.freds-herzenswuensche.de) für lebensverkürzt erkrankte Kinder, denen letzte Wünsche erfüllt werden sollen. Mit der Stiftung wird dem Tod des Bruders im Nachhinein ein Sinn gegeben und zugleich wird die Traueraufgabe bearbeitet, dem Verstorbenen einen neuen Platz zu geben.

Entwicklungsaufgaben plus Traueraufgaben

Trauerprozesse sind multifaktoriell beeinflusst und überaus komplex. Verwaiste Geschwister sind nicht nur mit den Anforderungen und Konsequenzen befasst, die der Verlust für verwaiste Geschwister auf den unterschiedlichen Ebenen mit sich bringt, sondern zugleich mit ihren eigenen Entwicklungsprozessen. Verhaltensweisen, die zu einer normalen Entwicklung gehören, wie bei Kindern beispielsweise Albträume ohne klaren Inhalt, Trennungsängste, Regressionen, sozialer Rückzug oder bei Jugendlichen Probleme der Emotionsregulation, Substanzmissbrauch sowie selbstverletzendes und riskantes Verhalten (Jensen, Cohen, Jaycox u. Rosner, 2020), überschneiden sich deshalb mit solchen auf einen Verlust.

Tipp: