Kindertrauergruppen leiten - Stephanie Witt-Loers - E-Book

Kindertrauergruppen leiten E-Book

Stephanie Witt-Loers

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Beschreibung

Auch Kinder erleben den Tod eines nahestehenden Menschen als tiefen Einschnitt und geraten in eine psychische Krise. Ihr Trauerweg und -ausdruck unterscheidet sich jedoch von denen der Erwachsenen. Oftmals stellen sie sogar ihre eigene Trauer zurück, um ihre ebenfalls betroffenen Bezugspersonen zu schonen. Sie brauchen deshalb die Wahrnehmung, Zuwendung und auch Informationen durch andere. Hier bieten Kindertrauergruppen neue Perspektiven, um Kindern in Krisen nach Tod und Verlust angemessen zu begegnen. Welche Grundsätze bei dieser Arbeit beachtet werden sollten, welche Rahmenbedingungen erfüllt sein müssen, wenn die Arbeit gelingen soll, und wie eine Stunde in der Kindertrauergruppe gestaltet werden kann, erklärt dieses Handbuch umfassend und mit einem konsequenten Blick auf die Praxis. Es richtet sich primär an qualifizierte Trauerbegleiter/-innen. Eine umfangreiche Materialsammlung steht zum Download zur Verfügung.

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Stephanie Witt-Loers

Kindertrauergruppen leiten

Ein Handbuch zu Grundlagen und Praxis

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Veränderte Neuausgabe. Die erste Ausgabe erschien 2013 im Gütersloher Verlagshaus.

ISBN 978-3-647-99839-8

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

Umschlagabbildung: ziviani/Shutterstock.com

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.

www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen EPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

INHALT

Vorwort

Dr. Joachim Windolph

Einleitung

Kapitel 1: Kinder und Trauer

1 Grundsätzliches zur Trauerarbeit mit Kindern und Familien

1.1 Verlust und Trauer

1.2 Kinder trauern anders

1.3 Trauerfreie Räume

1.4 Trauer im System Familie

1.5 Familientrauerbegleitung

2 Die Themen Sterben, Tod, Trauer in der Entwicklung von Kindern

2.1 Prävention – das Thema Tod gehört zu jedem Leben

2.2 Todesverständnis früher und heute

2.3 Entwicklungspsychologische Aspekte und Trauerforschung

2.4 Erkenntnisse der Bindungsforschung

2.5 Todesvorstellungen in unterschiedlichen Lebensphasen junger Menschen

2.5.1 Die Wahrnehmung der Kleinkinder

2.5.2 Bedeutung der kognitiven und emotionalen Fähigkeiten im Vorschulalter

2.5.3 Schulkinder entwickeln andere Fragen und ein anderes Erleben

2.5.4 Vom Schulkind zum Jugendlichen – neue Erkenntnisperspektiven

3 Traueraufgaben und Trauerprozesse

3.1 Trauermodelle

3.2 Duales Prozessmodell der Bewältigung von Verlusterfahrungen (DPM)

3.3 Erweitertes Aufgabenmodell nach James William Worden

3.3.1 Themen der Trauer – Traueraufgaben

3.3.2 Mediatoren

3.3.3 Bewältigung der Traueraufgaben – unterstützende Faktoren im Umfeld

3.3.4 Verschiedene Trauerverläufe und komplizierte Trauerprozesse

4 Trauerreaktionen und Trauerprozesse bei Kindern

4.1 Körperliche, psychische, soziale und Verhaltensreaktionen

4.1.1 Regressionen

4.1.2 Trauma

4.1.3 Rollen und Funktionen von Gestorbenen

4.1.4 Grundbedürfnisse und Bedürfnisse

4.2 Mögliche Ursachen für Schwierigkeiten im Trauerprozess eines Kindes

4.2.1 Elternteil

4.2.2 Großeltern

4.2.3 Freundin/Freund

5 Trauererleben, Trauerprozesse von Geschwisterkindern

5.1 Frage nach der eigenen Identität

5.2 Frage nach der Geschwisterbeziehung vor dem Verlust

5.3 Mögliche Schwierigkeiten von Kindern beim Verlust eines Geschwisters

5.4 Mehrere zurückbleibende Geschwister

5.5 Erschwerte Trauer

6 Trauer von Kindern getrennter Eltern

6.1 Vorverlust: Trennung der Eltern

6.2 Trauer nach dem Tod eines Elternteils nach vorhergehender Trennung der Eltern

6.2.1 Mögliche spezifische Trauerreaktionen

6.2.2 Tod des fürsorgenden Elternteils

6.2.3 Tod des andernorts lebenden Elternteils

6.3 Der Tod eines Geschwisters in einer getrennten Familie

7 Trauer bei Kindern nach Suizid eines Angehörigen

Kapitel 2: Das DellTha-Konzept

1 Trauerpädagogische Grundkriterien im DellTha-Konzept

1.1 Bausteine der Trauergruppenarbeit nach dem DellTha-Konzept

1.1.1 Vernetzung zwischen Personen und Konzepten der Trauerbegleitung

1.1.2 Konzept ist das eine – Flexibilität das andere

1.1.3 Kommunikation – miteinander eine Sprache finden

1.1.4 Zeiten in der Gruppe – Zeiten danach

1.1.5 Ziele, Möglichkeiten, Grenzen der Arbeit

1.1.6 Sinnfragen brauchen ihre Zeit, Ehrlichkeit und Gespür

1.1.7 Verantwortlichkeit und Professionalität der Begleiter

1.2 Ziele des DellTha-Konzepts

1.2.1 Ziele für Kindertrauergruppen

1.2.2 Vermittlung der Trauerarbeit im Lebensumfeld

1.3 Methoden der Kindertrauerbegleitung im DellTha-Konzept

1.4 Strukturen und Rahmenbedingungen des DellTha-Konzepts

1.4.1 Geschlossene Kindertrauergruppe mit gleichzeitig offener oder geschlossener Begleitung der Bezugspersonen

1.4.2 Weitere Dienste und Angebote über die Gruppenarbeit hinaus

1.4.3 Voraussetzungen für Mitarbeiter/-innen

1.4.4 Qualitätssicherung durch Teamsupervisionen und Fortbildungen

1.4.5 Störenden, auffälligen oder schwierigen Verhaltensweisen begegnen

1.4.6 Kriterien für geeignete Veranstaltungsorte und Räume

1.4.7 Rüstzeug für die Gruppenstunden – notwendige Materialien

1.5 Vorgespräch – Informationsabend – Anmeldung

1.5.1 Vorgespräch mit Kindern und Bezugspersonen

1.5.2 Entscheidungshilfen für die Teilnahme an einer Trauergruppe

1.5.3 Wissenswertes zum jeweiligen Kind erfragen

1.5.4 Gruppenstruktur im Blick haben

1.5.5 Komplizierte Trauerprozesse erkennen und Ausschlusskriterien beachten

1.5.6 Gruppengröße und Alter der Kinder in der Gruppe

1.5.7 Informationsabend nach dem Vorgespräch

1.5.8 Zeitlicher Rahmen

1.5.9 Kosten – Dokumentation – Statistik

1.5.10 Dokumentationen zur Gruppe und zu den einzelnen Kindern

1.5.11 Kritische Selbstreflexion nach den Gruppenstunden

2 Das DellTha-Konzept im Hinblick auf die Traueraufgaben nach J. W. Worden – Grundsätze der Begleitung

2.1 Den Verlust als Realität akzeptieren

2.2 Den Schmerz verarbeiten

2.3 Sich an eine Welt ohne die verstorbene Person anpassen

2.4 Eine dauerhafte neue Verbindung zu der verstorbenen Person inmitten des Aufbruchs in ein neues Leben finden

2.5 Der Trauer Zeit geben

2.6 Grenzen der Trauerbegleitung im Rahmen einer Gruppe

Kapitel 3: Voraussetzungen für die Praxis der Arbeit in der Kindertrauergruppe

1 Aufbau einer Kindertrauergruppe – vor dem Start zu klärende Fragen

2 Grundhaltungen in der Begleitung trauernder Kinder

2.1 Wertschätzung der Kinder

2.2 Selbstkongruenz und Authentizität der Begleiter/-innen

2.3 Körpersprache kennen und verstehen – Körperkontakt sensibel einfließen lassen

2.4 Aktiv zuhören – behutsam sprechen

2.5 Informieren – bestätigen – anerkennen

2.6 Aufmerksam für die Träume der Kinder

2.7 Klare Sprache mit den Kindern sprechen

2.8 Vermittlung von Sicherheit und Zuverlässigkeit

2.9 Die Rolle als Begleiter/-in reflektieren

2.10 Grenzen erkennen: im Angebot und bei sich selbst als Begleiter/-in

3 Kommunikations- und Gestaltungsfelder der Kindertrauerarbeit: Wahrnehmung – Ausdruck – Ressourcenförderung – Neuorientierung

3.1 Gefühle erleben – Gefühle zeigen

3.1.1 Identifikation von Gefühlen

3.1.2 Gefühle und Befindlichkeiten spiegeln

3.1.3 Wut, Aggression, Zorn – Reaktionen von Trauer

3.1.4 Seelische Verletzungen erkennen, verstehen, kanalisieren

3.1.5 Wenn Kinder sich schuldig fühlen und sich schämen

3.1.6 Weinen hat seine Zeit

3.1.7 Freude und Lachen haben ihre Zeit

3.2 Kognitives Verstehen des Todes und des Verlustes

3.3 Sinnliches Wahrnehmen – sehen, berühren, erleben

3.4 Heilsames Erinnern

3.5 Kreativität und Körpersprache brauchen oft viel Raum

3.5.1 Worte finden im Schreiben

3.5.2 Malen

3.5.3 Basteln

3.5.4 Musik hören oder selber machen

3.5.5 Wahrnehmen der eigenen Körperlichkeit

3.5.6 Spiele und Sport

3.5.7 Rollenspiele

3.5.8 Entspannungsübungen

3.5.9 Fantasiereisen

3.5.10 Meditationen

3.5.11 Yogaübungen

3.6 Körper und Seele

3.6.1 Struktur im Alltag

3.6.2 Schlaf

3.6.3 Ernährung

3.6.4 Massagen

3.6.5 Atemübungen

3.6.6 Aromatherapie

3.4 Begegnungen mit der Natur

3.5 Literatur, Filme, Bilder, Musik

3.5.1 Bildbetrachtungen

3.5.2 Biografiearbeit

3.6 Umstrukturierung von Erwartungen und Überzeugungen

3.7 Offen für Sinnfragen

3.8 Hoffnung

3.9 Glaube und Spiritualität

3.10 Neuorientierung

3.11 Gestaltung von schweren Tagen: Jahrestage, Geburtstage, Feste

3.12 Gestaltete Mitte

4 Rituale und Symbole in der Kindertrauergruppenarbeit

4.1 Bedeutung von Ritualen

4.2 Rituale in der Trauergruppe

4.3 Rituale im System Familie

4.4 Zwanghafte Rituale

5 Die Praxis der Gruppenstunden Vorbereiten, Strukturieren, Durchführen, Nachbereiten

5.1 Vorbereitung

5.2 Verlauf der Gruppenstunden

5.2.1 Begrüßung und Mitteilungsrunde

5.2.2 Inhaltlicher Impuls: Information/Thema

5.2.3 Pause

5.2.4 Kreatives Angebot

5.2.5 Verknüpfung inhaltlicher Impuls und kreative Arbeit: Austausch

5.2.6 Zeit für Spiele und Bewegung

5.2.7 Schlussrunde

5.2.8 Ausklangsritual

5.2.9 Nachbesprechung und Reflexion

6 Inhaltliche Arbeit nach dem DellTha-Konzept in Kindertrauergruppen – Gestaltungsmöglichkeiten von acht Gruppenstunden

6.1 Erstes Kindergruppentreffen: Sich kennen lernen

6.2 Zweites Kindergruppentreffen: Gefühle

6.3 Drittes Kindergruppentreffen: Sich erinnern

6.4 Viertes Kindergruppentreffen: Wie habe ich den Tod erlebt? Was hat sich seit dem Tod für mich verändert?

6.5 Fünftes Kindergruppentreffen: Wo sind die Verstorbenen jetzt? Wie stelle ich mir das Danach vor?

6.6 Sechstes Kindergruppentreffen: Was tröstet mich? Wo lasse ich meine Ängste und Sorgen?

6.7 Siebtes Kindergruppentreffen: Hoffnung

6.8 Achtes Kindergruppentreffen: Abschluss, Auswertung, Abschied

Schlusswort und Dank

Literatur

Code für Download-Material

VORWORT

Ob das wohl gut sein mag, Kindern und Eltern bzw. anderen Bezugspersonen im quälenden Zustand der Trauer nicht den gegenseitigen Trost und die gemeinsame Aufarbeitung zuzutrauen? Wissen die engsten Beziehungspersonen nicht am treffendsten, was »ihren« trauernden Kindern wohltut? Und suchen die Kinder in den irritierenden Erfahrungen des endgültigen Abschieds nicht gerade die als verlässlich bewährten Menschen und allein in ihnen eine stützende Sicherheit?

Mit diesen und vielen anderen Bedenken ist sicher zu rechnen, wenn man Kindern und Erwachsenen, die gemeinsam in Trauerprozesse gesogen wurden, eine getrennte Begleitung anbietet. Doch die Erfahrung jener, die sich auf Trauergruppen für Kinder bzw. Jugendliche oder für Eltern bzw. Bezugspersonen eingelassen haben, spricht eine andere Sprache: Ihnen tut die zeitweilige Trennung und die Begegnung mit anderen, die Ähnliches durchleben, gut. Sie dürfen aus den gewohnten Rollen ausbrechen und sich durch die Krise in Neuem probieren, ohne zugleich mitdenken zu müssen, was die in der Nähe gewohnten und geschätzten Menschen von ihnen erwarten könnten. So finden Kinder, Jugendliche und Erwachsene gelöster wieder zusammen.

Aber ist dieser Umweg über die zeitweilige Trennung wirklich nötig? Nein, nicht nötig, aber womöglich hilfreich. Traurige Kinder und Jugendliche entwickeln im heimischen Umfeld eine zuweilen schwer verständliche Dynamik und fühlen sich von den Eltern unverstanden, wenn nicht sogar ignoriert. Eltern sind allzu sehr mit ihrer eigenen Trauer beschäftigt, als dass sie sich auf das spezielle Erleben der Heranwachsenden einlassen können. Alle entwickeln Defizitgefühle, in ihrer Belastung zu kurz zu kommen. Daher müssen Trauergruppen für Kinder bzw. Jugendliche und Gruppen für Eltern bzw. Bezugspersonen selten mühsam beworben werden. Das große Interesse zeugt von einem hohen Bedarf. Damit wächst aber zugleich die Suche nach kompetenten Begleitungen und hilfreichem Material.

Die in diesem Buch beschriebenen Erfahrungen, die unter dem Namen DellTha zu einem Konzept entwickelt wurden, können mehrfach dienlich sein: Sie führen ein in die theoretischen Differenzierungen vielfältiger Ursachen, Phänomene und Hilfen, die in Bezug auf die Trauer von Kindern und Heranwachsenden diskutiert werden. Sie bieten ein breites Repertoire an Methoden und Abläufen, was für Begleitende zu einer erleichternden Schatztruhe werden kann. Und zugleich wird nicht verheimlicht, dass es mit der bloßen Übernahme überzeugender Vorlagen nicht getan ist, sondern eine gründliche Auseinandersetzung durch fundierte Qualifizierungen unabdingbar ist, um trauernden Menschen, Großen und Kleinen, in der Begleitung wirklich gerecht zu werden.

Wer sich auf diesem Weg ehrlich der Trauer stellt, der eigenen und der fremden, wird erfahren, dass sie nicht nur quälen, sondern auch öffnen kann.

Dr. Joachim Windolph

Prof. für Kath. Theologie im Sozialwesen,

KatHO NRW, Abt. Köln

Supervisor (DGSv)

EINLEITUNG

Auch Kinder trauern, und oftmals sind ihre Trauerwege nicht weniger schwierig und langwierig als die von Erwachsenen. Wie Erwachsene erleben Kinder den Tod eines ihnen nahe stehenden Menschen als tiefen Einschnitt mit vielfältigen inneren und äußeren Veränderungen ihres gewohnten Lebens. Anders als Erwachsene haben Kinder oftmals aber nur wenige persönliche, emotionale und kognitive Möglichkeiten, das Erfahrene zu deuten, weil das Reservoir ihrer Kenntnisse und Lebenserfahrungen noch klein ist. Sie zeigen häufig durch ihr Verhalten, dass sie sich in einer psychischen Krisensituation befinden. Vielfach versuchen Kinder zudem, ihre Bezugspersonen zu schonen, indem sie ihre eigene Trauer zurückstellen. Sie brauchen die wache Wahrnehmung ihrer Trauer durch andere, sie brauchen Informationen, Zuwendung, Aufmerksamkeit und Unterstützung, um die Aufgaben, vor die ihre Trauer sie stellt, zu bearbeiten und den Verlust in das eigene Leben zu integrieren. Sie werden sich außerdem mit zunehmendem Alter immer wieder neu und ihren erweiterten Fähigkeiten entsprechend mit dem Verlust auseinandersetzten.

Aus diesen Erkenntnissen und langjährigen Erfahrungen ist in Zusammenarbeit zwischen dem Trauerzentrum für Kinder Thalita in Olpe und dem Institut für Trauerbegleitung Dellanima in Bergisch Gladbach das Konzept DellTha (Dellanima und Thalita) für die Arbeit mit trauernden Kindern und Bezugspersonen entstanden. In diesem Buch wird die Arbeit in Kindertrauergruppen im DellTha-Konzept vorgestellt.

Das erste Kapitel bietet grundlegende Informationen zum Themenfeld Kinder und Trauer. Dabei fließen Theorien aus der Trauerforschung, anderen Fachrichtungen, eigene theoretische Überlegungen sowie kreative und praktische Interventionen ein. Das zweite Kapitel stellt die Arbeit in Kindertrauergruppen nach dem Delltha-Konzept in seinem Ansatz, seinen Grundzügen und Zielen vor. Im dritten Kapitel dieses Teils erhalten Sie schließlich eine Einführung in die Praxis der Arbeit in einer Kindertrauergruppe nach dem DellTha-Konzept.

Zudem finden sich im Download-Material Vorschläge und Hinweise, welche die praktische Arbeit erleichtern sollen. Dazu zählen unter anderen: Ideen und Anleitungen zum kreativen Arbeiten, Impulstexte, ausführliche Hinweise zu weiterführender Literatur, Film- und Musiklisten sowie Anamnese-, Dokumentations- und Statistikbögen.

Eine kompetente Begleitung trauernder Kinder und Jugendlicher ist in Deutschland noch im Aufbau. Ich hoffe und wünsche, dass das Buch einen Beitrag dazu leisten kann, diesen Aufbau sowie die Entwicklung definierter Qualitätsmerkmale zu unterstützen. Es soll Hilfe und Orientierung sein für die, die sich auf diesem Feld engagieren möchten. Zugleich soll es eine Einladung sein, eigene Konzepte oder das hier vorgestellte Konzept weiter zu entwickeln, denn längst konnten nicht alle Aspekte dieses weiten Themenfeldes hier aufgegriffen werden. Ich freue mich darum über Rückmeldungen – auch über kritische.

Was dieses Buch nicht ersetzen kann ist die qualifizierte Ausbildung von Trauerbegleitern und Trauerbegleiterinnen. Wer nicht über die Große Basisqualifikation zur Trauerbegleitung1 verfügt und keinerlei z. B. in Praktika erworbene Erfahrungen in der Kindertrauerarbeit hat, kann nicht allein mit Hilfe dieses Buches Kindertrauergruppen leiten!

Das Buch richtet sich darum hauptsächlich an ausgebildete Trauerbegleiterinnen und Trauerbegleiter mit Erfahrung in der Begleitung von Kindern und Jugendlichen, es kann aber auch Lehrer/-innen und Erzieher/-innen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, nützen.

Stephanie Witt-Loers

_______________

1.Informationen zu zertifizierten Fortbildungen in der Trauerbegleitung gibt es beim Bundesverband Trauerbegleitung e. V.; www.bv-trauerbegleitung.de.

KAPITEL 1 KINDER UND TRAUER

1

Grundsätzliches zur Trauerarbeit mit Kindern und ihren Familien

Aufhebung

Sein Unglück

ausatmen können

tief ausatmen

so daß man wieder

einatmen kann

Und vielleicht auch sein Unglück

sagen können

in Worten

in wirkliche Worten

die zusammenhängen

und Sinn haben

und die man selbst noch

verstehen kann

und die vielleicht sogar

irgendwer sonst versteht

oder verstehen könnte

Und weinen können

Das wäre schon

fast wieder Glück

Erich Fried

aus: Beunruhigungen. © Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1984

Bevor ich auf grundlegende Aspekte der Kindertrauerarbeit eingehe, möchte ich kurz die Bedeutung des Wortes Dellanima erläutern und erklären, warum das Institut für Trauerbegleitung, Fortbildungen und Vorträge, an dem ich nach den im Folgenden vorgestellten Grundsätzen und Konzepten arbeite, diesen Namen trägt.

Schon seit langen Zeiten und fast in allen bekannten Kulturen benennen Menschen etwas, was über den Tod hinausgeht. Viele Menschen glauben, dass ein Teil von uns weiterlebt, entweder körperlos oder in einem anderen Körper. Oft bezeichnen wir das als unsere Seele. Das deutsche Wort Seele ist nach einer ethymologischen Hypothese von »See« abgeleitet. Seen galten bei den Germanen als Orte, an denen sich die Seelen der Menschen vor der Geburt oder nach dem Tod aufhielten. Dell’anima kommt aus dem Italienischen und bedeutet: von der Seele, aus der Seele. Die Vorstellung, dass von einem verstorbenen Menschen etwas bleibt, die Seele, die vielleicht bei Gott, in einem anderen Körper oder woanders weiterlebt, ist eine tröstliche Vorstellung, die offen ist für viele Glaubensauffassungen und Kulturen. Tröstend ist auch, dass die Erinnerung an einen Menschen in unserer Seele für immer einen Platz finden kann. Deshalb heißt das Institut für Trauerbegleitung, Fortbildungen und Vorträge: Dellanima.

1.1 Verlust und Trauer

Trauerprozesse werden ausgelöst durch einen Verlust. Kinder erleben in vielen Bereichen ihres Lebens Verluste. Das kann neben dem Tod der Verlust von Lebensraum, geistigen oder körperlichen Fähigkeiten, einem Haustier oder Spielzeug auch der Verlust von Lebenskonzepten (z. B. durch die Trennung der Eltern) sein. Trauer ist notwendig, um mit dem erlittenen Verlust leben und diesen in das neue Lebensgefüge integrieren zu können. Trauer ist ein Prozess, der länger dauert und sich vielfältiger ausdrückt, als bisher angenommen wurde. Die früher herrschende Auffassung in der Trauerforschung, dass Trauer bei allen Menschen gleich verlaufe, hat sich durch die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Faktoren, die Trauerprozesse beeinflussen und somit individuell prägen, verändert (vgl. Witt-Loers, Trauernde begleiten, S. 16–20).

1.2 Kinder trauern anders

Kinder trauern wie Erwachsene so schwer, so lange und doch nicht gleich. Weil sich ihre Trauer anders ausdrückt, wird sie oft als solche nicht erkannt, gewürdigt und begleitet. Kinder besitzen noch nicht die gleichen Voraussetzungen, sich mit Trauer auseinanderzusetzen, wie Erwachsene. Zu diesen Voraussetzungen gehören die Fähigkeit zu abstraktem Denken, das Gefühl für Zeit und deren Ablauf und die Möglichkeit, sich sprachlich komplex auszudrücken.

Der Tod eines nahestehenden Menschen ist für jedes Kind – auch für sehr kleine – ein nicht nur emotional folgenschweres Ereignis. Durch den Verlust werden Kinder mit neuen Lebenssituationen konfrontiert, mit denen sie zurechtkommen müssen. Sie werden gezwungen, sich einen neuen Stand in ihrer Lebenswelt zu suchen und neue Rollen einzunehmen. In der Kindheit erfahrene Verluste und deren Bewältigung haben Einfluss auf die weitere Entwicklung des Kindes. Betrauert ein Kind den erlittenen Verlust nicht angemessen, so treten nach J. W. Worden (amerikanischer Arzt und Trauerforscher, *1932) später häufig Depressionserscheinungen auf oder der erwachsene Mensch zeigt eine Unfähigkeit, engere Bindungen zu entwickeln (vgl. Worden, Beratung und Therapie in Trauerfällen, 2010, S. 220).

Haben Kinder nicht die Möglichkeit, ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen, und versuchen sie, ihre Bezugspersonen durch das Verdrängen der eigenen Trauer zu schützen, oder nehmen sie verdrängendes Trauerverhalten von Bezugspersonen zum Vorbild, besteht das Risiko einer Entwicklungsstörung oder dauerhaften psychischen Erkrankung. Daher ist es so wichtig, Kinder mit dem Erlebten nicht allein zu lassen.

Trauerprozesse müssen durchlebt werden, sind aber für Menschen, Erwachsene wie Kinder, enorm anstrengend und teilweise sehr beängstigend, da sich Trauer in körperlichen und psychischen Reaktionen ebenso wie in verändertem und ungewöhnlichem Verhalten zeigen kann. Hinterbliebene, auch Kinder, sind vielen unterschiedlichen, sehr intensiven und oft widersprüchlichen Gefühlen wie Schmerz, Verzweiflung, Liebe, Wut, Angst, Trauer oder Dankbarkeit ausgesetzt. Vielfach spielt die Auseinandersetzung mit Gedanken, schuldig zu sein, eine belastende Rolle. Die Gefühle in der Trauer bei Kindern sind oft sprunghaft, schwankend und können plötzlich wechseln. Sie reichen von Heiterkeit, manchmal auch Albernheit, bis hin zu Wut, Aggression und tiefer Traurigkeit (vgl. Witt-Loers, Trauernde begleiten, 2010, S. 43–53, S. 21).

1.3 Trauerfreie Räume

Kinder gehen mit ihrer Trauer anders um als Erwachsene. Sie brauchen für sich Pausen, in denen sie Kraft für den Trauerprozess sammeln können. Trauerfreie Räume und Zeiten, in denen das Trauern in den Hintergrund tritt, ermöglichen ein normales alltägliches Erleben, erleichtern das Aushalten der schweren, belastenden Gefühle der Trauer und erfüllen eine gesundheitserhaltende Funktion. Zugleich erhalten diese Phasen den Kontakt zum sozialen Umfeld und helfen bei der Anpassung an eine Welt ohne den Verstorbenen. In trauerfreien Zeiten erfahren Kinder, dass trotz des Verlusts noch stabile, zuverlässige Beziehungen und Sicherheiten existieren, dass es Strukturen im Alltag gibt, die erhalten geblieben sind. In meiner Arbeit mit trauernden Kindern und Jugendlichen erlebe ich, dass es gerade diese »trauerfreien Bereiche« sind, in denen die Trauernden ihre Kompetenzen und Ressourcen wahrnehmen und sich stabilisieren können. Das soziale Umfeld deutet das Verhalten von Kindern in der trauerfreien Zeit jedoch vielfach irrtümlich als ein »Nicht-Trauern« oder Verdrängen.

1.4 Trauer im System Familie

Die größte Zahl der Todesfälle ereignet sich im familiären Kontext. Dann ist nicht nur eine einzelne Person, sondern das gesamte Familiensystem von den Auswirkungen des Todes betroffen. Das Kindertrauerzentrum Thalita und das Institut Dellanima begreifen ihre Arbeit auf der Grundlage systemorientierter theoretischer Modelle, die genau dieses, d. h. die gesamte Familie, berücksichtigen. Oft bricht vor oder nach dem Tod eines nahestehenden Menschen das ganze Familiengefüge zusammen. Zusätzlich können finanzielle Probleme oder Schwierigkeiten bei der täglichen Versorgung von Kindern die ohnehin schwer zu ertragende Situation belasten. Mit den Anforderungen des Alltags zurechtzukommen bedeutet häufig eine Überforderung für die Familienmitglieder.

Kindertrauergruppen wirken meist entlastend auf die gesamte trauernde Familie oder die Bezugspersonen des trauernden Kindes. Sie können das gegenseitige Verständnis und die Kommunikation innerhalb des Systems fördern sowie das »System Familie« dabei unterstützen, gemeinsame Rituale sowie eine individuelle Trauerkultur zu finden. Bewusst informieren Thalita und Dellanima Bezugspersonen der Kinder über die Arbeit in der Kindertrauergruppe, ohne dabei den geschützten Raum der Kinder zu verletzen. Zunehmend begleite ich bei Dellanima Kinder getrennt lebender Eltern. Hier sollten zusätzliche Aspekte in der Begleitung, auf die ich später noch einmal eingehen möchte, beachtet werden, denn Vorverluste spielen häufig eine erschwerende Rolle im Trauerprozess (vgl. Witt-Loers, Zum Tod eines Kindes, in: Kowalski, 2011, Er wischt die Tränen ab von jedem Gesicht, S. 132–133; Witt-Loers, Trauernde Jugendliche in der Familie, 2014, S. 65 ff.).

1.5 Familientrauerbegleitung

Die Begleitung trauernder Kinder bedeutet für mich, eine systemische Perspektive einzunehmen, d. h. die Familie als Ganze in ihrer Situation zu sehen und mit den engen Bezugspersonen des Kindes in Kontakt zu sein. Aus diesem Grund werden neben den Kindertrauergruppen bei Dellanima auch Familienbegleitungen, Einzelbegleitungen und für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Beratung für Kinder, Jugendliche, Frauen, Männer, Bezugspersonen und Suizidgruppen sowie Gruppen für Kinder, Jugendliche, Frauen, Männer, Bezugspersonen und Suizidgruppen angeboten. Diese Angebote sind bedürfnisorientiert ausgerichtet und miteinander kombinierbar.

Kindertrauerbegleiter sollten, da sie immer mit den Bezugspersonen oder dem System Familie in engen Kontakt kommen, deshalb immer auch im Bereich der Erwachsenentrauer qualifiziert sein. Neben der Kindertrauergruppe kann in der zusätzlichen Begleitung erwachsener Bezugspersonen oder der gesamten Familie geklärt werden, welche Entlastungsmöglichkeiten und Ressourcen die Bewältigung des Alltags erleichtern können. Deshalb sollte in der Begleitung trauernder Familien auf die Trauer des Einzelnen im Familiensystem geschaut, aber ebenso das System als Ganzes in den Blick genommen werden. Die Begleitung sollte auf gemeinsam vereinbarte realistische Ziele ausgerichtet sein.

Im System Familie hat zwar jedes Mitglied durch das Sterben eines Menschen ein und dieselbe Person verloren, trotzdem können sich die Trauerreaktionen auf den Verlust bei jedem sehr individuell äußern. Jeder ist mit seiner Trauer und auf je eigene Weise mit der Bewältigung der Aufgaben, vor der die Trauer die Einzelnen stellt, beschäftigt (zu den Aufgaben der Trauer vgl. 39 ff.). Selten haben alle Familienmitglieder gleichzeitig mit der gleichen Traueraufgabe zu tun. Zudem hatte der Tote für jeden aus dem System eine andere Bedeutung, verknüpft mit der Rolle, die der Verstorbene für ihn hatte – als Kind, Vater, Mutter, Geschwister, Großvater, Freund usw. Dies erschwert oft das Verständnis füreinander, da alle mit ihrem eigenen Verlust belastet und beschäftigt sind. Deshalb sollte eine umfassende Unterstützung auch die Rolle, die der Verstorbene für jeden Einzelnen im System Familie hatte, berücksichtigen.

Unbewältigte Trauer in Familien kann nach J. W. Worden zur Herausbildung pathologischer Beziehungen in und zwischen den verschiedenen Generationen in einer Familie führen. Deshalb ist eine Begleitung, die den Umgang mit den Gefühlen der Trauer sowie offene Gespräche im Zusammenhang mit dem Verlust fördert und die einzelnen Familienmitglieder in ihren jeweils unterschiedlichen Trauerreaktionen würdigt, hilfreich. Da innerhalb der Familie Rollen neu verteilt oder eingeübte Rollen aufgegeben werden müssen, kann die Begleitung bei diesem Prozess hilfreich sein.

Bezugspersonen sollten nicht allein die Möglichkeit erhalten, sich auszutauschen und Kontakte zu knüpfen, sie sollten auch informiert werden über Themen wie Trauerreaktionen und das Verhalten von trauernden Kindern und Erwachsenen, über den Umgang mit trauernden Kindern, über Fragen des Zusammenhangs zwischen Trauer und dem sozialen Umfeld sowie über ganzheitliche Unterstützungsangebote kreativer, körperlicher oder auch ernährungswissenschaftlicher Art. Bezugspersonen sollten ermutigt werden, mit ihren Kindern über den Tod, über die Gefühle, Sorgen und Fragen in Zusammenhang mit dem Verlust zu sprechen. Informationen darüber, dass es besser ist, authentisch zu bleiben und Kindern zu zeigen, dass auch Erwachsene starke Gefühle haben, können für Bezugspersonen wichtig sein und ihnen helfen, Zuversicht zu vermitteln. Sie sollten wissen, dass die Aufrechterhaltung von Strukturen im Alltag hilfreich ist und Zeiten für schöne Erlebnisse geschaffen werden sollten. Vielfach unterstützt Familien die Ermutigung, das soziale Umfeld des Kindes (Freunde, Kita, Lehrer) zu informieren, um bei diesen ein Bewusstsein für die Situation zu schaffen. Sind Menschen des sozialen Umfelds für die Situation des Kindes sensibilisiert, können sie dem Kind mehr Verständnis, Zuwendung und wichtige Unterstützung geben. Meist allerdings sind Bezugspersonen aus der eigenen Betroffenheit heraus nicht in der Lage, den Sachverhalt selbst weiterzugeben. Hier kann eine Person des Vertrauens mit der Aufgabe beauftragt werden und so trauernden Kindern das Alltagsleben erleichtern.

Praxisbeispiel

Nicola und ihre Mitschüler bekamen im Kunstunterricht den Auftrag, ihr Leben in der Familie darzustellen und die Arbeit anschließend der Klasse vorzustellen. Nicola, deren Bruder vor drei Monaten durch einen Unfall gestorben war, traf der Auftrag emotional so heftig, dass sie sofort den Klassenraum verließ. Die Lehrerin konnte das Verhalten der Schülerin nicht einordnen und rügte den Vorfall. Wäre die Lehrerin über den familiären Hintergrund informiert gewesen, hätte diese schwierige Situation für Nicola vermieden werden können.

In der Begleitung trauernder Kinder und ihrer Bezugspersonen können wir über Trauerreaktionen, Trauerprozesse und weitere Unterstützungsangebote informieren. Außerdem sollen durch die Trauergruppe in der Familie Prozesse anregt werden, eigene Strategien und Strukturen zu schaffen, um mit dem Verlust umzugehen. Die Suche nach Formen der Kommunikation und familienspezifischen Ritualen soll gefördert werden. Eine bewusste Beschäftigung mit der Trauer und ihren Auswirkungen soll den Betroffenen, Kindern wie Bezugspersonen, Möglichkeiten eröffnen, Gefühle zu zeigen und sich im individuellen Umgang mit dem Verlust zu respektieren. Familien, in denen keine oder eine sehr eingeschränkte Kommunikation untereinander herrscht, bei denen Streit, wenig Teamarbeit und die Unterdrückung von Gefühlen das Zusammenleben bestimmen, sollten ressourcenorientiert durch eine Familientrauertherapie unterstützt werden (vgl. Kissane und Hooghe, 2011, Family Therapy for the Bereaved).

2

Die Themen Sterben, Tod, Trauer in der Entwicklung von Kindern

2.1 Prävention – das Thema Tod gehört zu jedem Leben

Den Themenkomplex Krankheit, Sterben, Tod und Trauer in der Familie und ebenso in der Kita oder Schule immer wieder präventiv einzubeziehen oder aus einem aktuellen Anlass heraus zu bearbeiten, das ist sinnvoll und notwendig. Es ist sinnvoll, Kindern zu erklären, was geschieht, wenn jemand stirbt, welche Merkmale den Tod und das Totsein kennzeichnen (keine Atmung, kein Herzschlag, blasse Haut, Kälte des Körpers). So fällt es leichter, mit einer Verlustsituation, wenn sie eintritt, umzugehen und Orientierung zu finden. Mittlerweile werden verschiedene präventive Projekte zum Umgang mit Sterben, Tod und Trauer im Kindergarten oder in der Schule angeboten (vgl. dazu Witt-Loers, Schulprojekte im Umgang mit Tod und Trauer. Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer – Heft 4/2012).

Kinder sollten erfahren und wissen, dass unser Leben sich wandelt, dass Abschied und Schmerz zu unser aller Leben gehören. Kinder können lernen, »abschiedlich« zu leben. Deutlich machen können wir, dass das Leben sich in beständiger Veränderung und Wandlung befindet, an uns selbst (das Kind war ein Baby, jetzt ist es schon größer …) und an Beobachtungen in der Natur. Unsere Welt ist ständigen Veränderungen und Wandlungen unterworfen, die den Abschied vom vorigen Zustand beinhalten und auch die Wirklichkeit des Todes umfassen (vgl. Witt-Loers, Sterben, Tod und Trauer in der Schule, 2009 und Trauernde Jugendliche in der Schule, 2012, S. 20 ff.).

Projekte: Download-Material /Literaturlisten /MDL 17

2.2 Todesverständnis früher und heute

Früher war die Kindersterblichkeit um einiges höher, und somit war es für Kinder fast üblich, um Geschwister zu trauern. Aufgrund dieser Erfahrungen und des damit verbundenen Umgangs der Erwachsenen mit dem Tod konnten Kinder ein sehr direktes Verständnis vom Tod für sich entwickeln. Heute begegnen Kinder dem Tod in den Medien oder in Computerspielen. Der Tod wird auf Distanz und als unrealistisch erlebt. Es entstehen viele Fantasien oder falsche Bilder vom Tod, die den Trauerprozess nach einem tatsächlichen Verlust erschweren können. Gerade deshalb ist eine präventive Beschäftigung mit den Themen Sterben, Tod und Trauer in Familien, Kitas und Schulen so wichtig.

Praxisbeispiel

In Trauergruppen und bei meinen Begleitungen erlebe ich immer wieder das Erstaunen von Kindern, wenn sie sich von der verstorbenen nahen Bezugsperson verabschieden. Dies verläuft zumeist ganz anders als in ihrer Vorstellung und wird dann so oder ähnlich kommentiert: »Der Papa war ja gar nicht aufgeschlitzt, das hatte ich gedacht.« – »Die Lara hat ganz friedlich und schön ausgesehen, gar nicht voller Blut und ekelig.«

Fragen im Zusammenhang mit dem Tod zeigen deutlich, dass Kinder durch falsche oder zu wenige Informationen oftmals ein unrealistisches Bild vom Tod entwickeln. »Hat es dem Papa sehr wehgetan, als er verbrannt und in die Urne gepackt wurde?« – »Ich wollte die Oma nicht sehen, weil ich dachte, sie ist ein Skelett.«

Lange Zeit hat man angenommen, dass gleichaltrige Kinder identische Todesvorstellungen haben, weil man davon ausging, dass sich die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen in relativ starren, altersabhängigen Entwicklungsstadien entfalten würden. Heute wissen wir, dass Kinder gleichen Alters sehr unterschiedliche Todesvorstellungen haben können. Eine Systematisierung der Erkenntnisentwicklung bei Kindern entlang eines Stufenmodells erleichtert zwar ein Verständnis trauernder Kinder; wir können so beispielsweise erklären, dass für Kinder, die noch finalistisch denken, also noch meinen, dass alles, was geschieht, einen Sinn hat, auch der Tod einen Zweck haben muss; aber sie darf nur Anhaltspunkte liefern für den individuellen Umgang mit jedem trauernden Kind. Deshalb sollten systematisierende Stufenmodelle nicht zum universellen Maßstab gemacht werden, sondern wir müssen sie mit vielen weiteren Aspekten, die zum individuellen Todesverständnis eines Kindes beitragen können, korrelieren.

Mein Eindruck ist, dass das Verständnis vom Tod bei Kindern geprägt wird von immens vielen Einflussfaktoren, wie z. B. von der persönlichen kognitiven Entwicklung eines Kindes, seiner individuellen Widerstandskraft (Resilienz) sowie von resilienzfördernden Faktoren in seiner Umgebung, von seinen individuellen Erfahrungen mit Verlusten und deren Bewältigung, seinen Erlebnissen, die mit dem Tod in Verbindung stehen, von der Erziehung und anderen sozialen Einflüssen wie Medien, Kultur, Religion, Ideologien, Wertvorstellungen, von der ökonomischen Situation und der präventiven Beschäftigung mit den Themen Krankheit, Leid, Sterben und Tod.

2.3 Entwicklungspsychologische Aspekte und Trauerforschung

Jeder Verlust und jedes darum trauernde Kind sind einmalig und individuell. Trotzdem lassen sich wiederkehrende Trauerprozesse und Reaktionen beobachten, die bei Hinterbliebenen häufig auftreten. Die Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie und aus der Trauerforschung sind wertvoll, um trauernde Kinder verstehen zu können, ohne dabei die Individualität des Kindes aus dem Blick zu verlieren. So können wir Probleme und Schwierigkeiten im Trauerprozess, die aus der Trauerforschung bekannt sind oder die ihren Ursprung in der Entwicklung, der Persönlichkeit und Geschichte des Kindes haben, eher unterscheiden und ihm die fachliche Unterstützung zukommen lassen, die es benötigt. Die Leitung einer Kindertrauergruppe erfordert daher meines Erachtens Kenntnisse aus den Bereichen der Entwicklungspsychologie, der Psychologie und Pädagogik sowie der Trauerforschung ebenso wie die Wahrnehmung individuell verankerter Probleme und den Einsatz innovativ, kreativ geprägter praktischer Arbeit.

In der Begleitung müssen wir sensibel auf eine individuelle Betrachtung jedes Kindes und dessen Schicksal achten. Dabei kann es hilfreich sein, entwicklungspsychologische Aspekte einzubeziehen. Es sollte uns in der Begleitung von trauernden Kindern bewusst sein, dass Kinder innerhalb ihres natürlichen Entwicklungsprozesses und mit zunehmendem Alter einen Verlust immer wieder anders und neu betrauern. So erlebe ich Bezugspersonen, die sich Jahre nach der Begleitung wieder melden, um sich darüber zu informieren, wie sie ungewohnte Haltungen und Sichtweisen des Kindes in Bezug auf den vergangenen Verlust deuten sollen. Sie fühlen sich verunsichert durch den sich entwicklungsbedingt wandelnden Ausdruck der Trauer der Kinder bzw. Jugendlichen über ihre Verlusterfahrung.

Praxisbeispiel

Helen, deren Mutter starb, als sie anderthalb Jahre alt war, stand plötzlich fünf Jahre später weinend vor ihrem Vater und sagte: »Mir geht es nicht gut, ich weiß jetzt, dass die Mama doch nie wieder kommen kann.«

In der frühen Kindheit konnte Helen den Tod der Mutter so nicht verstehen, erst im Laufe ihrer weiteren Entwicklung konnte sie die Endgültigkeit des Todes begreifen. Deshalb trauerte sie zu diesem Zeitpunkt noch einmal anders und neu um ihre Mutter.

2.4 Erkenntnisse der Bindungsforschung

Fast alle zu Fragen frühkindlicher Entwicklung forschenden Wissenschaftler beschreiben das erste und zweite Lebensjahr als einen besonderen Zeitabschnitt der menschlichen Entwicklung. In diesem Zeitraum laufen Entwicklungsprozesse auf vielen verschiedenen Ebenen gleichzeitig ab. Besonders möchte ich hier die Ausbildung der Fähigkeit zu emotionaler Bindung an andere Menschen des sozialen Umfelds hervorheben. John Bowlby, britischer Pionier der Bindungsforschung († 1990), und nach ihm auch andere vertreten die Auffassung, dass Bindung biologisch verankert und Voraussetzung für das Überleben und die Entwicklung des Kindes ist. Mit verschiedenen Studien konnte diese These belegt und zudem nachgewiesen werden, dass Kinder in der Lage sind, enge Bindungen an mehrere Bezugspersonen gleichzeitig aufzubauen.

Durch positive Bindungserfahrungen, so J. W. Worden, kann sich der aktiv-emotionale Bewältigungsstil, der im Umgang mit Problemen und Verlusterfahrungen am hilfreichsten erscheint, entwickeln. Ähnlicher Auffassung sind auch J. Bowlby und M. Ainsworth.

M. Ainsworth, amerikanische Entwicklungspsychologin († 1999), unterscheidet zwischen drei Bindungsstilen, dem unsicher-vermeidenden, dem sicher balancierten und dem ambivalent-unsicheren Bindungsstil. Es konnte in verschiedenen Studien gezeigt werden, dass ein Wechsel von einem sicheren Bindungsstil hin zu einem unsicheren als Folge schwerwiegender Ereignisse im Leben von Kindern auftritt. Unsichere Bindungsstile entstehen auch durch problematische Eltern-Kind-Beziehungen. Bei Verlusten führt ein unsicherer Bindungsstil eher zu komplizierter Trauer und erschwert die Traueraufgaben. Die Trauerforscher J. W. Worden, M. Stroebe und H. Schut beziehen deshalb Bindungsstile und Bewältigungsstile in ihre Trauermodelle ein.

Wesentliche und dauerhafte Schädigungen in der Entwicklung des Kindes können ausgelöst werden durch instabile Bindungen, durch bestimmte Verhaltensweisen von Bindungspersonen, die unsichere Bindungsstile auslösen können (fehlende Feinfühligkeit, die die kindlichen Bedürfnisse nicht wahrnimmt und nicht angemessen darauf reagiert, wenig Interaktion mit Bezugspersonen, Misshandlungen, Alkoholismus, Gewalt, mangelnde Fürsorge), durch einen häufigen Wechsel der Bezugspersonen des Kindes, das keine Gelegenheit erhält, Bindung aufzubauen, sowie durch plötzliche, unvorbereitete oder häufige Wechsel in eine fremde Umgebung. Jüngere Kinder können starke Trennungsängste und Verhaltensauffälligkeiten wie anhaltendes Weinen, Essstörungen oder Schlafstörungen entwickeln. In der Pubertät können Verhaltensauffälligkeiten wie Überempfindlichkeit, Nägelbeißen, Depressivität, erhöhte Aggressivität, Schlafstörungen bis hin zu selbstzerstörerischem Verhalten auftreten (vgl. Reddemann und Dehner-Rau, 2007, Trauma, S. 19–24).

Für die Arbeit mit trauernden Kindern haben diese Forschungsergebnisse in verschiedener Hinsicht Relevanz. Unsichere Bindungsstile können die Bewältigung eines Verlustes erschweren. In der Begleitung sollte darum der jeweilige Bindungsstil berücksichtigt werden; denn er bestimmt mit darüber, wie die Aufgaben der Trauer angegangen werden können.

Verlieren kleine Kinder eine enge Bezugsperson, sollten wir, um die weitere Entwicklung des Kindes positiv zu beeinflussen, Hinterbliebene dazu ermuntern, möglichst eine feste Bezugsperson zur Betreuung des Kindes vorzusehen. Ebenso können die entwicklungspsychologischen Erkenntnisse dann hilfreich sein, wenn pubertierende Kinder in der Gruppe sind, die auffälliges Verhalten zeigen und einen Verlust durch einen Todesfall schon in der frühen Kindheit erfahren haben.

2.5 Todesvorstellungen in unterschiedlichen Lebensphasen junger Menschen

Im Folgenden möchte ich einen kurzen Überblick darüber geben, wie sich das Todesverständnis von Kindern im Zuge ihre Entwicklung und ihres Älterwerdens verändert. Die Altersangaben sind dabei lediglich als ungefähre Einordnung zu verstehen. Weil familiäre, soziale, kulturelle, ideologische und andere individuelle Faktoren mindestens ebenso starken Einfluss auf das Todesverständnis eines Kindes haben, sollten wir stets mit einer emphatischen, wertschätzenden und achtsamen Haltung auf jedes einzelne Kind, seine Lebensgeschichte und seine persönlichen Todesvorstellungen schauen.

M. Plieth