Nie wieder wir - Stephanie Witt-Loers - E-Book

Nie wieder wir E-Book

Stephanie Witt-Loers

0,0

Beschreibung

Wenn der Partner stirbt, verändert sich das Leben der zurückbleibenden Frau grundlegend. Neben dem Schmerz erleben Frauen enorme Belastungen und Sorgen. Zukunftsplanungen wie auch der Lebensalltag müssen anders gestaltet und die Verantwortung für Kinder allein getragen werden. Einsamkeit und Überforderung können ebenso quälend auftreten wie Schuld und Scham. Eigene Lebensfreude, Lebensmut und manchmal sogar der Lebenswille gehen verloren. Stephanie Witt-Loers greift nicht nur Ängste, Gefühle und Belastungen  auf, denen Frauen nach dem Tod ihres Partners ausgesetzt sind, sondern auch heikle Themen, die  im Zusammenhang mit dem Tod des Partners eine Rolle spielen können. Sie klärt darüber hinaus über wesentliche Aspekte von Trauerprozessen auf. Ziel ist es, sich selbst besser zu verstehen sowie Möglichkeiten aufzuzeigen, die den Weg der Trauer in der neuen Lebenssituation erleichtern können. Zudem berichten betroffene Frauen, die den Tod eines Partners erlebt und überlebt haben, von ihren ganz persönlichen Erfahrungen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 327

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ich möchte dieses Buch allen Frauen widmen, die um ihren Mann trauern.

Zugleich soll es an die verstorbenen Männer erinnern, deren Frauen an diesem Buch mitgearbeitet haben, in der Hoffnung, dass es anderen trauernden Frauen von Nutzen sein kann. Insbesondere sei das Buch darum gewidmet: Stefan, Markus, Werner, Stefan, Holger, Jürgen und Peter sowie ihren Frauen und Kindern.

Dein Name bleibt

Mit dem Herzen schrieb ich in den Sand

Dein Name bleibt

Auch wenn die Winde

Tausend Tänze tanzen

Und wilder Wirbel zu zerstören droht

Was in mir nicht zerstörbar ist

Dein Name bleibt

Auch wenn’s im Muschelgang des Herzens

Flüsternd raunt

»Warum?«

Auch wenn das Silberrad des Lebens

Wie unbefragt und selbstverständlich

Weiterläuft – Roulette des Seins?

Du lebst in meinen Träumen fort

Ganz wie ein Blütenbaum

Voll duftender Erinnerungen

Denn Du warst gestern

Du wirst morgen sein

Dein Name bleibt

Und in mir die Atemwunde

Weil ich in mir

Dich nicht vergessen kann.

(Drutmar Cremer)

Stephanie Witt-Loers

Nie wieder wir

Weiterleben von Frauennach dem Tod ihres Partners

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit einer Abbildung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-99838-1

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

Umschlagabbildung: Anton Watman/Shutterstock.com

Die Hinweise in diesem Buch sind von der Autorin und vom Verlag sorgfältiggeprüft. Autorin und Verlag können jedoch keine Garantie übernehmen undschließen jede Haftung für Personen-, Sach- und Vermögensschäden aus.

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen /Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällenbedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Vorwort

1Nie wieder: Wir

1.1Mitten im Leben – und dann kam der Tod

1.2Du fehlst

1.3Keine gemeinsame Zukunft mehr, alles vorbei – Maria erzählt

1.4Mein halbes Leben mit dir

1.5Gefühls- und Gedankenchaos

1.6Quälende und unbeantwortete Fragen

1.7Quälende Gedankenspiralen durchbrechen

1.8Ängste

1.9Allein sein, allein leben

1.10Zärtlichkeit und Sex

1.11Urlaub und Ausgehen

2Trauer verstehen: Reaktionen und Prozesse

2.1Leben ohne dich – Dominique erzählt

2.2Wie war unsere Beziehung?

2.3Trauer verstehen

2.4Trauerreaktionen und Trauerthemen

2.5Todestage und andere besondere Tage

2.6Fortgesetzte Beziehung, Vermächtnisse und Erinnerungen

3Gesellschaft und Familie

3.1Familie und Freunde

3.2Gesellschaftliche Konsequenzen

3.3Beruf in der Trauer: Ressource oder Belastung?

3.4Nachlass, Ämter und Renten

3.5Finanzielle Not

4Todesumstände und Trauer

4.1Plötzlich warst du tot

4.2Aus unserem Leben gerissen – Stefanie erzählt

4.3Schwer krank – bald bist du tot

4.4Unser Weg seit Beginn seiner Krankheit – Susanne erzählt

4.5Fremdgegangen und andere Geheimnisse

4.6Suizid – mein Mann hat sich das Leben genommen

4.7Warum hast du uns das angetan? – Christina erzählt

5Mein Leben weiterleben

5.1Was hilft mir, weiterzuleben?

5.2Welche Anker und Rettungsringe gibt es?

6Alleinerziehend und trauernd

6.1Alleinstehend und alleinerziehend

6.2Blick auf die Kinder

6.3Wir sind noch immer eine Familie – Iris erzählt

7Leben ohne dich und leben mit dir

7.1Neuer Kontakt, aber wie?

7.2Neue Beziehungen – neuer Lebenspartner

7.3Augenblicklich war die Zukunft weg – Silke erzählt

8Jeder ist anders – vielfältige Unterstützungsangebote

9Kurzgeschichte: Der ungebetene Gast

10Literatur, Internetlinks und Kontaktstellen

Dank

Vorwort

Liebe Leserinnen,

Das Schlimmste, Unvorstellbare ist passiert. Ihr Mann ist tot. Er lebt nicht mehr. In meiner Praxis als Trauerbegleiterin begegnen mir immer wieder Frauen, die mit diesem schrecklichen Lebensschicksal konfrontiert sind. Frauen, die sich nicht vorstellen konnten, diesen grausamen Schmerz des Verlustes zu überleben. Frauen in unterschiedlichen Lebenssituationen und Erwartungen an das Leben mit dem Mann, den sie liebten.

Was kann in einer solchen Lebenssituation eigentlich überhaupt helfen? Wie kann ich es schaffen, zu überleben? Wie kann ich mein Leben neu ausrichten? Diese und viele andere Fragen werden in den Begleitungen immer wieder gestellt. In diesem Buch möchte ich ihnen noch einmal nachgehen. Ich möchte Wege aufzeigen, Informationen geben, dazu anregen, eigene Bedürfnisse und Ressourcen aufzudecken, und betroffene Frauen von ihren Erlebnissen erzählen lassen. Zugleich fließen Erfahrungen ein, die ich in den Begleitungen meiner Klientinnen machen durfte (Namen und Einzelheiten wurden zum Schutz der Betroffenen verändert). Ich orientiere mich in meinen Ausführungen an Erkenntnissen verschiedener Trauerforscher, wie zum Beispiel William Worden, Dennis Klass, David Trickey, Hansjörg Znoj, Chris Paul, Margaret Stroebe und Henk Schut. Zur besseren Lesbarkeit habe ich, wenn es um Ihr Kind oder Ihre Kinder geht, den Plural gewählt, auch wenn für Sie nur eines davon infrage kommt.

Vielleicht fragen Sie sich: Warum eigentlich ein Buch ausschließlich für Frauen, die ihren Mann verloren haben, und kein Buch für Männer und Frauen? Zum einen: In den Begleitungen trauernder Frauen und Männer habe ich geschlechtsspezifische Unterschiede im Umgang mit dem Verlust des Partners/der Partnerin wahrgenommen, die Aufmerksamkeit benötigen. Die Frauen in der Trauergruppe bestätigten diesen Eindruck. Sie wollten lieber unter sich bleiben und keine trauernden Männer in der Gruppe aufnehmen, damit Frauenthemen genügend Raum und Schutz bekommen. Das Buch richtet den Hauptfokus auf jüngere Frauen, auf deren Sorgen, Bedürfnisse und Neuausrichtungen. Dennoch sind die wesentlichen Themen auch für die Trauerarbeit älterer Frauen relevant. Zum anderen: Das Spektrum der wesentlichen Fragen in diesem Zusammenhang ist umfangreich, daher konnte ich selbst in diesem Buch nicht alle Aspekte zum Thema ansprechen oder vertiefen.

Die Wahrscheinlichkeit für Frauen, irgendwann ein Leben als »Witwe« zu führen, ist hoch, weil ihre Lebenserwartung höher ist als die der Männer. Hinzu kommt, dass Männer in der Beziehung häufig die Älteren sind. Welche gesellschaftliche Bezeichnung gibt es eigentlich für Frauen, die ihren Partner verloren haben? Wenn sie verheiratet waren: Witwe? Eher ein antiquiertes Wort, das sich für viele junge Frauen, deren Mann gestorben ist, nicht richtig anfühlt. Und was ist mit all den Frauen, die unverheiratet zusammengelebt haben oder gerade auf dem Weg in eine gemeinsame Wohnsituation waren, als all das plötzlich wegbrach? Hier spüre ich wieder einmal mehr, wie schwer es ist, angemessene Worte für junge, hinterbliebene Frauen zu finden.

Mit diesem Buch möchte ich Sie gern ein Stück begleiten. Den Schmerz kann ich Ihnen nicht nehmen. Die hier im Buch zusammengetragenen Informationen, Erfahrungen und Sichtweisen können Sie jedoch dabei unterstützen, einen Umgang mit Ihrem persönlichen Schmerz zu finden. Sie können entlasten und dabei helfen, das eigene Leben neu zu ordnen und andere Lebensperspektiven für sich zu entwickeln. Ein Patentrezept, wie die Trauer und der Schmerz am besten überlebt und bearbeitet werden können, gibt es nicht. Es ist ein langer, sehr individueller Prozess, den jede für sich mit ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten und in ihrem ganz persönlichen Tempo durchmacht. Denn jede Frau, jede Lebenssituation und jede Beziehung zum verstorbenen Mann war und ist anders.

Von Herzen wünsche ich Ihnen, dass Sie, wie das Foto auf dem Buchcover zeigt, mit dem Riss in Ihrem Herzen leben und – auf welchen Wegen auch immer – wieder zu einem erfüllten, glücklichen, anderen Leben finden können.

Stephanie Witt-Loers

1Nie wieder: Wir

1.1Mitten im Leben – und dann kam der Tod

Erste Reaktionen

»Das ist nicht wahr, das kann nicht sein!« Vielleicht waren das auch Ihre Gedanken. Es kann nicht sein, dass er nicht zurückkommt, dass er tot ist. Das war alles nur ein böser Traum. Gleich erwache ich und es ist vorüber. Es kann, darf einfach nicht sein, dass das wahr ist, dass das passiert ist und dass dies mein Schicksal sein soll. Alles fühlt sich fremd an. Sie können es nicht fassen, nicht glauben. Derartige Gedanken tauchen nach dem Tod eines nahestehenden Menschen häufig auf – auch dann, wenn Sie um den bevorstehenden Tod wussten. Zudem kann es sein, dass Sie weinen, schreien, frieren, schwitzen oder das Gefühl haben, alles durch eine Glasglocke oder wie durch Watte zu erleben. Vielleicht haben Sie den Eindruck, dass Sie gar keine Gefühle mehr haben und dass sich alles taub oder unwirklich anfühlt. Vielen Menschen fällt es anfangs sehr schwer, etwas zu essen, zu trinken oder zu schlafen. Manche Trauernde reagieren mit gereiztem Magen, müssen sich übergeben, haben Bauchkrämpfe oder Herzrasen. Dies sind normale erste Reaktionen auf den Tod eines nahestehenden Menschen und/oder auf die Diagnose einer lebensverkürzenden Erkrankung. Denn Trauerreaktionen entstehen nicht nur nach dem Tod eines Menschen, sondern immer dann, wenn wir etwas verlieren, was uns wichtig war und womit wir uns innerlich verbunden fühlen – also auch nach dem Verlust von Lebensträumen, Lebensperspektiven, körperlichen und geistigen Fähigkeiten, Lebensraum, unserer Arbeit oder anderen Veränderungen, die wir uns so nicht gewünscht haben. Wir kennen zudem viele weitere mögliche körperliche, seelische und Verhaltensreaktionen auf einen schweren Verlust. Diese möchte ich Ihnen im Kapitel 2 noch einmal genauer beschreiben. Erfahrungsgemäß entlastet es Betroffene, etwas über solche Reaktionen sowie über Trauerprozesse zu wissen. Das hilft, sich selbst und das Geschehen besser einordnen zu können. Auch das Lebensumfeld sollte über mögliche Reaktionen und Trauerverläufe informiert sein, um Trauernde bestmöglich zu unterstützen.

Nie wieder

Vielleicht haben Sie den Eindruck, dass es Ihnen niemals möglich sein wird, mit dem Verlust leben zu können. »Wie kann ich überhaupt weiterleben?«, »Warum sollte ich weiterleben?«, »Nie wieder werden wir …! Kann ich jemals wieder glücklich sein?« Bitte vertrauen Sie darauf, dass es möglich ist. Vielleicht können Sie es jetzt noch nicht glauben. Viele Male durfte ich erfahren, wie Menschen nach unglaublichen Schicksalsschlägen gelernt haben, mit dem Erlebten zu leben. Ich durfte an neuen Lebenswegen, neuem Lebensglück teilhaben. Dabei haben die Frauen ihre verstorbenen Männer nicht vergessen, und die Trauer ist auch nie ganz verschwunden, denn sie gehören ganz natürlich zum Leben wie so vieles andere auch. Lesen Sie dazu auch den Beitrag von Silke im Kapitel 7.3.

Hinweis: Wir fangen gleich hier mit den wesentlichen Voraussetzungen an, damit Sie den Tod Ihres Mannes »überleben«. Trauern kostet körperliche und seelische Kraft. Deshalb ist es wichtig, diese Kraftquellen immer wieder aufzufüllen. Dazu gehört auch zu essen, zu trinken und auszuruhen. Wenn Ihnen das Essen schwerfällt, versuchen Sie bitte wenigstens über den Tag verteilt gesunde Kleinigkeiten zu sich zu nehmen. Trinken Sie Fruchtsäfte, Tee, Mineralwasser. Ihr verstorbener Mann hätte sicher nicht gewollt, dass Sie nicht mehr für Ihr eigenes Überleben sorgen.

Du fehlst unendlich!

Das Bett neben mir bleibt leer,

Deine Zahnbürste unangetastet,

Ich höre Deinen Schlüssel nicht mehr in der Haustür,

Jetzt tut es weh, dass die Zeitung immer ordentlich auf dem Tisch liegt,

Oder Deine T-Shirts gefaltet im Schrank, statt daneben liegen.

Wir wollten doch unser Leben teilen –

Unsere Freuden, unsere Sorgen und die Banalitäten des Alltags!

Noch lange wollten wir das!

Und wir hatten noch so viel geplant!

Nie wieder wir:

Das kann und will ich nicht begreifen!

Ich will unser altes Leben zurück!

Möglicherweise beschäftigen Sie ähnliche Gedanken und Gefühle nach dem Tod Ihres Mannes. Ihr Mann ist gestorben. Er wird nie wiederkehren. Das ist Ihre persönliche, schmerzhafte Realität. Der Tod Ihres Partners beeinflusst und verändert nahezu Ihr gesamtes Leben. Viele Lebensbereiche sind betroffen und es wird Zeit, Geduld und Kraft brauchen, sich ein anderes Leben aufzubauen.

Angesichts des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels in den letzten Jahrzehnten haben sich neben der klassischen Ehe als privilegierte und normierte Lebensweise viele andere Lebensformen entwickeln können. Menschen leben in anderen Lebenskontexten und mit anderen Weltanschauungen als früher. Dennoch hat sich die Anerkennung solcher Lebensformen in letzter Konsequenz gerade in Bezug auf den Tod eines Lebenspartners noch nicht der Bedeutung angepasst, die sie für Betroffene haben. Zudem sind Ansprüche auf Schutz und Gleichstellung in rechtlicher und finanzieller Hinsicht nicht möglich und bedeuten eindeutig eine Benachteiligung für junge Frauen, die ihren Partner durch den Tod verlieren.

Wer ist eine Witwe?

Ich möchte in diesem Buch bewusst auf die Nutzung des Begriffs »Witwe« verzichten. Laut Wikipedia und gesellschaftlich gesehen ist eine Witwe »eine überlebende Person, deren Ehepartner verstorben ist«. Frauen, die unverheiratet waren und deren Partner gestorben ist, haben es aus meiner Sicht häufig schwerer, in ihrer Trauer um ihren geliebten Mann anerkannt zu werden. Sätze wie »Ihr wart doch noch nicht mal verheiratet«, »Ihr habt gar nicht zusammengewohnt« oder »Gut, dass ihr noch keine Kinder hattet« schmälern die Bedeutung des Verlusts und lassen den Eindruck entstehen, dass diese Frauen nicht das Recht haben, intensiv um den verstorbenen Mann zu trauern. Tatsächlich haben Frauen es in einer solchen Situation nicht nur hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Anerkennung ihres Verlusts, sondern auch formalrechtlich schwer, wenn es um Erinnerungsgegenstände oder Vermächtnisse geht.

Judith (33) wohnt mit ihrem Mann Daniele unverheiratet in dessen Elternhaus. Die Eltern sind beide verstorben. Als Daniele an einem Hirntumor erkrankt, begleitet und pflegt Judith ihn bis zu seinem Tod. Die Geschwister von Daniele erben das Elternhaus. Judith muss ausziehen. Sie verliert neben ihrem Mann auch ihr Zuhause. Bemerkungen von Judiths Mutter, wie »Wenn er dich wirklich geliebt hätte, hätte er dich auch geheiratet, dann wärst du jetzt versorgt«, verletzen und verunsichern Judith in ihrem tiefen Schmerz zusätzlich.

Bedeutet »nicht zusammengelebt« weniger Verlustschmerz?

Frauen, die nicht mit dem verstorbenen Mann zusammengelebt haben, werden als Trauernde häufig nicht wahrgenommen und anerkannt. Sie werden in Abschiedsplanungen nicht einbezogen, als Trauernde nicht benannt, nicht bedacht oder ganz bewusst ausgeschlossen, wenn es um Vermächtnisse geht. Es wird vielfach unterstellt, dass der Verlust von diesen Frauen als weniger schmerzhaft empfunden wird als von Frauen, die mit ihrem Mann zusammengelebt haben oder verheiratet waren.

Hinweis: Wenn Sie sich selbst in so einer Situation befinden, nehmen Sie bitte keine Bewertungen von außen an. Sie haben den wichtigsten Menschen an Ihrer Seite verloren – einen Menschen, mit dem Sie zwar nicht den Haushalt oder formale Papiere geteilt haben, aber jemanden, der Ihnen am nächsten stand, mit dem Sie Freuden und Sorgen geteilt, für den Sie Verantwortung übernommen haben und mit dem Sie Zukunftspläne hatten.

Marita (49) trauert um ihren Mann Andy. Beide hatten Trennungen von anderen Partnern hinter sich. Sie waren seit acht Jahren ein Paar, hatten aber beschlossen, nicht zu heiraten und in den eigenen Wohnungen wohnen zu bleiben. Eigentlich hatten sie vor, ein Testament zu machen, um dem Überlebenden den Anspruch auf ein Erbe zu ermöglichen. Der Tod kam jedoch schneller als erwartet. Nach Andys Unfalltod erben seine Kinder den gesamten Nachlass und sind nicht bereit, Marita auch nur einen Erinnerungsgegenstand zu überlassen.

Antje und Ingo (beide 32) waren seit einem halben Jahr ein Paar. Sie kannten sich zwar schon länger, hatten aber die Liebe zueinander erst später entwickelt. Sie hatten große Pläne miteinander, wollten heiraten, Kinder bekommen und zusammen alt werden. Bei einem Betriebsunfall kam Ingo zu Tode. Auf der Todesanzeige steht Antjes Name jedoch nicht. Sie gehört noch nicht »richtig« zur Familie und zudem sind sechs Monate ja noch keine lange Zeit der Beziehung, argumentiert Ingos Familie. Bei der Trauerfeier kondolieren die Trauergäste der Familie. Antje steht am Rand und wird kaum beachtet. Zwar bekommt sie einige Erinnerungsgegenstände an Ingo, wird aber an der Gestaltung von Ingos Grab nicht beteiligt.

Zerbrochene Lebensplanungen

Susanne (31) hat vor vier Monaten ihren Mann Jörg (34) durch einen plötzlichen Arbeitsunfall verloren. Gerade hatten sie es sich in ihrem Reihenhaus mit einem kleinen Garten gemütlich eingerichtet. Sie hatten noch viele gemeinsame Pläne, wollten noch eine weite Reise machen, Kinder bekommen, zusammen alt werden und und und. Jetzt steht Susanne in der Küche vor dem Foto ihres Mannes und weint wie so häufig. Essen kann sie kaum etwas. Sie zwingt sich jedoch täglich dazu, weil sie weiß, dass Jörg nicht gewollt hätte, dass sie auch zu Grunde geht. Eigentlich wäre es aber genau das, was Susanne sich wünscht. Zu Jörg, wie auch immer. Sie möchte das eigene Leid beenden können, es beenden dürfen.

Angela (28) ist vor sechs Monaten wegen Lars (36) von Stuttgart nach Köln gezogen. Die beiden hatten zuvor ein Jahr lang eine Wochenendbeziehung geführt und sich dann entschlossen, ihr Leben auch im Alltag zu teilen. Für beide ging ein großer Wunsch in Erfüllung, auch wenn Angela dafür in Stuttgart ihre Wohnung aufgegeben, ihr gewohntes Umfeld verlassen und ihr dort wichtige, enge Beziehungen ein Stück weit aufgeben musste. Lars stirbt nach sechs Monaten eines glücklichen Zusammenlebens nach einer kurzen schweren Krankheit. Angela findet sich allein wieder in einer noch fremden Stadt, in der sie kaum Menschen kennt.

Norbert (43) stirbt nach kurzer Krankheit. Marlene (43) bleibt mit den gemeinsamen Kindern Marcel (4) und Lisa (8), um die sie sich hauptsächlich gekümmert hat, zurück. Neben dem Schmerz um ihren Mann hat sie große finanzielle Sorgen, weil die Familie gerade ein Haus gekauft hatte. Sie muss das Haus verkaufen, mit den Kindern umziehen und sich eine Arbeit suchen.

Möglicherweise haben auch Sie Lebensräume und Beziehungen aufgegeben, sind umgezogen, um mit Ihrem Mann zu leben, haben Ihren Freundeskreis, Ihren Lebensrahmen und/oder sogar Ihren Beruf aufgegeben. Nun stehen auch Sie in einer anderen Stadt, kennen kaum Menschen, die Freunde Ihres Mannes sind Ihnen noch fremd und Sie fühlen sich allein.

Wie auch immer: Er ist tot!

Vielleicht haben Sie zusammen gewohnt oder hatten vor, zusammenzuziehen, planten eine Familie, eine gemeinsame berufliche Zukunft, hatten konkrete Vorstellungen zu Ihrer gemeinsamen Lebensgestaltung oder waren bereits verheiratet, hatten gemeinsame Kinder. Vielleicht haben Sie schon Ihr halbes Leben miteinander geteilt, hatten Pläne für den absehbaren Ruhestand – egal, in welcher der beschriebenen Wohn- und Lebenssituation Sie sich befunden haben. Sie wurden gegen Ihren Willen verlassen und müssen sich nun neu ausrichten und andere Lebensperspektiven entwickeln. Ich wünsche Ihnen deshalb, dass Sie in diesem Buch Hinweise darauf finden, die Ihnen dabei helfen, herauszufinden, was Sie jetzt brauchen und wie Sie die schwere Lebenssituation überstehen können.

1.2Du fehlst

»Der Tod hat mir das Herz zerrissen. Ich dachte, ich würde auch sterben. Aber das hätte Dario nicht gewollt. Mein Leben ist weitergegangen und ich empfinde es heute wieder als ein kostbares Geschenk.« Claudia (35)

Unsere Geschwister und Eltern haben wir uns nicht aussuchen können. Für unseren Partner konnten wir uns freiwillig entscheiden. Mit dem Tod des Partners sind die Freude der gemeinsamen Lebensplanung und die Hoffnung, viele Zukunftswünsche erfüllen zu können, nichtig geworden. Stirbt der Lebenspartner, verändert sich das Leben radikal. Alles, was bisher sicher erschien, ist durch den Tod fragwürdig oder beängstigend geworden. Ihr Leben ist unsicher und Sie wissen nicht, wie es weitergeht, wohin Ihr Weg Sie führen oder ob es überhaupt noch einen Weg geben wird. Vielleicht haben Sie den Eindruck, nicht normal zu sein, verrückt zu werden oder es zu sein. Sie kennen sich selbst nicht mehr. Das macht Angst. Deshalb möchte ich Sie beruhigen. All dies sind normale Reaktionen auf einen schweren Verlust. Nicht Sie sind unnormal, sondern die Situation. Sie befinden sich in einer ausgesprochenen Ausnahmesituation. Darauf reagieren Sie in einer Ihnen wahrscheinlich bisher unbekannten Form.

Tiefe Lebenseinschnitte und gravierende Veränderungen zwingen betroffene Frauen nach dem Tod ihres Mannes dazu, das eigene Leben ganz neu zu gestalten. Meist ist es ein ganzes Bündel an gewaltigen Aufgaben, die für ein Überleben ohne den Partner erforderlich sind und neben dem unglaublichen Schmerz um den geliebten Menschen enorme Kraft kosten. Überleben nach dem Tod des Mannes ist schwer, sowohl für junge als auch für ältere Frauen. Die jüngeren waren mitten in der Lebensplanung und im Leben und lebten mit der Aussicht auf eine weitere gemeinsame Zukunft. Gerade das macht es schwer, mit dem Verlust zurechtzukommen, denn viele Lebensziele und zuweilen auch der Lebenssinn sind mit dem Tod ihres Mannes verloren gegangen. Auch für ältere Frauen kann es schwierig sein, neue Perspektiven zu entwickeln und nicht nur auf den eigenen Tod zu warten. Immer wieder berichten betroffene Frauen, dass ein Leben ohne den geliebten Menschen für sie unvorstellbar und unmöglich zu bewerkstelligen sei. Vielleicht empfinden Sie es zurzeit auch so. Möglicherweise ist es daher schon sehr viel, dass Sie sich überhaupt mit diesem Buch befassen. Möglicherweise haben Sie schon daran gedacht, dass Sie selbst nicht mehr leben möchten, weil alles zu schmerzhaft, zu anstrengend und aussichtslos erscheint. Dies sind erst einmal normale Gedanken und Empfindungen.

Hinweis: Sollten Sie ganz konkret planen, sich das Leben zu nehmen, suchen Sie sich bitte sofort professionelle Hilfe. Psychologische Betreuung ist hilfreich und hat nichts mit Schwäche oder Versagen zu tun. Es gibt Wege und Möglichkeiten, die Sie jetzt aus Ihrer Perspektive heraus nur nicht wahrnehmen können. Wenden Sie sich deshalb unbedingt an Psychologen, an Kliniken in Ihrer Nähe oder an die Telefonseelsorge.

1.3Keine gemeinsame Zukunft mehr, alles vorbei – Maria erzählt

Maria (heute 38) verlor ihren Partner Stefan vor vier Jahren durch einen Unfall beim Bau an dem Haus, in dem sie gemeinsam leben wollten. Nach sechs Tagen auf der Intensivstation starb er mit 34 Jahren.

»Endlich war ich mit dem Mann zusammen, in den ich schon Jahre verliebt war. Ich hatte das Gefühl, angekommen zu sein, und war extrem glücklich mit Stefan. Es lief alles leicht und es war klar, in welche Richtung der Weg für uns ging. Wir wollten zusammenziehen und bauten mit Hilfe unserer Freunde Stefans Haus um. Dass wir Kinder haben wollten, stand fest, und einen Namen für einen Jungen hatten wir uns auch schon überlegt. Alles schien so perfekt bis zu dem Unfalltag, der mein ganzes Leben abrupt veränderte.

Aufgrund eines Besuchs meiner erkrankten Tante in Griechenland befand ich mich mit meiner Mutter am Unfalltag nicht in Deutschland. Einer von Stefans besten Freunden rief mich an und teilte mir mit, dass Stefan einen Unfall hatte. Ich ging in den ersten Sekunden davon aus, dass er sich vielleicht ein Bein gebrochen hätte, doch im Laufe des Gespräches wurde klar, dass die Verletzungen weitaus schlimmer waren. Ich war entsetzt und als Stefans Freund mir sagte, dass man nicht wisse, ob Stefan es überleben würde, war ich völlig schockiert. Unvorstellbar war für mich das, was ich da hörte. Meine Schwester buchte meiner Mutter und mir einen Rückflug nach Frankfurt. Innerhalb von zwei Stunden verließen wir Griechenland. Ich war unglaublich froh, dass uns mein bester Freund am Flughafen abholte und mich auf direktem Weg nach Köln ins Krankenhaus brachte. Dort traf ich auf Stefans Familie und viele von seinen Freunden.

Als ich dann an Stefans Bett trat, fühlte sich alles so unwirklich an. Vor fünf Tagen hatte er mich doch noch zum Flughafen gebracht. Am Morgen des Unfalltages hatten wir telefoniert, viel gelacht und uns auf den Einzug in das Haus gefreut. Nun lag er im künstlichen Koma vor mir. Das kam mir alles unecht vor.

Eine knappe Woche war ich mit Stefans Familie und meiner Mutter täglich im Krankenhaus. Es gab uns Kraft, dass auch Stefans Freunde sich mit Besuchen abwechselten, obwohl sie nicht zu ihm ins Zimmer konnten. Wir waren eine große Gemeinschaft, die bis zum Schluss die Hoffnung hatte, dass er wieder aufwachen würde.

Leider war das Schädelhirntrauma so verheerend, dass man uns nach fünf Tagen das erste Mal mitteilte, dass keine Hirnaktivität mehr vorhanden sei. Dieser Moment zog mir den Boden unter den Füßen weg. Wir mussten noch einen weiteren Tag bis zur endgültigen Diagnose warten, da die Untersuchungen zur Sicherheit nochmals wiederholt werden sollten. Und obwohl mir hätte klar sein sollen, dass man uns am nächsten Tag keine besseren Nachrichten überbringen würde, hatte ich noch weiter ein kleines Stück Hoffnung. Leider wurde mir diese am nächsten Tag genommen, als man uns mitteilte, dass er tot sei.

Die Gefühle in dem Moment sind kaum zu beschreiben. Es war eine Mischung von tiefer Traurigkeit, Fassungslosigkeit und Ungläubigkeit. Es kam mir so vor, als würde alles wie in einem Film an mir vorbeiziehen.

Die erste Woche habe ich mich gefühlt, als ob ich in einer Blase eingeschlossen gewesen wäre. Nichts drang wirklich zu mir durch. Weder von außen noch von innen. Ich habe in Berichten (zu anderen Themen) schon mal gehört, dass Menschen sich selber nicht mehr spüren können, womit ich bis zu Stefans Tod nichts anfangen konnte. Ich saß auf meinem Sofa vorm Fernseher und nahm weder wahr, was dort lief, noch nahm ich mich selbst wahr. Ich spürte tatsächlich nichts. Obwohl die Gedanken kreisten und ich auch immer wieder vor lauter Verzweiflung weinen musste, spürte ich überhaupt nichts.

Mich beschäftigten Gedanken wie: Wie soll es ohne Stefan weitergehen? Ein Leben ohne Stefan kann einfach nicht möglich sein! Welchen Sinn hat mein Leben ohne Stefan? Fragen, auf die ich nur diese Antworten hatte: Ohne Stefan kann es für mich nicht weitergehen! Ein Leben ohne ihn ist nicht möglich für mich! Mein Leben hat ohne Stefan keinen Sinn! Am besten wäre es, wenn meins jetzt auch einfach vorbei wäre. Suizidgedanken hatte ich keine, aber ich wäre einfach auch gern gestorben.

Mein großes Glück in dieser Situation war der Beginn mit den Sitzungen bei der Trauerbegleitung. Es tat gut, über die Trauer, die Ängste und Sorgen zu reden, die in den Anfängen ununterbrochen präsent waren.

Als ob es nicht schwierig genug gewesen wäre, mit mir selbst und der schrecklichen Situation klarzukommen, machte es mir mein Umfeld teilweise auch nicht leicht. Für Außenstehende ist der Umgang mit einem trauernden Menschen sicher schwierig und man weiß auch selber, wie schwer es ist, die richtigen Sätze zum Thema Tod zu finden. Jedoch musste ich mir mehrmals verletzende Sätze anhören, wie ›Du bist doch noch jung, du findest einen neuen netten Mann‹. Mir ist bewusst, dass dies sicher nur tröstlich gemeint gewesen ist, aber wenn ich so einen Satz hörte, zog sich innerlich alles zusammen und es war, als ob mich ein Speer mitten ins Herz träfe.

Zum Glück wurde ich im Rahmen der Trauerbegleitung auf viele solcher möglichen Sätze vorbereitet, sodass ich, als sie dann ausgesprochen wurden, besser mit ihnen umgehen konnte. Sie taten zwar auch weh, aber ich verstand, warum mein Gegenüber diesen Satz sagte. Auch Sätze, wie ›Jetzt weine doch nicht schon wieder‹ oder ›Oh nein, ich wollte dich jetzt nicht zum Weinen bringen‹, vermittelten mir oft, dass es falsch war, dass ich plötzlich in Tränen ausbrach.

Meine Trauerbegleiterin sagte einmal den treffenden Satz: ›Jede Träne, die Sie vergießen, ist kostbar, denn Sie haben etwas sehr Kostbares verloren.‹ Das gab mir dann wieder das Gefühl, dass ich nichts Falsches tue. Die Tränen zurückzuhalten war meistens auch nicht möglich. Die Trauer brach einfach aus mir raus. Ein bestimmtes Wort, ein Lied oder ein Gedanke ließen die Tränen kullern. Da spielte es keine Rolle, ob ich in der Straßenbahn, beim Friseur, beim Zahnarzt, im Büro oder sonst wo war. In den Anfängen war mir dies immer sehr unangenehm, doch irgendwann war es mir gleich. Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten und Grund genug zum Weinen hatte ich ja wohl. Allerdings kam ich nach circa einem Jahr an den Punkt, wo mich mein ständiges Weinen selbst störte. Es war nicht mehr so häufig wie am Anfang, oft weinte ich nur noch für mich allein. Dennoch nervte es mich. An dem Punkt wurde ich ungeduldig und wollte, dass einfach wieder alles normal sei und ich mich nicht mehr mit dem Thema auseinandersetzen müsste.

Bedrückend für mich war auch, dass sich die Welt einfach weiterdrehte, obwohl sie für mich selber stehengeblieben war. Stefans Unfall war am 17.04.2013 und sein Todestag am 23.04.2013. Ich hatte das Gefühl, dass jeder Sonnenstrahl, jede sprießende Blume und die zwitschernden Vögel mich verhöhnen. Am liebsten hätte ich alle Blumen rausgerissen und alle Vögel vom Baum geschossen. An grauen, regnerischen Tagen habe ich mich meist etwas wohler gefühlt, wahrscheinlich weil sie besser zu meiner Stimmung passten. Ich verspürte immer eine Erleichterung, wenn der Himmel grau war.

Nach einiger Zeit, ich kann gar nicht mehr genau sagen wann (vielleicht circa drei Monate später), kamen tatsächlich auch mal Tage, die sich entspannter anfühlten. Es gab plötzlich Tage, an denen ich nicht den ganzen Tag nur an Stefans Unfall dachte oder daran, wie es weitergehen sollte. Diese Tage waren auch nicht so tränenreich wie die anderen. Es gab sogar auch wieder Momente, die ich genießen konnte. Es war zum Beispiel plötzlich schön, mit einer Freundin einen gemütlichen Abend zu Hause zu verbringen.

Mittlerweile sind zwei Jahre vergangen. Wenn ich jetzt auf die Fragen schaue, die ich mir direkt nach Stefans Tod gestellt habe – Wie soll es ohne Stefan weitergehen? –, dann würde ich sie aus heutiger Sicht so beantworten: Es geht anders weiter. Es war viel Arbeit und wird auch noch ein Stück Arbeit sein, ohne Stefan auszukommen. Meinen Alltag habe ich inzwischen im Griff. Meinen Beruf kann ich ohne große Schwierigkeiten ausüben. Ich kann mich auf nette Treffen mit Freunden, schöne Urlaube und so weiter einlassen, sie genießen und mich auch drüber freuen.

Ein Leben ohne Stefan kann nicht möglich sein! – Das Leben geht tatsächlich ohne ihn weiter. In der ersten Zeit war es sehr schwer, aber nach viel Arbeit an mir und viel Auseinandersetzung mit dem Erlebten klappt es heute doch erstaunlich gut. Natürlich habe ich auch immer wieder Rückschläge. Oft fühlt es sich an, als ob sich doch nichts verbessert hätte, aber wenn ich wieder durch das Tief durch bin, dann sehe ich die Fortschritte, die ich bereits gemacht habe. Am liebsten hätte ich ihn natürlich zurück, dennoch kann ich mich heute wieder an meinem Leben erfreuen.

Welchen Sinn hat ein Leben ohne Stefan? Nicht mehr denselben. Aber es hat einen anderen Sinn bekommen. Mir sind nach Stefans Tod Menschen begegnet, die unglaublich wertvoll für mich sind. In Stefans Familie bin ich integriert und ich habe das Gefühl, zu 100 Prozent dazuzugehören. Neben all den neuen wertvollen Menschen sind da auch noch die eigene Familie und die Freunde, die auch vor Stefans Tod da waren. All diese Menschen geben mir einen Sinn für mein Leben. Zudem habe ich meine Sicht auf viele Dinge geändert. Über einiges rege ich mich einfach nicht mehr auf, weil es mir unwichtig erscheint. Meine Freunde würden an dieser Stelle wahrscheinlich schmunzeln, da ich mich mittlerweile doch auch wieder über Unwichtiges aufrege. Im Großen und Ganzen würde ich behaupten, dass ich ein ganzes Stück ruhiger geworden bin und manches einfach mit einem Achselzucken abhake.

Es ist schön, den Sonnenschein wieder genießen zu können. Ich freue mich sogar wieder über blühende Blumen und Vogelgezwitscher. Was mich besonders freut, ist, mich auch weiter für andere freuen zu können. Ich hatte Angst, ungerecht zu werden und mich über das Glück anderer nicht freuen zu können. Sicherlich gibt es mal ein freundliches Neidischsein, jedoch ist es nie mit Missgunst verbunden. In den zwei Jahren gab es Freundinnen, die Kinder bekommen oder geheiratet haben. Das waren dann die Momente, in denen ich dachte: ›Mensch, wie gern hätte ich das auch mit Stefan.‹ Trotzdem überwog letztendlich doch die Freude für meine Freundinnen und das macht mich sehr froh.

Was meine Stimmung noch heute negativ beeinflusst, sind die grauen, regnerischen Tage. Sie machen mir das Leben oft schwer. Mein bester Freund sagte mir, dass er morgens, wenn er aus dem Fenster schaut, schon weiß, wie es mir an dem Tag geht und in welcher Stimmung er mich auf der Arbeit antreffen wird. Er hat Recht. Mir geht es eher an grauen Tagen schlecht, wobei die heutigen Tiefs nicht mehr so dramatisch sind wie vor einem Jahr. Sie werden nicht mehr von Panik und Verzweiflung begleitet. Sie sind vielmehr ein Gemisch aus Trauer und Sehnsucht, das besser auszuhalten ist als die Furcht und Verzweiflung von vor einem Jahr. Es gibt auch weiterhin noch Wochenenden, an denen ich niemanden sehen möchte. Ich bin dann lieber allein, weil meine Stimmung schlecht ist. Es ist ein großer Fortschritt, diese Momente ohne Hilfe aushalten zu können und sogar meist nicht mal Hilfe haben zu wollen. Über die schlechten Tage rede ich nicht mehr so gern. Auf die eine oder andere Person gehe ich schon noch zu, aber auch dies ist seltener geworden. Ich erzähle lieber schöne Stefan-Geschichten, die mich zum Schmunzeln bringen.

Tatsächlich ist vieles wieder gut geworden, allerdings nicht in dem Sinne von ›gut‹, wie ich das Wort vor Stefans Tod benutzt habe. Ich habe lange gesagt, dass es nicht mehr gut werden kann, sondern dass es anders wird. Genauso ist es gekommen. In meinem Leben hat sich vieles verändert. Unter den neuen Lebensumständen, dem schweren Verlust und der Sehnsucht, die mich immer wieder packt, ist mein Leben dennoch auf eine andere Art und Weise gut geworden. Es ist einfach eine andere Art von gut. Nichtsdestotrotz hätte ich natürlich sehr gern Stefan wieder an meiner Seite! Ich weiß im selben Augenblick, dass es ohne ihn gehen muss. Ohne ihn auszukommen und wieder Spaß am Leben zu haben, habe ich gelernt.

Was mir unter anderem sehr dabei geholfen hat, ist das Gefühl, von Stefans Familie aufgenommen worden zu sein. Seine Familie gibt mir Kraft und Halt. Für mich ist es ein schönes Gefühl, zu ihnen zu gehören. So bleibt ein Stück von ihm, durch seine Familie, bei mir erhalten. Wir verstehen uns alle sehr gut und ich habe das Gefühl, ein vollwertiges Familienmitglied zu sein.

Die Begegnung mit einer anderen trauernden Frau, die ebenfalls ihren Partner verloren hat, hat mich sehr weitergebracht. Daraus hat sich eine sehr tiefe Freundschaft entwickelt, die mir viel Kraft, Verständnis und Freude bringt. Wir verstehen die Sätze der anderen ohne große Erklärungen. Das macht das Reden sehr viel leichter. Mit dieser neuen Freundin habe ich mir 2014 den langersehnten Traum erfüllt, die Westküste der USA zu bereisen. Diese Erlebnisse bereichern mein Leben und es war toll, diese genießen zu können.

Für diese Begegnungen bin ich besonders dankbar! Alle meine tollen Freunde, ob alt oder neu, und meine Familie, ob alt oder neu, haben mir durch die schwere Zeit geholfen und sind auch heute noch für mich da. Ich bin froh, dass wir nun auch wieder schöne Dinge teilen können und nicht mehr nur der Schmerz des Verlustes im Vordergrund steht.

An Stefan denke ich jeden Tag! Meistens erfasst mich eine Leichtigkeit, wenn ich an sein Lächeln denke und an unsere Liebe zueinander. Da wird mir ganz warm ums Herz, weil ich meinem Seelenverwandten begegnet bin. So zaubert Stefan mir auch heute noch ein Lächeln ins Gesicht. Generell denke ich kaum noch an den Unfall oder die Krankenhauszeit. Es geht mittlerweile eher um gemeinsam erlebte Momente und Geschichten, die ich mir mit Freunden und Familie über ihn erzähle.

Wie schon erwähnt gibt es weiterhin Tage, an denen ich an Stefan denke und traurig werde. Manchmal habe ich die traurige Stimmung unter Kontrolle und kann mich meinem Alltag stellen, manchmal schaffe ich das nicht, könnte den ganzen Tag nur weinen und würde am liebsten nur unter meiner Bettdecke liegen bleiben. Dann ist die Sehnsucht nach Stefan wieder so groß und die Erkenntnis, dass wir nie mehr zusammen lachen und reden werden, ist einfach nur schrecklich.

Was mich erst seit Stefans Tod begleitet, sind extreme Verlustängste. Ich habe eigene Todesangst und Sorge, noch andere Menschen zu verlieren. Sobald ein Anruf zu einer ungewöhnlich Zeit kommt oder eine Stimme am Telefon anders klingt als sonst, denke ich direkt, dass was Schlimmes passiert ist. Bei einem Kribbeln im Zeh befürchte ich, dass es eine Thrombose ist. Bei plötzlichen Stichen im Kopf habe ich Angst, einen Schlaganfall zu erleiden. Diese Gedanken zeigen mir, dass noch nicht alles bearbeitet ist und dass ich noch ein großes Stück Arbeit vor mir habe.

So gemischt es auch immer wieder sein mag, ist mir bewusst, dass ich große Schritte nach vorne gemacht habe und die Abstände zu den extrem traurigen Momenten immer größer werden. Ich mache weiter wie bisher und die Zeit wird sicher noch einiges verbessern. Stefan wird für immer einen kostbaren Platz in meinem Herzen haben. Für die gemeinsame und kostbare Zeit mit Stefan bin ich unendlich dankbar!«

1.4Mein halbes Leben mit dir

Es ist keine Seltenheit mehr, dass Paare schon 25 Jahre oder noch viel länger zusammen gelebt haben, bevor der Partner stirbt. Allein die in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gestiegene Lebenserwartung ermöglicht diese Entwicklung, trotz der zugleich gestiegenen Scheidungsraten. Stirbt der Partner nach einer solch langen gemeinsamen Lebenszeit, stellt sich für hinterbliebene ältere Frauen die Frage, wie es weitergehen soll, anders als für jüngere Frauen, deren Partner gestorben ist.

Lebensplanungen, wie eine Familie zu gründen, sind verwirklicht oder bereits verworfen und zukünftig aufgrund des Alters auch ausgeschlossen. Berufliche Einstiege oder eine Umorientierung sind ab 50 zudem deutlich schwieriger als in jüngeren Jahren. Zwar stellt sich die finanzielle Situation meist nicht so drastisch dar wie häufig bei jungen Frauen, weil Eigentum bereits erworben wurde und berufliche Entwicklungen weitgehend abgeschlossen sind, dennoch verringert dies nicht den Schmerz um den verstorbenen Mann. Es sind andere Aspekte, die den Trauerprozess in vielfacher Weise bestimmen.

Eine Trauernde sein dürfen für kurze Zeit

Stirbt Ihr Partner und Sie haben bereits eine längere Beziehung geführt und sind selbst nicht mehr ganz jung, dann hat das meist zur Folge, dass Ihre tiefe Trauer zumindest eine Zeit lang rein gesellschaftlich gesehen akzeptiert wird. Der »echte Witwenstatus« ist eher anerkannt als bei Paaren, die keine zeitlich lange Beziehung geführt haben, was sich auch in der Höhe der Witwenrente niederschlägt.

Und dann fünftes Rad am Wagen

Schwierig für Sie können Freundschaften zu anderen Paaren sein, mit denen Sie früher gemeinsam mit Ihrem Mann Dinge unternommen haben. Es kann sein, dass Sie sich in solchen Beziehungen besonders unwohl fühlen und das Gefühl haben, nicht wirklich willkommen zu sein als »Hälfte« und/oder in Ihrer neuen Rolle nicht sensibel wahrgenommen zu werden.

Hinweis: Es können scheinbare Kleinigkeiten (z. B. nicht wie versprochen anrufen) oder größere Enttäuschungen sein, die solche Freundschaften für Sie jetzt auf einen neuen Prüfstand bringen. Bitte erlauben Sie sich, Freundschaften zu hinterfragen. Sind es tatsächlich Freundschaften? Was hat uns bisher miteinander verbunden? Wie wichtig sind mir die Menschen? Wie viel Verletzung aus derartigen Beziehungen kann ich ertragen? Kann ich meine Enttäuschung zum Ausdruck bringen und werde ich verstanden? Möchte ich die Beziehung erhalten?

Neuausrichtung wie weit?

Nicht immer haben Frauen nach dem Tod ihres Mannes ein Interesse daran, ihr Leben in einer umfassenden Art neu auszurichten. Manche richten sich bewusst auf ein Leben allein ein und möchten an ihrer Wohnsituation und an möglichst wenigen Gewohnheiten etwas verändern. Häufig ist das auch nicht notwendig. Jüngere Frauen sind aus finanziellen Gründen eher dazu gezwungen, den Wohnort zu wechseln. Es kann eine Ressource sein, die Wohnsituation und damit wichtige soziale Kontakte zu erhalten. Manche Frauen leben »noch einmal auf«, weil sie sich unerfüllte Träume und Wünsche erfüllen (z. B. eine neue Frisur, ein neuer Kleidungsstil, Renovierung des Hauses, neue Möbel, ehrenamtliche Tätigkeit, ein neuer Partner).

Vielleicht war auch bei Ihnen, wie oftmals in langjährigen Beziehungen, die Aufgabenverteilung relativ klar definiert. Dann müssen Sie sich jetzt möglicherweise sehr mühsam in die Arbeitsfelder Ihres Partners einarbeiten, die existenziell weiter erhalten bleiben müssen.

Über Jahrzehnte gewachsen

Wenn Beziehungen schon sehr lange bestehen, haben sich Paare häufig aufeinander eingespielt. »Unarten« und positive Charaktereigenschaften sind bekannt – man kennt sich recht gut und weiß, womit man zu rechnen hat. Es gibt (möglicherweise hart erarbeitete, aber inzwischen bewährte) Übereinkünfte, nach welchen Regeln die Beziehung so funktioniert, dass beide miteinander leben können. Vielleicht vermissen Sie gerade diese gewohnte Art des Umgangs, dieses über Jahrzehnte gewachsene Sichkennen mit allen Kleinigkeiten und die gemeinsam erlebte Vergangenheit mit all ihren Lebensfacetten, die sie so eng verbunden hat.

Wer sorgt sich jetzt um mich? Wer versorgt mich?