Wie Kinder Verlust erleben - Stephanie Witt-Loers - E-Book

Wie Kinder Verlust erleben E-Book

Stephanie Witt-Loers

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Beschreibung

Wie reagiere ich am besten, wenn der geliebte Hamster meines Kindes stirbt oder wenn der geliebte Teddybär verloren geht? Wenn Kinder trauern, brauchen sie Unterstützung und Halt. Stephanie Witt-Loers bietet eine Orientierungshilfe für Eltern, Großeltern und wichtige Bezugspersonen, damit Kinder in Verlustsituationen bestmöglich begleitet und unterstützt werden. Trauer gehört auch für Kinder zum Lebensalltag. Kinder trauern, aber sie trauern anders und empfinden andere Dinge als Verlust als Erwachsene. Das Buch stellt nicht den Tod eines geliebten Menschen in den Vordergrund, sondern all jene Abschieds- und Trennungssituationen, die für Kinder bis ca. 12 Jahre belastend sein können. Stephanie Witt-Loers gibt einen Überblick über kindliche Entwicklungsphasen und über die möglichen Reaktionen sowie individuellen Verarbeitungsstrategien der Kinder. Das Buch enthält zudem praktische Hinweise und Rituale, Internetadressen, Kontaktstellen und Literaturempfehlungen, die Erwachsene darin unterstützen, angemessen auf den Verlust der Kinder zu reagieren und Trost zu spenden.

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Stephanie Witt-Loers

Wie Kinder Verlust erleben

… und wie wir hilfreich begleiten können

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-99769-8

Umschlagabbildung: Hallgerd/shutterstock.com

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen /Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen EPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Inhalt

Einleitung

1Eigene Erfahrungen und Informationen auswerten

2Warum sollen und dürfen Kinder trauern?

3Worum Kinder im Alltag trauern

4Was ist denn Trauer überhaupt?

5Wie reagieren Kinder in ihrer Trauer?

6Jedes Kind trauert anders – warum eigentlich?

7Kinder bei ihren Abschieden hilfreich begleiten

8Abschied von der Tagesmutter – Start in den Kindergarten

9Trauer nach der Trennung der Eltern

10Trauer nach dem Tod eines nahestehenden Menschen

11Kreative Möglichkeiten

12Hilfreiche Begleitung im Überblick

13Grenzen und eigene Trauerprozesse

14Lesetipps und Links

Literatur

Dank

Irgendwo blüht die Blume des Abschieds und streut immerfort Blütenstaub, den wir atmen, herüber; und auch noch im kommendsten Wind atmen wir Abschied.

Rainer Maria Rilke

Einleitung

Liebe Leserinnen und Leser!

Mit diesem Buch möchte ich zu einem mitfühlenden Verständnis für Alltagssituationen, in denen Kinder trauern, beitragen. In unserer Erwachsenenwelt vergessen wir allzu leicht, was im Leben eines Kindes Verlust, Trauer und Abschied bedeuten kann und worum Kinder in ihrer Lebenswelt trauern.

Wird uns Erwachsenen bewusst, welche »Trauerarbeit« Kinder in ihrem Alltag immer wieder leisten und welche Reaktionen sie auf einen für sie bedeutsamen Verlust zeigen, können wir als Bezugspersonen eine wichtige und hilfreiche Stütze für sie in belastenden Lebenssituationen sein. Das gilt für Eltern, aber ebenso auch für Betreuungspersonen im Kontakt mit den ihnen anvertrauten Kindern, also für ErzieherInnen, LehrerInnen, Tagesmütter und -väter, TrainerInnen etc.

Das Buch möchte die Sensibilität für Kinder in Verlustsituationen schärfen. Wir können zur gesunden Entwicklung eines Kindes beitragen, wenn wir es in seiner persönlichen Trauer wahrnehmen, hinhören, seinen Schmerz anerkennen, es angemessen begleiten und dabei unterstützen, mit dem Verlust zurechtzukommen. Den Umgang mit Verlust zu »üben« und ihn als natürlichen Teil des Lebens zu akzeptieren, hilft dem Kind, mit anderen, schweren Verlusten, die unweigerlich in das Leben eines jeden Menschen treten, zurechtzukommen. In diesem Sinne würde ich mir wünschen, dass das Buch ein guter Begleiter für Sie und letztendlich für die Kinder sein kann, für die Sie Verantwortung tragen.

Gern können Sie mit mir Kontakt aufnehmen. Ich freue mich darauf, von Ihnen zu hören.

Stephanie Witt-Loers/[email protected]/www.dellanima.de

1 Eigene Erfahrungen und Informationen auswerten

Persönliche Trauererlebnisse

Bevor wir uns dem Trauererleben von Kindern zuwenden, möchte ich Sie einladen, sich auf eine kleine Zeitreise einzulassen und zu schauen, welche Erfahrungen Sie selbst als Kind mit Abschied und Verlust gemacht haben. Was haben denn meine Verlusterfahrungen damit zu tun, dass ich für ein Kind da sein möchte, wenn es trauert? Möglicherweise stellen Sie sich gerade diese Frage. Die kurze schlichte Antwort lautet: ziemlich viel.

Warum das so ist, möchte ich gleich erläutern. Zunächst jedoch einige Beispiele aus meiner Praxis, die vielleicht schon verdeutlichen, worum es eigentlich geht.

Marco (elf Jahre) fühlt sich von seiner Mutter Bettina (38 Jahre) nach eigenen Aussagen in der letzten Zeit unverstanden und nicht ernst genommen. Immer wieder geraten die beiden aneinander, es kommt zu tiefen Verletzungen und Tränen. Besonders dann, wenn Marco wütend und verzweifelt ist, weil die Familie aus beruflichen Gründen Ende des Jahres wegziehen wird aus dem bisherigen Heimatort. Der Vater wird mehr Geld verdienen, sie werden eine größere Wohnung haben und in der Nähe der Großeltern leben. Marco wird eine schöne neue Schule besuchen und ein neues Zimmer mit neuen Möbeln bekommen. Neue Freunde wird er sicher schnell finden, denn er ist ein kontaktfreudiger Junge. Das ist doch alles super, meint Bettina. Es wird viel besser sein als jetzt. Marco reagiert auf solche Äußerungen mit Aggression oder zieht sich zurück. Er will keine neuen Möbel, kein neues Haus, keine neue Schule und schon gar keine neuen Freunde. Er fühlt sich wohl in seinem jetzigen Lebensumfeld. Bettina empfindet Marco als undankbar. »Das ist normal, dass Dinge sich im Leben verändern. Das muss man hinnehmen und nicht so einen Aufstand machen. Marco soll froh sei, dass wir so gut für ihn sorgen, es ist doch nur zu seinem Besten«, sagt Bettina.

Auf die Frage nach ihren persönlichen Verlusterfahrungen erzählt sie, dass sie noch nie eine schwere Trauersituation in ihrem Leben erfahren hat. Alles sei immer gut gewesen, ihre Kindheit behütet, die Eltern fürsorglich. Niemand sei gestorben.

Erst später im Verlauf des Gesprächs nach weiterer Nachfrage, ob denn nicht ein Haustier gestorben wäre, es keinen Umzug oder eine Krankheit gegeben habe, wird Bettina bleich und beginnt zu weinen. Sie berichtet, dass sie (damals sieben Jahre) eines Tages von der Schule nach Hause gekommen sei und ihr geliebtes Kaninchen Max weg gewesen wäre. Sie suchte es überall, war verzweifelt und fragte am Ende ihren Vater. Der antwortete nebenbei, dass er es geschlachtet habe. Es sei an der Zeit gewesen. Sie bekäme morgen ein neues Kaninchen und bräuchte so einem Tier nicht nachzutrauern. Bettina erzählt, dass sie diese Situation irgendwie tief vergraben, nicht mehr daran gedacht habe. Erst jetzt spüre sie, wie tief der Schmerz von damals noch in ihr sitze. Bettina lernte in ihrer Kindheit, aufkommende Trauergefühle beiseite zu drängen, sie nicht zuzulassen und nicht ernst zu nehmen. Ihr soziales Umfeld vermittelte ihr, dass Trauer nur dann Platz haben dürfe, wenn jemand gestorben sei, alles andere sei es nicht wert, betrauert zu werden, sei leicht ersetzbar. Dies vermittelte sie unbewusst auch ihrem Sohn Marco. In der Sitzung kamen Bettina viele Tränen und die jahrelang verdrängte Trauer bahnte sich ihren Weg, konnte endlich Raum finden. Bettina fand, trotz ihrer Verletzung, Verständnis für ihren Vater, denn er hatte als Kind zu Tieren nie eine enge Bindung aufgebaut, da er gelernt hatte, sie nur als Nutztiere zu sehen. Bettina konnte ihre damaligen kindlichen Bedürfnisse wahrnehmen. Sie hatte den Wunsch, um das, was verloren war, zu trauern, es zu beweinen. Sie konnte jetzt nachvollziehen, dass Marco um das, was er mit dem Umzug verlieren würde, trauerte. Sie konnte verstehen, dass ihn der Verlust seiner Freunde, seiner geliebten und seit Kindheit vertrauten Heimat schmerzte und dass er Anerkennung und Raum für diesen Schmerz brauchte.

Die Mutter von Sandra R. ist plötzlich gestorben. Sandra (36) und ihre Familie (Ehemann Jens und die sechsjährige Tochter Nadine) hatten eine enge Beziehung zur Verstorbenen. Sie haben viel Zeit miteinander verbracht, sind zusammen in Ferien gefahren. Nadine wurde häufig von ihrer Oma beaufsichtigt. Sandra R. kommt in die Praxis, um sich beraten zu lassen. Sie möchte wissen, was sie ihrer Tochter Nadine sagen kann, wie sie mit ihr umgehen soll, ob sie Nadines Wunsch nachgeben soll, sich noch einmal von der toten Oma zu verabschieden. Sandra ist unsicher und tendiert dazu, Nadine den Abschied von der verstorbenen Oma nicht zu erlauben und sie auch nicht mit zur Trauerfeier zu nehmen, obwohl Nadine sich das wünscht. Auf die Frage, warum sie das für besser halte, antwortet Sandra, dass sie Angst habe, die Konfrontation mit so schweren Themen könnte Nadine schaden und sie unnötig belasten. Weiter nachgefragt, berichtet Sandra über ihre eigenen Erfahrungen als Sechsjährige im Zusammenhang mit dem Tod der eigenen Oma. Die Oma war nach längerer Krankheit im Krankenhaus gestorben. Sandra hatte sie lange nicht gesehen, da sie wegen ihres Alters nicht mit auf die Intensivstation durfte. Ihre Mutter, die die Trauerfeier und alles damit in Zusammenhang Stehende allein regeln musste, nahm Sandra mit zum Bestatter. Dort wurde Sandra unvorbereitet mit der toten Oma konfrontiert, die sich durch die Krankheit und den eingetretenen Tod natürlich verändert hatte. Für Sandra war der Anblick ein Schock. Diesen wollte sie Nadine verständlicherweise ersparen. Dass die für Nadine bestmögliche Entscheidung nicht zwischen »die Oma sehen« und »die Oma nicht sehen« getroffen werden musste, wurde Sandra erst deutlich, als ich sie fragte, was sie sich als Kind denn in dieser Situation gewünscht hätte. Sandra nannte Stichworte zu ihren Bedürfnissen wie: Vorbereitung, Erklärungen, körperliche Zuwendung, Zeit und würdevoller Abschied. Diese Erkenntnisse halfen Sandra, ihrer Tochter Nadine den Abschied von der geliebten Oma doch zu ermöglichen. Zuvor erklärte sie Nadine altersentsprechend, was mit dem Körper geschieht, wenn er stirbt, dass Menschen keine Schmerzen haben, wenn sie gestorben sind, was bei einer Beerdigung passiert und vieles mehr.

Einfluss persönlicher Erfahrungen

Viele Aspekte beeinflussen den persönlichen Umgang mit Verlusten und die Art, wie wir anderen begegnen, die einen Verlust erlitten haben. Ob wir hilfreich an ihrer Seite sind oder den Trauerprozess sogar erschweren, kann eben unter anderem von den Erfahrungen abhängen, die wir in unserer Kindheit mit Verlusten und deren Bearbeitung gemacht haben.

Wie Eltern und unser Umfeld auf unser ganz persönlich empfundenes Leid als Kind reagiert haben, prägt unsere eigene Begegnung mit weiteren Verlusten und auch unseren Umgang mit trauernden Menschen, kleinen und großen. Ob Bezugspersonen uns gestützt, gestärkt, ermutigt, geschwächt und/oder verunsichert haben, ob wir unser Unglück betrauern konnten oder die Trauer verschoben werden musste, weil sie nicht ernst genommen wurde oder weil erst einmal andere überlebenswichtige Themen Vorrang hatten, all dies sind Faktoren, die unseren Umgang mit eigener Trauer und Begegnung mit Trauernden beeinflussen.

Neben unseren eigenen Erfahrungen ist ein weiterer wesentlicher Faktor unser Wissen, also sachliche Informationen zum Ereignis, zu Trauerprozessen und Trauerreaktionen, über die wir verfügen und/oder die wir uns leicht zugänglich machen können.

Andere Aspekte, die Trauerprozesse prägen, möchte ich in Kapitel 6 benennen. Lassen Sie sich von der Komplexität des Themas nicht abschrecken. Sie werden sehen, dass Sie vieles, was Sie bisher erlebt haben, durch die neu gewonnenen Informationen in einen anderen Zusammenhang bringen können und manches im Nachhinein sogar verständlicher wird. Dies kann ich aus meiner langjährigen Erfahrung in der Trauerbegleitung sowie der Fortbildungsarbeit zum Themenbereich sagen und auch aus meinen ganz persönlichen Verlusterfahrungen.

Umgang mit Trauer in unserer Gesellschaft

Eigene Verlusterfahrungen und deren Bearbeitung sind nicht losgelöst von gesamtgesellschaftlichen Normen und Umgangsformen zu sehen. Nicht selten ist die Reaktion des sozialen Umfeldes auf einen schweren Verlust, wie z. B. den Tod eines Menschen, Hilflosigkeit, Sprachlosigkeit und Ohnmacht. Auf der anderen Seite fühlen sich Trauernde z. B. nach dem Tod eines nahestehenden Menschen häufig allein gelassen, unverstanden oder ausgegrenzt. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um trauernde Kinder oder Erwachsene handelt. Diese zusätzlich zum erlebten Verlust schmerzenden Erfahrungen machen Menschen jeder Altersstufe in unserer Gesellschaft leider häufig.

Hinter den für Betroffene oft verletzenden Reaktionen des Lebensumfeldes steckt meist keine Böswillig- oder Gedankenlosigkeit, sondern ein fehlendes Wissen zu Trauerprozessen, Trauerreaktionen und dem Umgang mit trauernden Menschen.

Dieser Mangel führt zu Unsicherheit und bedauerlicherweise vielfach auch dazu, das Geschehen und den Betroffenen zu ignorieren oder zu »vertrösten«. Letztendlich fühlen Betroffene sich daher einsam, allein gelassen und unverstanden. Häufig empfinden sie sich selbst als falsch reagierend und schämen sich für ihre Gefühle und Gedanken, die im Zusammenhang mit der Trauer auftauchen.

Kindern geht es mit ihren kleinen und großen Verlusten ebenso. Nicht selten werden Kinder wie Erwachsene sogar für ihre Trauerreaktionen verurteilt, ausgeschimpft oder bestraft. Eben weil diese nicht als solche erkannt werden und Wissen zum Themenkomplex fehlt. Wir halten uns dann an das, was wir so »gehört« haben und versuchen die Situation damit in den »Griff« zu bekommen: »Die Zeit heilt alle Wunden« – »Das wird schon wieder« – »Das Leben hat doch noch anderes zu bieten« – »Du musst nicht so traurig sein« – »Andere haben es viel schwerer als du« – »Jeder hat sein Päckchen zu tragen« …

Gerade solche aus Unsicherheit und Hilflosigkeit entstandenen Äußerungen unterstützen Betroffene bei einem schweren Verlust nicht wirklich. Zudem schaden wir uns selbst, denn wir verfügen damit ebenso wenig über einen angemessenen Umgang mit schweren Lebensthemen und Krisen. Diese werden uns jedoch unweigerlich in unserer persönlichen Biografie immer wieder begegnen. Letztendlich wäre es für uns alle hilfreicher, wenn sich die gesamtgesellschaftliche Haltung zu Trauer und deren Bearbeitung offener und sachlich fundierter gestalten würde. Mythen und falsche Forderungen an das Verhalten Trauernder sollten endlich ausgeräumt werden und so der Weg frei werden für Verständnis, Akzeptanz und die Möglichkeit, den Trauerweg nach persönlichen Bedürfnissen zu gestalten.

Auch bei eigenen »kleinen Verlusten« oder denen anderer Menschen und dem Umgang damit machen sich diese Unsicherheiten bemerkbar. Unbewusst übernehmen wir dieses Trauer abwehrende und abwertende Verhaltensmuster und erschweren uns selbst und anderen einen heilsamen Trauerprozess.

Zusammengefasst wird deutlich, dass unsere eigenen Verlusterfahrungen, die Reaktionen unseres sozialen Umfelds, gesellschaftliche Normen und Werte sowie unsere Bewältigungsstrategien immer auch in der Begegnung und Begleitung unserer Kinder oder anderer Menschen eine wesentliche Rolle spielen. Daher möchte ich Sie einladen, mit mir einen Blick auf Ihre eigene Kindheit und auf Ihre erlebten Verluste zu werfen. Zum einen werden durch die Auseinandersetzung mit früheren Verlusten häufig eigene Ängste und/oder unverarbeitete Trauer deutlich, die möglicherweise den Umgang mit persönlichen Verlusten sowie den Zugang zu anderen Menschen in Verlustsituationen, auch solchen von Kindern, erschweren. Zum anderen bietet die Reflexion die Möglichkeit, eigene Verhaltensmuster besser zu verstehen, persönliche Bewältigungsstrategien zu deuten und diese gegebenenfalls verändern zu können.

Trauersituationen der eigenen Kindheit reflektieren

Vielleicht erscheint Ihnen dieses Anliegen trotzdem zunächst banal und etwas fremd. Aus meiner langjährigen Erfahrung als Trauerbegleiterin von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien sowie als Fortbildungsreferentin für Lehrer, Erzieher, Psychologen, Sozialarbeiter und andere Berufsgruppen, die mit trauernden Kindern in Kontakt kommen, möchte ich ausdrücklich dazu ermutigen, sich auf diese »Übung« einzulassen.

Immer wieder sind Menschen, die sich in meinen Seminaren mit dieser Aufgabe beschäftigen, sehr überrascht, was alles bei dieser Auseinandersetzung zum Vorschein kommt. Menschen sind erstaunt, wie viel Trauer noch im Verborgenen liegt, wie viel Leid bisher nicht betrauert werden konnte und nach so vielen Jahren heftige emotionale Reaktionen auslösen kann. Eine Lehrerin meinte zunächst, bei ihr habe es in der Kindheit keine Verluste gegeben. Später weinte sie bitterlich, weil ihr Onkel, den sie sehr liebte, ohne vorherige Absprache ihren Kaufladen verkauft hatte. Sie wäre schon zu alt dafür, sagte er dazu, sie solle sich nicht so anstellen. Ein Lehrer aus einer anderen Gruppe wurde von der Trauer um seinen Hund eingeholt, den die Eltern hatten einschläfern lassen, als er in der Schule war. Sie wollten ihm den schmerzhaften Abschied ersparen. Als der Junge aus der Schule kam, war der Hund weg gewesen, ohne Vorwarnung. Der Verlust dieses guten Freundes wurde nicht weiter thematisiert. Eine andere Teilnehmerin hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihre kindliche Trauer um den ständigen Abschied des Vaters noch in sich trug. Als Fernfahrer musste der Vater die Familie immer wieder über längere Zeiträume verlassen. Es gab lange Lebensphasen ohne ihn, in denen zudem nicht immer klar war, wie es ihm ging und wann er wieder kommen würde.

Häufig hat der Blick auf die Verluste der Kindheit mit erlebten Todesfällen zu tun. Hier taucht Trauer in den unterschiedlichsten Facetten und Situationen auf. Zum Beispiel Trauer um den verwehrten Abschied vom kranken und/oder verstorbenen Menschen, Trauer, dass man als Kind bei der Beerdigung nicht dabei sein durfte, Trauer darum, nicht die Möglichkeit gehabt zu haben, letzte wichtige Worte und Gesten an den Sterbenden/Verstorbenen zu richten, Trauer um nicht gelebte Beziehungen, um nur einige Beispiele zu nennen. Zudem tauchen Ängste in diesem Zusammenhang auf, die zumeist daher rühren, dass Kinder nicht altersentsprechend begleitet wurden. Sie wurden mit beängstigenden Bildern, lückenhaften Informationen oder unverständlichen Ritualen konfrontiert und allein gelassen. Damit es Ihrem Kind nicht ebenso ergeht, beschäftigen Sie sich ja gerade mit dem Thema Abschied. Sie werden, obwohl es kein Patentrezept im Umgang mit Verlust gibt, sehr vieles erfahren, was Ihnen und Ihrem Kind hilfreich sein wird.

Wenden Sie sich nun noch einmal Ihrem eigenen inneren Kind und dem Erlebten der eigenen Kindheit zu.

Exkurs

Aufgabenvorbereitung

Nehmen Sie sich Zeit und bereiten Sie diese Übung gut vor. Suchen Sie sich einen vertrauen Raum, in welchem Sie sich geborgen und gut aufgehoben fühlen. Der Raum sollte nicht zu kalt sein. Sorgen Sie dafür, dass Sie nicht gestört werden, schalten Sie das Telefon aus und bringen Sie Ihr Kind/Ihre Kinder gut unter. Verabreden Sie keine anstrengenden Termine im Anschluss an diese Aufgabe. Möglicherweise möchten Sie später mit jemandem sprechen. Überlegen Sie, wer das sein könnte und fragen Sie nach, ob diese vertraute Person gegebenenfalls für Sie da sein kann. Unter Umständen haben Sie das Bedürfnis, sich professionelle Unterstützung zu holen. Nehmen Sie dieses Bedürfnis dann bitte ernst. Stellen Sie ein nicht alkoholisches Getränk bereit, wenn Sie mögen, auch Teelichter und Taschentücher. Vielleicht mögen Sie etwas entspannte Musik im Hintergrund. Außerdem benötigen Sie einen Stift sowie Karten in zwei verschiedenen Farben. Eine bekommt die Überschrift – (Minus), die andere + (Plus).

Aufgabenstellung

Begeben Sie sich zurück in Ihre Kindheit und versuchen Sie sich zu erinnern, welcher Verlust für Sie als Kind sehr schmerzhaft war, wo Sie gelitten und starken Kummer empfunden haben. Es kann sich dabei um den Verlust eines Spielzeugs handeln, einen Umzug, den Sie nicht wollten, den Weggang einer Erzieherin, die Trennung von einem guten Freund, die Trennung ihrer Eltern, den eigenen Krankenhausaufenthalt, die Abwesenheit eines oder beider Elternteile, einen Unfall oder etwas ganz anderes. Möglicherweise handelte es sich um den Tod einer nahestehenden Person oder den Tod eines Haustieres.

Versetzen Sie sich jetzt gedanklich und emotional in diese Situation Ihrer Kindheit. Spüren Sie den damals erlebten Gefühle nach. Was haben Sie als Kind empfunden? Lassen Sie sich Zeit für die aufkommenden Gedanken und Gefühle.

Betrachten Sie jetzt Ihr damaliges Erleben unter zwei Aspekten und befassen Sie sich mit folgenden Fragen:

1.Was war in dieser Situation besonders schlimm für mich? Was war nicht gut? Was hat mir gefehlt?

2.Was hat mir geholfen? Was hat trotz des Schmerzes gut getan? Was war hilfreich? Wer war hilfreich und warum?

Notieren Sie nun Ihre Antworten in kurzen Stichworten zu 1 auf der Karte mit dem Minuszeichen und zu 2 auf der Karte mit dem Pluszeichen. Lassen Sie sich weiterhin Zeit und erlauben Sie sich die auftauchenden Gedanken und Gefühle. Möglicherweise gibt es Antworten, die auf beiden Karten stehen sollen (z. B. Stille – als einerseits positiv empfunden und zu einer anderen Zeit als negativ empfunden). Das darf sein.

Auswertung

Ich bin der Auffassung, dass wir schon viele Kompetenzen, die eine Begleitung nach einem Verlust hilfreich machen, mit uns bringen. Manchmal sind diese verdeckt oder schlummern unbewusst in unserem Rucksack, mit dem wir durch unser Leben gehen. Schauen Sie sich einmal Ihre notierten Stichworte an. All die Gesten und Worte, die Ihnen in ihrer Verlustsituation als Kind gut getan haben, werden höchstwahrscheinlich auch Ihrem Kind gut tun. Das, was Sie sich als Unterstützung in Ihrer Kindheit gewünscht haben, können Wünsche sein, die Ihr eigenes Kind ebenfalls hat. Wenn Sie die Stichworte, die auf der »Negativliste« vermerkt sind, umkehren, also z. B. aus »nicht darüber sprechen dürfen« »sprechen dürfen« machen oder aus »nicht ernst genommen werden« »ernst nehmen«, haben Sie neben den Dingen, die auf Ihrer »Positivliste« stehen, eine ganze Reihe weiterer wertvoller Hinweise, die Ihrem eigenen Kind in einer Verlustsituation helfen werden. Manchmal steht nicht sehr viel auf der »Positivliste« – dann ist die Umkehrung der Negativliste meist umso ergiebiger. Die Stichworte geben Ihnen zudem Aufschluss darüber, wo Sie möglicherweise aus Ihren negativen persönlichen Erfahrungen heraus unbewusst Abwehrmechanismen im Zusammenhang mit Verlust entwickelt haben, die Sie für sich und eventuell Ihr Kind bei einer Konfrontation mit Verlust in Gang setzen. Das bedeutet, Sie sollten reflektierend kontrollieren, woher Gedanken und Gefühle der Ablehnung einer Auseinandersetzung mit dem Verlust kommen. Überprüfen Sie bitte auch, ob diese Argumente einer sachlichen Bewertung standhalten. Solche Argumente schauen wir uns im folgenden Kapitel an.

2 Warum sollen und dürfen Kinder trauern?

Mit Verlust umgehen lernen

Gern möchten wir unsere Kinder von Schmerz und Trauer fern halten, möchten ihnen leidvolle Verlusterfahrungen ersparen. Wir möchten, dass sie eine schöne, unbeschwerte Kindheit genießen. Dafür möchten wir alles tun. Es soll ihnen so gut wie möglich gehen. Das sind unsere Wünsche, dennoch ist die Realität eine andere, denn kleine und große Abschiede, schwere Verluste, belastende und schmerzhafte Lebenserfahrungen gehören zu unserem Leben. Auch zum Leben eines Kindes. So paradox es vielleicht auch klingt: Wir fördern Kinder in ihrer gesunden Entwicklung, wenn wir zulassen, dass sie Abschiede durchleben und ihre Trauer spüren dürfen.

Die Natur des Menschen scheint von Beginn an darauf ausgerichtet, schmerzhafte Lebenseinschnitte zu verkraften. Den ersten, großen Abschied erleben Kinder schon durch die Geburt. Um auf dieser Erde leben zu können, müssen wir uns alle von der Geborgenheit des Mutterleibs verabschieden. Schon von Beginn an begleiten uns die Lebensthemen Abschied und Neubeginn und liegen, wie so vieles im Laufe unseres Lebens, eng zusammen. Nach der Geburt lassen die nächsten Abschiede auch nicht lange auf sich warten. Kurzzeitige Trennungen von Bezugspersonen, wenn sie das Zimmer verlassen, die Ablösung von der mütterlichen Brust, vom Schnuller und der Windel.

Sie sehen, wir kommen, ob wir wollen oder nicht, gar nicht umhin, uns mit Abschieden schon von Geburt an zu befassen.

Diese Übergänge und Abschiede verlangen Loslösung und ermöglichen zugleich Wachstum und Entwicklung. So ist es auch mit den Verlusten, die Kinder im weiteren Verlauf ihres Lebens erfahren.

Eine gesunde, kindliche Entwicklung beinhaltet daher Lernprozesse und die Erkenntnis, dass auch seelischer und körperlicher Schmerz, Verlust, Krankheit, Trennung und Tod natürliche Bestandteile unseres Lebens sind. Wesentlich ist, dass Kinder lernen dürfen, mit solchen Erfahrungen umzugehen. Den bestmöglichen, individuellen Umgang mit Verlusten und Krisen, ob kleineren oder größeren, müssen Kinder erst erlernen. Je früher sie die Möglichkeit bekommen, sich mit kleinen Verlusten auseinanderzusetzen, umso eher kommen sie später mit schweren Verlusten zurecht und zerbrechen nicht daran.

Wir dürfen unseren Kindern daher die Auseinandersetzung mit Verlusten nicht vorenthalten, denn damit verweigern wir ihnen wichtige Entwicklungsschritte.

Konkret bedeutet dies: Nicht das verstorbene Haustier schnellstmöglich durch ein neues ersetzen, auch nicht heimlich. Es bedeutet, den Verlust als solchen zu akzeptieren und ihn nicht zu beschönigen.

»Ja es ist schade, dass dein Meerschwein gestorben ist. Wir gehen morgen gleich zum Tierhändler und besorgen dir ein neues. Dann brauchst du gar nicht traurig sein.« – Durch ein solches Verhalten lernen Kinder nicht, sich schmerzhaften Gefühlen zu stellen. Diese Strategie, Trauergefühle durch Ersatzobjekte zu kompensieren, wird dann für zukünftige Verluste eingesetzt. Dauerhaft kann eine derartige Strategie nicht funktionieren. Verzweiflung und Angst nach einem schweren Verlust sind umso größer, wenn wir als Kind nicht haben lernen dürfen, hilfreiche Strategien zu entwickeln.

Deshalb sind kleine Verluste und ihre Bearbeitung schon im frühen Kindesalter enorm wichtig. So können Kinder persönliche Strategien entwickeln, die ihnen helfen, mit einem schweren Verlust umzugehen.

Zugleich entwickeln sich durch die individuelle Erfahrung mit Verlust Sensibilität und emphatisches Verständnis für Verlustsituationen anderer Menschen sowie ein Spektrum an Möglichkeiten, Unterstützung zu geben. In der Entwicklungspsychologie wurden jüngeren Kindern diese Fähigkeiten früher abgesprochen. Inzwischen sind Wissenschaftler sich einig und die Erfahrung belegt dies ebenfalls, dass selbst kleinere Kinder schon Mitgefühl empfinden und auf ihre kindliche Art Trost spenden können.

Kinder für ihr Leben stärken

Die zugestandene und begleitete Auseinandersetzung mit leichten und schweren Verlusten erlaubt es Kindern, viele unterschiedliche Handlungs- und Konfliktlösungskompetenzen zu entwickeln, die sie stärkend auf ihrem weiteren Lebensweg begleiten. Die frühe Beschäftigung mit persönlichen Krisen und »negativen« Lebensaspekten ermöglicht Kindern einen offenen Blick auf ihr eigenes Leben und das Interesse an der eigenen Lebensgeschichte. Kinder können dann mit weniger Sorge und Angst auf Neues zugehen. Dies wird ihnen später im Jugendlichen- und Erwachsenenalter zugutekommen.

Schwierige Lebenssituationen können besser bewältigt werden, weil das Kind sich selbst gut kennenlernen konnte. Die Auseinandersetzung, das Sich-Ausprobieren im Kontext mit leichten und schweren Verlusten sensibilisiert. Es schärft die persönliche Wahrnehmung individueller Kompetenzen und ermutigt dazu, diese aktuell und zukünftig zu entfalten.

So können Kinder z. B. wichtige Fähigkeiten zur Selbstberuhigung und Motivation entwickeln. In der Pubertät werden die Identitätsfindung und die Suche nach dem persönlichen Lebenssinn sowie nach eigenen Werten durch die gewonnenen Erfahrungen erleichtert.