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Halt mich fest, wenn alles fällt
Ein Roman von Lena Lou
Sturmherzen – Band 1
Was bleibt von dir, wenn alles in dir zerbricht?
Mira hat gelernt, stark zu sein. Stark für ihre Schwester, stark für ihren Job, stark für ein Leben, das sie irgendwann einmal so nicht gewählt hat. Doch hinter ihrer kontrollierten Fassade tobt ein Sturm aus Fragen, Sehnsucht und unausgesprochenem Schmerz.
Als León in ihr Leben tritt – geheimnisvoll, auf seine Weise gebrochen und gleichzeitig voller Leben – beginnt etwas in Mira zu wanken. Er bringt Erinnerungen zurück, die sie tief vergraben hatte. Und Gefühle, die sie längst vergessen wollte. Doch León hat seine eigenen Narben, und manche Schatten aus der Vergangenheit lassen sich nicht so leicht abschütteln.
Zwei Menschen, deren Wege sich kreuzen, als sie es am wenigsten erwarten. Und eine Liebe, die dort beginnt, wo alles andere zu zerfallen scheint.
Ein emotionaler, aufwühlender Liebesroman über Verlust, Mut, Vertrauen – und darüber, dass es manchmal nur einen Menschen braucht, um das eigene Herz wiederzufinden.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Kapitel 1 – Das Knirschen von gestern
Kapitel 2 – Eine Nachricht zu viel
Kapitel 3 – Regen auf Beton
Kapitel 4 – Stiller Sturm
Kapitel 5 – Wo du früher warst
Kapitel 6 – Der Klang von Abschied
Kapitel 7 – Fremd in meinem Leben
Kapitel 8 – Es gibt keine Landkarte zurück
Kapitel 9 – Zwischen Tür und Tränen
Kapitel 10 – Und plötzlich bist du da
Kapitel 11 – Augen, die mehr sagen
Kapitel 12 – Die Sekunden, in denen man sich verliert
Kapitel 13 – Kaffee. Chaos. Und du.
Kapitel 14 – Erzähl mir, wer du warst
Kapitel 15 – Lügen mit Lächeln
Kapitel 16 – Barfuß durch Erinnerungen
Kapitel 17 – Nur für einen Moment
Kapitel 18 – Du siehst mich
Kapitel 19 – Warum du nicht bleiben solltest
Kapitel 20 – Was mein Herz nicht versteht
Kapitel 21 – Berühr mich nicht, wenn du gehst
Kapitel 22 – Alles an dir macht Angst
Kapitel 23 – Noch einmal Sommer
Kapitel 24 – Die Wahrheit tut weh
Kapitel 25 – Rückwärts fühlen
Kapitel 26 – Gebrochene Versprechen
Kapitel 27 – Wo warst du, als ich fiel?
Kapitel 28 – Und ich dachte, wir hätten Zeit
Kapitel 29 – Zwei Atemzüge zu spät
Kapitel 30 – Das Gegenteil von Flucht
Kapitel 31 – Wenn du mich lässt
Kapitel 32 – Ich gegen mein Herz
Kapitel 33 – Der Tag, an dem ich dich verliere
Kapitel 34 – Wir unter Sternen
Kapitel 35 – Halt mich, als würdest du es meinen
Kapitel 36 – Was bleibt, wenn du bleibst
Kapitel 37 – Mein Ja, dein Vielleicht
Kapitel 38 – Alles, was wir nicht sagen
Kapitel 39 – Wenn der Sturm nachlässt
Kapitel 40 – Und dann kamst du
Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Buchanfang
Der Himmel war zu schwer an diesem Morgen. Nicht grau, nicht schwarz – sondern dieses dumpfe, matte Blau, das sich wie ein zu enges T-Shirt über die Dächer spannte. Es war ein Himmel, der nicht entscheiden konnte, ob er weinen oder einfach nur drücken wollte. Und genauso fühlte sich alles in ihr an.
Mira zog die Kapuze tiefer ins Gesicht und trat aus dem Treppenhaus auf die regennassen Gehwegplatten. Das Knirschen unter ihren Schuhen war kein echtes – nur das Echo von Schritten, die sie tausendmal gegangen war. Immer dieselbe Straße, immer dieselbe Richtung, als hätte ihr Leben einen eingegrabenen Pfad, aus dem sie nicht mehr ausbrechen konnte.
Früher mochte sie das. Diese Verlässlichkeit. Dieselbe Bushaltestelle, derselbe Bäcker mit den schiefen Preisschildern im Schaufenster, dieselbe alte Frau mit Dackel, die jeden Morgen wortlos nickte. Jetzt fühlte sich jede Ecke dieser Straße an wie ein Fingerzeig. Du bist immer noch hier.Er ist es nicht.
Sie blieb stehen. Der Bäcker hatte neue Croissants im Fenster. Mit Schokoladenstreuseln. „Neu! Hausgemacht! Süßes für den Start in den Tag!“ Mira musste kurz lachen, bitter und leise. Wie viel Mühe Menschen sich gaben, um den Schein von Neuanfang zu verkaufen.
Der Bus kam zu früh. Natürlich. Immer dann, wenn man Zeit bräuchte. Sie rannte nicht. Nur ein schnellerer Schritt. Die Tür schloss sich fast vor ihrer Nase, doch der Fahrer war heute wohl gnädig – ein Nicken, ein kurzes Heben der Augenbraue, dann fuhr er weiter.
Mira ließ sich auf einen Fensterplatz sinken, den Kopf gegen das Glas. Es war noch nicht mal acht Uhr, und sie fühlte sich, als hätte der Tag schon verloren.
Der Bus zog durch die Stadt, und mit jeder Ecke kamen Erinnerungen. Der kleine Park an der Ecke, in dem sie das erste Mal mit Tom geknutscht hatte. Er hatte danach so gelacht, weil ihr die Haare im Gesicht klebten und sie wie ein nasser Pudel aussah. Die Tankstelle, an der sie sich angeschrien hatten. Das Restaurant mit dem roten Neonlicht – der Abend, an dem er „Ich liebe dich“ sagte, obwohl er es wahrscheinlich nicht mehr meinte. Vielleicht nie wirklich gemeint hatte.
Mira drückte die Augen zu.
Der Schmerz kam nie in Wellen, wie alle immer behaupteten. Er war immer da. Eine feine Linie aus Spannung, die vom Hinterkopf bis tief in den Brustkorb reichte. Nur mal lauter, mal leiser. Heute war er laut.
Sie dachte an den letzten Abend. Seine Jacke über dem Stuhl. Seine Stimme, kühl wie kalter Rauch: „Ich kann das nicht mehr, Mira.“ So nüchtern, als würde er über einen Wasserschaden reden.
Ich kann das nicht mehr.
Kein Streit. Kein Drama. Nur das Geräusch, als er die Tür schloss. Und sie hatte dastehen müssen, ohne zu schreien. Ohne ihn aufzuhalten. Sie hatte sich selbst nicht wiedererkannt in dieser stillen, paralysierten Version von sich.
Der Bus bremste ruckartig. Jemand stieg ein – ein junger Mann mit zu vielen Tüten, Kopfhörer im Ohr. Unbeteiligt. Schnell wieder raus aus ihrer Welt. Das war das Schlimmste: Dass alles einfach weiterlief. Als hätte ihr Herz nicht gerade eine ganze Stadt verwüstet.
Sie stieg zwei Haltestellen zu früh aus. Ein Reflex. Weg von allem, das Routine hieß. Der Wind war schärfer hier, zwischen den alten Backsteinbauten. Das Viertel war wie aus der Zeit gefallen. Zwischen Friseursalons mit verblassten Schriftzügen und verrammelten Spielhallen hatte sich das Leben zurückgezogen.
Doch gerade deshalb kam sie her. Hier kannte sie niemand. Und das hieß: keine Blicke, kein Mitleid.
Sie setzte sich auf die Mauer vor dem alten Kino. Die Buchstaben über dem Eingang waren halb abgefallen. „KINO“ war jetzt nur noch „KO“. Passte irgendwie.
Mira kramte in ihrer Tasche, zog das kleine Notizbuch hervor, das Tom ihr geschenkt hatte. Sie hatte es nie benutzt. Jetzt kritzelte sie wortlos eine Linie auf die erste Seite. Einfach nur eine Linie. Langgezogen, gerade. So fühlte sie sich: wie etwas, das mal begonnen hatte – und irgendwo unterwegs das Ziel verloren hatte.
Ein Vogel landete neben ihr. Grau, zerrupft. Wie sie. Sie sah ihm zu, wie er pickte, nichts fand und wieder davonflog. Ein Symbol? Vielleicht. Vielleicht auch nur ein Vogel.
Ihr Handy vibrierte. Eine Nachricht von Jana, ihrer besten Freundin:
"Wie geht’s dir heute? Soll ich vorbeikommen?"
Mira starrte auf das Display. Ihre Finger zögerten. Dann tippte sie:
"Nein. Ich will nur allein sein. Heute. Vielleicht morgen."
Sie wusste, dass sie log. Aber sie konnte heute keine Umarmung ertragen. Kein Mitleid. Kein „Du wirst darüber hinwegkommen“. Was, wenn sie das nicht wollte?
Der Wind wehte ein altes Blatt zu ihren Füßen. Sie hob es auf. Die Adern darin wirkten wie kleine Wege. Abzweigungen, Kreuzungen, Sackgassen. Irgendwo dazwischen stand sie.
Mira schloss die Augen. Vielleicht – ganz vielleicht – war der einzige Weg aus diesem Schmerz nicht, ihn zu betäuben. Sondern ihn zu spüren. Komplett. Bis nichts mehr blieb.
Und dann… Vielleicht, irgendwann: Ein Atemzug, der nicht mehr weh tut.
Mira hätte das Handy nicht wieder einschalten sollen.
Sie hatte es stundenlang auf lautlos gestellt, tief in der Tasche vergraben, als ob das Ausblenden der Welt auch das Innenleben leiser machen würde. Aber irgendwann – in einem Moment der Schwäche oder vielleicht bloß aus Reflex – hatte sie den Bildschirm entsperrt. Und da war sie. Die Nachricht.
Ein einfacher Ping. Ein Name. Tom.
Ihr Herz setzte aus. Ganz kurz nur. Aber sie spürte den Moment wie einen Stromstoß unter der Haut. Sie starrte auf das Display, als würde die Nachricht sich noch ändern, zurücknehmen, verschwinden, auflösen. Doch die Worte blieben:
„ Ich wollte nur sagen: Es war richtig, was ich getan habe.“
Kein „Hallo“. Kein „Wie geht’s dir?“ Kein „Tut mir leid“. Nur dieser eine Satz. Klar. Hart. Und endgültig.
Mira blinzelte. Langsam. Sie las es noch einmal. Und ein drittes Mal.
Es war richtig, was ich getan habe.
Als wäre sie eine Fehlentscheidung. Ein Irrtum. Ein Kapitel, das man zu früh geöffnet und dann sofort wieder schließen musste.
Sie fühlte, wie ihr Gesicht warm wurde. Nicht von Traurigkeit – sondern von Scham. War sie wirklich so blind gewesen? So leicht zu verlassen? So einfach zu ersetzen?
Sie stand auf. Der Wind zerrte an ihrem Mantel, doch sie spürte ihn kaum. Die Stadt um sie herum war plötzlich wie in Watte gepackt – Straßen, Autos, Menschen, Lärm. Alles drang nur noch dumpf zu ihr durch, als hätte die Nachricht sie in eine eigene Schallkammer aus Schmerz gesperrt.
Sie lief. Einfach los, ziellos. Weg von der Mauer, weg vom alten Kino, weg vom Ort, an dem sie geglaubt hatte, wenigstens kurz durchatmen zu können.
Die Stadt zog an ihr vorbei wie eine Kulisse. Ampeln wurden zu Lichtern ohne Bedeutung, Häuser zu Schatten. Nur der Druck in ihrer Brust war real.
Was dachte er sich eigentlich? Nach allem. Nach dem, was sie für ihn aufgegeben hatte. Wie oft sie für ihn zurückgesteckt hatte. Wie sehr sie geglaubt hatte, das wäre Liebe.
Aber vielleicht war es das nie. Vielleicht war sie einfach nur bequemer gewesen als Einsamkeit. Ein Übergang. Ein gutes Gefühl zur falschen Zeit.
Es war richtig.
Diese drei Worte fielen immer wieder in ihr wie Steine in einen stillen See. Wellen, die sich ausbreiteten, ihr Herz zerrissen.
Sie bog in eine Seitenstraße ein. Hier war es stiller. Die Häuser alt, mit Rissen in der Fassade, als ob auch sie schon zu viel gesehen hatten. Sie entdeckte eine kleine Mauer, kniehoch, voller Moos. Setzte sich. Das Handy in der Hand.
Ein Teil von ihr wollte zurückschreiben. Alles auf einmal. Die Wut. Die Verzweiflung. Die Fragen, die keine Antworten mehr verdienten:
Warum jetzt? Warum so kalt? Warum überhaupt?
Aber sie tat es nicht. Stattdessen klickte sie auf das Profilbild. Tom am Strand, lachend. Sonnenbrille, das Shirt halb offen. Dieses Bild war noch keine zwei Wochen alt. Mira erinnerte sich an den Moment. Sie hatte es gemacht. Damals. Damals war er noch ihr. Oder hatte sie sich das nur eingebildet?
Sie spürte, wie sich etwas in ihr zusammenzog. Nicht das Herz. Tiefer. Ein unsichtbarer Knoten zwischen Magen und Kehle.
Sie stand wieder auf. Zog das Handy aus der Hülle. Betrachtete es wie ein Objekt, wie etwas Fremdes, das zu viel wusste. Dann schleuderte sie es gegen die Mauer.
Der Aufprall war nicht laut, aber befreiend. Das Display sprang. Ein feines Netz aus Rissen zog sich über den Bildschirm. Und doch vibrierte es.
Ein zweites Ping. Noch eine Nachricht. Trotz des zersplitterten Glases konnte sie sie entziffern:
„ Ich hoffe, du bist nicht sauer. Ich wollte nur ehrlich sein.“
Mira lachte. Kurz, hart, trocken. Nicht sauer. Was für ein erbärmlicher Wunsch.
Sie beugte sich nach dem Handy, hob es vorsichtig auf. Ihre Finger zitterten. Dann schrieb sie. Keine lange Antwort. Kein Herzblut mehr. Kein Seelenstriptease.
Nur vier Worte:
„ Du hast genug gesagt.“
Sie drückte auf „Senden“, ohne es nochmal zu lesen. Blockierte ihn. Schaltete das Handy aus. Und diesmal ließ sie es wirklich los.
Sie lehnte sich zurück an die Mauer. Sah in den Himmel. Er war noch immer dieses matte Blau. Aber zwischen den Wolken war plötzlich ein Spalt. Ein Riss. Licht fiel hindurch. Nicht viel. Aber genug, um zu merken, dass es da war.
Vielleicht, dachte sie, war das der Moment, in dem der Boden nicht mehr ganz so hart war. In dem man nicht mehr fiel – sondern langsam wieder stand.
Vielleicht beginnt Loslassen nicht mit Vergessen. Sondern mit einer Nachricht zu viel.
Der Regen begann leise. Nicht wie ein Schauer, nicht wie ein Gewitter – sondern wie ein sanftes Flüstern auf der Haut der Stadt. Er fiel fast zögerlich, tastend, so als wollte er fragen, ob er überhaupt willkommen war. Aber Mira hörte ihn. Noch bevor sie ihn spürte.
Sie war gerade auf dem Rückweg in ihre Wohnung, als die ersten Tropfen auf den Asphalt trafen. Kleine, kreisrunde Schatten, die sich langsam ausbreiteten – einer nach dem anderen, als würde jemand über die Stadt tippen, in Morsezeichen aus Wasser. Und doch war es nicht der Regen selbst, der Mira stehen ließ. Es war der Moment.
Der Moment, in dem alles stillzustehen schien.
Die Straße war leer. Der Tag dämmerte vor sich hin, als hätte er selbst den Antrieb verloren. Und Mira stand einfach da – mitten auf dem Gehweg, mit dem zerkratzten Handy in der Jackentasche, den Schultern schwer von allem, was sie nicht sagen konnte. Der Regen tanzte auf dem Beton unter ihr, und sie fragte sich, ob jemand anders gerade auch dort stand, irgendwo, verloren in Gedanken, und denselben Himmel sah.
Sie liebte Regen. Immer schon. Nicht den kühlen, ungemütlichen Novemberregen. Sondern diesen: den ehrlichen, klaren Sommerregen. Der nicht wütend war. Sondern traurig. Als würde die Welt kurz mitweinen.
Früher, als Kind, hatte sie sich oft vorgestellt, der Regen sei jemand, der Geschichten erzählte. Jede Pfütze ein gesagter Satz. Jeder Tropfen ein stiller Gedanke. Damals hatte sie sich unter Balkonen versteckt, beobachtet, wie das Wasser vom Dachrand tropfte, rhythmisch, fast musikalisch. Ihre Großmutter hatte dann immer gesagt: „Regen ist das, was kommt, wenn das Leben sich putzt.“
Heute kam er wie ein Reinigungsritual. Und Mira ließ sich treiben.
Sie bog in eine Gasse ab, die sie selten nahm. Ein Umweg – absichtlich gewählt. Der direkte Weg bedeutete Wohnung. Bett. Wand. Einsamkeit. Aber diese Gasse war ein fremdes Stück Stadt. Alt, unaufgeräumt, mit Graffitis an den Mauern, die halb verwischt, halb übermalt waren. Eine Mischung aus Trotz und Vergessen.
Die Tropfen fielen nun dichter. Ihre Haare klebten an der Stirn, die Wimpern waren nass, aber sie ging weiter. Der Beton unter ihren Schuhen glänzte, als hätte jemand eine zweite Haut über die Stadt gelegt. Mira atmete tief durch. Es roch nach nassem Stein, nach Moos und nach etwas, das man fast Hoffnung nennen konnte.
Links in der Gasse leuchtete ein Schild. Ein kleiner Buchladen, alt, schmal, mit verregneter Scheibe. „Zeilen & Zeiten“, stand in schwungvoller Handschrift darüber. Mira blieb stehen.
Sie kannte den Laden nur vom Vorbeigehen. Nie war sie hineingegangen. Immer war sie zu sehr in Eile, zu sehr im Kopf. Doch heute… Heute war sie ohnehin schon außerhalb von allem.
Sie trat näher, schob die Tür auf. Eine kleine Glocke klingelte, zart und rostig. Drinnen war es still. Warm. Der Geruch von Papier, Kaffee und leichtem Staub empfing sie wie ein alter Freund. Es war der erste Ort seit Tagen, der sich nicht falsch anfühlte.
Regentropfen glitten von ihrem Mantel, tropften auf den Boden. „Mach dir nichts draus“, sagte eine Stimme von hinten, „der Boden kennt das schon.“ Sie drehte sich um.
Ein Mann stand hinter dem Tresen. Etwas jünger als sie vielleicht. Dunkle Locken, hochgekrempelte Ärmel, ein Notizbuch in der Hand. Er sah sie nicht an wie eine Kundin. Er sah sie an, als würde er sich überlegen, ob sie gerade flüchtete oder suchte. Vielleicht beides.
„ Schau dich gern um“, sagte er, lächelte schief und verschwand in einem Nebenzimmer.
Mira sah sich um. Regale bis zur Decke, schief und voll. Bücher in jeder Größe, manche mit Eselsohren, manche wie frisch gedruckt. Zwischen den Regalen standen Sessel, einer davon tief eingesunken. Es gab keinen Plan in diesem Raum – nur Geschichten, die sich übereinanderlegten.
Sie fuhr mit den Fingern über die Buchrücken. Kein Ziel. Nur Bewegung. Dann blieb sie stehen. Ein Roman mit abgegriffenem Cover. Der Titel: „Was wir nicht sagen“ Ein schlichter Schriftzug. Aber etwas daran hielt sie fest. Sie zog das Buch heraus, schlug es auf – mitten in der Geschichte:
„ Und vielleicht lag genau darin der Schmerz: Dass das Schweigen lauter war als jedes Wort, das wir je gesagt hatten.“
Mira schluckte. Sie klappte das Buch zu. Es war ein Satz, wie gemacht für diesen Tag.
„ Guter Griff“, sagte plötzlich die Stimme wieder. Der Mann hinter dem Tresen war zurück. „Der Autor ist ein Freund von mir. Hat’s damals geschrieben, als er frisch getrennt war. Nicht sehr subtil, aber ehrlich.“
Mira nickte. „Ehrlich ist gut“, sagte sie.
„ Nicht immer leicht, aber gut“, antwortete er. Dann schob er ihr eine Tasse über den Tresen. „Ist nur Tee. Kamillentee. Ich hab gesehen, wie du draußen standest. Du sahst aus, als wär’s ein Kamillenteetag.“
Sie nahm die Tasse. Rührte nicht. „Ich war… unterwegs“, sagte sie. Er nickte nur. Fragte nichts. Und das war vielleicht das Netteste, was ihr heute passiert war.
Der Regen draußen wurde stärker. Aber Mira blieb. Sie setzte sich in den eingesunkenen Sessel, das Buch auf dem Schoß, die Tasse in der Hand. Und während der Regen auf den Beton prasselte, hart und ehrlich und unaufhaltsam, atmete sie langsam ein. Dann aus.
Vielleicht war das hier nichts Großes. Vielleicht war es nur eine Pause. Ein Moment, in dem das Leben kurz die Schultern sinken ließ. Aber manchmal, dachte sie, beginnt genau da etwas Neues. Still. Ohne Drama. Nur mit dem Geräusch von Regen auf Beton.
Der Tee war lauwarm geworden. Mira hielt die Tasse dennoch zwischen den Händen, als sei sie mehr ein Anker als ein Getränk. Die Wärme war längst nicht mehr im Tee, sondern nur noch in ihrer Erinnerung – so wie bei vielem gerade. Was einmal war, schien ständig vor ihr zu stehen, lebendiger als das Jetzt. Und gleichzeitig war es verschwommen, so als würde sie versuchen, sich an einen Traum zu erinnern, der beim Aufwachen entglitten war.
Sie saß noch immer in dem eingesunkenen Sessel des kleinen Buchladens, der Geruch von altem Papier in der Nase, das dumpfe Trommeln des Regens auf dem Vordach über ihr, und irgendwo im Raum schien die Zeit ein wenig ausgesetzt worden zu sein.
Stiller konnte ein Sturm nicht beginnen.
Sie hatte sich nicht bewegt, seit sie das Buch mit dem Titel „Was wir nicht sagen“ aufgeschlagen hatte. Immer noch lag es auf ihrem Schoß, geschlossen, als würde sie es erst öffnen dürfen, wenn sie bereit war, zu verstehen, was zwischen ihren eigenen Zeilen geschrieben stand.
„ Du wirkst, als wärst du in deinem eigenen Buch verloren gegangen“, sagte eine Stimme mit ruhigem Ton – nicht neugierig, nicht übergriffig. Der Mann vom Tresen war wieder da. Er hatte jetzt einen Stapel Bücher unter dem Arm, alte Ausgaben, wie aus einem Antiquariat. Er stellte sie langsam auf einen Tisch neben ihr.
Mira sah auf. Ihre Augen waren müde. Aber nicht mehr leer.
„ Vielleicht bin ich das auch“, sagte sie leise. „Dann bist du hier richtig“, antwortete er. Und lächelte. Dieses Lächeln war nicht das eines Verkäufers. Es war das Lächeln von jemandem, der wusste, wie es ist, sich selbst zwischen zwei Kapiteln zu verlieren.
Sie sagte nichts. Er fragte nichts. Und vielleicht war genau das die Magie dieses Raumes: dass er dich sein ließ, ohne dich zu definieren.
„ Ich bin Leo“, sagte er schließlich. Nicht als Vorstellung. Sondern wie eine Tatsache. Wie: „Es regnet.“ Er wartete nicht auf ihren Namen. Und sie bot ihn auch nicht an.
Stattdessen betrachtete sie seine Hände. Breite Handflächen, mit Tinte an einem Finger. Er war kein Mann, der viel redete. Aber vielleicht einer, der gut zuhören konnte. Mira hatte das Gefühl, als würde er jedes Wort, das nicht gesagt wurde, genauso ernst nehmen wie jedes ausgesprochene.
Der Tee war inzwischen kalt. Sie stellte die Tasse auf den Boden. „Kennst du das Gefühl, wenn alles um dich herum weiterläuft, aber du selbst stehst irgendwo in der Zeit, ganz weit hinten?“, fragte sie plötzlich. Leo sah sie an, ohne zu blinzeln. „Ja. Ich nenne es Dienstag“, sagte er.
Sie lachte. Nicht laut, nicht herzhaft. Aber echt. Und zum ersten Mal seit Tagen war es kein Lachen, das sie sich selbst vormachen musste.
Draußen schlug der Regen gegen die Scheiben, kräftiger nun. Die Welt war verschwommen, wie durch ein nasses Aquarell gemalt. Passanten rannten mit hochgezogenen Schultern vorbei, Schirme klappten im Wind ein, und irgendwo heulte eine Sirene auf.
„ Was passiert, wenn der Regen aufhört?“, fragte Mira. Leo sah zum Fenster. „Dann bleibt alles nass. Aber manchmal wächst genau dann etwas Neues.“
Wieder so ein Satz, der in ihr nachhallte. Nicht, weil er übertrieben poetisch war. Sondern, weil er schlicht und still war. Wie der Sturm in ihr selbst.
Sie blieb noch eine Stunde in dem Laden. Sie las nicht. Sie redete kaum. Aber sie war da. Und das war mehr, als sie heute Morgen für möglich gehalten hätte.
Leo machte keine Angebote. Kein „Wenn du willst, kannst du wiederkommen“, kein „Ich habe montags Ruhetag“. Nur ein Blick, als sie sich erhob, und ein Nicken, das sagte: „Du darfst gehen. Du darfst auch wiederkommen. Du darfst auch nur atmen.“
Draußen hatte der Regen aufgehört.
Der Himmel war noch wolkenverhangen, aber heller. Der Beton glänzte unter ihren Füßen, spiegelte Laternen, nasse Autospuren, zerplatzte Pfützen.
Mira ging langsam, als wolle sie nichts zerschneiden, was der Regen in die Welt gemalt hatte.
Und dann, während sie die Straße entlangging, spürte sie etwas Seltsames. Nicht Hoffnung. Nicht Glück. Aber etwas Kleines. Ein leises Flimmern hinter der Brust. Wie ein Fenster, das sich einen Spalt weit öffnet – nicht genug, um hindurchzusehen, aber genug, um zu wissen: Es gibt dahinter etwas.
Der Sturm in ihr tobte noch. Aber er war leiser geworden. Nicht, weil er vorbei war. Sondern, weil jemand ihn gesehen hatte. Ohne ihn zu benennen. Ohne ihn kleinzureden. Ohne ihn zu therapieren.
Ein stiller Sturm. Aber vielleicht… war genau das der Anfang von etwas Neuem.
Der Schlüssel klemmte wie immer. Mira fluchte leise, rüttelte an der Klinke, bevor das Schloss schließlich einrastete – ein müder Widerstand, der sich ihrer Rückkehr widersetzte, als würde sogar die Tür spüren, dass etwas fehlte. Dass jemand fehlte.
Die Wohnung war still, als sie eintrat. Nicht die gute Art von Stille – kein friedliches Schweigen. Sondern diese zu laute Leere, die einem das Gefühl gab, man wäre der einzige Mensch auf der Welt, der gerade nicht richtig existierte.
Früher war sie in diese Wohnung gerne zurückgekommen. Früher.
Jetzt fiel die Tür ins Schloss wie ein Echo. Und sie wusste: Sie war allein.