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Vielleicht für immer
von Lena Lou
Manchmal reicht ein Herzschlag, um alles zu verändern.
Manchmal braucht es ein ganzes Leben, um den Mut zu finden, zu bleiben.
Mara und Noah haben mehr Stürme überstanden, als sie je für möglich gehalten hätten. Doch während die Liebe zwischen ihnen immer tiefer wird, zwingen Vergangenheit, Zweifel und unausgesprochene Wahrheiten sie erneut an ihre Grenzen. Kann man jemanden wirklich halten, ohne sich selbst zu verlieren?
Zwischen Sehnsucht und Angst, Hoffnung und Schmerz, stehen Lara und Jonas vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens: Kämpfen sie für ein „Vielleicht für immer“ – oder lassen sie los?
Ein gefühlvoller, intensiver Roman über zweite Chancen, das Ringen mit der eigenen Verletzlichkeit und die Liebe, die selbst im dunkelsten Moment ein Licht entzünden kann.
Perfekt für alle, die Romane voller Emotionen, Tiefe und unvergesslicher Figuren lieben.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Kapitel 1: „Wenn das Licht noch zögert“
Kapitel 2 – Ein Bild, ein Name
Kapitel 3 – Schritte auf nassem Kopfstein
Kapitel 4 – Kaffee und Landkarten
Kapitel 5 – Nadeln stechen, Linien ziehen
Kapitel 6 – Die Dinge, die wir mitnehmen
Kapitel 7 – Ebbe, Flut und wir
Kapitel 8 – Salz in den Fugen
Kapitel 9 – Auf der Schiene
Kapitel 10 – Risse füllen
Kapitel 11 – Zwischen Tür und Tinte
Kapitel 12 – Im Wartezimmer der Zeit
Kapitel 13 – Die leisen Abmachungen
Kapitel 14 – Die Kunst der kleinen Treue
Kapitel 15 – Zwischen Takt und Taten
Kapitel 16 – Räume, die wir öffnen
Kapitel 17 – Heimwege mit Auflagen
Kapitel 18 – Der erste Tag, der hält
Kapitel 19 – Ein Knopf in der Hosentasche
Kapitel 20 – Zwischen Mut und Maß
Kapitel 21 – Berühr mich nicht, wenn du gehst
Kapitel 22 – Alles an dir macht Angst
Kapitel 23 – Die Uhr, die man zeichnet
Kapitel 24 – Wie man ein Haus auf leise stellt
Kapitel 25 – Wie man draußen atmet
Kapitel 26 – Gebrochene Versprechen
Kapitel 27 – Wo warst du, als ich fiel?
Kapitel 28 – Und dann kamst du
Kapitel 29 – Zwei Atemzüge zu spät
Kapitel 30 – Das Gegenteil von Flucht
Kapitel 31 – Grenzen der Reichweite
Kapitel 32 – Die Länge eines Versprechens
Kapitel 33 – Die Stunde vor dem Aufbruch
Kapitel 34 – Nächte der Abwesenheit
Kapitel 35 – Halt mich, als würdest du es meinen
Kapitel 36 – Was bleibt, wenn du bleibst
Kapitel 37 – Mein Ja, dein Vielleicht
Kapitel 38 – Alles, was wir nicht sagen
Kapitel 39 – Wenn der Sturm nachlässt
Kapitel 40 – Das, was bleibt
Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Buchanfang
Der Morgen brach nicht einfach an – er tastete sich vorsichtig durch das Grau. Es war einer dieser Tage, an denen das Licht nicht wusste, ob es überhaupt auftauchen sollte. Nebelschwaden lagen wie eine Decke über der Stadt, verschluckten die Geräusche und dämpften alles, was zu laut sein wollte. Selbst die Vögel schienen leiser zu singen. Es war ein Morgen, der mehr Fragen stellte, als er beantwortete.
Mara saß auf der Fensterbank in ihrer neuen Wohnung, barfuß, die Knie angezogen, und starrte auf den schlafenden Innenhof hinunter. Die Umzugskartons stapelten sich noch immer um sie herum, als hätten sie beschlossen, erst mal zu bleiben. Es war ihre eigene Wohnung, zum ersten Mal in ihrem Leben. Und trotzdem fühlte sie sich fremd darin – wie eine Besucherin in einem Leben, das sie sich noch nicht zugetraut hatte.
Der Kaffee dampfte in ihrer Tasse, doch sie trank ihn nicht. Ihre Finger umklammerten das Porzellan nur, als müsste sie sich an etwas Festem festhalten. An etwas, das nicht gleich wieder verschwand.
Gestern war der letzte Tag gewesen. Der letzte Tag in der alten Stadt, dem alten Leben, den alten Kompromissen. Sie hatte die Tür zu ihrer Vergangenheit leise geschlossen – nicht, weil sie nicht schreien wollte, sondern weil sie wusste, dass niemand mehr zuhörte. Manchmal musste man gehen, ohne dass jemand einen aufhielt.
Ihr Handy vibrierte leise auf dem Fensterbrett. Eine Nachricht von Clara:
„ Bist du gut angekommen? Sag einfach kurz Bescheid. Ich denk an dich.“
Mara starrte die Worte an, ohne sie wirklich zu lesen. Clara war die Einzige, die noch da war. Die Einzige, die sich nicht abgewandt hatte, als alles zerbrach. Aber selbst sie schien jetzt weit weg – wie ein Foto aus einer anderen Zeit.
Sie tippte:
„ Ja, alles okay. Danke.“
Dann löschte sie die Nachricht wieder. Noch einmal. Und noch einmal. Schließlich ließ sie das Handy liegen, als hätte es gebissen. Wie sollte sie erklären, dass alles in ihr gerade „nicht okay“ schrie?
In ihrer Brust saß ein Gewicht, das sich nicht benennen ließ. Kein konkreter Schmerz, sondern ein leises Drücken, das jeden Atemzug schwerer machte. Vielleicht war es Trauer. Vielleicht Reue. Vielleicht die Angst vor dem, was jetzt kam.
Die Tür zur Küche quietschte leise, als sie sich erhob. Mara bewegte sich langsam, als wolle sie den Raum nicht wecken. Sie zog sich einen alten, ausgewaschenen Pullover über, der noch nach jemand anderem roch. Nach ihm. Und obwohl sie wusste, dass sie das besser lassen sollte, zog sie ihn trotzdem nicht aus.
Sie goss sich einen zweiten Kaffee ein, diesmal schwarz, diesmal heiß. Vielleicht half Hitze gegen Leere.
Die Wohnung war hell, groß, eigentlich schön – aber sie hatte nichts von ihr. Noch nicht. An den Wänden hingen keine Bilder, die Regale waren leer, der Esstisch stand nackt im Raum. Nichts erinnerte an Zuhause. Nur der zerknitterte Notizzettel, den sie aus Versehen mitgenommen hatte, lag auf der Küchenanrichte. Darauf: eine Adresse, ein Datum, ein Name. Noah.
Sie starrte auf die krakelige Handschrift. Es war sein Zettel gewesen, sie hatte ihn in einem ihrer Bücher gefunden, zwischen den Seiten, die sie nie zu Ende gelesen hatte. So wie ihre Geschichte mit ihm. Unfertig. Fragmentarisch.
Ein Teil von ihr hatte gehofft, ihn nie wieder zu sehen. Ein anderer Teil hatte nur deshalb die Kisten gepackt.
Sie wusste, dass er in dieser Stadt lebte. Dass er irgendwo zwischen diesen Häusern, diesen Straßenzügen, diesem Dunst aus Möglichkeiten und Erinnerungen atmete. Und dass sie nicht lange brauchen würde, um ihn zu finden – wenn sie es wollte.
Aber wollte sie es?
Ein Klopfen an der Tür riss sie aus den Gedanken. Kurz, dann wieder. Nicht laut. Nicht fordernd. Vorsichtig.
Mara zuckte zusammen, stellte die Tasse ab. Ihr Herz schlug schneller. Sie erwartete niemanden. Niemand wusste, dass sie schon angekommen war.
Langsam ging sie zur Tür, legte die Hand auf die Klinke – und hielt inne.
„ Wer ist da?“, fragte sie durch das Holz, ihre Stimme brüchiger als beabsichtigt.
„ Paketdienst“, sagte jemand. „Für Mara Rehfeld.“
Der Name klang fremd in ihren Ohren. Sie hatte ihn so selten gehört in den letzten Wochen – seit sie keine war, die man erwartete.
Sie öffnete. Ein junger Mann mit Mütze und müden Augen reichte ihr ein kleines Paket. Kein Absender. Nur ihr Name, ordentlich getippt, auf einem weißen Etikett. Sie unterschrieb und sah zu, wie der Mann im Treppenhaus verschwand.
Zurück in der Küche legte sie das Paket auf den Tisch. Es war leicht, unscheinbar, kaum größer als ein Buch. Zögernd öffnete sie es – und hielt den Atem an.
Darin lag ein alter Polaroid-Schnappschuss. Sie selbst, lachend. Daneben: Noah. Sonnenlicht, Meer, windzerzaustes Haar. Irgendwo an einem Strand, irgendwann im letzten Sommer. Und auf der Rückseite, mit Tinte geschrieben:
„ Vielleicht ist es nicht vorbei. Noch nicht.“
Mara schloss die Augen.
Vielleicht war es das Licht, das jetzt endlich kam.
Vielleicht war es der Anfang.
Vielleicht.
Der Polaroid lag auf dem Küchentisch wie ein kleines Eigentum, das sie nicht mehr kannte. Sie drehte es wieder und wieder in den Fingern, betrachtete das matte Weiß des Rahmens, das verwaschene Lächeln, die Falten in ihren Augen, die sie damals nicht sehen wollte — oder vielleicht nicht sehen konnte. Noahs Haar war vom Wind zerzaust, seine Augen halb geschlossen; auf dem Foto sah er aus, als wäre er gleichzeitig an einem anderen Ort und doch vollkommen bei ihr. Es gab Bilder, die lügen; dieses hier sagte die Wahrheit, nur eben eine Wahrheit in Farbe, eingefroren und vergeblich.
Mara setzte sich, ohne es zu merken, an den Tisch. Die Tasse war schon kalt. Der Dampf hatte sich verzogen, der Kaffee hatte ihm nur einen Schatten Geschmack gelassen. Draußen, irgendwo unter dem Nebel, begann die Stadt zu atmen. Autolichter glitten wie Mücken durch die Straßen, ein Lieferwagen schnalzte, irgendwo lachte jemand zu laut. In ihrer Küche war alles still. Zu still.
Sie hatte vor Wochen entschieden, dass sie hierher zog, um eine Antwort zu bekommen, die sie nie bewilligt hatte. Nicht, weil die Stadt heilte — Städte heilen selten — sondern weil sie mit einem anderen Namen anfangen wollte: ihr eigener. Neue Wände, anderes Licht, andere Wege zur Arbeit. Sie hatte die Kisten gepackt, das Telefon verkauft, die Nummern gelöscht, die zu viel wussten. Sie war weggegangen, bevor die Erinnerungen sie einholen konnten. Oder so hatte sie sich eingeredet.
Dabei war es nur die Hälfte der Wahrheit. Sie war nicht nur weggerannt. Sie hatte sich auch getäuscht, aus Angst davor, verletzt zu werden, und aus dem Glauben, dass ein anderer Ort ein anderes Herz bedeutete. Noah war die Rechnung gewesen, die sie nie beglichen hatte — zu laut gewesen, zu fordernd, zu echt. Und als es zu schmerzen begann, als die Tiefe ihrer Gefühle ein Echo zurückwarf, das sie nicht tragen konnte, hatte sie die Sache in eine Tasche gesteckt und die Tasche zugemacht.
Die Tasche hatte zwar wiederum einen neuen Standort bekommen, doch offenbar war ihr Echo nun doch noch lauter, als sie gedacht hatte.
Sie strich mit dem Daumen über die kleine Schrift auf der Rückseite des Fotos: „Vielleicht ist es nicht vorbei. Noch nicht.“ Keine Absenderangabe, keine klare Botschaft. Nur das Wörtchen noch wie ein Hebel, an dem man ziehen konnte. Noch nicht vorbei — das war kein Versprechen. Aber es war eine Einladung. Oder eine Provokation.
Mara stellte sich vor, wer ihn geschickt haben könnte. Sie dachte an Clara — niemals würde Clara etwas heimlich schicken. Clara war das Gegenteil von heimlich; sie war eine offene Schachtel, ein Telefonat mitten in der Nacht, eine Frostschokolade bei schlechtem Wetter. Also nicht Clara. An wen sonst? An eine gemeinsame Freundin? An seine Ex? Niemandem fiel plötzlich ein, dass man Polaroids verschickte. Doch in ihrer Hand war es nun, und es war real.
Sie wischte das Bild auf den Tisch, legte die Stirn in die Handflächen und erlaubte sich, die Erinnerung zuzulassen. Der Strand: helle Kiesel, ein alter Leuchtturm in weiter Ferne; das Geräusch von Möwen; ein Tag, der ohne Not zu heiß war. Noah hatte sie damals mit einer Mischung aus Leichtigkeit und Dringlichkeit in die Arme genommen, als stünde die Welt auf Abruf. Seine Stimme war leise gewesen, mit einer Wärme, die sie sofort in Besitz nahm. Es war diese Wärme gewesen, die sie nicht mehr gewillt war zu teilen, bis sie gelernt hatte, sich selbst zu halten.
„ Warum jetzt?“, flüsterte sie in die Küche hinein, als würde das Haus eine Antwort schuldig bleiben. Natürlich antwortete das Haus nicht. Keine Mauern, keine Tapeten, konnten ihr die Motive erklären. Nur sie selbst hätte die Erklärung, oder Noah — falls er sie überhaupt noch hatte.
Sie griff nach dem Handy, wischte durch die Kontakte. Clara. Der Name blinkte. Sie atmete aus und wählte. Beim ersten Klingeln sammelte sie schon die Worte: Polaroid, Noah, Paket, vielleicht nicht vorbei. Aber Clare legte auf dem dritten Ton auf und rief zurück, als wäre kein Tag vergangen.
„ Ich wusste, dass du ankommst“, sagte Clara, bevor Mara überhaupt „Hallo“ sagen konnte. „Hast du das Foto?“
„ Da ist ein Polaroid. Keine Absenderangabe. Nur eine Notiz: ‚Vielleicht ist es nicht vorbei. Noch nicht.‘“
Clara schwieg nur kurz. „Er war immer so. Manchmal ist er sogar noch schöner auf Fotos, wenn er lächelt. Aber… willst du, dass ich mitkomme? Ich kann in einer Stunde da sein.“
Mara musste lächeln, obwohl sie es nicht wollte. Clara war Loyalität in Person. „Nein. Ich will das allein. Ich habe das hier selbst inszeniert. Ich muss wissen, was ich tu, Clara. Ich will nicht sofort wieder für jemanden die Tür öffnen, den ich nicht sehen wollte.“
„ Okay“, sagte Clara, ihre Stimme wurde weich. „Aber ruf mich an, wenn du jemand zum Reden brauchst. Oder wenn du plötzlich doch weglaufen willst.“
Sie legte auf, und plötzlich war die Stille größer als vor dem Anruf. Es war, weil jedes Wort, das sie sprach, etwas löste; und jetzt, wo kein äußerer Klang mehr war, hörte sie nur ihr eigenes Herz, das aufgeregt und ängstlich klopfte.
Sie packte das Polaroid in eine Papiertüte, dann in ihre Jackentasche. Vielleicht war das Schutzritual, vielleicht nur das Horten einer Fassade: etwas zu haben, das nicht sofort sichtbar war für andere. Dann zog sie den Pullover aus — der immer noch nach ihm roch — und warf ihn in die hinterste Ecke eines Kartons. Ein Akt, ganz klein, aber feierlich; ein Schritt, der im Innern eine Tür schließen sollte.
Auf dem Weg nach draußen betrachtete sie einmal mehr die Wohnung. Die Lichtstreifen auf dem Boden, die unbenutzte Küchenschublade, die kahle Wand gegenüber vom Sofa — alles wirkte wie ein Provisorium. Das war es auch. Provisorien sind bequemer als Endgültigkeiten. Aber sie nahm die Tasche, das Polaroid, und machte sich auf den Weg. Nicht weg. Nicht hin. Nur an einen Ort, wo man sich leichter entscheiden konnte: Ein Café in der Nähe, ein Ort mit Tischen, an dem man sich selbst beobachten konnte, während andere Menschen sich ihren eigenen Lebenslinien hingaben.
Die Straße zur Hauptallee war noch mit nassen Flecken vom Nebel; sie mochte den Geruch von regennasser Erde, er fühlte sich an wie ein Versprechen, dass etwas reinigt. Das Café war nicht weit. Eine kleine, dunkle Tür mit einem Messingschild, auf dem „Café Lumière“ stand; drinnen, im hinteren Winkel, gab es diesen runden Tisch, an dem sie oft gesessen hatte, wenn Entscheidungen anstanden. Der Barista kannte sie nicht, was den Reiz erhöhte — man kannte nicht die Geschichte in ihren Augen, nicht die Furchen unter ihren Lidern. Niemand hier wusste, dass sie ein Gesicht aus einem Polaroid trug.
Sie bestellte einen schwarzen Tee, ließ den Blick über die anderen Gäste schweifen und zog das Foto erneut aus der Jacke. Vor ihr lagen zwei Möglichkeiten: das Bild sofort wegzustecken und so das Herz zu schonen, oder es offen auf den Tisch zu legen und sich zu erlauben, mit der Wahrheit zu sitzen. Sie tat beides zugleich, indem sie das Foto halb aus dem Etui ragen ließ. So konnte niemand das Motiv erkennen, aber sie selbst hatte das Gewicht der Entscheidung in der Hand.
Während sie auf den Tee wartete, begann sie zu schreiben. Nicht einen Brief, nicht an Noah, sondern an sich: kurze Stichworte, Fragen ohne Antworten, Sätze, die eher prüften, als erklärten.
Warum jetzt?Will ich das wissen?Wenn er zurück ist — will ich ihn zurück?Oder will ich nur bestätigen, dass ich nie wirklich weg war?
Es waren banale Fragen, aber in ihnen wohnte eine Tiefe, die eine Antwort verlangte, bevor sie weiteratmen konnte.
Der Barista stellte den Tee vor ihr ab, nickte freundlich, nicht wissend, wie zerbrechlich das Wesen am Tisch war. Sie nahm einen Schluck; die Wärme breitete sich langsam aus, als würde sie das Gefrierende in ihr auftauen. Und für einen Moment, so kurz wie ein angehaltener Atemzug, dachte sie, dass dieses Polaroid vielleicht gar kein Angriff war. Vielleicht war es eine Art Rettungsseil, das jemand geworfen hatte, in der Hoffnung, dass sie greifen würde. Nur — wer hatte es geworfen? Und warum, nach all der Zeit?
Sie erinnerte sich daran, wie Noah sie einst am selben Tisch beim ersten Besuch überrascht hatte, wie er mit einem alten Buch hereinkam, mit zerknitterten Seiten und einem Lächeln, das zu sagen schien: Ich habe etwas gefunden, das wir teilen können. Damals hatten sie Stunden geredet. Heute saß sie mit einem Foto, das dieselben Stunden beschwor — und die Stunden, die danach kamen.
In der Ecke des Cafés hörte sie plötzlich Schritte. Nicht nah, nicht laut; eher wie ein Farbtupfer im Weiß ihrer Gedanken. Sie hob den Kopf. Ein Mann trat ein, die Schultern in einem abgetragenen Mantel, Haare, die an den Schläfen schon graute, aber auf eine Art, die ihm nur Charakter gab. Er suchte mit den Augen, prüfte die Tische, und als er ihren Blick schnitt, zuckte etwas in seiner Miene. Nicht Erkennen, eher Wiedererkennen — dieses flüchtige Einverständnis, das zwei Menschen teilen, die dasselbe Lied im Kopf haben.
Mara merkte, wie ihr Herz kurz stolperte. Der Mann setzte sich nicht bei ihr; er setzte sich am Fenster, das Licht reichte kaum bis zu ihm, doch sie konnte sehen, wie er sein Taschentuch aus einer Jackentasche zog und mit einem feinen Kniff an den Kanten seines Mantels zupfte. Etwas an ihm war vertraut, doch nicht so sehr, dass sie sich sicher sein konnte. Vielleicht war es nur die Art, wie er die Hände hielt. Vielleicht war es pure Einbildung.
Sie nahm das Foto, schob es behutsam in ihren Mantel, stand auf, bezahlte, und trat wieder hinaus in den Nebel. Die Stadt hatte ihre Konturen verschluckt; die Welt war ein Aquarell, in dem Farben ineinanderliefen. Sie zog die Kapuze hoch, presste die Hände in die Taschen. An einem Hauseck blieb sie stehen, betrachtete die Adresse auf dem Zettel, den sie vorhin in einer Kiste gefunden hatte — die Adresse, die sie impulsiv mitgenommen, ohne zu überlegen, ohne vorzuplanen.
Es war nur ein Straßenzug weiter. Nicht viel. Zu nah vielleicht, um Zufall zu sein; zu fern, um sicher zu sein, was sie suchte. Sie spürte die Entscheidung wie einen Stein in der Brust — schwer, aber notwendig. Sie wollte nicht überstürzt handeln. Doch sie hatte das Foto in ihrer Tasche, und die Notiz in der Küche, und das Gefühl, dass etwas, das im Sand vergraben war, nicht unbedingt tot ist.
Sie ging los.
Jeder Schritt näherte sie einer Antwort, die noch nicht bereit war, ausgesprochen zu werden. Der Nebel umarmte sie, die Laternen warfen schmale Lichter auf den Asphalt. In einem Caféfenster spiegelte sich eine Bewegung — eine Silhouette, die aussah, als würde jemand stehen bleiben, in genau dieser Sekunde, in der man beschließt, ob man bleibt oder geht.
Und weil das Leben selten in sauberen Linien verläuft, weil Entscheidungen oft aus einem Haufen kleiner, unentschiedener Momente bestehen, war es genau dieser Augenblick, in dem Mara begriff: Antworten kommen nicht immer mit großen Trompeten. Manchmal klopfen sie leise an, mit einem Polaroid in der Hand. Manchmal treten sie durch die Tür, wie Schritte auf nassem Kopfsteinpflaster. Manchmal steht man dann da — mit einem Bild in der Tasche und einem Namen, der sich wie ein Versprechen anfühlt — und muss wählen, ob man das Klingeln hört, oder ob man es ignoriert.
Sie entschied sich, das Klingeln zu hören.
Die Straße war enger, als Mara sie in Erinnerung gehabt hatte. Zwischen den Häusern zog sich ein Rinnstein, und jede Pfütze, über die sie trat, warf kleine, zitternde Lichtkreise auf den Asphalt. Sie zog die Kapuze tiefer, als wolle sie das Gesicht vor sich selbst verbergen, und ging langsamer, nicht weil sie es musste, sondern weil jeder Schritt sich anfühlte wie ein Takt in einem Lied, das sie beinahe vergessen hatte — und das nun, ausgerechnet jetzt, wieder anzustimmen drohte.
Die Hausnummern flimmerten im Dunst. Nummer dreißig. Ein kleines Kätzchen saß auf der Schwelle eines Mietshauses und putzte sich ohne Eile; die Welt war in diesem Moment nur die Katze, und die Katze war froh, dass sie nichts weiter tun musste als zu atmen. Mara blieb stehen, betrachtete das Gesicht der Katze, die Unangemessenheit der Idylle. An einer Stelle, an der die alte Fassade abblätterte, blühte ein Löwenzahn, trotzig gelb zwischen Rissen — ein Detail, das ihr beinahe unangemessen mutig erschien. Und dann: der Briefkasten.
Er hing etwas schief in seiner Halterung, mit abgeplatzer Farbe und einem Namen, der auf einem schmalen Schildchen prangte. Sie blieb so nah stehen, dass sie die Struktur des gedruckten Schriftzugs erkennen konnte: „N. Berger“. Noah Berger. Das Herz schlug ihr in den Ohren, nicht laut, eher so, als würde es gegen etwas hämmern, das sie noch nicht ganz verstand. Es war, als habe sie ein Gebäude betreten, dessen Räume mit Erinnerungen tapeziert waren, und an jeder Tür hing ein Schild, auf dem Dinge standen, die sie vergessen wollte — und nicht konnte.
Sie legte die Hand auf den kalten Metallbriefkasten. Die Kälte war echt, unverkünstelt; sie erinnerte sie an verregnete Juniabende, an Hände, die sie beim Weggehen losgelassen hatten. Sie blinzelte, um die verschwommene Feuchtigkeit in den Augen zu vertreiben, und bemerkte, wie die Passanten sie kaum beachteten. Für sie war sie nur eine weitere Silhouette. Das war irgendwie tröstlich.
Auf dem Klingelbrett stand nur sein Name, keine andere Person, keine Zusatzvermerke. Sie hörte, wie in ihr etwas zusammenzog und dann wieder lockerte, so als rekelte sich eine alte Wunde und räusperte sich, um zu fragen, ob es jetzt Zeit sei, sie zu beleidigen oder zu heilen. Mara zog die Hand zurück. Es hätte so einfach sein können: klingeln, sagen, wer sie war, und warten auf eine Reaktion, irgendeine Reaktion. Aber es war nicht so einfach. Nicht nach dem, was gewesen war, nicht nach den Dingen, die sie getan und nicht getan hatte.
Gedanken liefen wie Bilder an ihr vorüber. Der Strand damals: die Sonne, das Salz auf der Haut, das laute Gelächter, das sich wie Pappbecher in den Händen verformte und dennoch echt blieb. Sein Gesicht in Nahaufnahme, die Art, wie er die Stirn kräuselte, wenn er nach Worten suchte. Der Augenblick, als sie sich geküsst hatten — ungeplante, brennende Unmittelbarkeit, die sie beide überrascht hatte wie ein Blitz im Sommer. Und doch waren nach diesem Blitz die Schleusen zugegangen; Unausgesprochenes legte sich wie Schilf über das Wasser zwischen ihnen. Sie war weggegangen, nicht weil sie ihn nicht geliebt hatte, sondern weil sie sich nicht mehr hielt und nicht wusste, wie man zusammenhielt, ohne Schaden.
Sie warf einen letzten Blick auf den Namen — N. Berger — und merkte, wie eine kleine Verrücktheit in ihr wuchs, eine Bitte an die Vernunft, sie möge jetzt einen Moment stillhalten. Mara zog die Klinke zur Haustür hoch, die leicht nachgab; sie hatte nicht erwartet, dass sie überhaupt von außen aufgeht. Das Hausflurlicht flackerte, als begrüße es sie halbherzig, mehr aus Gewohnheit als aus Überzeugung. Die Treppe roch nach feuchtem Holz und altem Teppich, und jeder Schritt, den sie machte, war ein kleines Echo, das ihr selbst zurückgegeben wurde.
Oben, vor der Wohnungstür, blieb sie stehen. Sie hörte leise Stimmen hinter der Tür, ein fernes Lachen. Für einen Moment dachte sie, sie müsse umdrehen; die Stimme, die sie dort hinter der Wand vernahm, könnte alles Mögliche bedeuten — eine neue Beziehung, einen Mitbewohner, eine Familie, die sie nie gekannt hatte. Dann legte sie die Hand auf die Klingel. Ihre Finger zitterten nicht mehr so sehr wie zuvor; das Zittern hatte sich in eine Ruhe verwandelt, in der sich die Entscheidung sammelte.
Sie drückte. Ein einzelner Ton. Ein kurzes Pochen in der Stille. Und dann — Schritte. Auf dem Flur. Ein Schlüssel ruckte. Die Tür öffnete sich, und Noah stand im Türrahmen.
Er war nicht älter, nicht veränderter, zumindest nicht äußerlich; aber es lag etwas in seinem Blick, was nicht angedeutet war in Fotos — eine Tiefe, die wie ein Grund seen but not immeasurable blieb. Er trug einen schlichten grauen Pullover, der um die Ellbogen etwas ausgefranst war, und seine Haare fielen ihm leicht in die Stirn. Als er sie sah, zog sich sein Gesicht zusammen — eine Mischung aus Überraschung, kurz aufblitzender Verlegenheit und dann einer Strenge, die sie verstanden hat als: vorsichtig, nicht zu viel, nicht zu schnell.
„ Mara?“, sagte er, und seine Stimme hatte denselben Timbre wie früher, nur weicher, als hätte sie über Zeit und Entfernung einen dunkleren Eindruck bekommen. Es war kein schales Hallo, sondern ein Wort, das abwog und registrierte und fragte, ob sie echt war.
„ Ja“, brachte sie hervor, und selbst das einfache „ja“ fühlte sich an wie eine Überwindung. „Ich bin… in der Stadt. Ich — ich habe dein Foto bekommen.“ Sie zeigte ihm das Polaroid, das noch immer in ihrer Jacke lag wie ein Geheimnis. Als er es nahm, beobachtete sie die kleine Falte an seinem Daumen, die er immer dann bekam, wenn er nachdachte.
Er sah das Bild an, seine Augen verengten sich, und für einen Moment war er ganz im Anblick versunken — mehr bei dem Foto als bei ihr. „Ich habe das rausgeschickt“, sagte er leise, ohne sie anzusehen. „Nicht anonym. Ich… habe es heute Morgen gemacht.“ Sein Atem ging schnell, nicht vor Aufregung, eher wie jemand, der eine Aufgabe beendet hatte, die schwerer war, als ihm lieb war. „Ich wollte nicht, dass du es einfach so bekommst. Ich wollte, dass du weißt, dass ich es war.“
Das war zu viel und zu wenig zugleich. Zu viel, weil das Eingestehen seine Worte in eine Richtung zog, eine Verantwortung, die beide noch nicht tragen wollten; und zu wenig, weil ein Foto nicht die Zeiten füllte, in denen sie sich nicht geschrieben, nicht berührt, nicht gestritten hatten. Mara musste sich räuspern. Ihre Stimme klang dünn, als sei sie gerade von einem langen Weg zurückgekehrt.
„ Warum?“, fragte sie. Es war keine Frage nach dem Motiv. Es war eine Frage, die die langen Lücken zwischen ihnen betrachtete: warum jetzt, nach all den Wochen des Schweigens? Warum ein Foto, das sie aus der Vergangenheit riss, wenn nicht, um etwas zu fordern?
Er hob den Blick. Die Augen suchten ihre, wie jemand eine Landkarte nach dem richtigen Pfad absuchte. „Weil ich nicht wusste, wie ich anfangen sollte zu schreiben. Weil Worte zu viel geworden sind. Das Foto war eine Brücke, dachte ich. Unspektakulär, einfach — ein Weg, ohne sofort zu fordern, ohne Zeit zu drängen.“ Seine Stimme war beruhigend, und doch belegte etwas in ihr jede Silbe mit Vorsicht.
Sie musste lachen, obwohl es ihr in der Kehle festsaß, ein kurzes, unkontrolliertes Geräusch, halb Schmerz, halb Erleichterung. „Eine Brücke“, wiederholte sie. „Und wie weit ist deine Brücke?“
„ Kurz“, sagte er, und das Lächeln, das dabei kam, war scheu. „Ich stand auf dem Balkon und dachte: ‚Jetzt oder nie.‘“ Er machte eine flache Geste nach draußen, zum grauen Himmel, als sei die Stadt selbst ein Zeuge seiner Entscheidung. „Ich habe es nicht geplant. Ich wollte nur… sehen, ob du noch reagierst.“
Sie trat einen Schritt näher in den Türrahmen, obwohl ein Teil ihres Verstandes ihr genau das verbot. Nähe war ein Synonym für Gefahr gewesen, und doch fühlte sich sein Stehen im Türrahmen an wie die Rückkehr eines vertrauten Akkords, den man lange nicht gehört hatte. Auf der anderen Seite spürte sie die Erinnerung an die Zeit, als er sie weggedrückt hatte, weil er glaubte, er dürfe sich nicht hängen lassen; an die Nächte, in denen sie geschrien und er getrunken und sie beide in die Leere hinaus gelaufen waren, bis etwas zersprang.
„ Es ist kompliziert“, sagte sie. „Für uns beide.“ Ihre Hand strich automatisch über die Kante des Fotos, als wolle sie die Schrift noch einmal fühlen, um sich des Beweises zu vergewissern. „Warum hast du es nicht vorher versucht? Warum nicht schreiben, anrufen, irgendwas?“
Noah senkte die Schultern, und ein Schatten flog über sein Gesicht. „Ich habe es versucht.“ Er atmete tief ein. „Ich habe dir Briefe geschrieben. Viele. Ich habe sie nie abgeschickt. Ich habe dich auf Social Media angeschrieben, ich habe vor deiner alten Wohnung gestanden, habe den Zettel in deinem Buch gefunden —“ Er sah sie an, und jetzt war da eine Verletzlichkeit, die nicht gespielt war. „Ich habe Angst gehabt. Dass du mich hasst.“ Die Worte fielen, und sie waren einfach. Nicht theatralisch. Nicht gebrochen. Nur echt.
Mara spürte, wie ihre Wände bröckelten. Angst war ein gemeinsamer Nenner gewesen, der sie beide wie zwei Inseln voneinander getrennt hatte. Sie dachte an die vielen Male, in denen sie geglaubt hatte, dass Zurückgehen eine Tat der Stärke war; an die Male, in denen er gegangen war, weil er nicht wusste, wie man bleibt. „Mich hassen?“, wiederholte sie leise. „Warum solltest du das denken? Ich —“ Sie atmete und stoppte den Satz. Nicht, weil sie nicht weitersagen konnte, sondern weil die Worte, die wohl am notwendigsten gewesen wären, zu schwer schienen, um sie zu formen.
Vor der Tür standen sie in einer zögerlichen Eintracht, beide verletzt, beide betrübt, und doch war da nun eine kleine, seltsame Brücke zwischen ihnen — nicht aus einem Foto, sondern aus dem Moment, in dem zwei Menschen beschlossen hatten, die Kühle ihres Schweigens zu unterbrechen. Es war kein Anfang und kein Ende. Es war ein Zwischenraum, in dem alles möglich und nichts sicher war.
Noah hielt das Foto immer noch in der Hand. „Wenn du willst“, sagte er dann, „können wir reden. Nicht jetzt vor der Tür. Ich habe Kaffee. Oder Tee. Und ich habe Zeit, wenn du es hast.“
Mara sah auf das Polaroid, auf den schmalen weißen Rand, auf die Worte auf der Rückseite. Sie dachte an Clara, an die Katze, an den Löwenzahn, an das leise Pochen ihrer eigenen Brust. Sie dachte daran, dass Antworten nicht immer das heftige Ende einer Geschichte bedeuteten, sondern oft nur den Mut, einen kleinen Schritt weiterzugehen.
„ Ein Kaffee“, sagte sie schließlich. „Aber nur einen. Und wir fangen langsam an.“
Er lächelte, und das Lächeln war ein Sonnenstrahl, der es wagte, durch die grauen Wolken zu bohren. „Langsam“, bestätigte er. „Genau so.“
Sie folgten der Einladung hinein. Die Tür schloss sich leise hinter ihnen; draußen klang die Stadt weiterhin wie ein Bild, das noch nicht fertig gemalt war. Und drinnen, in der kleinen Wohnung, begann die Zeit in winzigen, zaghaften Tönen wieder zu laufen — nicht heftig, nicht versprechend, nur so, dass zwei Menschen das neue alte Gefühl festhalten konnten, ohne es sofort zu zerreißen.
Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee füllte die kleine Wohnung, ein warmes, vertrautes Aroma, das sofort den Frost aus Mara löste. Noah hatte eine schmale Kaffeekanne auf den kleinen Holztisch gestellt, daneben zwei Tassen, einfaches Porzellan mit einem feinen Rissmuster. Die Sonne hatte es durch die schmalen Vorhänge geschafft und warf Streifen über den Boden; sie bewegten sich langsam, als atmete die Wohnung mit.
Sie setzten sich sich gegenüber, beide mit dem Polaroid noch in der Nähe, als wäre es eine dritte, lauschende Person. Die erste Minute verstrich in Getuschel und unbeholfenen Blicken — das typische Nachspiel eines Wiedersehens, wenn die Zeit die Etikette überholt hat und beide nicht wissen, welches Modell von Nähe jetzt angemessen wäre. Dann hob Noah die Hände, so als wolle er die Luft ausreden.
„ Danke, dass du gekommen bist“, sagte er leise. Das war alles. Nicht pathetisch, nicht fordernd. Nur eine Wahrheit, die zwischen ihnen stand wie eine kleine Laterne.
Mara trank einen Schluck Tee — sie hatte dem Kaffee widerstanden; manchmal half ein heißer, klarer Tee, die Kanten des Mutes zu schleifen. Sie fühlte das Papier des Polaroids in der Tasche ihres Mantels, spürte das Gewicht der Worte auf der Rückseite, und beobachtete, wie Noah sie beobachtete. Er wirkte älter, das war das erste, was sie dachte. Reif, nicht unbedingt älter. Ein Mensch mit ein paar mehr Falten an der Stirn, die eine Geschichte erzählten von Nächten, in denen man nicht schlafen konnte.
„ Warum das Foto?“, fragte sie schließlich. Nicht konfrontativ; eher, als wolle sie die Mechanik einer Uhr verstehen.
Er atmete tief ein. „Weil ich nicht wusste, wie ich anfangen sollte. Ich habe Briefe geschrieben, und dann habe ich sie wieder zerrissen. Ich habe dir Nachrichten geschickt, und dann die App gelöscht. Das Foto“, er berührte den Rand des Polaroids, „das wirkt so einfach. Kein Text. Kein Plan. Nur ein Moment. Vielleicht dachte ich, wenn du den Moment siehst, erinnerst du dich nicht an das Ende, sondern an das Dazwischen.“
Sie ließ die Worte an sich heran. Dazwischen. Das Wort arbeitete sich wie ein stiller Pflasterstein in ihre Erinnerung: die Pause, die Lücke, die Zeiten, in denen sie noch gemeinsam waren, ohne zu wissen, wie man bleiben müsste. „Und hast du gehofft, dass ich zurückkomme?“, fragte sie. „Oder dass ich wütend werde? Dass du es bereust?“
Sein Lächeln war kurz, ohne Triumph. „Ich habe gehofft, dass du reagierst. Dass du überhaupt etwas machst. Dass du die Existenz einer anderen Möglichkeit anerkennst. Aber das war vermutlich schon genug Ego für einen Menschen.“
Sie lachten beide leise — kein fröhliches Lachen. Eher das Lachen von Menschen, die merken, dass sie immer noch menschlich sind.
Noah stand auf und ging zum Fenster. Er zog die Vorhänge ein wenig weiter auf. Draußen sah man die Straße, die Bäume am Rande des Gehwegs, und weiter hinten das Dach der alten Kirche. Im Gegenlicht wirkte er für einen Moment wie jemand, der das Gewicht seiner Tage neu ordnete. Dann drehte er sich zu ihr um.
„ Ich will ehrlich sein“, sagte er. „Nicht, um dich zu beschweren oder zu dramatisieren. Nur, weil du es weißt: Ich habe Fehler gemacht. Ich bin gegangen, weil ich dachte, ich müsste erst mich reparieren, bevor ich irgendjemandem schadlos nahekommen darf. Ich habe mich aber nicht repariert. Ich habe nur… geparkt. Ich habe Dinge aufgeschoben, die keine Zeit ertragen.“
Mara sah ihn an. Seine Hände am Fenster waren ruhig, aber sie bemerkte die kleinen Zeichen — ein Knoten in der Lippe, das Zucken des Kinns. Die alte Vertrautheit erlaubte ihr, diese Züge zu lesen.
„ Warum hast du nicht geschrieben?“, fragte sie. „Echt geschrieben. Nicht die halbherzigen Nachrichten.“
Weil Schreiben weh tut, antwortete er ohne Worte, und in seinem Blick lag die Mühe, das auszusprechen. Stattdessen sagte er: „Ich habe Briefe geschrieben. Manche haben ein paar Zeilen, andere ganze Seiten. Alle ungeöffnet. Ich habe Angst gehabt, dass die Worte dich noch mehr verletzen würden. Dass du denkst, ich würde dich zurückfordern, obwohl ich doch nie die Verantwortung getragen habe. Also habe ich sie behalten, wie man einen Schlüssel aufbewahrt, ohne zu wissen, welche Tür er öffnet.“
Das Bild von ihm, wie er Briefe schrieb und nicht schickte, setzte sich in Mara fest wie ein kleiner Spiegel. Sie erinnerte sich an die Abende, an denen sie ihn vorwurfsvoll gefragt hatte, ob er sie wollte, und er hatte nur still dagesessen. Jetzt lernte sie einen Grund kennen für das Schweigen, das sie damals zerrissen hatte. Nicht alle Gründe rechtfertigen das Handeln — aber sie erklären es.
„ Ich bin hierhergekommen, um meine Arbeit zu ordnen“, sagte Mara leise. „Und um mich selbst aus dem Staub zu holen. Aus all dem, was ich mir aufgebaut habe, um nicht zu fühlen. Ein neuer Ort, keine bekannten Wege. Aber das Herz“, sie lachte, ein kurzer Ton, „das Herz nimmt man mit.“
Sein Blick wurde weich. „Und das ist natürlich nicht einfach.“ Er legte vorsichtig die Hand flach auf den Tisch, nicht zu nahe, nicht forschend, nur präsent. „Ich habe oft daran gedacht, wie es wäre, wenn du einfach auf der Matte stehen würdest und sagen würdest: 'Ich bin bereit.' Ich weiß, das war unfair von mir zu hoffen, und dumm. Aber manchmal lebt man in einer Hoffnung, die nicht rational ist.“
Sie starrte auf seine Hand. Es war ein routinierter Bewegungsablauf, aber in der Art, wie seine Finger den Tisch berührten, lag eine Behutsamkeit, die sie berührte. Vielleicht brauchte sie genau diese Behutsamkeit, nicht die großen Gesten.
Beide schwiegen. Einverstanden, dass Worte nichts reparieren konnten, und doch nötig, um etwas zu beginnen. Dann stand Noah auf und ging zur kleinen Wand gegenüber der Couch. Mara nickte, die Erwartung schleppte sich wie ein leiser Hund an ihren Füßen.
An der Wand hing eine große, alte Weltkarte, deren Papier an den Rändern vergilbt war. Auf den ersten Blick wirkte sie wie die Dekoration eines Menschen, der gern reiste. Bei näherem Hinsehen sah Mara kleine Stecknadeln, Fäden, die von Ort zu Ort gespannt waren, und Post-it-Notizen daneben: Namen, kurze Sätze — „Sommer 2019“, „Dort haben wir uns gestritten“, „Hier war der See“ — Markierungen eines Lebens, das notiert wurde, um nicht zu verschwinden.
Noah drehte sich zu ihr. „Ich habe das gemacht, als… naja, als ich Angst hatte, alles zu vergessen. Ich habe Orte aufgeschrieben, an denen wir waren, und Dinge, die wir gesagt haben. Es ist dumm, vielleicht. Aber wenn die Welt groß ist, hilft es, ein paar Punkte zu haben, die man anfassen kann.“
Sie trat näher, betrachtete den Faden, der von einem kleinen Küstenstädtchen auf der Karte zu einem Punkt im Landesinneren führte, notiert mit einem Datum und einem Wort: Anfang. Die Handschrift war seine. Es war, als hätten die Orte ihre eigene Stimme behalten. Mara spürte, wie etwas in ihr sich löste — nicht alles, nicht jetzt, aber eine kleine Schicht von Erstarrung.
„ Du hast also eine Landkarte unserer Zeit gemacht“, sagte sie halb lächelnd, halb wehmütig. „Als wollte jemand den Weg aus dem Labyrinth markieren.“
„ So ungefähr.“ Er nickte. „Und ich wollte wissen, ob man sich wiederfindet, wenn man die Orte verbindet. Ich dachte, vielleicht führt die Linie zurück zu einem, der noch nicht ganz verloren war.“
Die Metapher traf sie. Sie dachte an all die Landkarten, die sie in ihren Taschen getragen hatte — Pläne, Pfade, Exit-Strategien. Sie hatte gehofft, dass man sich mit genug Karten nicht mehr verirrt. Doch jetzt sah sie, dass Karten auch daran erinnern können, wo man bereits gestanden hatte, welche Wege man verlassen hatte, und vielleicht, vielleicht zeigen sie auch, wie man zu Fuß wieder ankommt.
„ Darf ich?“, fragte sie und zeigte auf die Karte. Er nickte. Ihre Finger folgten einer Nadel zu einer kleinen Insel, markiert mit Sommer, Licht, Du. Sie lachte kurz. „Du warst also sentimental genug, an so etwas zu denken.“
„ Manchmal ist Sentimentalität der einzige ehrlich gebliebene Sockel“, antwortete er mit einem Anflug von Humor — dann wurde wieder ernst. „Mara, ich weiß nicht, ob wir das reparieren können. Ich weiß nicht einmal, ob wir das sollten. Ich weiß nur, dass jeder Punkt auf dieser Karte mich an dich erinnert hat, als wäre nichts geschehen, und dann kamen die Lücken und nahmen mir den Atem. Ich wollte sehen, ob die Lücken gedeckt werden können — ob ein Faden reicht.“
Sie ließ sich aufs Sofa fallen, fühlte die Struktur des Stoffes, die Wärme der Sonne. Die Welt draußen war unverändert; hier drinnen wurde jedoch etwas neu verhandelt, zart, nicht endgültig. Mara dachte an Clara, an das Polaroid in ihrer Tasche, an die Entscheidung, den Klingelknopf zu drücken. Jeder Schritt hatte ein Echo erzeugt; jetzt hörte sie die Echos, die zurückkamen.
„ Vielleicht“, sagte sie langsam, „braucht es keine großen Bekenntnisse. Sondern diese Landkarten, die wir gemeinsam lesen. Vielleicht reicht ein Faden, wenn wir beide bereit sind, ihn zu halten.“
Er lächelte, echt diesmal, als würde das Vertrauen, das sie ihm offerierte, wie ein Buch geöffnet werden. „Dann fangen wir mit einem Faden an. Langsam. Ohne die Ansprüche von Geschichten. Nur zwei Menschen, die versuchen, einen Punkt zur nächsten Nadel zu führen.“
Draußen begann ein leiser Regen, der auf das Fenster trommelte wie kleiner Applaus. Es war kein Triumph; es war Begleitung. Mara legte das Polaroid zwischen ihre Hände, spürte das matte Papier und die Erinnerung an Sonne und Wind. Sie hatte keine Ahnung, ob das reichte, ob aus diesen Fäden wirklich etwas werden konnte. Aber sie wusste, dass sie noch hier war, dass sie nicht weggelaufen war, und dass das am Anfang immerhin genug war.
„ Ein Kaffee?“, fragte Noah in einem Ton, der nicht forderte, nur anbot.
„ Nur noch einer“, sagte sie und sah ihm in die Augen. „Und dann sehen wir, welche Nadel wir als nächstes stechen.“
Der Regen hatte aufgehört, als sie die Wohnung verließen. Die Stadt roch nach nassem Stein und frischem Laub, als wäre sie selbst erleichtert, dass etwas Unausgesprochenes endlich aus der Luft gefallen war. Noah schloss die Tür hinter ihnen, lehnte sich einen Augenblick dagegen und ließ die Klinke los, als hinge an ihr ein ganz anderes Gewicht. Mara ging die Straße hinunter neben ihm, ohne zu sprechen. Die Worte des Vormittags rumpelten noch in ihrem Magen wie Kieselsteine, die sie beim Gehen hinter sich ließ – nicht umsonst, sondern als Markierung.
„ Wohin?“ fragte Mara schließlich, mehr um die Stille zu brechen als aus echtem Interesse.
„ Ich wollte dir etwas zeigen“, sagte Noah. „Nicht die Karte – die kennst du jetzt. Etwas, das… naja, das mir geholfen hat, an mir zu arbeiten.“ Er sprach das sehr vorsichtig aus, als wolle er nicht zu viel versprechen und nicht zu viel fordern.
Sie folgten einer schmalen Gasse, die von Platanen gesäumt war. In der Gasse stand ein altes Lagerhaus, dessen Backsteinfassade hinter Efeu kaum sichtbar war. Eine Metalltür, ein handgemaltes Schild: Werkstatt für Nachbarschaftskultur. Die Tür war offen. Drinnen roch es nach Holzspan und Kaffeesatz, nach Farbe und Öl – nach Dingen, die man anfasst. Menschen saßen an langen Tischen, schnitten, klebten, lachten leise. Kinder rannten vorbei wie unwichtige Planeten, die alle um dasselbe Zentrum kreisten.
Noah zog Mara hinein, als gehörte sie heim. „Ich mache hier ehrenamtlich mit“, sagte er, „in einem Projekt für Stadtgärten und Begegnungsräume. Wir reparieren Bänke, bauen Hochbeete, organisieren Lesungen.“ Er grinste verlegen. „Klingt vielleicht seltsam, aber das hat mir geholfen, wieder etwas zu tun, das nicht nur mir gehört.“
Mara sah ihn an. Das Bild des Mannes, der Briefe schrieb und sie nicht schickte, passte nicht ganz zu dem, der hier jetzt eine Bohrmaschine abstellte, die Hände nie ganz sauber, aber entschlossen. Sie beobachtete, wie er einer alten Dame half, einen Balken zu streichen, und wie er dabei eine Geduld zeigte, die sie früher vermisst hatte. Die Routine, die unaufgeregte Nächstenliebe – es war kein spektakulärer Beweis, aber es war Stabilität.
„ Du hast das gemacht?“, fragte sie.
„ Ja. Und am Anfang war es nur Ablenkung. Aber es ist mehr geworden. Ich rede mit Leuten. Ich höre. Ich lerne.“ Er drehte den Pinsel zwischen den Fingern, als müsste er zeigen, dass seine Hände nicht nur zum Packen fähig waren. „Und… ich bin zur Therapie gegangen. Seit ein paar Monaten. Nicht jeden Tag. Nicht so, wie es dramatisch klingt. Aber genug, dass ich nicht mehr wegatme, wenn Dinge schwierig werden.“
Mara spürte, wie etwas in ihr weicher wurde. Therapie als Wort hatte früher für sie so viel von „Kaputtsein“ betroffen; jetzt klang es wie ein Werkzeug. Wie jemand, der die eigenen Möbel reparierte, statt sie anzustecken, wenn sie knarrten.
„ Warum hast du das nicht gesagt?“, fragte sie.
Weil ich Angst hatte, sagte er. „Weil das Eingeständnis bedeutet, dass man geblieben ist – und das ist schwer zuzugeben. Aber jetzt will ich nicht mehr weggehen, ohne dass du es weißt.“
Sie antwortete nicht sofort. Ihre Hände spielten mit dem Polaroid, das in ihrer Manteltasche schlummerte. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie Clara, die an einem der Tische saß, jemandem etwas anteilnehmend erklärte und dann aufblickte, wo Noah und sie hereinkamen. Clara winkte nur kurz; ihre Augen sagten: Alles gut? Mara nickte, obwohl ihr Inneres noch unruhig war.
Sie arbeiteten eine Weile mit. Mara half, ein kleines Hochbeet zu bauen, legte den Boden aus, füllte Erde, pflanzte eine Reihe von Jungpflanzen, die noch zu klein waren, um ihre Zukunft zu kennen. Es war monoton, aber das monotone Arbeiten verband sich mit etwas Echtem: dem Gefühl, etwas sicht- und greifbar zu erschaffen. Noah erklärte, welche Pflanzen pflegeleicht waren; er zeigte, wie man die Erde andrückte, ohne zu quetschen. „Mit Menschen ist es ähnlich“, sagte er, halb scherzhaft. „Man darf sie nicht zu sehr zusammendrücken. Dann sind sie erstickt.“ Mara lächelte, ein klein wenig, und dachte, dass es vielleicht stimmt.
Als das Beet stand und die Hände rußig und gut müde waren, brachte jemand eine Kanne Tee herum. Sie setzten sich auf die niedrige Mauer, die das Bett umgab, und schwiegen. Die Werkstatt füllte sich mit Stimmen, mit dem leisen Trommeln eines Radios in der Ecke. Die Arbeit hatte eine Art erzeugt, die man nicht mit Worten erklären musste.
„ Erzähl mir, warum du wirklich gegangen bist“, bat Noah, und es war überraschend, wie ruhig seine Stimme klang.
Mara schaute auf ihre Hände. Erde unter den Fingernägeln, ein kleiner Kratzer an der rechten Hand, den sie nicht bemerkt hatte. „Ich bin gegangen, weil ich Angst hatte, dass ich mich in etwas verliere, das größer war als ich“, sagte sie. „Dass ich mich in jemandem verliere, ohne zurückzufinden. Ich dachte, ich müsse mich schützen, indem ich mich entferne. Dumm, oder?“
„ Nicht dumm“, half er. „Rational.“
„ Es hat trotzdem wehgetan“, sagte sie. „Nicht nur ihm. Vor allem mir. Ich dachte, wenn ich weiterziehe, finde ich mich wieder. Ich habe gehofft, dass Räume mich heilen können. Neue Städte, neue Kissen, anderes Licht. Aber man nimmt sich mit. Immer.“
Noah nickte. „Ich habe gedacht, wenn ich gehe, rette ich dich. Das war die größte Arroganz meiner Jugend — zu glauben, man kann jemanden retten, indem man ihn allein lässt. Ich dachte, ich wäre der, der dich stärker macht, wenn ich nicht mehr da bin. Dabei habe ich mich nur entfernt.“
Sie sah ihm in die Augen. In ihnen lag nicht die Dramatik von Schuld, sondern die Einsicht. Alles, was er sagte, forderte keinen Verzicht, nur Verständnis. Vielleicht war genau das die Voraussetzung.
„ Und die Briefe?“, fragte sie.
Er atmete tief ein. „Viele davon waren Entschuldigungen, manche waren nur Tagebucheinträge, andere Pläne. Einige waren wütend. Einige liebevoll. Ich habe sie nie abgeschickt, weil ich nicht wusste, ob du sie brauchst oder ob sie dich verletzen würden. Aber jetzt“, er lächelte zaghaft, „habe ich einen gebündelt. Einen. Und wenn du willst, darfst du ihn lesen, irgendwann. Nicht jetzt – nur, damit du weißt, dass ich versucht habe, mich zu ordnen.“
Mara griff unbeholfen nach dem Tempospender neben ihr und wischte sich die Handinnenflächen ab. Die Worte irgendwann klangen wie ein Versprechen und wie eine Warnung zugleich. „Vielleicht“, sagte sie.
Sie blieben noch eine Weile, sprachen über Belangloses: die Katze, die im Hof hauste, ein Nachbar, der Trompete lernte, ein Sturm, der letzte Woche Dachziegel gelockert hatte. Die banalen Fäden banden sie wie Verbände um das, was nicht mehr bluten sollte. Am Rande des Workshops stellte Noah ihr eine Frage, die sich ganz beiläufig anhörte, aber etwas Schweres in ihr bewegte: