Hedwig Courths-Mahler - Folge 166 - Hedwig Courths-Mahler - E-Book

Hedwig Courths-Mahler - Folge 166 E-Book

Hedwig Courths-Mahler

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Beschreibung

In der bezaubernden Gesellschafterin seiner Tante begegnet der junge Majoratsherr Norbert von Saßneck jenem schönen unbekannten Mädchen wieder, das er auf einer Reise flüchtig kennengelernt hat und das ihm seither nicht mehr aus dem Sinn geht. Anni Sundheim hat nach dem Tod ihrer Adoptiveltern eine neue Heimat auf Schloss Saßneck gefunden. Schon bald erkennen die beiden jungen Menschen, dass sie sich lieben. Doch Norbert von Saßneck ist nach einem strengen Gesetz verpflichtet, ein ebenbürtiges Mädchen zu heiraten. Nach schweren inneren Kämpfen entschließt er sich, auf das Majorat zu verzichten, um Anni nicht zu verlieren. Sie jedoch will nicht, dass er dieses Opfer eines Tages vielleicht bereut. Heimlich verlässt sie Saßneck...

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Inhalt

Cover

Impressum

Arme kleine Anni

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Bastei Verlag

E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-2197-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Arme kleine Anni

Als Standesunterschiede das Glück einer großen Liebe bedrohten

In den Anlagen vor dem Wiesbadener Kochbrunnen promenierten die Kurgäste beim Morgenkonzert. Es war ein wundervoller Maitag mit Frühlingsduft, Sonnenschein und Blumenduft.

Eine Gruppe elegant gekleideter Herren stand am Eingang der Kochbrunnenhalle. Sie tranken mit wichtigen Gesichtern den lauwarmen Quell aus ihren mit Nummern gezeichneten Gläsern. Dabei machten sie Witze über den faden Geschmack und glossierten die Vorübergehenden.

„Die Sonne!“, flüsterte plötzlich einer der Herren.

Alle Köpfe wandten sich der jungen Dame zu, auf deren Arm sich eine leidend aussehende Frau von etwa fünfzig Jahren stützte. Diese beiden Damen waren jeden Morgen am Kochbrunnen. Aber sie sprachen nie mit jemandem, schienen niemanden zu kennen und von niemandem gekannt zu sein. Die junge Dame, die der Herr mit „Die Sonne“ bezeichnet hatte, rechtfertigte diese schmeichelhafte Bezeichnung durch ihre große Schönheit und den sonnigen Gesichtsausdruck.

Sie war eine schlanke, anmutige Erscheinung von vielleicht zwanzig Jahren. Liebevoll beugte sie sich zu der älteren, ganz in Schwarz gekleideten Dame hinab und reichte ihr zuweilen das Trinkglas. Dabei lächelte sie so süß, dass die Herren unruhig von einem Fuß auf den anderen traten. Sie trug ein schlichtes, aber elegantes Straßenkostüm von dunkelblauer Farbe, dazu einen kleidsamen Strohhut. Beide Damen machten einen distinguierten Eindruck.

Nach einem kurzen Spaziergang war das Trinkglas geleert. Die junge Dame gab das Glas in Verwahrung an der Kasse. Darauf verließen die Damen langsam die Anlagen.

„Schade!“, sagte der eine der Herren seufzend.

„Die Sonne ist untergegangen“, bemerkte der zweite.

Inzwischen spazierten die bei den Damen die Taunusstraße entlang, bogen in die Wilhelmstraße ein und schritten unter den Kolonnaden am Theater vorbei zum Kurpark.

„Wollen wir erst ein Weilchen ruhen, liebe Mutter?“, fragte die junge Dame besorgt.

„Nein, lass uns noch ein Stück weitergehen, Anni! Die Sonnenwärme tut mir gut“, erwiderte die alte Dame.

Anni Sundheim streichelte zärtlich die welke Hand, die auf ihrem Arm lag. „Wie froh ich bin, dass du dich heute ein wenig besser fühlst!“

Sie waren an den Fenstern des Lesesaals vorübergegangen. In einem Korbstuhl an einem der geöffneten Fenster saß eine ältere Dame und las. Unwillkürlich hatte sie den Kopf gehoben, als Mutter und Tochter langsam draußen vorübergingen. Sie hatte gestutzt, als sie in das Gesicht der Mutter blickte. Nun erhob sie sich überrascht und sah ihnen nach.

„Das war doch Bettina – ganz gewiss, das muss Bettina gewesen sein“, sagte sie leise vor sich hin. Kurz entschlossen legte sie die Zeitung auf den Tisch und verließ den Lesesaal.

Schnell durchquerte sie den Konzertplatz vor dem Parkteich und bog in den breiten Weg ein, der rechts um den Teich in den Kurpark führt. Diesen Weg mussten die beiden Damen eingeschlagen haben.

Bald entdeckte sie die Gesuchten, die auf einer Bank Platz genommen hatten. Ohne Zögern schritt sie auf die beiden Damen zu. Dicht neben der Bank blieb sie stehen. Noch ein prüfender Blick traf aus ihren Augen das Gesicht der alten Dame, die sich zu gleicher Zeit überrascht aufrichtete. Auch in ihren Augen blitzte ein Strahl des Erkennens.

„Bettina! Nicht wahr, du bist es?“, rief die Angekommene freudig, und zugleich streckten sich die beiden Damen die Hände entgegen.

„Elisabeth, welch ein glücklicher Zufall! Wie freue ich mich, dich einmal wiederzusehen!“, erwiderte Frau Bettina Sundheim. Elisabeth von Saßneck neigte ihr frisches Gesicht hinab und küsste Frau Sundheim herzlich auf die Wange. Obwohl sie fast im gleichen Alter waren – sie waren Pensionsfreundinnen gewesen –, erschien Frau von Saßneck bedeutend jünger.

„Bleib sitzen, Bettina! Ich sah an deinem Gang, dass du leidend bist. Aber ich erkannte dich sofort, als ich dich am Lesesaal vorübergehen sah, obgleich du dich sehr verändert hast.“

Bettina lächelte wehmütig. „Ja, Elisabeth, ich bin zur Kur hier. Aber du? Du siehst nicht aus, als bedürftest du einer Kur!“

„Und doch bin auch ich auf ärztliche Verordnung hier, wenn auch mehr, um einem Leiden vorzubeugen. Wenn man über die Fünfzig ist, stellen sich allerhand Gebrechen ein. Ich wollte erst gegen den ärztlichen Befehl revoltieren, weil ich mich gottlob gar nicht krank fühle. Aber nun freue ich mich doch, dass ich gehorsam war. So sehe ich dich nach Jahren endlich einmal wieder. Wie lange ist es her, dass wir uns das letzte Mal begegnet sind? Fünf Jahr gewiss!“

„Ja, so lange ist es her. Wir haben uns ja leider immer nur nach langen Pausen wiedergesehen. Seit wir als halbflügge Menschen die Pensionszeit hinter uns hatten, sind wir uns nur immer durch glückliche Zufälle auf Reisen begegnet.“

„Das Schicksal hat uns weit auseinander geführt. Als ich dich vor fünf Jahren in Scheveningen traf, war ich kaum imstande, mich an dem Wiedersehen mit dir zu freuen.“

„Ja, du Arme, da hattest du das größte Leid deines Lebens zu tragen: Du hattest kurz zuvor deinen Sohn verloren.“

Frau von Saßnecks Augen trübten sich. „Seit sechs Jahren beweine ich meinen Einzigen, Bettina. Aber inzwischen habe ich noch einen anderen schweren Verlust erlitten. Mein Mann starb vor drei Jahren.“

„So sind wir beide Witwen.“

„Wie – du auch?“

„Ja, vor zwei Jahren habe ich meinen Mann verloren – und vieles andere noch.“

Frau von Saßneck fasste ihre Hände. „Dir hat das Schicksal aber wenigstens dein Töchterchen erhalten. Wie reich bist du noch immer!“, sagte sie tröstend. Und dann wandte sie sich an Anni Sundheim, die sich erhoben hatte, um Frau von Saßneck ihren Platz anzubieten. „Verzeihen Sie, wenn ich Sie erst jetzt begrüße, mein liebes Kind. Sie gestatten mir diese Anrede, denn ich kannte sie schon, als Sie noch ein kleines Mädchen waren. Freilich werden Sie sich meiner kaum noch erinnern. Es war vor ungefähr zehn oder elf Jahren, als wir in Zoppot Bekanntschaft machten. Sie nannten mich damals Tante Elisabeth.“

„Doch, gnädige Frau, ich erinnere mich noch sehr gut. Fragen Sie Mama! Die gütige Tante Elisabeth, die mir eine schöne Puppe schenkte, und ihr Sohn Hans, der mit mir herrliche Sandburgen baute, haben lange meine kindliche Fantasie beschäftigt.“

Frau von Saßneck seufzte. „Ja, Bettina, damals waren wir sehr glücklich und verlebten sonnige Wochen. Und zwei Jahre später trafen wir in Nizza zusammen. Auch da war uns das Leben noch hold. Als wir uns später in Scheveningen begegneten, hatte mich schon der erste harte Schlag getroffen, mein Hans war ertrunken, mit einem Kameraden zusammen, den er hatte retten wollen.“

„Und nun treffen wir uns nach Jahren wieder hier. Oh, wir haben wohl einander viel zu erzählen. Hast du ein wenig Zeit für mich?“

„Soviel du willst, Bettina. Ich bin ganz alleine hier und habe nichts zu tun, als meine leichte Kur zu machen.“

Frau Sundheim wandte sich an ihre Tochter. „Du kannst die Zeit benutzen, dich ein wenig auszulaufen, Anni. Das fehlt dir doch sehr. Geh nur, ich bin ja in guter Gesellschaft.“

Anni sah die Mutter besorgt an. „Wirst du dich auch nicht zu sehr aufregen, Mami?“

„Sei unbesorgt, es wird mir im Gegenteil wohl tun, mich einmal auszusprechen.“

Anni zögerte noch und wandte sich an Frau von Saßneck: „Mama ist herzleidend und hat eben erst eine Kur in Nauheim hinter sich. Sie muss nun hier wegen ihres starken Rheumas noch Bäder nehmen und ist recht schwach.“

Frau von Saßneck sah wohlgefällig in Annis schönes Gesicht, in dem deutlich die liebevolle Sorge um die Mutter stand. „Gehen Sie unbesorgt, liebes Kind! Wir wollen nur unsere Erlebnisse austauschen und von alten Zeiten plaudern.“

Anni gefiel die hübsche Frau mit dein frischen, klugen Gesicht und den gütigen Augen sehr. Aus ihrer Kinderzeit stiegen ein paar sonnige Wochen am Ostseestrand wie ein leuchtendes Bild herauf.

„Dann will ich also bis zu den Tennisplätzen gehen.“ Anni lief leichtfüßig davon.

„Welch ein reizendes und bildschönes Geschöpf ist deine Tochter geworden, liebe Bettina. Sie versprach schon als Kind eine Schönheit zu werden. Aber nun bin ich doch überrascht, wie wundervoll sie sich entwickelt hat.“

Bettina Sundheim seufzte. „Ja, sie ist schön. Und was mehr ist – sie ist gesund und klug, ich darf das sagen, ohne in den Verdacht der Eitelkeit zu geraten. Aber nun erzähle mir von dir, Elisabeth! Wie trägst du das Leben, das dir Mann und Sohn genommen hat?“

„Ja, Bettina – das Leben erschien mir zuerst gar nicht mehr lebenswert. Aber man lernt sich bescheiden.“

„Und hast du nicht mit deinem Gatten deine Heimat verloren? Saßneck war doch Majorat?“

„Nein, die Heimat verlor ich nicht, obwohl Saßneck Majorat ist. Es gibt in Saßneck einen sehr hübschen, idyllischen Witwensitz, mitten im Wald an der Parkgrenze. Dort habe ich bis zu meinem Tod unbestrittenes Heimatrecht. Vorläufig wohne ich indes noch im Schloss und kann mich da ganz als Herrin fühlen. Der jetzige Majoratsherr, ein Neffe meines Mannes, hat keine Eltern mehr und ist noch unverheiratet. Mein Mann hat ihn bald nach dem Tod unseres Sohnes nach Saßneck kommen lassen, weil er sich sehr leidend fühlte. Norbert hat schon damals begonnen, für meinen Mann die Geschäfte zu führen. Und im steten Zusammensein ist er uns wie ein Sohn ans Herz gewachsen. Als mein Mann starb, hat er mir treulich zur Seite gestanden. Manchmal ist mir zumute, als habe der liebe Gott in ihm einen Ersatz für meinen Hans gegeben. Er hat es nicht gelitten, dass ich mich auf meinen Witwensitz zurückziehe, ich soll die Herrin des Hauses bleiben, bis er sich verheiratet. Es ist mein Wunsch, dass dies bald geschieht, denn man wird alt und sehnt sich nach Ruhe.“

„Du siehst aber gottlob noch gar nicht ruhebedürftig aus, Elisabeth.“

„Ja, mein Körper ist immer sehr robust gewesen, sonst hätte mich wohl mein Herzeleid niederwerfen müssen. Es gab Zeiten, da ich mehr für meinen Verstand als für meinen Körper fürchten musste. Als man mir meinen Hans kalt und starr nach Hause brachte – ach, lass mich davon schweigen. Du kannst mir das zum Glück nicht nachfühlen, denn du besitzt dein Kind noch.“

Bettinas blasses Gesicht rötete sich jäh. „Nein, das kann ich dir wohl nicht nachfühlen“, sagte sie leise, „noch weniger, als du denkst.“

Frau von Saßneck blickte betroffen auf die Freundin, deren Augen verloren ins Weite blickten. Aber sie richtete sich nun schnell auf, als würfe sie eine Last von sich. Dann sagte sie bittend: „Sprich weiter, Elisabeth!“

„Sonst habe ich kaum Wichtiges zu berichten. Ich habe mich mit dem Leben abgefunden, und obwohl es mir unglaublich schien, gibt es auch für mich noch manche gute, frohe Stunde. Man muss nur genügsam sein, dann findet man sich auch in Trübsal und Kummer zurecht. Aber erzähle mir von dir! Auch du hast inzwischen Leid getragen. Als ich dich das letzte Mal sah, blickten deine Augen anders als jetzt.“

„Ja, Elisabeth. Inzwischen haben viele Tränen den Glanz meiner Augen verlöscht. Mein Leben ist seither so ganz anders geworden. Von der alten Bettina Sundheim ist nichts übrig geblieben als ein kümmerlicher Schatten. Als ich vor fünf Jahren in Scheveningen Abschied von dir nahm, ahnte ich nicht, dass ich dir heute als gebrochene Frau gegenübersitzen würde. Und hätten wir uns nicht hier in Wiesbaden getroffen – wer weiß, ob uns dann noch ein Wiedersehen beschieden wäre. Denn meine Tage sind gezählt.“

Frau von Saßneck erschrak. „Bettina, so schlimm steht es um dich?“

Frau Sundheim lächelte resigniert. „Ja, Elisabeth, ein schweres Herzleiden, das mit allerlei anderen Leiden Hand in Hand geht, macht meinen Körper hinfällig. Jeder Tag kann meinem Leben ein Ende setzen. Ich bin darauf vorbereitet und würde es mit Ruhe erwarten, wenn Anni nicht wäre. Aber lass dir erzählen: Vor vier Jahren ließ sich mein Mann, um einen geschäftlichen Verlust schnell wieder zu decken, in gefährliche Minenspekulationen ein. Er erhoffte einen enormen Gewinn und ließ sich verleiten, fast sein ganzes Vermögen in dieser Spekulation anzulegen. Ich wusste nichts von diesem Unternehmen, lebte sorglos in unserem schönen Haus in Hamburg und verließ mich wie stets auf die Klugheit und Umsicht meines Mannes. Ich hatte auch mein ganzes Vermögen in seine Hände gegeben. Aber jeder Mensch macht einmal einen Fehler. Kurzum, die Spekulation ging fehl, mein Mann verlor sein Vermögen. Wir waren über Nacht arm geworden. Der reiche Senator Sundheim war ein Bettler, die Minen erwiesen sich als wertlos. Das ertrug mein Mann nicht. In der Verzweiflung jener Stunde schoss er sich eine Kugel durch den Kopf.“

Sie schwieg erschöpft. Frau von Saßneck fasste erschrocken nach ihrer Hand. „O du Arme, auf so schreckliche Weise verlorst du deinen Gatten?“

Bettina wischte sich mit zitternder Hand über die Augen.

„Ja, so verlor ich ihn, den ich so unendlich geliebt habe. Er war in jener schrecklichen Stunde nicht Herr seiner selbst, sonst hätte er mir das nicht angetan, sondern hätte gemeinsam mit mir das Unabänderliche getragen. Nach seinem Tod war ich wie gelähmt. Es brach nun alles über mich herein. Unser Haus wurde verkauft, die Dienerschaft entlassen, Pferde und Wagen versteigert. Auch meinen Schmuck gab ich in die Masse, nur damit alle Verpflichtungen gedeckt und meines Mannes Name vor Schmach bewahrt blieben. Auch Anni gab alles hin, was sie besaß. Gottlob konnten alle Gläubiger befriedigt werden. Aber uns blieb nichts als einige Koffer mit Wäsche und Kleidern und etwa zweitausend Mark in bar. Damit verließen wir Hamburg, wo wir in Glück und Glanz gelebt hatten. Freunde boten uns ihre Hilfe an, aber wir waren zu stolz, um sie anzunehmen. Und wir wollten nicht als Bettler in Hamburg leben. So gingen wir nach Berlin und richteten uns in einer Vorstadt ein bescheidenes Heim ein. Anni war in jener schrecklichen Zeit ein Segen für mich. Sie ließ sich nicht unterkriegen vom Schicksal. ‚Ich habe so viel gelernt, das will ich nun verwerten. Du sollst sehen, ich finde in Berlin schon eine Arbeit, die uns zu Brot verhilft‘, sagte sie tapfer. Ganz so schlimm sollte es aber doch nicht werden. In der Zeit, da mein Mann fast eine Million in jene unglückseligen Minenaktien anlegte, hatte er, vielleicht in einer Stunde trüber Ahnungen, etwa hunderttausend Mark einer Rentenbank übergeben für mich, ohne mir etwas davon mitzuteilen. In unsere große Not hinein kam da nun plötzlich die erste fällige Rate an mich. Sie beträgt über sechstausend Mark jährlich, erlischt aber mit meinem Tod.

Diese sechstausend Mark erschienen uns in unserer schlimmen Lage als eine sehr große Summe. Früher hatte ich mehr nur für meine Kleider ausgegeben, jetzt bildete sie unser gesamtes Einkommen. Und du siehst, Elisabeth, wir bringen es sogar fertig, noch Badereisen davon für mich zu erübrigen. Anni ist ein so tüchtiges Hausmütterchen geworden. Sie arbeitet den größten Teil unserer Garderobe selbst, modernisiert die Sachen, die wir von früher noch besitzen, und versteht so gut zu wirtschaften, wie ich selbst das nie fertig bringen würde. Mit Hilfe einer Putzfrau führt sie unseren kleinen Haushalt musterhaft und pflegt mich mit einer Aufopferung, die mich oft zu Tränen rührt. Es geht alles gut, und ich wollte mich gar nicht beklagen, wenn mich eben nicht die Sorge um Annis Zukunft drückte. Wenn ich sterbe, fällt die Rente fort, und sie bleibt mittellos zurück. Wohl hat sie eine vorzügliche Erziehung genossen, und sie sagt mir hundertmal: ‚Sorge dich nicht um mich, Mütterchen, ich bin gesund und stark und fürchte mich nicht vor dem Kampf ums Dasein‘. Aber das sagt sie wohl nur, um mich zu beruhigen. Sie ist ja nicht für den Lebenskampf erzogen worden, ist viel zu fein empfindend und weich, um sich darin nicht tausend Wunden zu holen. So verlässt mich die Sorge um das Kind nicht einen Augenblick.“

Frau von Saßneck streichelte ihre Hand. „Arme Bettina – und von alle dem wusste ich nichts. Konntest du dich nicht an mich wenden, als du ganz hilflos warst?“

„Nein, Elisabeth, ich musste allein damit fertig werden. Nie war ich stolzer, als da ich glaubte, arm wie eine Bettlerin zu sein. Und ich spreche auch nur so offen mit dir über alles, weil ich weiß, dass du mich verstehst in meiner Sorge um das Kind.“

„Das tue ich, Bettina. Aber sage mir, habt ihr denn keine Verwandten mehr, die sich deines Kindes annehmen könnten?“

Frau Sundheim lächelte schmerzlich. „Es leben noch einige Vettern von uns, aber sie sind nicht in sehr glänzenden Verhältnissen. Und dann – von dieser Seite wird Anni niemals Hilfe bekommen. Bin ich doch mit diesen Verwandten gerade Annis wegen völlig zerfallen, schon seit Jahren.“

„Deiner Tochter wegen? Darf man wissen, warum?“

„Ja, Elisabeth, dir will ich es sagen. Ich will dir etwas anvertrauen, was ich bisher auch dir gegenüber wie ein Geheimnis hütete. Meine Vettern hatten wohl, da unsere Ehe kinderlos blieb, damit gerechnet, dass sie unsere Erben würden. Solange sie darauf hoffen konnten, waren sie alle lieb und herzlich zu uns.“

„Ach so, ich verstehe – als dann nach einigen Jahren dein Töchterchen geboren wurde, haben sie es nicht sehr freudig begrüßt.“

Bettina schwieg eine Weile. Dann atmete sie tief auf und sagte leise: „Damit hätten sie sich wohl abgefunden, aber – Anni ist nicht meine Tochter.“

„Nicht deine Tochter? Bettina, das verstehe ich nicht!“

„Ich habe es immer verschwiegen, Elisabeth. Das höchste Glück des Weibes sollte mir versagt bleiben, nachdem ich ein totes Kind zur Welt gebracht hatte. Der Arzt sagte mir schon damals, dass ich nie wieder Mutter werden könnte. Ich trug es wie einen ewig wachen Schmerz und sehnte mich doch unsagbar nach einem Kind. Nun, den Schmerz habe ich verwunden, seit Anni mein liebes Kind geworden ist. Sie ist uns, meinem Mann und mir, wie ein eigenes Kind ans Herz gewachsen. Und wenn ich sie auch nicht geboren habe, so habe ich ihr doch das Leben gerettet. Ich war mit meinem Mann auf einer Reise. In Frankfurt am Main hielten wir uns einige Tage auf. Eines Nachmittags gingen wir durch die Anlagen. Ich blieb stehen und sah einem Häuflein Kinder beim Spielen zu. Da läuft plötzlich ein niedliches kleines Mädchen von den anderen fort, mitten auf den Fahrweg. Im selben Augenblick kommt ein Wagen in schneller Fahrt herbei. Dicht vor dem Wagen fällt das Kind nieder – noch ein Augenblick, und es muss zermalmt unter den Rädern liegen. Wie ich neben das Kind kam – ich weiß es heute nicht mehr. Ich raffte es auf, werde in demselben Moment samt dem Kind von meinem Mann zurückgerissen. Da stand ich nun, das zitternde Kind auf dem Arm. Es schlang die Ärmchen fest um meinen Hals, drückte das erschreckte Gesicht an meine Wange und stammelte in süßem Kauderwelsch allerlei unverständliche Laute. Ich stand wie unter einem Zauberbann. Fest presste ich das Kind an mich, und mir war, als hätte ich ihm das Leben gegeben, als wäre es mein. Inzwischen war eine junge Frau herbeigeeilt, die aufgeregt erklärte, dass das Kind eine Waise und bei ihr in Pflege sei. Dieses Wort berührte mich wie eine frohe Botschaft. Ich sah beseligt in das liebreizende Kindergesicht und war fest entschlossen, die kleine Waise an Kindes statt anzunehmen. Wir notierten uns die Adresse der Frau. Ich bestürmte meinen Mann mit Bitten, und er willigte schließlich ein, das Kind zu adoptieren, da unsere Ehe doch kinderlos bleiben würde. Am nächsten Tag suchten wir die Frau auf. Sie erzählte uns, dass die Kleine die Tochter eines Elektromechanikers sei, der mit seiner Frau bei einer Bootsfahrt auf dem Main ertrunken war. Der Großvater des Kindes, der allein stand, hatte es der Frau in Pflege gegeben, war aber vor kurzem auch gestorben. Nur weil Anni der Frau Leid tat, hatte sie sie bisher nicht ins Waisenhaus gegeben. Nun legten wir der Frau unsere Verhältnisse dar, sagten ihr, dass es die Kleine sehr gut haben sollte, und schenkten ihr fünftausend Mark. Da übergab sie uns das Kind. Siehst du, Elisabeth, so kam ich zu meinem Kind, und ich habe es geliebt, wie man ein eigenes lieben muss.“

„Und du hast der armen Waise die Mutter ersetzt.“

„Soviel es in meiner Macht stand. Aber du kannst dir wohl nun denken, dass meine Verwandten in Anni stets einen unberechtigten Eindringling gesehen haben. Und wenn auch das Vermögen, nach dem sie trachteten, in nichts zerronnen ist, so werden sie es Anni doch immer anrechnen, dass sie es war, die es erben sollte. Nie werden sie etwas für Anni tun, das weiß ich gewiss.“