Heimatkinder 31 – Heimatroman - Isabell Rohde - E-Book

Heimatkinder 31 – Heimatroman E-Book

Isabell Rohde

0,0

Beschreibung

Die Heimatkinder verkörpern einen neuen Romantypus, der seinesgleichen sucht. Zugleich Liebesroman, Heimatroman, Familienroman – geschildert auf eine bezaubernde, herzerfrischende Weise, wie wir alle sie schon immer ersehnt haben. Wenn Stefan Baron Weißenberg von der Landstraße abbog und den Weg zum Weißenberg-Hof hochfuhr, breitete sich immer ein Glücksgefühl in ihm aus. Und dann wusste er wieder, wofür es sich zu leben und zuweilen auch anzustrengen lohnte – für Marie und ihre drei gemeinsamen Kinder Reserl, Jossi und den kleinen Dany. Nein, er bereute nichts! Denn als er vor Jahren sein gesamtes Erbe zum Erhalt des heruntergekommenen Traublinger-Anwesens einsetzte, hatte er aus Liebe zu Marie gehandelt! Und war er vom Leben nicht überaus großzügig für diese Entscheidung belohnt worden? Marie, die Tochter des verstorbenen Bauern Traublinger, war seine Baronin Weißenberg geworden und hatte ihm drei wunderbare Kinder geschenkt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 123

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Heimatkinder –31–

Habt Mut zur Liebe

Roman von Isabell Rohde

Wenn Stefan Baron Weißenberg von der Landstraße abbog und den Weg zum Weißenberg-Hof hochfuhr, breitete sich immer ein Glücksgefühl in ihm aus. Und dann wusste er wieder, wofür es sich zu leben und zuweilen auch anzustrengen lohnte – für Marie und ihre drei gemeinsamen Kinder Reserl, Jossi und den kleinen Dany.

Nein, er bereute nichts! Denn als er vor Jahren sein gesamtes Erbe zum Erhalt des heruntergekommenen Traublinger-Anwesens einsetzte, hatte er aus Liebe zu Marie gehandelt! Und war er vom Leben nicht überaus großzügig für diese Entscheidung belohnt worden?

Marie, die Tochter des verstorbenen Bauern Traublinger, war seine Baronin Weißenberg geworden und hatte ihm drei wunderbare Kinder geschenkt. Und weil sie beide auch kräftig die Ärmel aufkrempeln konnten, gehörten Felder, Wiesen, alte und neue Gebäude und das wunderschöne Bauernhaus nun nicht mehr den Banken, sondern zum Weißenberg-Hof, wo das feinste und beste Gemüse weit und breit angebaut wurde.

Stefan grinste in sich hinein. Hinter den Fenstern des Bauernhauses brannte Licht. Seine Familie hatte es sich gemütlich gemacht. So sollte es sein. Denn das Wetter war heute mal wieder miserabel, wie oft, wenn der Winter dem Frühling noch nicht weichen will.

Aber mit seiner soliden Holzfassade bot der behäbige Bau jedem Sturm, Schneegestöber und Dauerregen die Stirn. Und schon morgen, wenn der Himmel wieder blau war, musste der herrliche Blick von dort oben bis weit zur Alpenkette auch einen wintermüden Familienvater wie ihn versöhnen.

Von der Rückseite aus konnte man die kurvenreiche Landstraße fast bis zum Stackerl-See verfolgen. Wehte der Wind dazu noch günstig, war auf dem Weißenberg-Hof sogar das Läuten von St. Nicolai in Altendorf zu hören.

Ja, hier im Voralpenland ließ es sich leben … und lieben. Stefan schmunzelte vor sich hin, fuhr am Haus vorbei und parkte im Hof. Dort stellte er fest, dass Maries Auto noch fehlte. Er schaute auf die Uhr. Es war gleich sieben, und da sollte Maries Arbeit als Leiterin des Chors von St. Nicolai schon beendet sein.

Er murrte etwas vor sich hin. Nach Hause zu kommen, ohne von seiner geliebten Marie empfangen zu werden, das war eine Übung, die er immer noch nicht perfekt beherrschte.

Er stapfte durch die Schneereste zum Seiteneingang und wich gerade noch vor einem Gegenstand auf dem Boden aus. Das war das nagelneue Fahrrad von Reserl, seiner zehnjährigen Ältesten. Sie hatte es vor zwei Monaten zu Weihnachten bekommen. Und warum ging sie so achtlos damit um?

»Reserl!«, rief er.

Keiner antwortete. Da stellte er es selbst auf, lehnte es an die Mauer und trat ein. Im Gang war es meistens schummrig, weil Wilma, der gute Geist des Hauses, so gern Energie sparte. Dafür wehten ihm köstliche Gerüche aus der Küche entgegen.

Statt Reserl rutschte Jossi ihm auf Skiern entgegen. Sie war gerade sechs geworden, aber dreimal so frech wie ihre große Schwester.

»Jossi! Was machst du denn? Das sind Dannys allerste Skier und keine Scater! Und außerdem viel zu kurz.«

»Dany hat’s aber erlaubt, Papi!« Sie strich sich die dunklen Locken aus dem Gesicht.

»Mensch, Jossi!« Seufzend beugte er sich zu ihr. »Dany ist noch zu klein. Der weiß noch nicht, wie leicht Skier verschrammen.« Außerdem bezweifelte er, ob sein Jüngster sich wirklich so großherzig gezeigt hatte. Sonst behauptete der Dreijährige sich schon ganz tapfer gegen seine beiden älteren Schwestern.

»Ich bin nicht zu klein, Papi!«

Stefan drehte sich um. Er hatte seinen Stammhalter doch tatsächlich im Schummerlicht des Ganges übersehen! Der hockte mit dem Kater Pascha auf dem Schoß unter der Garderobe. Pascha, der Dicke, schnurrte hochzufrieden. Das tat er immer, wenn sich die beiden Katzendamen Luschi und Buscha zum Mäusefangen irgendwo draußen auf dem Hofgelände aufhielten und er vor ihnen Ruhe hatte.

»Jossi hat eigene Skier, Dany.« Stefan setzte Pascha auf den Boden und hob seinen Sohn auf die Arme. »Deine sollte sie schonen.«

»Reserl hat gesagt, es schneit heute Nacht, Papi«, meldete Jossi sich völlig unbeeindruckt. »Machst du dann morgen wieder den Ski-Lehrer auf dem Hügel für uns?«

»O ja, Papi!«, freute Dany sich.

»Reserl soll erst mal ihr Fahrrad in den Schuppen fahren!«, entschied Stefan. Er ließ Dany runter, zog seine Jacke aus und schnupperte in Richtung Küche.

»Was gibt’s denn zu Abend?«

»Wilma macht Pischa-Mal-Kartoffeln mit Bratwurst«, wusste Dany.

»Und danach Apfelcreme mit alten Weihnachtsplätzchen obendrauf!«, fügte Jossi hinzu. Sie stellte die Skier an die Wand und rannte dann hoch zu Reserl, um sie ans Fahrrad zu erinnern.

Mit Dany an der Hand, stieg der Baron nun über den dicken Pascha und betrat die riesige Küche. Wilma schnippelte gerade Kartoffeln in die Bechamel-Soße. Sie begrüßte ihn mit einem flüchtigen Blick.

Dem Alter nach hätte Wilma Maries Mutter sein können und ließ das gern heraushängen. Aber wie Stefan stammte sie aus Norddeutschland und hatte sich als Zugereiste im schönen Bayernland auch erst bewähren müssen. Das verband die beiden und ließ ihn ihre Marotten gut ertragen.

Bewundernd stellte er fest, dass Wilma beim Kartoffelschnippeln die vor sich hinbruzzelnden Würstchen keine Sekunde aus den Augen ließ und sich doch nicht in den Finger schnitt.

»Warum denn Weihnachtsgebäck zur Apfelcreme?«, versuchte er sie abzulenken. »Die Plätzchen schmecken auch noch zu Ostern.«

»Nicht die zerbröselten, Baron. Oder wollen Sie die in die Ostereier für die Kinder stopfen?«

»Hm«, machte er nur. Natürlich hatte sie mal wieder recht. »Und meine Frau? Hat sie nicht angerufen, dass sie später kommt?«

»Ach, nu’ werden Sie doch nicht gleich miesepetrig!«, tadelte Wilma ihn. »Die Baronin war vormittags im Büro und den ganzen Nachmittag beim Sellerie und beim Karottenlager. Vorher hat sie mit Reserl Hausaufgaben gemacht. Wenn sie nun bei ihrer Musik ist, gönnen Sie’s ihr doch.«

»Ich gönne meiner Frau alles! Alles Schöne auf der Welt, Wilma.«

»Na, dann ist ja gut, Baron.« Dann erhob sie ihre Stimme und rief ins Haus: »Reserl, Jossi … Tisch decken.«

»Wums!«, machte draußen die Haustür. Das war Reserl, die ihr Fahrrad inzwischen in den Schuppen gestellt hatte. Sie betrat die Küche, als sei nichts geschehen und meldete: »Mami fährt gerade in den Hof!« Und schon hing sie ihrem Papi am Hals. »Morgen schneit’s wieder! Ich hab’s im Radio gehört. Laufen wir dann Ski auf dem Hügel?«

»Wenn Mami nichts dagegen hat, vielleicht.«

»Hat sie nicht. Hat sie nicht!«, triumphierte sie sofort. »Sie will doch morgen nach München auf Schnäppchen-Suche für Wintersachen. Neue Anoraks und so. Nur für uns.«

»Feinste Sachen werden preislich herabgesetzt und sind dann erschwinglich, Baron«, belehrte Wilma ihn mal wieder.

»Soso. Na, ich geh ihr mal entgegen.«

Wenn er seine Marie mit einer Umarmung empfangen konnte, glitt auch der Unmut über Wilmas ständige Besserwisserei an ihm ab. Auch die Probleme mit der Baubehörde und dem Landratsamt wurden zu Nichtigkeiten. Daran hatte sich seit ihrem ersten zarten Kuss vor vielen Jahren nichts geändert. Und das war gut so!

Er trat in die feuchte Dunkelheit hinaus. Marie stieg gerade aus ihrem Wagen. In der Mitte des Hofes bemerkte sie ihn, schlug sich das Wolltuch um den Kopf und beschleunigte ihre Schritte.

»Puh! Jetzt schneit’s auch noch. Das fehlt mir gerade!«, seufzte sie, als er sie in die Arme nahm. Stefan schmunzelte. Marie gehörte zum Glück zu den Frauen, die weder Freude, noch Ärger, Wut oder Trauer unterdrückten. Bei ihr wusste er immer, woran er war.

»Du hättest deine Freundin Anette ja zum Essen mitbringen können, anstatt nach der Chorprobe wieder so lange mit ihr im Auto zu schwatzen, Liebling!«, scherzte er.

»Anette!«, schnaufte Marie an seiner Schulter. Sie richtete sich auf und sah ihn vorwurfsvoll an. »Du hast Nerven! Ich bin doch zu ihr gefahren, weil sie sich übers Handy nicht meldet. Zum zweiten Mal hat sie heute unentschuldigt die Chor-Probe geschwänzt. Ich weiß gar nicht, was die sich eigentlich denkt.«

»Du warst deshalb bei ihr zu Hause?«

Marie nickte. »Sie war nicht da. Ich hab’ Sturm geklingelt. Alle Fensterjalousien sind unten, als ob sie verreist wäre. Das hätte sie mir doch sagen können!«, schimpfte sie weiter. »Morgen wollen wir nach München zum Shopping. Und bei der Partitur für die dritte Stimme hat sie mir auch Hilfe versprochen. Ich versteh’ sie nicht.« Langsam bewegten sie sich aufs Haus zu. »Sie ist meine beste Freundin, Stefan. Aber sie bringt mich noch so weit, im Gymnasium anzurufen und ihre Kollegen zu fragen, was mit ihr los ist.«

»Nichts ist los, mein Schatz. Anette hat eben auch ein Anrecht auf ein eigenes Leben.« Er hielt ihr die Tür auf. Aber Marie rührte sich nicht von der Stelle. Sie blitzte ihn empört an.

»Eigenes Leben? Also, Stefan! Wir sind ihr Leben! Sie hat doch sonst keinen! Sie gehört zu unserer Familie! Das sagt sie selbst.«

Stefan erwiderte ihren Blick voller Liebe. Seine Marie, die ehemals fast verarmte Herrin auf diesem Hof, war die wunderbarste Ehefrau, die er sich nur denken konnte. Beim Anblick ihres Gesichts mit den hohen Wangenknochen und den kühn geschwungenen Brauen über den olivfarbenen Augen weitete sich jedes Mal sein Herz. Und er hätte die Arme ausbreiten und außer ihr und den Kindern das gesamte Universum umarmen können.

Maries Lippen schoben sich schmollend hervor. Sie ahnte ja nicht, was in ihm vorging. »Nimm Annette bloß nicht in Schutz! Sie muss doch wissen, was sie an uns hat. Mit ihren Kollegen verbindet sie privat kaum etwas, nur ihre Schüler geben ihrem Leben einen Sinn …, ja, und wir. Und unsere Kinder.«

»Trotzdem haben wir kein Recht, zu viel von ihr zu verlangen. Wenn sie verreisen möchte, soll sie’s tun.«

»Unsinn! Jetzt in der Schulzeit? Bis zu den Zeugnissen und den kurzen Faschingsferien sind es noch vier Wochen.«

»Bist du denn sicher, dass ihr nichts fehlt?«

»Natürlich. Anette war noch nie krank. Du kennst sie doch.«

Ja, Stefan kannte Anette Lichtner gut. Seit die junge Lehrerin vom Gymnasium in Altendorf vor zwei Jahren in den Kirchenchor eingetreten war, hatte sich zwischen ihr und Marie eine innige Freundschaft entwickelt. Marie, die als Einzelkind aufgewachsen und nach dem frühen Tod ihrer Mutter schwere Zeiten durchlebt hatte, sah in Anette sogar eine Art Schwester-Ersatz. Reserl, Jossi und Dany liebten die Dreißigjährige wie eine Tante, und er schätzte an ihr, dass sie Marie zuweilen nach München überredete. Damit brachte sie zusätzlich Farbe in Maries arbeits- und pflichtenreiches Leben. Und einen guten Einfluss übte Anette auf die neuerdings so aufmüpfige und trotzige Reserl aus.

Aber das alles war kein Grund, von ihr zu erwarten, dass sie der Familie Weißenberg jede ihrer freien Stunden opferte.

»Komm erst mal rein, mein Schatz. Das Essen steht auf dem Tisch.«

Er sah noch, wie Kater Pascha aus der Tür schlüpfte. Dann schloss er sie und half Marie aus dem Anorak, um die letzten Sekunden allein mit ihr im schummrigen Gang für einen zärtlichen Kuss zu nutzen.

*

Zwei Stunden später fuhr Stefan in seinem Geländewagen die Anhöhe hinab. Über den Wiesen lag tatsächlich eine dünne Schicht Neuschnee. Mit rhythmischen Ticken schob der Scheibenwischer die Flocken von der Windchutzscheibe.

Er dachte an Marie, die sich gleich, nachdem die Kinder im Bett waren, an ihren Stutzflügel im Kaminzimmer gesetzt hatte, um sich nun ohne Anette mit der Partitur für die dritte Stimme eines Chorals abzuquälen. Sie hatte die Noten heftig hingekritzelt und die Violin-Schlüssel mit wütendem Schwung aufs Blatt gesetzt. Als er sie umarmte und Anette noch einmal in Schutz nehmen wollte, wäre er fast explodiert. Da wusste er, er musste sie allein lassen, wie meistens, wenn es ihr um den Kirchenchor ging.

Nun war er auf dem Weg zum Stammtisch im Gasthof Seehof, wo er als Lieferant des köstlichen Weißenberg-Gemüses gern gesehen und allmählich sogar wie ein Einheimischer respektiert wurde. Er traf dort den Bürgermeister, Kollegen aus der Umgebung und manchmal auch den Pfarrer an. Man tauschte sich übers Wetter und wichtigere Ereignisse aus, aber oft ging es zurzeit um den verstorbenen Landarzt, für den sich kein geeigneter Nachfolger finden ließ.

Stefan freute sich auf ein Feierabend-Bier und wollte gerade ein Liedchen vor sich hinpfeifen, als sein Handy brummte. Nach wenigen Metern hielt er auf der Landstraße. Sein erster Gedanke galt Marie. Hatte sie es sich anders überlegt und brauchte ihn doch als Stimmungsaufheller an diesem Abend?

»Stefan!«, hörte er Anettes Stimme. »Stefan, bitte, ich brauch deine Hilfe. Komm bitte sofort zu mir. Klingel einmal kurz und zweimal lang.« Ihre Stimme bebte.

»Was ist los, Anette?«

»Frag nicht. Ich erklär’s dir, wenn du bei mir bist.«

»Geht es dir nicht gut?« Nur so konnte er sich ihren plötzlichen Hilferuf erklären. Sonst telefonierte sie immer nur mit Marie.

»Meine Gespräche werden abgehört. Bitte, komm!«

Stefan stockte der Atem. Er wendete und raste los. Wer hörte Anettes Gespräche ab? Brachte sie da was durcheinander? Anette Lichtner unterrichtete im Altendorfer Gymnasium Latein in der Unterstufe und Geschichte in der Mittel- und Oberstufe. Wie geriet sie da in Agentenkreise? Sie stammte aus einer Lehrersfamilie am Chiemsee und war eine mustergültige Pädagogin. Sie hatte das Herz auf dem rechten Fleck und war bei den ­Altendorfern beliebt, weil sie immer den richtigen Ton fand, ohne ihre akademische und recht um­fassende Bildung anklingen zu lassen.

Ja, und wenn sie mit seinen Kindern auf dem Weißenberg-Hof tobte oder mit Marie über den letzten Film diskutierte, konnte sie so herzlich lachen, wie sie es in der Schule wohl nie wagte.

Zwanzig Minuten später parkte er in einer stillen Straße der Kleinstadt Altendorf. Während er auf das schlichte Apotheken-Haus zuging, in dessen erster Etage sich Anettes Wohnung befand, bemerkte er die heruntergelassenen Jalousien. Tatsächlich! Alles war so, wie Marie es ihm beschrieben hatte. Da wurde auch er unruhig.

Er klingelte, wie Anette es wünschte, und drückte gegen die Tür. Bevor er eintreten konnte, schaute er aufmerksam die Straße entlang. Nichts geschah hier an einem Abend, außer dass der Schnee leise rieselte. Es war zwanzig nach neun, und in einem Ort wie Altendorf begann da schon die Schlafenszeit.

Anette erwartete ihn oben an der Treppe. Sie war fünf Jahre jünger als seine Marie und hätte glatt als ihre kleine Schwester durchgehen können, obwohl sich die beiden Frauen in Aussehen und Garderobe sehr unterschieden.

»Hast du jemanden beobachtet?«, flüsterte sie ihm ängstlich entgegen.

Stefan schüttelte den Kopf. Wie blass sie war! Das schmale Gesicht mit den feinen hellen Brauen über den großen tiefblauen Augen verriet schon immer ihre Verletzlichkeit. Heute erinnerte es fast an eine schöne Geistererscheinung! Und ihr feines Blondhaar kringelte sich über der feuchten Stirn zu zarten Löckchen. Meistens trug sie es vom Mittelscheitel bis zu den Ohren zu einer Zopffrisur geflochten. Das harmonisierte mit ihren Dirndlkleidern, und wenn dazu noch kleine Ringe an ihren Ohren schaukelten, machte Marie ihr immer Komplimente, und Reserl klatschte vor Freude über die ungewöhnlich gekleidete Lehrerin in die Hände. Aber heute?

Sie zog ihn in die Wohnung und presste ihren Rücken an die Tür. Dann schloss sie den Sicherheitsriegel. »Danke, Stefan!«

»Kann ich mich setzen, damit du mir in Ruhe erzählst, was los ist?«