Hendrik Wüst - Tobias Blasius - E-Book

Hendrik Wüst E-Book

Tobias Blasius

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Beschreibung

Hendrik Wüst ist ein Wandlungskünstler der Macht. Der nordrheinwestfälische Ministerpräsident schafft es immer wieder, ein neues öffentliches Bild von sich zu entwerfen. Er startet als schneidiger Jungunionist, macht Karriere als rechter Hardliner, erfindet sich als Mann des CDU-Wirtschaftsflügels neu und erklimmt die Spitze schließlich im Gewand des sanften Konservativen mit schwarz-grüner Agenda. Inzwischen zählt Wüst, der nie ein Parteidarling war, zur smarten Führungsreserve der Union, der man die Kanzlerkandidatur zutraut. Wie macht er das? Was ist echt an ihm? Der Band ist das analytische Porträt eines Vertreters der ersten Politikergeneration, die verinnerlicht hat, dass in der modernen Mediengesellschaft das Performative oft das Programmatische überlagert.

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Tobias Blasius / Moritz Küpper

Hendrik WüstDer Machtwandler

Karriere und Kalkül

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Impressum

1. Auflage Oktober 2023

Lektorat: Kerstin Goldbach

Umschlagabbildung vorne: Reto Klar/FUNKE Foto Services

Umschlagabbildungen Klappe: Lars Heidrich/FUNKE Foto

Services; Gustav Kuhweide

Umschlaggestaltung: Guido Klütsch

Druck und Bindung: Drukkerij Wilco B.V., Vanadiumweg 9, NL–3812 PX Amersfoort

© Klartext Verlag, Essen 2023

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-8375-2584-7

eISBN 978-3-8375-2616-5

Jakob Funke Medien Beteiligungs GmbH & Co. KG

Jakob-Funke-Platz 1, 45127 Essen

[email protected]

www.klartext-verlag.de

Inhalt

Prolog

Einer für alle?

Der Geprägte

Herkunft, Heimat und die Suche nach Halt

Der Suchende

Planung von unten, Aufstieg nach oben

Der Konservative

Zwischen Posen und Positionen

Der General

Schmutzeleien und Scheitern

Der Gestürzte

Lektionen und Loyalitäten

Der Unvermeidliche

Zwischen Demut und Domino

Der Netzwerker

Vertrauen ist gut, Vertraute sind besser

Der Ministerpräsident

Kult und Bühne

Epilog

Alle für einen?

Personenregister

Dank

Prolog

Einer für alle?

An einem Mittag im Frühjahr 2018 läuft Hendrik Wüst durch den Bürgerpark in Düsseldorf-Unterbilk. Er ist allein unterwegs. Wer den groß gewachsenen Mann im dunklen Anzug mit der Aktenmappe in der Hand nicht kennt, könnte ihn leicht für einen der Referenten halten, die um diese Uhrzeit im Regierungsviertel der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt Botengänge erledigen oder zur nächsten Besprechung eilen. In Wüsts Rücken thront der Landtag, ein architektonisch kühner Rundbau aus den 80er-Jahren. Rechts von ihm quälen sich beladene Frachtschiffe den Rhein aufwärts. Ganz in der Nähe im Medienhafen trifft sich gerade wieder jede Menge Düsseldorf-Klischee zum „Business-Lunch“: Modebewusste Agenturmenschen mit teuren Chronometern am Handgelenk sitzen dort in der Trattoria und genießen gegrillte Calamari an gemischtem Salat. Wüst bevorzugt normalerweise das Tagesgericht in der Parlamentskantine, Hausmannskost für 4,90 Euro. Jetzt ist er aber auf dem Weg ins „Stadttor“. Der gläserne Büroturm mit seinen 20 Geschossen beherbergt neuerdings das nordrhein-westfälische Verkehrsministerium. Wüst ist vor einigen Monaten etwas überraschend von Ministerpräsident Armin Laschet zum Verkehrsminister des bevölkerungsreichsten Bundeslandes ernannt worden.

„Tachchen“, ruft Wüst schon von Weitem. Dass er hier draußen zufällig auf einen Reporter trifft, findet er nicht schlimm. Im Gegenteil: Es darf sich ruhig verbreiten, dass er – anders als etliche Kabinettskollegen – die kurzen Wege zwischen Staatskanzlei, Landtag und seinem Ministerium zu Fuß zurücklegt. Wüst verzichtet bei solchen Gelegenheiten auch auf Begleitung durch seinen Mitarbeiterstab. Es ist schwer zu sagen, ob der Minister ohne Ministerauto einfach nur ein paar Minuten des durchgetakteten Tages an der frischen Luft für sich haben will oder ob in dieser ausgestellten Uneitelkeit die eigentliche Eitelkeit liegt. Oft fährt er auch mit dem Rad. Wenn man ihn darauf anspricht, flüchtet Wüst in Ironie: „Wir Münsterländer fahren Fahrrad, weil wir zu faul zum Laufen und zu geizig zum Autofahren sind.“ Er ist ein unterhaltsamer Erzähler, der sich unkompliziert gibt, sofern kein Mikrofon in der Nähe ist und keine Kamera läuft. „Haben wir dieselbe Richtung?“, fragt Wüst an jenem Mittag. Im Gehen entspinnt sich rasch ein Dialog. Mit seinen 1,91 Meter Körperlänge muss er meistens von oben nach unten sprechen, aber er spricht selten von oben herab. Nicht bei Treffen mit der sogenannten Basis, nicht in Bürgerbegegnungen, erst recht nicht bei Treffen mit Medienleuten. Wüst verströmt dann vielmehr etwas Jungenhaftes, sagt „Wat“ und „Nä“ und „Potzblitz“. Er kumpelt alle Rang- oder Rollenunterschiede schnell weg. Gelungenen Pointen schickt er oft ein wissendes Lächeln hinterher, er fixiert dann mit zusammengekniffenen Augen irgendeinen Punkt am Horizont. Wüst hat verinnerlicht, dass politische Berichterstatter es schätzen, von Politikern ins Vertrauen gezogen zu werden, in einen Kreis der Eingeweihten. Er macht sich zunutze, dass Journalisten Bilder und Botschaften brauchen und immerzu die kleine Geschichte suchen, die das große Ganze illustriert. Wenn man im Bürgerpark nicht aufpasst, entsteht so eine gefühlte Komplizenschaft, und es ist irgendwann nicht mehr ganz klar, wer Politik macht und wer sie von außen analysiert.

Plötzlich aber unterbricht sich Wüst und bleibt abrupt stehen. Die Fußgängerampel an der Ernst-Gnoß-Straße ist soeben auf Rot umgesprungen. Es kommt weit und breit kein Auto, der Feierabendverkehr hat noch nicht begonnen. Die Pendler aus dem Ruhrgebiet sitzen noch an ihren Schreibtischen. Andere Passanten sind auch nicht in Sicht. Also: Stehen oder gehen? Wüst zögert. Wenn nicht alles täuscht, springt gerade hinter seiner Stirn der Gefahrenscanner eines Mannes an, der seit seinem 15. Lebensjahr politische Ämter bekleidet. In Sekundenbruchteilen scheint er zu rastern: Bei Rot gehen? Am helllichten Tag, knapp 100 Meter von seinem Amtssitz entfernt? Im Beisein eines Journalisten? Seine innere Stimme warnt offenbar: Du weißt, dass Du permanent unter Beobachtung stehst und jedes verdammte Handyfoto Dich politisch killen kann! Du kannst als Verkehrsminister nie mehr den Tag der Verkehrssicherheit eröffnen oder mit I-Dötzchen in Schülerlotsen-Kluft posieren, wenn Du jetzt nicht einfach stehen bleibst!

Wüst sieht das unruhige Zucken im Bein seines Nebenmannes. Wann springt diese Fußgängerampel endlich um? Auch Wüst hat eigentlich keine Zeit zu verschenken. Es arbeitet erkennbar in ihm. Das Überqueren einer roten Fußgängerampel kostet zwar nur fünf Euro Bußgeld, das Entdeckungsrisiko ist gering, die kleine Ordnungswidrigkeit gesellschaftlich nicht allzu geächtet. Der kleine Grenzübertritt für jeden Normalbürger könnte aber für einen wie ihn der eine Schritt zu viel sein. Die Ampel ist immer noch rot. Was tun? Wüst kneift die Augen zusammen und grinst verschwörerisch. „Machen Sie ruhig, was Sie nicht lassen können“, sagt er schließlich. „Ich darf‘s jedenfalls nicht.“

Knapp fünf Jahre später empfängt Wüst im Landeshaus. Es ist Anfang des Jahres 2023, Wüst ist seit 15 Monaten der zwölfte Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens. Im Innenhof stehen Baugerüste, es wird gesägt und gehämmert. Das „Landeshaus“ inklusive Baustelle hat Wüst von Laschet geerbt. Der kunstsinnige Amtsvorgänger verguckte sich gleich nach seinem Wahlsieg 2017 in diesen neoklassizistischen Klotz direkt am Rhein und entschied, dass hier die Staatskanzlei wieder einziehen soll. So war es schon zu Zeiten von Johannes Rau, bis der „Macher“ Wolfgang Clement meinte, das betulich regierte Nordrhein-Westfalen müsse die Machtzentrale in moderne Büroräume verlegen. Laschet fasziniert die verborgene Repräsentationskraft des Landeshauses. Er engagierte den Rektor der Düsseldorfer Kunstakademie, Karl-Heinz Petzinka. Der Stararchitekt sollte den Komplex behutsam sanieren und vor allem das historische Hauptportal zum Rhein wieder flottmachen. Laschet findet so etwas wichtig in dem oft mit sich hadernden „Bindestrich-Land“ Nordrhein-Westfalen, das anders als etwa Bayern immer ein wenig „den Pelz nach innen“ trägt, wie man im Ruhrgebiet sagt.

Gedanklich sah sich der neue Ministerpräsident schon am roten Teppich stehen, um vorfahrende Staatsgäste an der Rheinuferpromenade in Empfang zu nehmen. Doch es kommt anders: Laschet erringt den Vorsitz der Bundes-CDU, greift nach dem Kanzleramt, lacht – und verliert. Nun macht er als einfacher Bundestagsabgeordneter weiter und sucht gerade einen Künstler aus, der ihn auf Landeskosten verewigen darf. Für die Ahnengalerie vor Wüsts Bürotür. Denn der ist nun Hausherr – und wartet noch immer auf das runderneuerte Hauptportal.

Den aus der Kleinstadt Rhede im Kreis Borken stammenden Wüst, Jahrgang 1975, und den Aachener Laschet trennen nicht nur fast 15 Lebensjahre und die typischen Temperamentsunterschiede zwischen einem Westfalen und einem Rheinländer. Der heute kalkuliert-vorsichtig auftretende Wüst wirkt in Haltung, Herkunft und Herangehensweise wie der Gegenentwurf zum oft sorglos-authentischen Laschet, was einem allein eine Begegnung wie die an der Fußgängerampel bewusst macht. Gecastet scheint Wüst für eine Mediengesellschaft, die Volksvertreter mittlerweile vor hohe Anforderungen stellt. Politiker müssen jederzeit damit rechnen, mit besonderer Elle gemessen zu werden. Sie haben immerzu den richtigen Eindruck zu erwecken oder besser noch: den falschen zu vermeiden. In einer meinungsstarken, bildmächtigen Echtzeitgesellschaft sind sie nie außer Dienst, sondern permanent auf der Hut. Wer wüsste es besser als Laschet? In einem pannenreichen Bundestagswahlkampf 2021 mit vielen unglücklichen Szenen musste er sich am Ende sogar fürs Rauchen rechtfertigen und versicherte in einem Interview mit Kinderreportern arg unbeholfen, er nehme die Zigarillos ja „nicht auf Lunge“. Wie hätte Laschet auf eine leere Straße und eine rote Fußgängerampel reagiert?

Moderne Politiker wie Wüst haben von klein auf ein Bewusstsein für solche Situationen ausgebildet und immer weiter verfeinert. Er trägt heute beim Radfahren Helm, lacht nie mehr an der falschen Stelle, formuliert inzwischen eindeutig bis zur Automatenhaftigkeit. Er raucht nicht, schon gar nicht in der Öffentlichkeit, und Feiern verlässt er konsequent, bevor es lustig ist. Wüst trägt im Büro Pullover, um Heizkosten zu sparen. Er achtet die Sprach- und Haltungsregeln der Wokeness, der allumfassenden Wachsamkeit gegenüber jeder Form von Diskriminierung. Er eckt nicht an, will nicht negativ auffallen und hat verstanden, dass in der Berufspolitik das Performative längst wichtiger geworden ist als Programmatische.

Laschet fand einst über die katholische Jugendarbeit zur Politik und entwickelte Lebensthemen wie den europäischen Einigungsprozess oder die liberale Einwanderungsgesellschaft, die für ihn als Wertegerüst unverhandelbar wurden. Er knüpfte Freundschaften über Parteigrenzen hinweg, umgab sich immer wieder mit politikfernen Menschen aus Kultur und Wissenschaft, las historische Bücher und wollte die Gesellschaft in all ihrer Vielfalt verstehen. Aber: Die besondere Geistesgegenwart für Pannen und Gefahren, das ständige Aufpassen und Abwägen, akzeptierte Laschet für sich nie. Wie muss ich mich wozu verhalten? Und was kann daraus gemacht werden? Wie setze ich mich ins rechte Licht? Wann reden und wozu besser schweigen?

Für seinen Nachfolger gehört unbedingtes Rollenbewusstsein hingegen zum Wesenskern des Politikers. Im Landtagswahlkampf 2022 dreht der Westdeutsche Rundfunk eine Dokumentation über Hendrik Wüst. Die Autorin Rebecca Kirkland staunt irgendwann, wie spielend ihr Protagonist zwischen den unterschiedlichsten Schauplätzen seiner Wahlkampfreise wechseln kann. Wie im Zoo kommt es ihr gelegentlich vor, wie Wüst da im Stundenrhythmus vor einem Pulk aus Kameras wahlweise Mitgefühl, Entschlossenheit, Bürgernähe oder Weitsicht aufführt. Im Tourbus sagt sie zu ihm: „Sie sind da. Der nächste Termin. Jetzt heißt es wieder: Im Kopf umschalten.“ Er murmelt: „Geht schon. Alles gut.“ Kirkland fragt: „Sie sind schon auch ein Politikprofi, ne?“ Wüst legt den Kopf schräg, blinzelt verständnislos: „Möchten Sie von Menschen regiert werden, die das nicht sind?“

Kurz nach Wüsts Wahl zum Laschet-Nachfolger im Herbst 2021 soll Bundeskanzler Olaf Scholz den Neuling am Rande von Corona-Beratungen in Berlin als „Amateur im Ministerpräsidenten-Kostüm“ verspottet haben. Die Meldung wird hinterher nur lau dementiert. Nach vielen Jahren der Wüst-Nahbeobachtung lässt sich dieses Kanzler-Wort nur als krasse Fehleinschätzung einordnen: Amateurhaft, so kann mit einiger Sicherheit gesagt werden, hat er Politik nie betrieben. Vielmehr gehört Wüst zu jener Alterskohorte von Entscheidern, die mit immensem Einsatz ihren Aufstieg planen. Die Politik vor allem als Handwerk verstehen und ihre Karriere kalkuliert mit perfekter Organisation und Raffinesse vorantreiben – Rücktritte und Rückschläge inklusive. Die Parteien als Markenversprechen betrachten und sich bereitwillig die Techniken der Public Relation aneignen. Doch was treibt den Politiker Hendrik Wüst inhaltlich an? Aus welchen unerschütterlichen Überzeugungen schöpft er? Wo will er hin, was hat ihn geprägt und welche Spuren könnte er hinterlassen? Wie arbeitet er und welchen Preis ist er bereit, für den Aufstieg nach ganz oben zu bezahlen?

Wüst ist heute mit nicht einmal 50 Jahren unangefochtener Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Bundeslandes und führt den mitgliederstärksten Landesverband der CDU Deutschlands, die politische Heimat auch des Bundesparteichefs Friedrich Merz. Gegen die Christdemokraten von Rhein und Ruhr, die bei jedem Bundesparteitag rund ein Drittel der Delegierten stellen, geht in der Union wenig. Es könnte dieselbe Startrampe werden wie bei Laschet. Kann Wüst sie für Höheres in Berlin nutzen? Würde das dann wirklich ins Ziel – also ins Kanzleramt – führen? Und: Könnte einer wie er auch Kanzler?

Trotz anfänglicher Vorbehalte beim Koalitionspartner hat Wüst in nur wenigen Wochen die erste schwarz-grüne Landesregierung in der Geschichte Nordrhein-Westfalens gebildet. Ihm gelingt das im Sommer 2022 derart geräuschlos, dass manche bereits ein Gegenmodell zur Ampel-Koalition in Berlin erkennen. Der lange eher unbekannte Wüst, der selbst als Verkehrsminister in Landesumfragen nur schwache Noten bekam, gilt plötzlich als moderner Konservativer, der seine junge Familie gern vorzeigt und Windeln wechseln kann. Er ist über Nacht zur smarten Führungsreserve der Union aufgestiegen. Die private Quadriga Hochschule ehrt ihn im Frühjahr 2023 als „Politiker des Jahres“. Der Spiegel nennt ihn „eine Art Posterboy der nächsten CDU-Generation“. Ist er auf dem Weg zur Kanzlerhoffnung der Union?

Wüst wird solche Zuschreibungen offiziell immer bestreiten. Er weiß, wie schnell man verglüht. Seit seinem ersten Einzug in den CDU-Bundesvorstand vor über 20 Jahren hat er viele Männer kommen und gehen sehen, die sich selbst Kanzlerformat attestierten. Seine Lehre lautet: Wer als Erster hier ruft und zu offensichtlich drängelt, der wird garantiert nichts. Ist Politik für einen wie ihn ein auf Jahre angelegtes Assessment-Center? Man stellt geduldig seine Eignung unter Beweis, indem man Aufgaben dann erledigt, wenn sie anfallen. Durch sorgsames Anpassen, Priorisieren und Erkennen von Optionen? Wüst ist in Nordrhein-Westfalen bis mindestens 2027 gewählt. Aber: Will er mehr? Und: Wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass ausgerechnet jemand wie Hendrik Wüst in die Poleposition der Macht gelangt ist?

Er war nie ein Parteidarling, dem die Herzen zufliegen, genießt stattdessen über Jahre den zweifelhaften Ruf eines glatten Karrieristen, der schon in der Abiturzeitung des Bocholter Euregio-Gymnasiums als „schwarze Socke“ veralbert wird. Es ist eine schöne Ironie, dass ausgerechnet Wüst seit Jahrzehnten ohne CDU-Mitgliedsausweis durchs Leben geht. Als er um die 20 Jahre alt ist, wird ihm einmal das Portemonnaie mit allen Dokumenten gestohlen: „Seither ist auch der Mitgliedsausweis weg. Aber ich bin bislang noch bei jedem Parteitag reingekommen“, sagt er. Wüst macht sich in der CDU nie einen Namen als politischer Vordenker, dem eine allzu große Thementreue nachgesagt würde. Vielmehr versteht er es, die sich wandelnden Geschäftsbedingungen der Politik zu antizipieren und Mehrheiten für sich zu organisieren. Wüst ist ein Wandlungskünstler der Macht. Einer, der den Zeitgeist mit traumwandlerischer Sicherheit zu lesen versteht. Der mit unbändigem Fleiß, viel Geschick und jeder Menge Geduld Marktlücken erkennt und Chancen für sich nutzt. Der sich programmatisch immer wieder häutet, wenn es angezeigt erscheint. Kurzum: Hendrik Wüst ist „Der Machtwandler“.

Er schafft es über die Jahre ansatzlos, stets ein neues öffentliches Bild von sich zu entwerfen. Er ist mal schneidiger Jungunionist und rechter Hardliner, dann moderner Konservativer und Wirtschaftsflügelmann, schließlich Schwarz-Grüner mit sozialen Themen, am liebsten einer für alle. Aber: Wie macht er das? Wie arbeitet er? Was ist echt an ihm? Auf wen verlässt er sich und worauf ist bei ihm Verlass?

Wüst verfügt über eine Gabe, die ihm Weggefährten bereits in jungen Jahren attestieren: Er sei „ein lernendes System“, könne Menschen gut lesen, sich blitzschnell auf neue Begebenheiten einstellen und vorausschauend Netzwerke knüpfen. Ist er damit ein typischer Repräsentant seiner Politiker-Zeit? Die milieuscharfe und emotionale Bindung von Menschen an einzelne Parteien nimmt ab, die Wahlentscheidung wird immer stärker zur Frage der aktuellen Themen- und Typenkonjunktur. Wo programmatische Unterschiede verschwimmen, werden Ansehen und Aussehen für die Vertrauensbildung zum Kandidaten zentral. Ist Wüst also ein neuer Typus Politiker, der sich den immer komplizierteren Erwartungen des Souveräns anpassen kann wie ein Algorithmus?

Dieses Buch zeichnet den Weg eines Vertreters der Generation X nach, die als erste völlig anders sozialisiert wurde als jene des aktuellen Kanzlers Scholz. Professionelle Wendigkeit in medialer Dauererregung bei permanenter Verflüssigung ideologischer Gewissheiten – macht das die Methode Wüst aus und zugleich so schwer verständlich? Fast 100 Weggefährten, Mitarbeiter und Freunde, aber auch Gegner, Kritiker und Konkurrenten haben ihre Erinnerungen und Einschätzungen zu Hendrik Wüst beigesteuert. Sie erzählen mal offen, mal vertraulich, wie sie Karriere und Kalkül dieses Politikers einordnen. Manche melden sich unaufgefordert und wollen unbedingt etwas über diesen Politiker loswerden. Andere sind so vorsichtig, dass sie sich eine Tonaufnahme selbst für den internen Gebrauch verbitten und anderntags anrufen, um das wenige Gesagte noch einmal abzuschwächen. Es finden sich einige Zeitzeugen, die bekennen, Wüst seit 20 Jahren zu kennen und doch nicht zu wissen, wer er eigentlich ist. Auch Hendrik Wüst selbst hat sich Zeit genommen, um Rückschau zu halten und sich zu erklären.

Anfang des Jahres 2023 im Landeshaus reagiert er auf das Ansinnen, ihn und seinen Politikstil in Buchform zu porträtieren, zunächst mit kokettem Desinteresse. „Haben Sie keine Playstation?“, frotzelt er. Es wird nicht vollends klar, ob Wüst ein solches Buch als Interpretationsangebot zu seiner Persönlichkeit und Politik als Chance begreift oder als PR-Risiko scheut. Verhindern kann er diese Annäherung ohnehin nicht. „Na ja, jeder verbringt seinen Sommerurlaub so, wie er will“, spottet er mit Blick auf die Schlussredaktion zur Jahresmitte 2023. Es klingt selbstsicher. Bei einem späteren Termin bremst er weiter, diesmal ohne Ironie, eher nachdenklich: „Jetzt ein Buch über mich zu schreiben, empfinde ich als recht früh.“ Er sabotiert die Recherchen nicht, vermittelt aber den Eindruck, dass ihm an einer kritischen Gesamtbilanz des 47-jährigen Menschen und Politikers Hendrik Wüst jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht gelegen ist.

Die Spurensuche führt nach einigen Wochen zu einem langjährigen, durchaus wohlmeinenden Wegbegleiter des Ministerpräsidenten. Wenn man ihn danach befragt, was Hendrik Wüsts Überzeugungskern sei, dieser politische Ur-Antrieb, sein unverhandelbares Wertegerüst, das jeden Homo Politicus am Ende ausmacht, antwortet dieser: „Ich hoffe, es durch Ihr Buch zu erfahren.“

Der Geprägte

Herkunft, Heimat und die Suche nach Halt

Wer eine Konstante sucht im Leben des einst schlaksigen Schülers Hendrik und des heute mächtigen Ministerpräsidenten Wüst, findet sie in Raum „E3 D22“ des Düsseldorfer Landtags. Das Büro im dritten Stock ist nur mit einiger Ortskenntnis zu finden. Lange und etwas düstere Gänge voller endloser Türreihen winden sich durch den Parlamentsrundbau am Rhein, bis endlich ein Plexiglasschild an der Wand auftaucht: „SPD-Landtagsfraktion. Dr. Timo Grunden, Grundsatzreferent“. Ein freundlicher Mittvierziger mit einem roten SPD-Mehrwegbecher in der Hand bittet herein. Grunden entschuldigt die Unordnung. Es ist Februar 2023 und die Legislaturperiode in Nordrhein-Westfalen noch nicht sehr alt, viele Büros der Fraktionsmitarbeiter sind gerade erst neu zugeteilt worden. Ein großformatiges Bild der US-Kultfamilie Simpson lehnt senkrecht an der Wand. Bücher liegen verstreut über dem Sofa. Auf dem Tisch stapeln sich Papiere. Allerlei Notizen lassen erahnen, dass sich hier jemand hauptberuflich damit beschäftigt, Angriffsflächen zu identifizieren. „Gerade die Problematik rund um schlechte Rohstoffe und verzögerte Baubeginne lässt sich gut emotionalisieren“, steht da gut lesbar auf einem Zettel. Es werden Parlamentsanfragen oder „Öffentlichkeitsarbeit zu akuten Brücken- und Autobahnproblematiken“ empfohlen. Auch eine Oppositionsbotschaft ist schon vorformuliert: „Der Weg zur Arbeit müsse für Arbeitnehmer*innen möglich sein: ‚Damit der Tag nicht schon morgens gelaufen ist‘.“ Grunden kennt die politische Achillesferse der schwarz-grünen Landesregierung von Ministerpräsidenten Wüst, der vorher fünf Jahre lang Verkehrsminister in Nordrhein-Westfalen war. Vor allem weiß Grunden besser als die meisten anderen im politischen Betrieb, wer dieser Hendrik Wüst eigentlich ist.

Sie stammen beide aus der 20.000-Einwohner-Gemeinde Rhede im Westmünsterland, sind gleich alt und kennen sich seit Kindheitstagen: Grundens Cousins wohnen damals bei Wüsts gegenüber. Wenn er dort zum Familienbesuch ist, spielen die Jungen schon mal draußen mit Hendrik zusammen. Nach der Realschule wechselt Grunden zum Euregio-Gymnasium nach Bocholt, wo er Wüst wiedertrifft. Sie machen 1995 gemeinsam Abitur. Grunden hat auch den Politiker Wüst von Tag eins an erlebt. Schon als Oberstufenschüler kandidieren sie beide 1994 für den Rheder Stadtrat. Wüst für die CDU, Grunden für die SPD. Wüst gewinnt im schwarzen Münsterland auf Anhieb den Rheder Stadtbezirk 7 und startet eine nunmehr fast 30-jährige Laufbahn voll von Ämtern und Mandaten. Grunden verliert im Wahlbezirk 16 gegen den CDU-Ratsfraktionschef Alfons Kalkofen. Er muss sich mit der Rolle des „sachkundigen Bürgers“ im Stadtrat begnügen, zieht aber später aus, um ein einflussreicher Politikberater zu werden. Der eine übt Macht aus, der andere kann sie erklären.

Nach der Schule geht Grunden zunächst nach Marburg, um Politikwissenschaften und Philosophie zu studieren. Über eine Station in Prag landet er bei der „NRW School of Governance“ an der Universität Duisburg-Essen. Grundens Doktorarbeit trägt den Titel: „Politikberatung im Innenhof der Macht: Zu Einfluss und Funktion der persönlichen Berater deutscher Ministerpräsidenten“. Er steigt auf zum Leiter der „Forschungsgruppe Regieren“ und wird Akademischer Rat. Später übernimmt er Vertretungsprofessuren und ist Mitautor des Standardwerks „Regieren in Nordrhein-Westfalen: Strukturen, Stile und Entscheidungen 1990 bis 2006“. Die Rheinische Post bezeichnet Grunden einmal als „akademischen Ziehsohn“ des Politikprofessors und TV-Wahlanalysten Karl-Rudolf Korte. Nach einigen Jahren in der Wissenschaft erreicht Grunden ein Anruf aus der SPD-Landtagsfraktion. Ob er jemanden wisse, der die politische Arbeit der Fraktion ein wenig strukturieren könne? Grunden überlegt. Eigentlich wäre das der ideale Job für einen politischen Kopf mit Praxissehnsucht. Doch Grunden ist frisch verbeamtet und müsste sich beurlauben lassen. Die SPD-Landtagsfraktion wirbt weiter und macht ihm schließlich ein unmoralisches Angebot, wie Grunden es selber nennt. Seither ist er Hendrik Wüst wieder ganz nah. Der eine regiert, der andere attackiert. Es gehört zu Grundens Jobbeschreibung, Wüst zu kritisieren.

Hin und wieder verschränken sich Vergangenheit und Gegenwart. Als Wüst im Oktober 2021 erstmals im Landtag zum Ministerpräsidenten gewählt wird, veröffentlicht Grunden bei Twitter einen mehr als 30 Jahre alten Ausschnitt aus ihrer Lokalzeitung. Das Foto zum Text zeigt Wüst als Kinderkarnevalsprinzen Hendrik I. in der närrischen Diaspora Rhede „mit seiner Lieblichkeit“ Sandra Dücking. Die jungen Tollitäten schauen etwas gequält in die Kamera, weshalb Grunden ironisch Zweifel an der Rheinland-Kompetenz des neuen Düsseldorfer Regierungschefs anmeldet: „Man beachte aber die Begeisterung des Westfalen für den Karneval. Glückwunsch an @HendrikWuest.“ Es ist eine der harmloseren Frotzeleien. Unangenehmer wird es für Wüst, wenn Grunden die Opposition mit scharfen Parlamentsreden munitioniert. Gleich zur ersten Regierungserklärung des neuen Ministerpräsidenten komponiert er eine Erwiderungsrede des seinerzeitigen SPD-Fraktionschefs Thomas Kutschaty, die von den Oppositionsbänken mit stehenden Ovationen gefeiert wird. Es sind wohlgesetzte Spitzen. Mit Genugtuung beobachtet Grunden in solchen Momenten, dass Wüst erkennbar Mühe hat, in der Rolle des jederzeit kontrollierten, freundlich-friedfertigen Landesvaters zu bleiben. „Dann steht er nämlich auf und trinkt Wasser“, erklärt Grunden, „ihm wurde wohl eingetrichtert: Rege Dich nicht auf. Reagiere nicht darauf. Lass Dich nicht provozieren. Und das zieht er bis heute durch.“ Es gibt an der Kopfseite des Düsseldorfer Plenarsaals eine große Wand mit Landeswappen, hinter der Abgeordnete für kleine Erfrischungen kurz verschwinden können. Wüst scheint die Trinkpause zu nutzen wie ein gewiefter Tennis-Profi das „Medical-Time-Out“, den kurzen Gang in die Kabine zwischen zwei Sätzen: Man sammelt sich noch einmal, wenn es nicht läuft, und bringt den Gegner damit aus dem Rhythmus.

„Er will unbedingt verhindern, dass irgendwo was hängen bleiben oder irgendetwas irgendwen provozieren könnte“, glaubt Grunden. Contenance und Kontrolle um den Preis der Substanzlosigkeit? Wüst macht es heute dem politischen Gegner durch sterile Konsensfähigkeit schwer. „Keine Fehler machen! Keine Fehler machen! Nicht auffallen. Nur Reden halten, die man sofort wieder vergisst“, sei wohl die Devise, analysiert Grunden. Wüsts CDU-Amtsvorgänger Laschet sei wenigstens ein leidenschaftlicher Parlamentarier gewesen, der die politische Auseinandersetzung im Landtag respektiert habe. Wüsts Leuten hingegen sei der politische Wettstreit im Abgeordnetenhaus völlig egal. „Nur Phrasen, kein Wortwitz, nichts, was in Erinnerung bleibt“, sagt Grunden, „als wäre es daraufhin gesäubert, dass nichts hängen bleibt.“ Er muss jedoch einräumen, dass die Methode Wüst im Ministerpräsidentenamt machttechnisch ziemlich erfolgreich ist. Jeder Tag, an dem die Bürger von politischem Streit, markanten Aussagen oder allzu ambitionierten Plänen verschont bleiben, zahlt augenscheinlich auf das Image des präsidialen Amtsinhabers ein.

Dabei hat Grunden über Jahrzehnte einen anderen Hendrik Wüst kennengelernt. In den 90er-Jahren ist der SPD-Mann einmal als sachkundiger Bürger im Rehder Stadtrat zu Gast und erlebt dort die ersten politischen Auftritte des heutigen Ministerpräsidenten: „Der machte daraus schon einen kleinen Bundestag. Mit seinen Reden“, erinnert sich Grunden, „der war da der Scharfmacher“. Doch das demonstrativ Scharfe und Konservative von einst sei inzwischen ins demonstrativ Unpolitische umgeschlagen. Grunden und Wüst stammen zwar aus derselben Kleinstadt, kommen aber doch aus ziemlich unterschiedlichen Lebenswelten: Der SPD-Referent durchläuft in seiner Jugend eine Phase, in der er unangepasst sein will und sich als Punk und Gruftie kleidet. Wüst hingegen sieht auf alten Fotos fast genauso aus wie heute. Gleiche Frisur, gleiche Haltung, nur die Brille bekommt er erst mit 19 Jahren. Grunden mischt seit dem 16. Lebensjahr bei den Jusos mit und kreist einst um die großen Fragen: Kapitalismus, Imperialismus, Asylrecht sowie Golfkrieg und „Kein Blut für Öl“. Es werden Flugblätter gedruckt und Weltfriedenspläne geschmiedet. Wüst erscheint derweil in Grundens Augen früh als filmreifes Jungunionisten-Klischee. Man sah dessen Clique auf dem Schulhof im blauen Blazer mit Goldknöpfen, dazu diese Aktenköfferchen mit dem Aufkleber „Bundeswehr? Mit Sicherheit Ja!“. Wüst leistet später gar keinen Wehrdienst, weil er ausgemustert wird. Als Schüler muss er sich einer Notoperation unterziehen, als sein Blinddarm platzt. Bei der Intubation geht etwas schief, weshalb Wüst bis heute unter chronischem Husten leidet. Bei öffentlichen Auftritten hört man gelegentlich dieses heisere Räuspern.

Am Euregio-Gymnasium in Bocholt belegen Grunden und Wüst zusammen die Leistungskurse Deutsch und Geschichte. Die Schule ist eine typische NRW-Neugründung aus den 70er-Jahren, das vierte Gymnasium der Stadt. Viele Kinder aus den zahlreichen Neubaugebieten finden hier ihren Platz. Und eben die „Rhedenser“, wie Wüst und die Schüler aus der Nachbarstadt genannt werden, die morgens mit dem Fahrrad durch die Felder nach Bocholt fahren. Vor allem für jüngere, eher linksliberal orientierte Lehrer mit Reformideen ist das neue Euregio-Gymnasium attraktiv. Das prägt den Geist der Schule auch noch 20 Jahre später, als Wüst dort Abitur macht. „Er hatte es damals nicht leicht“, sagt Grunden, „weil die, die sich für links interessierten, waren schon deutlich in der Mehrzahl.“ Es ist ein für das konservative Münsterland ungewöhnlich progressives Gymnasium, in dem Jungunionisten wie Wüst eher als Exoten gelten. Politik ist Dauerthema auf dem Schulhof. Bei Debatten geht es mitunter hoch her. Gerade an Geschichtslehrer Gottfried Bückmann, der im Jahr 2020 verstirbt, reibt sich der junge Wüst. Der Pädagoge ist als „links“ verschrien, sitzt später für die SPD im Stadtrat von Hamminkeln und bringt mit seinem debattierfreudigen Unterricht schon mal CDU-nahe Elternhäuser in Wallung. Bückmann stellt den Schülern eigenwillige Aufgaben: Sie sollen beispielsweise eine Rede von Franz Josef Strauß auf faschistoide Elemente analysieren oder eine Pressemitteilung der SED zum Mauerfall verfassen. Unkonventionelle, aber durchaus pädagogisch wirksame Methoden. Viele Schüler sind noch Jahre später begeistert. Auch Wüst. Trotz der weltanschaulichen Kluft bilanziert er heute rückblickend: „Das war ein toller Lehrer, der mich über die gesamte Gymnasialzeit geprägt hat. Er hat uns damals die Aufgabe gegeben, jeden Abend die Tagesschau zu gucken und die drei wichtigsten Nachrichten zusammenzufassen. Der wollte einfach, dass wir uns für Politik interessieren.“

Der ehemalige Schülersprecher Ivo Leunig, der damals ebenfalls im Geschichte-Leistungskurs sitzt, erlebt Wüst dagegen auf verlorenem Posten. Der Lehrer provoziert laufend mit Thesen und will die Schüler argumentativ fordern. Grunden und seine Freunde von den Jusos hätten in den Debatten meist den Ton gesetzt, Wüst sei dem nicht gewachsen gewesen, erinnert Leunig. Einmal wird der Schülersprecher vom Schulleiter im Direktorenzimmer aufgehalten, obwohl er zu einer Matheklausur muss. Sie vergessen ein wenig die Zeit. Der Mathelehrer wird unruhig, lässt Leunig ausrufen. Schließlich schickt er einen Mitschüler los, um nach ihm zu suchen: Es ist Hendrik Wüst. Der hat sich nicht danach gedrängt und will eigentlich lieber seine Klausur weiterschreiben, doch er scheint eine Vertrauensstellung bei den Lehrern zu besitzen. Das macht einen bei Mitschülern schnell als Streber verdächtig. Irgendwann kommt es jedoch zu einer Art Großen Koalition am Euregio-Gymnasium: Wüst und Grunden gehen gemeinsam gegen Pläne der Schule vor, Kopierkosten von zehn Mark pro Halbjahr einzuführen. Sie arbeiten zusammen, auch wenn sie damals unterschiedlich motiviert wirken: Wüst wittert die kalte Einführung einer neuen Steuer, Grunden treibt eher linker Widerspruchsgeist gegen die Obrigkeit. Sie wälzen die Schulordnung und schmieden einen Schlachtplan. Das ungleiche Duo kann schließlich der Schulleitung nachweisen, dass die Kopierkosten eine freiwillige Leistung sind und nicht verordnet werden dürfen. „Damals haben wir mal zusammengearbeitet und der Schulleitung mit juristischen und politischen Mitteln gezeigt, was eine Harke ist“, erinnert sich Grunden. Er lacht.

Obwohl Wüst in der Abiturzeitung als „schwarze Socke“ und „Amateurpolitiker“ veralbert wird, erlebt ihn der ehemalige Euregio-Lehrer Johannes Seggewiß keineswegs als Außenseiter. „Er hat sich sehr für die Interessen der Schüler eingesetzt“, sei unheimlich engagiert, zielstrebig und argumentationsfreudig gewesen, sagt er. Seggewiß ist inzwischen Pensionär und lebt in Köln. Er kennt das Gymnasium jedoch so gut wie kaum ein anderer: Schon als Student hat er dort seit 1974 nebenher gejobbt und später über Jahrzehnte Tausende von Schülern in Musik und Latein unterrichtet. Wüst ist nie in einem seiner Kurse, doch als langjähriger Ansprechpartner der Schülervertretung kennt er den Jungpolitiker natürlich. Wer Seggewiß heute in seiner Maisonette-Wohnung trifft, spürt bei diesem herzlichen Mann in Jeans und Strickjacke noch immer, dass Lehrer für ihn mehr Berufung als Beruf bedeutet. Er hat Schülerbands geformt, frühere Abschlussklassen zu sich nach Hause eingeladen und grundsätzlich jedem Schüler nach dem Abitur das „Du“ angeboten. Nach dem Ausscheiden aus dem Schuldienst zieht Seggewiß von Bocholt nach Köln-Porz. Als der Verkehrsminister Wüst einmal für eine Informationsveranstaltung zu einem Autobahnprojekt im Stadtteil angekündigt ist, sagt der Lehrer zu seiner Frau: „Komm, den Hendrik gucken wir uns mal an.“ Wüst erkennt den ehemaligen Lehrer sofort und sagt nach der Veranstaltung vertraut: „Hallo, Johannes!“ Seggewiß findet das toll, „dieses Bodenständige“. Später ist der Lehrer noch einmal in Düsseldorf unterwegs. Gemeinsam mit seiner Frau möchte er sich den Medienhafen anschauen. Wüst ist da bereits zum Ministerpräsidenten aufgestiegen. Seggewiß erkennt den einstigen Euregio-Schüler zwischen Landtag und Staatskanzlei auf einige Entfernung in einem Tross aus Mitarbeitern und Sicherheitsleuten. „Als er mich gesehen hat, ist er sofort rübergekommen und hat sich einen Moment Zeit genommen“, schwärmt der Pädagoge, „das macht auch nicht jeder.“ Selbst der politische Gegenspieler Timo Grunden kann sich über Wüsts Umgangsformen nicht beschweren. Trotz aller Differenzen und ihrer unterschiedlichen Rollen hätten sie sich persönlich nie zerstritten, sagt er. Wenn Wüst in Rhede beim Einkaufen Grundens Mutter trifft, berichtet sie hinterher meist dem Sohn am Telefon davon, wie freundlich der wichtige CDU-Mann wieder gegrüßt habe. Bei einer dieser Begegnungen erzählt Wüst ihr sogar, dass er ein Buch von Timo gekauft und verschenkt habe. „Das fand ich nett“, sagt Grunden.

Die Schulzeit bedeutet für Wüst die erste große Suche nach Orientierung und Sicherheit. Er ist kein sonderlich guter Schüler, der aus Zeugnissen Anerkennung ziehen könnte. „Es gab immer Riesenstress zu Hause“, erzählt er Jahrzehnte später mal in einem Interview. Die Eltern predigen die gute alte Nachkriegsphilosophie: „Kannste was, dann haste was, dann biste was.“ Der Junge soll Abitur machen, damit er seinen Weg gehen kann. Beim Elternsprechtag wartet zu Hause regelmäßig „ein Donnerwetter“, wie Wüst es formuliert. Als er mit 16 Jahren einen Blauen Brief in Mathematik und Französisch bekommt, sind Mutter und Vater über die Post von der Schule derart bestürzt, dass sie wechselseitig versuchen, die Schmach voreinander zu verheimlichen. Bei allem früh entflammten politischen Postenehrgeiz bilanziert Wüst nachträglich: „Was Lernen anging, war ich schon ein schwieriges Kind.“ Am Ende schafft er das Abitur doch noch mit einem Notenschnitt von 2,5, was für den damaligen Numerus Clausus im Fach Jura an der Universität Münster reicht. Die Profilierung gegen den progressiven Mainstream am Euregio-Gymnasium bietet ihm derweil die Gelegenheit, die eigene Persönlichkeit auszuformen. „Irgendwann sortiert man sich ein. Es macht ja auch Spaß zu polarisieren“, sagt ein Wegbegleiter aus Jugendtagen, der Wüst damals erlebt und bis heute losen Kontakt mit ihm hält. Die Rolle des Konservativen auf dem Schulhof ist gleichwohl nur eine zarte Rebellion, denn eigentlich verkörpert Wüst damals nur das, was ihm aus Rhede allzu vertraut ist.

Der schwedische Fußball-Millionär Zlatan Ibrahimović, der es aus dem Problemviertel „Rosengard“ in Malmö bis in die glitzernden Weltmetropolen Mailand, Barcelona oder Paris schafft, hat über die Prägewirkung der Heimat einmal gesagt: „Du kannst den Jungen aus dem Ghetto holen, aber nicht das Ghetto aus dem Jungen.“ Rhede ist das glatte Gegenteil eines Ghettos, aber die Gewissheiten dieser kleinstädtischen Idylle im Kreis Borken scheinen auch in Wüst tief drin zu stecken. Vier Kirchen, ein Kino, aber kein Bahnhof oder Theater. Stattdessen viel Klinkerfassade, Kopfsteinpflaster sowie Architektureinflüsse aus den nahen Niederlanden. Schützenfest, Kegelbahn, Bauernhöfe. Wenn man bei Google Maps den Ort „In dem die Welt noch in Ordnung ist“ eingeben könnte, würde man wohl hierhin navigiert. Der Ratssaal, das „Rheder Ei“, wird an sitzungsfreien Tagen auch für Kulturveranstaltungen genutzt. Der Münsterländer ist pragmatisch. Nach Auf- und Abstieg der Textilindustrie wächst die Stadt wieder, aber nicht zu sehr nach Westen, damit sie nicht eines Tages in die größte und attraktivste Stadt im Kreis, Bocholt, eingemeindet wird. Die Stadtrechte werden seit jeher eisern verteidigt. Rhede ist heute beliebter Wohnort für „ordentliche Leute“, die beschaulich und vergleichsweise günstig bauen wollen und einigermaßen schnell nach Münster oder ins Ruhrgebiet müssen.

Wüst wollte hier nie weg, auch wenn er gelegentlich Weggabelungen andeutet, die in ein Leben in Berlin, im Ausland oder sonst wo hätten münden können. Die weitgehend überraschungsfreie Berechenbarkeit dieser Heimat hat sich ihm eingebrannt. „Zuhause ist der Puls niedriger“, sagt er gern. Er mag die Ereignislosigkeit der Provinz, das platte Land mit seinen endlosen Fahrradwegen: „Ich bin ein Mensch, der muss draußen sein und sich bewegen, sonst werde ich rappelig“, erklärt er. Rappelig ist auch so ein Wort, das man in Berlin-Mitte nur noch selten hört. Jemand wie Wüst nennt als Lieblingsgericht Rindsroulade, wählt lieber Mayo als Ketchup und entspannt sich „bei einem Pralinchen“. Er spielt lieber Schach als Monopoly. Als Jugendlicher hat er gern die Trucker-Serie „Auf Achse“ mit Manfred Krug im Vorabendprogramm geguckt und träumt sich wohl nur bei „Alles wird gut“ von den Toten Hosen, seiner ersten Single-Schallplatte, aus dem Kinderzimmer weg. Im Refrain des Hosen-Hits aus dem Jahr 1990 heißt es: „Wir sind auf dem Weg in ein neues Jahrtausend, auf dem Weg – ein Kreuzzug ins Glück.“ Wüsts Glück bleibt bis heute Rhede, wo er jeden und alles kennt. Außer 1997/1998 im Studentenwohnheim in Münster, einige Monate 2003 in einer WG am Brüsseler Bahnhof „Midi“ sowie ein halbes Jahr 2004/2005 an der Invalidenstraße in Berlin und bis heute unter der Woche in der Zweitwohnung in Düsseldorf-Unterbilk hat er nie lange woanders gelebt.

An einem Montagmittag im März 2023 erklärt sich Wüst zu einer kleinen Stadtführung bereit. Es ist kühl. Wüst trägt einen blauen Kurzmantel und hat den grauen Schal eng geknotet. Er zeigt kurz das neue Rheder Rathaus aus den 90er-Jahren, in das er sonst nur noch zur Passverlängerung muss. Er läuft über die verwaisten Flure des gläsernen Verwaltungsbaus und sucht jemanden, der kurz das „Rheder Ei“ aufschließen kann. „Die Journalisten wollen nur mal gucken“, erklärt er der Dame aus dem Bürgermeisterbüro. Draußen hakt Wüst später kurz den „Rheder Bach“ ab, der sich in der Hochphase der Textilindustrie wegen der Tuch-Chemikalien schillernd verfärbt haben muss. Heute plätschert er klar dahin. Was gibt es sonst noch? Wüst ist nicht der Typ heimatstolzer Fremdenführer. Er geht eben rüber zu den fast fertigen „Stadthöfen“, einem neuen Karree aus Hotel und Geschosswohnungen mitten in der Rheder Fußgängerzone. Früher stand da das Gebäude, in dem Wüsts Großeltern eine Metzgerei betrieben. Er erwähnt das so tonlos, dass man nicht weiß, ob er diesen Strukturwandel schlimm oder schön findet – oder ob es ihm egal ist.

Plötzlich ruft jemand: „Hallo!“ Noch einmal: „Haaaalllooo!“ Wüsts Personenschützer werden aufmerksam. Ein älterer Herr kommt aus einem Café auf Wüst zugelaufen. „Hömma, Du wirst auch fürs Spazierengehen bezahlt“, sagt der grauhaarige Mann mit Drei-Tage-Bart lachend und knufft Wüst in die Schulter. „Ach, Dieter.“ Es ist Dieter Schlebes, Wüsts Friseur. Der 78-Jährige ist eine Institution im Ort und schneidet dem Ministerpräsidenten seit über 35 Jahren die Haare. Wüst kommt zu ihm, wie es seine Terminlage erlaubt, meist samstags nach Geschäftsschluss. In Ausnahmefällen sogar sonntags, nur nicht am Montag. Das gibt nur Ärger mit der Innung. Schlebes steht noch selbst zehn Stunden am Tag im Salon um die Ecke, der mit seinen wuchtigen Frisiersesseln diese duftende Behaglichkeit der guten alten Zeit verströmt. Hier wird der Fassonschnitt noch penibel mit der Schere erarbeitet. Nicht diese Schermaschinen-Abfertigung der Billigketten. Den neuesten Dorftratsch gibt es gratis. Auf dem langen Spiegeltisch hat Schlebes einen kleinen Hendrik-Schrein aufgebaut: Fotos des Ministerpräsidenten, eine Autogrammkarte, ein Schreiben mit NRW-Wappen, Wüsts ausgedruckte Geburtstagsgrüße, dazu ein Wüst-Selfie mit Kittel. Schlebes hat schon mal dem WDR in die Kamera gesagt, dass sie entschieden hätten, beim früher strenger gescheitelten Wüst oben etwas mehr „Natur“ zu lassen. In einem Radiointerview verrät der Coiffeur zudem, dass der Ministerpräsident „viel Wert auf sein Äußeres“ lege. Wenn Wüst in seinem Stuhl sitze, gingen sie auch schon mal die Frisuren des Kabinetts durch. Arbeitsminister Karl-Josef Laumann etwa bekomme die Haare von seiner Frau geschnitten, habe Wüst ihm erzählt, berichtet Schlebes zeternd in der Live-Sendung. Ein Autogramm wünscht sich der Friseur hingegen vom gut geföhnten, wenngleich politisch inzwischen ziemlich rasierten CSU-Politiker und Wüst-Freund Andreas Scheuer. Der habe die Haare schön.

Schlebes gehört zu den wenigen Menschen, die das dürfen: die Sphären der Heimat und die der Politik fahrlässig zu vermischen. Wüst achtet seit Jahrzehnten darauf, dass Rhede sein privater Schutzraum bleibt und er die Kontrolle über sein öffentliches Bild behält. Das ist mehr als westfälische Zurückhaltung. Er will bestimmen, welche Anekdote über ihn in Umlauf kommt – und welche nicht. Freunde wissen das, alle anderen sind keine Freunde. Oder wissen oft nichts. Wer den Menschen hinter dem Politikprofi kennenlernen will, braucht viel Beharrlichkeit. Wüst wurde fünfmal direkt in den Landtag gewählt, er kennt die CDU wie kaum ein anderer. Er ist zu Hause im Münsterland, dort omnipräsent und hat in den vergangenen 30 Jahren über zig Gremien und Posten auf diese und jene Weise bei anderen Menschen Eindruck hinterlassen. Viele haben ihn schon persönlich erlebt, etliche können ihn direkt auf dem Handy anrufen. Er spricht mit jedem und lässt sich von vielen duzen. Doch wirklich kennen? Es wirkt bei Wüst bisweilen ein wenig wie bei dem lächelnden Jungen auf der orangenen Zwieback-Packung von „Brandt“: Immer da, irgendwie ganz nett, aber nie wirklich kennengelernt. Selbst Menschen aus dem Politikbetrieb, die seit Jahrzehnten mit Wüst zu tun haben und viel über ihn wissen müssten, blocken bei einer Frage schnell ab: „Persönliches dürfen Sie mich nicht fragen“, heißt es dann fast reflexhaft, „so gut kenne ich ihn auch wieder nicht.“ Was ihn bewegt und antreibt, wann und wo er ganz bei sich ist? Es gibt viele Leerstellen abseits der von Wüst selbst in Umlauf gebrachten Geschichten. Bei Wikipedia wird noch bis Ende 2012 ein falsches Abiturjahr veröffentlicht, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre. Selbst sein Einzug in den Stadtrat von Rhede wird in der Online-Enzyklopädie unkorrekt auf 1995 datiert. Vor der Verschlossenheit des Hendrik Wüst im heimatlichen Umfeld scheint sogar die Schwarmintelligenz zu versagen.

Doch Dieter Schlebes kennt die Familie Wüst und ihre Geschichte. Er hat allen die Haare geschnitten. In den letzten Jahren vor dem Tod des Vaters Anfang 2010, als der gesundheitlich immer weiter abbaute, ist Schlebes sogar zum Frisieren ins Haus gekommen. „Ich bin Dir zu großem Dank verpflichtet, dass Du immer zu Papa gefahren bist“, habe Wüst junior ihm schon häufiger gesagt. Als drittes Kind von Anneliese und Franz-Josef Wüst kommt Hendrik am 19. Juli 1975 im St. Vinzenz-Hospital in Rhede zur Welt. Er ist ein Nachzügler, seine Schwestern Barbara und Eva Maria sind zehn und neun Jahre älter. In welches Milieu er hineingeboren wird, verrät Wüst vor Jahren einmal in einem eigenwilligen Lebenslauf im Reportagestil, der natürlich längst von seiner Homepage getilgt ist: „Es war gegen halb elf, der Wagen war gewaschen und es schien die Sonne. Eigentlich sollte es ein ruhiger Tag werden. Eigentlich: Denn schon auf den untersten Treppenstufen des Krankenhauses erkannte Franz-Josef Wüst, dass es diesmal ganz anders werden sollte als vor neun und zehn Jahren. An diesem Samstag wackelten die Wände des alten Gemäuers bedrohlich. So ein Gebrüll war nie zuvor durch die Pendeltüren des Rheder Kreißsaals ins Münsterland gedrungen. Franz-Josef Wüst ließ die Zeitungen fallen und war sich ganz sicher: ‚Das muss ein Junge von Wüst sein!‘“ Aus diesen Zeilen quillt Stammhalter-Stolz und ganz viel bundesrepublikanische Bürgerlichkeit der 70er-Jahre. Der Vater, der samstags mit gewaschenem Wagen, Zeitungen unter dem Arm für die Warterei während der Wehen und ganz viel Hoffnung auf einen Sohn auf der Geburtsstation vorbeischaut – so erleben das damals Millionen Familien im Westen.