Der Machtmenschliche - Tobias Blasius - E-Book

Der Machtmenschliche E-Book

Tobias Blasius

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Beschreibung

Lange verspottet und oft unterschätzt: Armin Laschet ist der vielleicht ungewöhnlichste deutsche Spitzenpolitiker der Gegenwart. Selbst in der eigenen Partei wurde der CDU-Mann aus Aachen eher belächelt. Er galt als zu weich, zu liberal, zu rheinisch. Er musste Niederlagen in Serie einstecken. In einem Politikbetrieb, der zunehmend von Personalisierung, Polarisierung und perfekt zur Schau gestellter Amtsautorität geprägt ist, wird einer wie Laschet leicht übersehen. Doch heute regiert er Deutschlands bevölkerungsreichstes Bundesland Nordrhein-Westfalen, führt den größten CDU-Landesverband und gehört zu den einflussreichsten Stimmen in Berlin. Laschet war ein früher Wegbereiter schwarz-grüner Annäherungen und Deutschlands erster Integrationsminister. Er fühlt sich dem europapolitischen Erbe Helmut Kohls verpflichtet und hält das Bewusstsein für die christlichen Wurzeln der "C"-Parteien wach. Wer ist dieser Armin Laschet also wirklich? Wie ist seine Karriere gegen viele Wahrscheinlichkeiten möglich? Und wo könnte der Weg noch hinführen? Die Journalisten Tobias Blasius und Moritz Küpper haben Laschet über Jahre begleitet. Sie beschreiben Weg, Wesen und Werte eines Politikers, der sich üblichen Bewertungsmustern zu entziehen scheint.

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Tobias BlasiusMoritz Küpper

DER MACHTMENSCHLICHE

Armin Laschet. Die Biografie

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

IMPRESSUM

1. Auflage September 2020

Umschlaggestaltung: Joachim Bartels, Essen

Lektorat: Hans-Joachim Pagel

Redaktion, Satz und Layout: Achim Nöllenheidt

Umschlagfoto: Julia Sellmann/laif

© Klartext Verlag, Essen 2020

ISBN 978-3-8375-2335-5eISBN 978-3-8375-2377-5

Alle Rechte der Verbreitung, einschließlich der Bearbeitung für Film, Funk, Fernsehen, CD-ROM, der Übersetzung, Fotokopie und des auszugsweisen Nachdrucks und Gebrauchs im In- und Ausland sind geschützt.

Jakob Funke Medien Beteiligungs GmbH & Co. KGJakob-Funke-Platz 1, 45127 [email protected], www.klartext-verlag.de

Inhalt

Prolog: Der Abwartende: „Einer muss ja“ statt „Ich will!“

Der Öcher: Herkunft und Heimat

Der Familienmensch: Nestwärme und karrierebewusster Clan

Der Journalist: Grenzgänger zwischen Medien und Politik

Das Politik-Talent: Einstieg in den Stadtrat, Aufstieg in der Aachener CDU

Der Katholik: Christ und Christdemokrat

Der Grünen-Versteher: Pizza-Connection und politische Prägung

Der Europäer: Brüsseler Basis und Kohlsches Erbe

Der Privatmann: Kulturfreund und Genussmensch

Der Türken-Armin: Reformer und Regierender

Das Stehaufmännchen: Mann der zweiten Chance und politischer Wettkampftyp

Der Chef: Das System Laschet und seine Unterstützer

Der Chaotische: Rastlos und rheinische Lösungen

Der Ministerpräsident: Landesvater und Blick nach Berlin

Epilog: Der Corona-Manager: Reicht es für ganz oben?

Chronik

Personenregister

Dank

Autoren

Prolog

Der Abwartende

„Einer muss ja“ statt „Ich will!“

Eigentlich will Armin Laschet gar nicht in die CDU. Verlegen grinsend steht er als 15-Jähriger im Herbst 1976 in der Fußgängerzone von Aachen-Burtscheid. Gegenüber baut gerade Witold Franke einen kleinen Wahlkampfstand auf. Helmut Kohl fordert als Spitzenkandidat der Union den SPD-Kanzler Helmut Schmidt heraus. Franke ist seit Jahren in der Jungen Union im Aachener Süden engagiert. Er gehört zum Team des neuen lokalen Wahlkreiskandidaten Hans Stercken, der bis 1994 für Aachen im Bundestag bleiben wird. Franke arbeitet zwischenzeitlich als sein Assistent im Bonner Abgeordnetenbüro. Doch an diesem Samstagmorgen im Herbst 1976 ist das alles noch weit weg. Franke muss bei den Burtscheider Wochenend-Einkäufern Stimmung für Stercken machen, damit dieser am Wahltag die entscheidenden Stimmen einfährt. Aus sicherer Distanz schaut ihm der junge Laschet dabei zu. Franke fällt die Neugier des Teenagers auf der anderen Straßenseite auf. Ob er nicht mal rüberkommen wolle, ruft er Laschet zu. Der traut sich. Sie kommen ins Gespräch. Nach kurzer Zeit macht Franke, der bereits über einige Routine bei politischen Werbegesprächen verfügt, dem Schüler Laschet unvermittelt ein Angebot: „Ich würde mich freuen, wenn du Lust hättest, ein wenig mitzumachen.“

Auch fast 45 Jahre später erinnert sich Witold Franke noch genau an diese Fußgängerzonen-Begegnung mit Armin Laschet. „Ja, das fände er ganz gut“, sei dessen spontane Reaktion auf seine Offerte gewesen, „er würde gerne mitmachen.“ Doch dann habe Laschet eine kurze Pause eingelegt und apodiktisch verkündet: „Aber ich trete nie in eine Partei ein.“ Franke weiß nicht mehr genau, ob er ihn damals vom Wahlkampfstand weg direkt für die Junge Union gewinnen wollte. „Da müsste ich jetzt ein wenig rumfantasieren“, sagt er. Doch die Entschiedenheit, mit der Laschet von vornherein einen Parteieintritt ausschließen wollte, die hat sich ihm eingebrannt.

Armin Laschet und die CDU – es scheint keine Liebe auf den ersten Blick zu sein. Er fühlt sich zu ihr hingezogen. Sie fasziniert ihn. In der CDU findet sein früh erwachtes politisches Interesse wohl am ehesten eine Heimat. Aber eine Mitgliedschaft als allumfassendes Bekenntnis? Bedeutet das nicht unbedingte Gefolgschaft und verordnete Gesinnungstreue? Laschet und die Politik – es ist von Anfang an die Geschichte einer vorsichtigen Abwägung. Eines stetigen Ringens zwischen Kopf und Bauch, Mut und Vorsicht, Individualität und Konformität.

Drei Jahre nach der Begegnung mit Franke in der Fußgängerzone wird Laschet dann doch noch CDU-Mitglied. Wenn auch erst nach längerem Kampf. Der etwas ältere Wolfgang Vorbrüggen, mit dem Laschet später im Aachener Stadtrat sitzen wird, bearbeitet ihn dafür beharrlich. Sie verstehen sich gut und singen in den 70er Jahren gemeinsam in Burtscheid im Kirchenchor. Vor und nach den Proben versucht Vorbrüggen, Laschet für die CDU zu gewinnen. Er drängelt, fragt nach, nervt ihn regelrecht. Vorbrüggen wirft bei den Laschets den Mitgliedsantrag in den Briefkasten. Doch das Formular kommt nicht zurück. Laschet zögert, der Freund hakt nach. So geht das eine Weile. Am Ende siegt Vorbrüggens Hartnäckigkeit. Laschet tritt mit 18 Jahren in die CDU ein.

Im Mai 2020 sitzt Armin Laschet in einem cremefarbenen Sessel in seinem Büro in der Düsseldorfer Staatskanzlei und muss lachen, wenn er an Vorbrüggen und das Formular zurückdenkt. Er ist jetzt über 40 Jahre CDU-Mitglied, Chef des größten Landesverbandes Nordrhein-Westfalen und Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Bundeslandes. Laschet könnte seine Skepsis und das Zögern von damals abstreiten, schließlich will er Bundesvorsitzender dieser Partei werden. Doch er gibt offen zu: „Ich war engagiert in der Pfarre, in der Schülervertretung, in unserer Dritte-Welt-Gruppe, aber es war jetzt nicht so, dass ich unbedingt Berufspolitiker werden wollte.“ Seinen Parteieintritt schildert er wie eine Kapitulation vor dem Missionseifer Vorbrüggens: „Dann hat er mir das Formular wieder eingeschmissen, aber es blieb liegen. Dann hat er wieder genervt und es wieder in den Briefkasten gesteckt: Jetzt füll‘ das Ding endlich aus und so weiter.“ Schließlich habe er, „damit er mich in Ruhe lässt, das Ding ausgefüllt“. Gemessen an all den angeblichen Erweckungserlebnissen, die in politischen Biografien oft kunstvoll um den Parteieintritt gerankt werden, schildert Laschet seinen Weg in die CDU als lebensnahes Lavieren eines Jugendlichen. „Das war nicht der große Impetus: Jetzt mache ich Karriere“, bekennt er. Vorbrüggen habe halt irgendwie nicht locker gelassen: „Der musste mich da nicht reinzwängen, aber ich fand es irgendwie lästig und ich hatte 1000 andere Sachen im Kopf.“ Für eine Parteimitgliedschaft gibt es im Hause Laschet auch gar kein Vorbild: „Meine Eltern fanden es eher schräg, dass ich in eine Partei eintrat“, erinnert er sich, „die waren zwar immer CDU-Wähler, aber dass ich jetzt da Mitglied wurde, fanden sie eher komisch.“ Es ist ein wirklich ungewöhnlicher Start für jemanden, der CDU-Bundesvorsitzender werden will. Das Ding ausgefüllt, „damit er mich in Ruhe lässt“? Laschet steht dazu: „Ja, und?“, sagt er, „war doch so.“

Für Witold Franke erzählt die frühe Begegnung am Wahlkampfstand 1976 etwas über den Charakter Laschets. Er glaubt, seinerzeit nicht nur die Verlegenheit eines 15-Jährigen gespürt zu haben, der auf dem falschen Fuß erwischt wird. Franke ist ein erfahrener Pädagoge. Er hat später als Chemie- und Physiklehrer an einem Gymnasium in Jülich Generationen von Schülern unterrichtet. Laschets Vorsicht in der Fußgängerzone ist für ihn rückblickend Ausdruck seiner Persönlichkeit: „Ich meine, das wäre ein Charakterzug von ihm, der vielleicht geblieben ist“, sagt Franke. Abwarten, taxieren, überlegen – und sich dann später entscheiden. „Der Schröder hat am Tor des Kanzleramtes gerüttelt“, sagt Franke und lacht, „der Armin sagt erstmal Nein.“

Das Rütteln am Zaun. Es ist eine vielzitierte Chiffre für Machthunger, Wille und Drang ins höchste Regierungsamt. „Ich will da rein“, hat Gerhard Schröder nach eigener Aussage im Sommer 1982 gerufen, als ihn eine abendliche Kneipentour am Bonner Kanzleramt vorbeiführte. Mit den Händen umklammert der junge Bundestagsabgeordnete dabei den Zaun der Regierungszentrale. 16 Jahre später ist es so weit: Der SPD-Mann wird der siebte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.

Bislang gilt es als ungeschriebene Regel der deutschen Politik, dass man den Aufstieg nach ganz oben unbedingt wollen muss, immerzu und mit jeder Faser seines Körpers. Der frühere Grünen-Außenminister Joschka Fischer hat das Kanzleramt einmal in wohligem Schauer mit einem Achttausender verglichen. In dieser „Todeszone“, in der die Luft extrem dünn sei und jeder Fehltritt bestraft werde, überlebten nur die furchtlosesten Extrembergsteiger. Konrad Adenauer, „der Machtmensch“ (Frankfurter Rundschau) und erste Kanzler, beispielsweise, geht zeitlebens unbeirrt seinen Weg. Er trotzt dem Nationalsozialismus und ringt in der jungen Bundesrepublik Gegner und Rivalen mit allen Mitteln nieder. Und selbst die vorerst Letzte in dieser Ahnengalerie, die durch und durch besonnene Physikerin Angela Merkel, besitzt einen sicheren Instinkt für den richtigen Augenblick, in dem man keine Verwandten mehr kennen darf. Als es in der CDU-Spendenaffäre Ende 1999 darauf ankommt, distanziert sie sich mit einem Namensbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von ihrem Mentor Helmut Kohl. Die Protestantin aus dem Osten sagt sich vom „Kanzler der Einheit“ los, vom Übervater, der nach 25 Jahren an der CDU-Spitze die Partei personifiziert. Diesen Mut haben der „Meisterin des Understatements“ die Wenigsten zugetraut. Doch Merkel beweist immer dann Härte, wenn es drauf ankommt, und erlegt als „geduldige Jägerin der balzenden Auerhähne“, wie sie der ehemalige CSU-Landesgruppen-Chef Michael Glos tauft, zahlreiche ambitionierte CDU-Konkurrenten.

Kohl selbst hat das Anforderungsprofil für einen deutschen Bundeskanzler wohl besonders nachhaltig geformt. Sein allumfassender Machtanspruch und Führungswille sind zum Maßstab für politische Karrieren geworden. Mit Provokationen und Kampfkandidaturen mischt er als junger Politiker die CDU auf und erwirbt sich den Ruf einer „Walz von der Pfalz“. Statt sich in Gefolgschaft der Altvorderen geduldig hochzuarbeiten, räumt er diese einfach beiseite. „Ein Politiker, der sich das Amt zutraut – das tue ich –, geht dem Reiz dieses Amtes nicht aus dem Weg“, sagt Kohl schon im Jahr 1970 als 40-jähriger, frisch gewählter Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz über den Posten des Bundeskanzlers. Über die Größe der Herausforderung macht er sich keine Illusionen. „Dies ist kein Amt, das man anstrebt im üblichen Sinne eines Anstreben eines Amtes“, sagt er, „dies ist ein Amt, das voller Schrecken, vielleicht besser ausgedrückt, voller Eiseskälte, Distanz ist und sehr stark die menschliche Nähe und menschliche Wärme entbehrt.“ Es gehört zu den Lehren der bundesrepublikanischen Geschichte, dass Bundeskanzler auf dem Weg nach oben Widerstände überwinden müssen und ihnen dabei auch eigene biografische Brüche persönlicher Antrieb zu sein scheinen. Die Exilzeit bei Willy Brandt. Der „Scheißkrieg“ bei Helmut Schmidt. Die Prüfungen der „Flakhelfer-Generation“ Kohls. Schröders Ausgrenzungserfahrungen einer ärmlichen Kindheit, in der er „Fensterkitt gefressen“ hat. Die Außenseiter-Position Merkels, die bis zu ihrem 35. Lebensjahr als Pfarrers-Tochter und Wissenschaftlerin in der DDR lebt, während fast alle ihre späteren Weggefährten und Gegner in der CDU längst der Jungen Union entwachsen.

Wie würde nun Armin Laschet in eine solche Reihe passen, der als neuer Bundesvorsitzender der Regierungspartei CDU qua Amt erster Anwärter auf das Kanzleramt wäre? Ein Mann, der 1961 geboren wird und ein beschauliches Leben in der Bonner Republik führt. Behütet aufgewachsen in einer intakten und bildungsehrgeizigen Großfamilie. Reihenhaus-Besitzer in seinem Geburtsort, im westlichsten Zipfel des Landes. Verheiratet mit seiner Sandkastenliebe. Fest verankert in einem sozialen Netz aus Familie, Kirche, Karneval und Jugendfreunden. Laschet ist nie Außenseiter gewesen, sondern immer mittendrin. Er erlebt keine biographischen Brüche, sondern strahlt fröhliche Kontinuität aus. Er vermittelt persönliche Zufriedenheit und keinen brachialen Aufstiegswillen am Fuße des Achttausenders. Entwickelt so jemand den notwendigen Drang zur Macht?

Laschet ist lange die Unbedingtheit abgesprochen worden. Seine Karriere ist eine gegen jede Wahrscheinlichkeit. Er wird früh Stadtrat, Abgeordneter in Bundestag, Europaparlament und Landtag. Doch zur Führungsreserve zählt ihn lange niemand. Erfolge scheinen ihm eher zuzufallen. Den „ewig Unterschätzten“ nennt ihn einmal die Augsburger Allgemeine. Er gilt wahlweise als „der zahme Angreifer“ (Ostsee-Zeitung), „der Freundliche“ (die tageszeitung) oder allenfalls als „Mann für den zweiten Blick“ (Rheinische Post). Seine rheinische Jovialität lässt gelegentlich daran zweifeln, ob er zur Pflege des sogenannten Markenkerns der CDU geeignet ist. Die liberale Lebenseinstellung und die seit Jugendtagen konservierte Neigung, parteipolitische Glaubenssätze vorbehaltlos zu hinterfragen, machen ihn zum „Vertreter der Großstadt-CDU“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) und „Modernisierer“ (Der Spiegel). Seine fehlende Machtaura lässt ihn als „berechenbaren Entertainer“ (Wirtschaftswoche) erscheinen. Als Deutschlands erster Integrationsminister macht er sich zwar immerhin einen Namen, wird jedoch parteiintern als „Türken-Armin“ verhöhnt. Er ist einer, der häufiger verliert als gewinnt, aber trotzdem irgendwie immer dabei bleibt.

Wer ist dieser Armin Laschet wirklich und was treibt ihn an? Bislang fährt er ganz gut damit, schwer greifbar zu sein. Laschet regiert das wichtigste Bundesland, ohne je einen Karriereplan auf dem Reißbrett entworfen zu haben. Er ist ziemlich weit gekommen, weil sich andere unmöglich gemacht haben. Sein Erfolgsgeheimnis? Wer nicht am Zaun rüttelt, weckt auch keinen Argwohn. Laschet ist in Habitus, Sprache und Regierungsstil eine ungewöhnliche Führungspersönlichkeit, die so gar nicht zum Zeitgeist zu passen scheint. Während gerade weltweit autoritäres „Leadership“ viel Zuspruch erfährt und Bürger nach kantiger Interessenvertretung rufen, macht Laschet keine Ansagen, sondern moderiert und gleicht aus. Er bricht immer wieder aus der abgezirkelten Formelrhetorik der Politik aus und redet einfach drauflos. Während andere wie sein bayerischer CSU-Amtskollege Markus Söder jedes öffentliche Wort und jede Geste einem höheren Ziel unterordnen können, leistet sich Laschet verlässlich Momente unprofessioneller Emotionalität und sprunghafter Spontaneität. Er ist keine Machtmaschine. Er ist anders als viele Machtmenschen um ihn herum. Laschet ist der Machtmenschliche, der schon nach oben und gestalten will, der aber warten kann, bis die Umstände bereit sind für einen wie ihn. Zu seinen Ambitionen auf den CDU-Vorsitz hat er lange schicksalsergeben gesagt: „Es kann sein, dass ich am Ende übrig bleibe.“

Laschet ist in seiner Politiker-Laufbahn der Junge vom Wahlkampfstand 1976 geblieben, der schon will, aber nicht so richtig. Bis zuletzt konnte man sich nicht sicher sein, ob er wirklich den CDU-Bundesvorsitz und das Kanzleramt anstrebt. Er hat seine Ambitionen stets hinter rheinischer Unverbindlichkeit verborgen. Als er im Februar 2020 auf der Karnevalsbühne beim Aachener Orden wider den tierischen Ernst steht, wirft er aus dem Narrenkäfig heraus die Frage auf, wer denn nun als Merkel-Nachfolger „Deutschlands next Mutti“ werden solle. „Armin, du musst es machen“, ruft der Saal. Laschet tut so, als müsse er die überraschende Zuneigung des Volkes mit rudernden Armen mühsam abwehren. „Nein, nein, nein, nicht. Ich? Quatsch!“, sagt er. Er liest es vom Teleprompter an der hinteren Saalwand ab. Es ist ein kalkuliertes, ironisch gebrochenes Spiel mit der Macht. Selbst als zwei Tage später die von eigenen Fehlern und Wahlniederlagen zermürbte CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer ihren Rückzug ankündigt und damit aus Spaß plötzlich Ernst wird, greift Laschet nicht entschlossen zu. Er wartet ab, sondiert, will eine „Teamlösung“ ohne Kampfkandidaturen. Man weiß nicht recht, ob er die Partei aus eigenem Karriereehrgeiz führen will oder sich bloß um ihrer Einigkeit willen zu opfern bereit wäre. Der langjährige Merkel-Intimfeind Friedrich Merz drohe die CDU zu spalten und müsse deshalb verhindert werden, gibt Laschet sorgenvoll im kleinen Kreis zu verstehen. Spricht da jemand, der unbedingt will? Oder eher jemand, der nolens volens muss?

Es ist ein spannendes Politik-Experiment: Kann jemandem wie Armin Laschet, der diese freundliche Normalität ausstrahlt, am Ende ein Amt zufallen, dem andere ihr gesamtes Leben untergeordnet haben? Lässt sich ohne unerbittliche Härte gegen sich und andere das Gipfelkreuz der politischen Achttausender erklimmen? Hat er das Format für die Bundesebene? Laschet wäre der erste Kanzler, der sich nicht fürs höchste Regierungsamt uniformiert hat. Er redet, denkt, wirkt und lebt heute noch fast genauso wie beim Parteieintritt 1979. Laschet hat sich nie einen professionellen Panzer zugelegt oder ein politisches Ich abgespalten. Kann in den höchsten Sphären der Bundespolitik, mithin auf der weltpolitischen Bühne, wirklich gut gehen, was auf Landesebene vielleicht noch einen gewissen Charme besitzt? Selbst Merkel ließ irgendwann den Stylisten kommen, trug nur noch Hosenanzüge und verbannte ihr witziges Naturell in vertraulichste Runden. Sie perfektionierte eine formelhafte Sprache und zügelte ihre Gestik in der Merkel-Raute.

Wie würde jemand wie Armin Laschet die Bundes-CDU und die politische Kultur in Deutschland verändern? Wie arbeitet und führt er? Auch nach vielen Jahren der journalistischen Nahbeobachtung und zahlreichen persönlichen Gesprächen mit ihm lässt sich diese Frage nicht auf Anhieb beantworten. Man muss sich schon auf eine Spurensuche begeben, um seinen Charakter, Antrieb und Wertekosmos näher kennen zu lernen. Es ist eine Reise durch ein knapp 60-jähriges Leben. Jahre mit Siegen und bitteren Niederlagen, in denen Laschet vor allem eines lernt: dass Erfolg in der Politik kaum planbar ist. „Wer als Politiker keine Niederlagen erlebt, verglüht auch schnell“, hat Laschet mal gesagt. Er steht oft vor dem Aus und macht doch weiter. „Wir haben früher immer gesagt: In jeder Karriere sind 20 Prozent Sein, 30 Prozent Schein und 50 Prozent Schwein“, erinnert sich Laschets Jugendfreund Heribert Walz. Er ist einer von über 60 Menschen, die zu Gesprächen für dieses Buch bereit waren. Familienmitglieder, Freunde, Mitarbeiter, Wegbegleiter, aber auch Gegner und Konkurrenten haben die Türen zu ihren Erinnerungen, Einschätzungen, Privatarchiven und Wohnungen geöffnet. Sie erzählen mal offen und mal vertraulich von ihren Erlebnissen mit Laschet, steuern ihre persönliche Sicht bei und geben bisher unbekannte Einblicke in das Leben dieses Politikers. Auch Laschet selbst hat sich Zeit genommen, um Rückschau zu halten und sich zu erklären – obwohl Gegenwart und Zukunft ihm im Frühjahr 2020 alles abverlangen. Er muss in der Corona-Krise weitreichende Entscheidungen treffen und wird rund um die Uhr mit dem prüfenden Blick durch die Kanzler-Brille beobachtet. Die Wochen des Überlegens sind da schon lange vorbei: Laschet ist gesprungen, kandidiert für den Bundesvorsitz der Christlich Demokratischen Union Deutschlands. Der Partei, die auf Bundesebene länger in Regierungsverantwortung ist als jede andere deutsche Partei seit Gründung der Bundesrepublik. Die fünf der bisherigen acht Bundeskanzler stellte – und in die Laschet selbst eigentlich nie eintreten wollte.

Der „Öcher“

Herkunft und Heimat

Die letzten Takte der Musikkapelle klingen noch über das Rund des Elisenbrunnens. Es ist ein Samstagvormittag im Februar 2020 in der Aachener Innenstadt. Einige hundert Menschen drängen sich in die offene Wandelhalle des klassizistischen Baus aus dem Jahre 1823. Das sogenannte Bad in der Menge des designierten Ordensritters gehört zu den festen Ritualen beim Orden wider den tierischen Ernst. Es ist sonnig, aber kalt – und der Blick auf die kleine Bühne fällt mitunter schwer. Der Rundbau mit seinen mächtigen Säulen verstellt manchem die Sicht, die vielen gereckten Arme der Handyfoto-Jäger tun ihr übriges.

Seit 70 Jahren erhalten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gegen Ende der Karnevalszeit diesen Orden. Er gehört zu den drei Veranstaltungen, die Aachen Jahr für Jahr überregionale Schlagzeilen verschaffen. Neben dem traditionsreichen Internationalen Karlspreis zu Aachen, der an Persönlichkeiten verliehen wird, die sich um Europa und die europäische Einigung verdient gemacht haben, und dem weltweit beachteten Pferdeturnier CHIO. Beim Orden wider den tierischen Ernst werden nur Menschen ausgezeichnet, die laut Satzung des Aachener Karnevalsvereins (AKV) „Individualität, Beliebtheit und Mutterwitz in sich vereinen, vor allem aber Humor und Menschlichkeit im Amt bewiesen haben“. An diesem Samstagmorgen hat die Prominenz bereits Aufstellung bezogen: Auma Obama, die Halbschwester des ehemaligen US-Präsident Barack Obama, winkt von der Bühne. Neben ihr Ordensritter Philipp zu Guttenberg, der den Preis einst in Vertretung seines Bruders Karl-Theodor annehmen musste und nun längst selbst zum Inventar beim AKV gehört. Dazu die Tollitäten des Karnevals mit Prinz Martin I. an der Spitze.

Der AKV hat die Zahl der akkreditierten Journalisten in diesem Jahr angeblich begrenzen müssen, da das mediale Interesse zu überwältigend gewesen sei. Doch jetzt am Vormittag ist noch kaum ein Berichterstatter zu sehen. Das Bad in der Menge ist etwas für Eingeweihte und die Aachener, die ihren neuen Ordensritter kennenlernen sollen. Während die Prominenz am Abend in feinen Roben zur offiziellen Preisverleihung und Fernsehübertragung in den Aachener Eurogress kommt, ist hier der – kostenfreie – Termin für das Volk. Das wissen auch die beiden Moderatoren am Elisenbrunnen. Sie heizen der Menge ortsüblich-karnevalesk ein. „Oche – Alaaf“, schallt es durch das weite Rund. Der Mann, um den es an diesem Tag gehen soll, ist nicht auf Anhieb zu entdecken: Nur 1,72 Meter groß, in einen unscheinbaren schwarzen Lodenmantel gehüllt, mit weißem Hemdkragen und dezent randloser Brille, fällt Armin Laschet auf der Bühne fast gar nicht auf. Der Moderator bittet noch eben den großgewachsenen Oberbürgermeister nach oben. „Mit dem wollen wir auch noch sprechen“, krächzt es durch die Mikrofon-Anlage, „aber das erste Wort gehört selbstverständlich dem designierten Ordensritter 2020.“ Er macht eine kurze Pause: „Leute, das ist einer von uns.“ Jubel brandet auf, der Moderator ruft: „Heimspiel, Aachen-Burtscheid, Armin Laschet.“

Der Angesprochene grinst verschmitzt, geht einen Schritt nach vorne. Es wird heftig geklatscht. Schon beim Weg zur Bühne hat Laschet einen ersten warmen Applaus entfacht, als er den kleinen Finger der rechten Hand in den Himmel reckt. Die Geste kennen Einheimische als Klenkes. Das Erkennungszeichen der Aachener und der Gruß untereinander. Als die Stadt noch für ihre Tuchindustrie und Nadelfabriken bekannt war, mussten die oft noch kindlichen Arbeiter mit dem kleinen Finger der rechten Hand fehlerhafte Nadeln aussortieren. Dieses Ausklinken am Band führte damals bei vielen zu Fehlstellungen und Verwachsungen des kleinen Fingers. Irgendwann können sich Aachener schon aus der Ferne und ohne Worte am missgebildeten kleinen Finger erkennen. Die Tuch-Industrie verschwindet irgendwann, doch der Klenkes bleibt. Sei es im Ski-Urlaub, beim Wochenend-Trip oder auf einer Autobahn-Fahrt – der gereckte kleine Finger der rechten Hand gibt den echten Aachener zu erkennen. Dass Laschet die Geste ausgerechnet jetzt wählt, ist wohl nicht ohne Hintersinn: Er ist der erste gebürtige Aachener in der Geschichte des Ordens, der diese Auszeichnung erhält. „Ein waschechter Öcher mit Liebe zum Karneval“, heißt es in der Pressemitteilung des AKV. Dessen Präsident Werner Pfeil, ein Landtagsabgeordneter der FDP, betont die historische Dimension der Verleihung: „70 Jahre Orden wider den tierischen Ernst sind genau der richtige Anlass, erstmals einen Ritter aus Aachen auszuzeichnen.“ Stolz verkündet er: „Niemand verkörpert die Kriterien für die Ritterwürde – Humor und Menschlichkeit im Amt – besser als unser Landesvater.“

Laschet wirkt in diesem Moment ganz bei sich. Er war Bundestagsabgeordneter, Europa-Parlamentarier, der erste Integrationsminister Deutschlands. Er regiert seit zweieinhalb Jahren als Ministerpräsident das bevölkerungsreichste Bundesland. Er ist stellvertretender Bundesvorsitzender der Regierungspartei CDU. Vor allem aber war und ist er: Öcher. So nennen sich die Aachener in ihrem Dialekt, diesem rheinischen Singsang, den auch Laschet spricht. Als bekennender Karnevalist leidet er keinen Mangel an jecken Auszeichnungen. Man hat ihm schon den Lachenden Amtsschimmel in Bonn verliehen und das Närrische Steckenpferd in Krefeld. Außerdem ist er Ehrensenator des Kölner Traditionskorps Ehrengarde. Als Ministerpräsident genießt er es, selbst Orden und Auszeichnungen fast inflationär zu verteilen. Doch diese Aachener Würden sind etwas Anderes, etwas ganz Besonderes. Orden wider den tierischen Ernst? „Das ist was für Bundesminister aufwärts“, raunt Laschet schon im Jahr 2004 fast ehrfürchtig einem Journalisten zu. Es steht da die Frage im Raum, wann denn er, der Öcher Europaabgeordnete, einmal zum Ordensritter ernannt werde. Damals wird der Bremer SPD-Bürgermeister Henning Scherf ausgezeichnet. 16 Jahre später ist endlich Laschet dran, der das Glück dieser Auszeichnung in seiner Ritterrede am Abend zu ironisieren versucht. „Deshalb ist der Öcher Narrenkäfig für mich als Öcher die Krönung“, ruft Laschet da, schon ein wenig heiser, der Festgesellschaft zu: „Das ist, wie wenn du an einem einzigen Tag morgens bei der Aachener Heiligtumsfahrt im Dom die Heiligtümer tragen darfst, nachmittags auf einem Pferd den Großen Preis von Aachen gewinnst und dann abends beim Abendspiel auf dem Tivoli unter Flutlicht in der neunzigsten Minute die Alemannia mit einem Freistoß gegen Bayern München in die Champions League schießen kannst.“

Die Liste der Preisträger ist eine illustre: Adenauer ist darunter. Helmut Schmidt noch als Verteidigungsminister. Prägende Politiker wie Franz Josef Strauß, Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher, Heiner Geißler, Theo Waigel und Norbert Blüm. Laschets Vorgänger im Amt des Ministerpräsidenten, Johannes Rau und Jürgen Rüttgers, wurden ebenfalls zu Ordensrittern geschlagen. Sein parteiinterner Konkurrent Friedrich Merz schon vor 15 Jahren. Seine Noch-Parteivorsitzende Kramp-Karrenbauer gehört auch in diese Runde. Sogar sein bayerischer Amtskollege Söder, der mögliche Rivale um die Kanzlerkandidatur der Union. Namhafte Persönlichkeiten, die die Republik prägten und noch prägen. Doch für keine von ihnen waren die Aachener Ordens-Feierlichkeiten eine solche Reise in die eigene Vergangenheit wie für Armin Laschet. Bereits beim traditionellen Gang vom Rathaus zum Elisenbrunnen scheint Laschet an diesem Samstagmorgen bewusst zu sein, dass dies auch ein Streifzug durch sein Leben wird. Fast andächtig schreitet er da inmitten der Karnevalisten durch die Aachener Innenstadt, passiert den mächtigen Aachener Dom, in dem er einst als Messdiener gedient hat und der für ihn bis heute ein wichtiger Bezugspunkt ist. „Der Aachener Dom ist für mich der Ort, an dem ich immer wieder zur Ruhe komme“, sagt Laschet oft. Er nennt ihn seinen „Öcher Lieblingsplatz“, einen Ort, „wo ich Zeit finde, über die wirklich wichtigen Fragen nachzudenken“.

Daran ist nun aber nicht zu denken: Die Karnevalisten marschieren voran, vereinzelt winken Menschen aus den Geschäften. Laschet hebt ebenfalls freudig die Hand, es sieht so aus, als genieße er solche Augenblicke. Insbesondere das Bad in der Menge mit der traditionellen Trinkprobe am Elisenbrunnen ist für Laschet an diesem Vormittag ein Eintauchen in die eigene Kindheit. „Es gibt eine Hürde, die es zu nehmen gilt, das gilt für jeden designierten Ordensritter, der den Weg zum Bad in der Menge hier in der Redoute gefunden hat“, ruft einer der Moderatoren ins Mikrofon, „und das gilt selbstverständlich auch für jemanden, der das heilige Wasser hier im Elisenbrunnen, das so wohlschmeckend ist, bereits kennt, weil er hier aufgewachsen ist.“

Der Elisenbrunnen ist nicht nur ein zentraler Ort der Stadt, sondern mit seinem Wasser aus der Kaiserquelle das Wahrzeichen der Kur- und Badestadt Aachen. Das weiß Laschet natürlich. Seine Großmutter habe früher immer das warme Wasser der Kaiserquelle geholt, um es zu trinken, den Rücken damit einzubalsamieren, die Füße darin zu baden, erzählt er auf der Bühne: „Die hat geglaubt, das sei Wunderwasser.“ Das schwefelhaltige Wasser verströmt den Geruch von faulen Eiern. Die Trinkprobe rückt näher. Vor dem Ministerpräsidenten stehen jetzt vier Plastikbecher. Die Moderatoren wollen den waschechten Öcher auf die Probe stellen. „Deswegen haben wir die Aufgabe erschwert“, rufen sie mit rhetorischem Trommelwirbel, „es gibt hier in einem dieser Becher Burtscheider Kanalwasser, die anderen drei sind mit Wasser aus der Aachener Redoute.“ Die Zuschauer johlen. Laschet lässt sich nichts anmerken. Er trinkt einen der Becher in einem Zug aus, dreht ihn anschließend mit ausgestrecktem Arm um. Leer. Die Menge jubelt. Laschet grinst.

Abgesehen von der Note des Schwefelwassers aus dem Brunnen ist es ein Tag ganz nach Laschets Geschmack. Er ist in der Heimat – und doch bundesweit gefragt und beachtet. Als er am Morgen zum Startschuss all der Ritter-Feierlichkeiten leicht verspätet bei einem Empfang im Rathaus eintrifft, scherzt er mit den Karnevalisten, hält eine kurze Rede, geht schließlich vor dem Kinderprinzen in die Knie und lässt sich einen Orden umhängen. Nur etwa eine Viertelstunde dauert diese Zeremonie, danach noch ein paar kurze Radio-Interviews, bevor Laschet mal wieder telefonieren muss. Im CDU-Präsidium herrscht Alarm-Stimmung. Politisch sind es angespannte Zeiten. In Thüringen hat die Wahl des FDP-Manns Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten mit den Stimmen der AfD bundesweites Entsetzen hervorgerufen. Auch in der CDU geht es jetzt um Schadensbegrenzung. Wie lässt sich verhindern, dass die Partei nach rechts ausfranst?

Noch weiß Laschet nicht, dass es diese Tage sind, die ihm den Weg an die Parteispitze ebnen könnten. Dass am Abend seine fulminante, selbstironische Bewerbungsrede als Ordensritter („Ist Deutschland schon bereit für eine männliche Kanzlerin?“), für deren Vorbereitung er sich extra ein ganzes Wochenende frei genommen hat, überall gut ankommt. Dass die Ausstrahlung der Ordensverleihung in der ARD am darauffolgenden Montag starke Quoten liefern wird, obwohl die überraschende Rücktrittsankündigung von CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer den Sendebeginn ins Spätprogramm verschiebt.

Laschet steht vor der Tür des Ratssaals und sucht ein ruhiges Plätzchen für ein paar schnelle Gespräche. Hier hat vor mehr als 30 Jahren seine politische Karriere als Ratsherr begonnen. Er schaut nach rechts, dreht sich um. Die Pförtner öffnen ihm schließlich die Tür zu einem Nebenraum, gegenüber liegt das Büro des Oberbürgermeisters. Laschet hat einen Moment für sich und die neuesten Katastrophenmeldungen aus der CDU, während draußen die Karnevalisten warten.

Aachen, die Kaiserstadt im Drei-Länder-Eck zwischen Deutschland, Belgien und den Niederlanden, ist für Laschet mehr als nur sein Geburtsort: „Das ist für mich Heimat, Abendland, Europa.“ Bis heute. Ein Ort, der ihn formt: die europäische Ausrichtung, die katholische Prägung, die Jahrtausende alte Geschichte der Stadt. Am 18. Februar 1961 kommt Laschet im Marienhospital in Aachen-Burtscheid zur Welt. Die Familie lebt damals in der Aachener Soers, einem ländlichen Ausläufer der Stadt. Zwei Jahre später ziehen die Laschets nach Burtscheid. Armin besucht dort den Clara-Fey-Kindergarten, der auf historischem Klostergelände gelegen ist und später Neubauten weichen muss. Direkt daneben liegt seine katholische Grundschule Michaelsberg, ein mächtiges altes Schulhaus im Schatten der Kirche. Laschets Vater wird nach Armins Schulzeit dort Rektor. Anschließend geht es zum Rhein-Maas-Gymnasium und bis zum Abitur schließlich aufs Bischöfliche Pius-Gymnasium.

„Als Ministerpräsident hat man nie gänzlich Ruhe – das ist auch in Ordnung, denn die Arbeit bereitet mir viel Spaß“, wird Laschet einmal in einem Aachener Stadtmagazin zitiert, „aber in Burtscheid zu sein ist für mich Nachhausekommen.“ Auch als Regierungschef lässt er sich regelmäßig spät in der Nacht die knapp 80 Kilometer aus Düsseldorf heimfahren, obwohl er am nächsten Morgen wieder früh los muss. Die Verbundenheit zu Aachen im Allgemeinen und zu seinem Stadtteil Burtscheid im Besonderen ist tief. An Laschets Ritterspange, die er als AKV-Ordensträger erhält, ist eigens das Burtscheider Abtei-Tor eingearbeitet, ein Wahrzeichen des Ortes.

Die Menschen aus dem Stadtteil im Aachener Süden pflegen ihre eigene Identität. „Die Burtscheider fühlen sich bis heute eigenständig“, sagt Harald Baal und lacht, „dabei sind sie seit über 100 Jahren eingemeindet.“ Seit 1897 gehört Burtscheid zu Aachen. Baal, langjähriger politischer Wegbegleiter Laschets, sitzt in einem Hinterzimmer des Kapellchens, einer Kneipe inmitten von Burtscheid. An jedem ersten Dienstag im Monat trifft sich hier zwischen holzvertäfelten Wänden und hinter Bier-, Wein- und Wassergläsern der CDU-Stadtbezirksverband Burtscheid. Neben Baal sind zehn weitere Mitglieder gekommen, unter anderem die Vorsitzende der örtlichen Jungen Union, die Bezirksbürgermeisterin, die einst in Laschets Vorzimmer im Landtag arbeitete, und ein ehemaliger Mitschüler vom Pius-Gymnasium. In Burtscheid, so heißt es schnell, kennt wirklich jeder jeden. Und „den Armin“ kennen sie hier alle. Schnell fliegen die Anekdoten durch das Kapellchen. Wie Laschet einst einen Betriebsausflug der Landtagsfraktion ins Aachener Umland organisierte und dort die beste Pommesbude kannte. Dass „der Armin“ nach all den Jahren, die er bei nächtlichen Fahrten im Dienstwagen verbracht hat, inzwischen ohne Navigationsgerät alle Autobahnraststätten mit McDonalds-Filialen verorten könne („Das ist meistens das letzte Lokal, was dann noch auf hat“). Viele sehen den Ministerpräsidenten häufiger am Wochenende im Getränkemarkt, wenn er „immer noch persönlich das Leergut wegbringt und dann das Gefühl hat, er habe den Haushalt aufgeräumt“. Gelächter am Tisch. Dienstags ins Kapellchen schafft Laschet es schon länger nicht mehr. Doch ihn würde immer noch interessieren, was in der Stadt vorgeht, versichert die Runde. „Er ist so normal, so bodenständig geblieben“, lautet der Tenor des Abends: „Armin ist mit Leib und Seele Aachener.“

Knapp hundert Meter vom Kapellchen entfernt findet jeden Freitag von 7 bis 13 Uhr der Wochenmarkt in Burtscheid statt. Laschets Ehefrau Susanne ist hier Stammgast, kommt mit dem Wägelchen, hält oft einen Plausch. Hinter dem langgezogenen Platz mit Bushaltestelle liegt der Eingang zu einer kleinen Einkaufsstraße. Dort dreht auch Laschet selbst samstags oft seine Runde, meist mit einem kleinen quietschblauen Elektro-Auto, einem e.Go aus Aachener Start-Up-Fertigung. Er bringt Leergut weg oder kauft bei Edeka ein. Am Ende der Einkaufsstraße thront auf einer leichten Anhöhe das Burtscheider Abtei-Tor. Vor dieser Kulisse stellt sich der Ministerpräsident auch regelmäßig aufs Kopfsteinpflaster, wenn er abends oder am Wochenende zu Hause ist und zu Fernseh-Interviews live zugeschaltet werden soll.

Einige Meter weiter findet man die Taverne Lakis, ein griechisches Restaurant. Das weiße Lokalschild ist nachts beleuchtet. Laschet ist hier Stammgast. Der Gyros-Teller mit Salat kostet sieben Euro. Oft Sonntagsabends vor dem Tatort holt Laschet hier Essen. Bisweilen sieht man den Ministerpräsidenten sogar drei Mal die Woche in der Taverne Lakis. Besitzer Joannis Bitzakis, der den Laden seit knapp 30 Jahren führt, schimpft zwar viel über die Politik, Laschet aber mag er. „Der ist lustig“, sagt er, „macht Spaß.“ Laschet gehe auf die Leute zu, lobt auch die Frau des Wirts aus dem Hintergrund. Immer, so Bitzakis, wenn Laschet in Aachen sei, komme er vorbei. An die Wand des Restaurants hat es der NRW-Regierungschef trotz der Treue zu dem Laden aber noch nicht geschafft. Früher hing hier lange ein Foto des FDP-Politikers und ehemaligen Bundeswirtschaftsministers Jürgen W. Möllemann, der mal Gast in der Taverne Lakis gewesen sein muss. Eine Hinterlassenschaft des Vorbesitzers. Sie könnten doch auch mal ein gemeinsames Bild machen, hat Stammgast Laschet schon vor Jahren Bitzakis vorgeschlagen. Doch der Wirt wollte damals nicht. „Das ist noch zu früh. Sie sind außerhalb Aachens sowieso unbekannt“, habe er recht uncharmant geantwortet. Das erzählt Bitzakis grinsend hinter seiner Glastheke. „Wenn Leute aus Köln oder Umgebung kommen, dann fragen die mich: Wer ist das?“, habe er seinerzeit Laschet gefoppt. „Wenn du Bundeskanzler bist, dann machen wir ein Foto.“ Nun liegt Stolz in der Stimme des Griechen. Und Hoffnung.

Von der Glastheke in der Taverne Lakis ist Laschet in ein paar Minuten zu Hause. Knapp drei Kilometer sind es, insgesamt vier Mal links abbiegen. Die Adresse der Laschets lässt sich noch immer im Internet finden. Das ist kein Zufall. Laschet erinnert sich daran, wie er als Jugendlicher davon beeindruckt war, die Anschrift und Telefonnummer des einstigen Außenministers Hans-Dietrich Genscher im Telefonbuch zu finden. „Am Kottenforst 16“ – er kann die Anschrift im Rhein-Sieg-Kreis auch Jahrzehnte später noch nennen. Damals hat der früh am Journalismus interessierte Laschet den Außenminister um einen Gastbeitrag für eine selbstproduzierte Zeitung gebeten. Als der Redaktionsschluss naht und der berühmte Autor noch immer nicht geliefert hat, greift der junge Laschet zum Hörer. Er ruft bei den Genschers zu Hause an. Vor dem Redaktionsschluss, so sein Credo, sind alle gleich. Genschers im Haus lebende Mutter ist am Telefon. Laschet redet länger auf sie ein und hinterlässt seine Bitte um den Beitrag. Wenige Tage später ruft er erneut an. Wieder kommt es zu einem netten Gespräch mit Mutter Genscher. „Ja, ich sage es dem Hans-Dietrich“, versichert die Dame erneut. Kurze Zeit später erhält Laschet eine Nachricht aus dem Auswärtigen Amt: Man werde den Beitrag für diese Zeitung liefern, bitte aber höflichst davon abzusehen, weitere Privatanrufe bei Mutter Genscher zu tätigen. Laschet ist das nie aus dem Kopf gegangen: Ein weitgereister Staatsmann wie Genscher bleibt ansprechbar und für jedermann sichtbar im Telefonbuch. So wolle er es auch halten, wo immer ihn die Politik eines Tages hinführen werde, sagt sich Laschet seinerzeit. Trotz gepanzerter Limousinen und Personenschutz versucht er bis heute, diese Nahbarkeit zu wahren.

Das unscheinbare Reihenmittelhaus der Laschets liegt in der hinteren Ecke einer verkehrsberuhigten Einbahnstraße, die einmal im Kreis durch eine kleine Siedlung führt. Alle Häuser gleichen einander: schmal, rötliche Klinker-Fassade, Garagenhof ums Eck. Es ist funktionale Architektur der 90er Jahre. Um die Burtscheider Altstadt haben sich seit den 60ern wie Jahresringe die Wohnsiedlungen verschiedener Dekaden gelegt. In attraktiver Hanglage zwischen Feldern und Stadt leben hier viele Familien. Als Mitte der 90er Jahre die belgischen Streitkräfte aus Aachen abziehen, werden ganz in der Nähe auch die begehrten Soldatenhäuschen frei. Laschet setzt sich ab 1994 als Bundestagsabgeordneter dafür ein, dass sie vorwiegend an kinderreiche Familien vergeben werden können.

Laschets Neubau wird 1992 fertig. Beim Ausschachten des Kellers stößt der Bagger auf Schutt aus dem Zweiten Weltkrieg. Die unerwartete Entsorgung kostet ein paar tausend D-Mark extra. Bei den Laschets führt eine graue Steintreppe zum Eingang, neben der ein paar Büsche wuchern. Über der Klingel prangt unübersehbar: L A S C H E T. Der Haustürbereich besteht aus weißem Holz und viel Glas. „Als sie gebaut haben, haben sie sich gefragt: Was kommt da für eine Füllung rein?“, erinnert sich Jugendfreund Heribert Walz. „Der Armin sagte dann: Wir machen da eine Glasfüllung rein. Dann ist das Haus hell und du siehst immer, wer vor der Tür steht.“ Seine Frau sei dagegen gewesen: „Das kannst du doch nicht machen, Armin“, habe Susanne Laschet gesagt, „wenn du da sonntagmorgens durch den Flur läufst und dir deinen Kaffee holst.“

Walz ist studierter Bau-Ingenieur und Geschäftsführer der ISM-Group. Die Abkürzung steht für Industrieservice Meisen, ein Unternehmen mit Sitz in Eschweiler nahe Aachen. Haupttätigkeitsfeld: Krananlagen, Torsysteme, Elektromotoren und Brandschutztore. Instandsetzung von Bestandsanlagen ist konjunkturunabhängig, die Zahlen stimmen. Walz ist ein freundlicher Mann mit weißgrauem Haarkranz, Schnauzer und neugierigen Augen, die durch eine schwarz umrandete Brille blicken. Er hat in einem alten Konferenz-Raum seines Unternehmens Platz genommen. Die Gründerväter schauen, in Öl gemalt, von den Wänden. Walz erzählt seit gut einer Stunde Geschichten aus der gemeinsamen Jugend mit Laschet. Die gläserne Haustür? Habe Laschet gegen die Bedenken seiner Frau durchgesetzt. Walz erinnert sich genau an dessen schlagendes Argument: „Wenn ein Fotograf das schafft, genau in dem Moment bei uns am Haus vorbeizukommen, wenn ich mir am Sonntagmorgen meinen Kaffee hole, dann hat er sich das auch verdient.“ Man muss auch „jönne könne“, heißt es im Rheinland. Für Walz ist jedenfalls klar: „Die Frage mit dem Fenster war ein typischer Armin.“ Mittlerweile sei dort zwar schusssicheres Milchglas eingebaut worden. Die Polizei müsse für die Sicherheit des Ministerpräsidenten in dem Viertel öfter Streife fahren. Sogar die Versicherungsbeiträge sind dadurch gesunken. Was sich aber laut Walz in all den Jahrzehnten nicht geändert habe: „Das ist noch immer ein offenes Haus.“ Die Rollläden seien immer oben. Wenn Walz früher zum Schwimmen fuhr, hat er Susanne Laschet regelmäßig am Herd stehen sehen.

Es gibt wenige Menschen, die Laschets privates Wohnumfeld besser kennen als Walz. Er hat schon mitgeholfen, sein Burtscheider Elternhaus zu bauen. Dorthin sind die Laschets 1976 aus ihrer vorherigen Wohnung im Forsterweg umgezogen. Als die Eltern noch nicht das Eigenheim besitzen, muss sich Laschet mit zwei Brüdern ein Dachzimmer teilen. Die Schlafbereiche der Jungen sind notdürftig durch gelbe Plastik-Vorhänge abgetrennt. Walz hat auch bei Laschets heutigem Reihenmittelhaus Hand angelegt. Vieles haben sie damals in Eigenleistung geschafft. Walz weiß noch, wie er mit Familie Laschet Holzbalken nach oben gewuchtet hat und man zwischenzeitlich Sorge haben musste, dass Armin ihnen aus dem Dachstuhl entgegenkommt. Oder das Fliesenlegen: „Ich habe das immer gerne gemacht“, erzählt Walz, „der Armin hat dann zwar immer versucht zu helfen, das war aber immer …“ Wie oft an diesem Vormittag im Konferenzraum bei Walz strandet die Geschichte in einem lauten Lachen. Laschet als Handwerker? Der weiße Schnäuzer wackelt: „Die Falten in der Tapete im Treppenhaus sehen Sie noch heute.“ Walz ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, der gerade zum dritten Mal ein neues Eigenheim gebaut hat. Es geht immer noch größer und schöner. Seine Frau sei zwar mit den Nerven am Ende, aber ihm, dem Bauingenieur, mache das eben Spaß. „Der Armin hält mich für bekloppt“, sagt Walz. Obwohl der Freund Landesminister und Ministerpräsident wurde, seit Jahrzehnten sehr ordentlich verdient und vielleicht irgendwann Kanzler werden kann, denkt er gar nicht daran, ein repräsentativeres Heim zu kaufen. „Armin reicht das so“, sagt Walz, „der fühlt sich wohl in seinem Einfamilienhaus.“ Alle drei Kinder seien dort aufgewachsen. Laschets Vater wohnt weiterhin im Elternhaus um die Ecke und kommt regelmäßig zum Abendessen.

Vor allem Laschets Frau schätze die Nachbarschaft, sagt Walz. Als im Mai 2020 in der WDR-Sendung Kölner Treff die Moderatorin Bettina Böttinger einmal das Gespräch auf einen möglichen Wohnortwechsel nach Berlin lenkt, falls Armin Laschet in der Bundespolitik Karriere machen sollte, blockt Susanne Laschet in einem ihrer seltenen Talkshow-Auftritte direkt ab: „Ich würde auf jeden Fall in Aachen bleiben. Da ist mein Lebensmittelpunkt, da hab‘ ich ja auch meine Arbeit, da sind meine Freunde, da sind meine sozialen Kontakte.“ Aachen-Burtscheid ist nicht verhandelbar.

In diesen Burtscheider Straßen verbringen Walz und Laschet ihre Jugend. Sie lernen sich über die Pfarrei kennen. 13 oder 14 Jahre alt ist er da, erinnert sich Walz. Laschet ist zwei Jahre jünger. Obwohl sie auf unterschiedliche Schulen gehen, treffen die beiden sich jeden Morgen, fahren zusammen mit dem Rad. Nachmittags und abends treffen sie sich wieder: eben in der Pfarre, bei der Jugendarbeit, im Kirchenchor oder später bei der Jungen Union. Walz und Laschet – das ist eine dieser kostbaren Lebensfreundschaften. Auch ihre Kinder sind heute eng miteinander. Die Familien haben viele Urlaube zusammen verbracht. Im Sommer in Umbrien, Italien. Im Winter in Lenzerheide, Schweiz.

Die gemeinsamen Jahrzehnte bescheren ihnen Erlebnisse und Geschichten, die Rückschlüsse zulassen auf die Persönlichkeit des heutigen Ministerpräsidenten. Im Winterurlaub sei Laschet einmal mit Sommerreifen angereist, berichtet Walz, „das ging natürlich schief“. Laschets weißer BMW kam den Berg nicht hoch, der junge Familienvater musste improvisieren. „Da hat der die Koffer der Familie in ein Kinderbett gepackt und das schob er dann bis zur Ferienwohnung.“ Nicht hadern, sondern anpacken. Schlechte Planung mit Kreativität retten. Das ist Walz auch beim gemeinsamen Hausbau immer wieder aufgefallen: „Technisch war das nicht nachvollziehbar, aber zielführend war es schon.“ Scheint hier bereits der Politikstil des Armin Laschet auf?

Walz empfindet es jedenfalls als eine von Laschets großen Stärken, dass er schon in den Aachener Jugendjahren die Dinge in die Hand nehmen will und kann. Als Gruppenführer in den endlos langen Sommerfreizeiten der Pfarrgemeinde mit Völkerball und Fahnenklau, als Organisator von Fußball-Turnieren auf der Straße, als selbsternannter Trainer einer Fußball-Mädchen-Mannschaft oder eben im Karneval. Hier offenbart sich auch schon früh Laschets Bühnentalent: In der Schule organisiert und moderiert er die Karnevalssitzung am Fettendonnerstag (andernorts Weiberfastnacht), wie der Auftakt des Straßenkarnevals in Aachen heißt. Die Veranstaltung gilt als legendär und zieht Jugendliche aus der ganzen Stadt an. Der Andrang ist schon zu Laschets Zeiten groß und die Hauptsorge des Lehrerkollegiums lautet damals wie heute: Die Schüler sollen bitte nicht schon am Mittag betrunken sein.

„Da ist er mir zum ersten Mal aufgefallen“, erinnert sich Laschets ehemaliger Schulleiter am Pius-Gymnasium, Werner Knoch. Der promovierte Studienrat, der jahrzehntelang die Schule leitet, wirkt bis heute von der Moderationsleistung des Schülers Armin beeindruckt: „Die Veranstaltungen liefen zügig, rund und witzig. Und vor allem machte sich da seine große Schlagfertigkeit bezahlt.“

Bei der katholischen Jugend tritt Laschet zuerst als Büttenredner auf. Die Narretei ist ihm eben von klein auf eingeimpft worden. Schon in den 60er Jahren hat Laschet als Grundschüler eine genaue Vorstellung davon, wie er sich verkleiden will: als „Daktari“, was der Titel einer damals auch in Deutschland populären US-Serie über einen Tierarzt in Afrika ist. So sieht man Laschet im Burtscheider Kinderkarnevalszug mit Farmerhut und Gewehr. Auch später – als Politiker – wird er immer wieder kostümiert auf der Bühne stehen. Bei seiner umjubelten Rede im Narrenkäfig beim Orden wider den tierischen Ernst im Februar 2020 kann Laschet auf einen großen karnevalistischen Erfahrungsschatz zurückgreifen. Drei Ordens-Auftritte mit dem Grünen-Politiker Cem Özdemir liegen da schon hinter ihm. Im Bundestagswahlkampf 1998 steht er mit seiner damaligen Gegenkandidatin Ulla Schmidt (SPD) als „Nettchen und Nöll“ im Aachener Heimtheater Bühnenfreunde 1947 vor Publikum. Bei den närrischen Ratssitzungen Anfang der 90er Jahre im Aachener Rathaus ist er vorne dabei.

Frühe Möglichkeiten, sich darstellerisch auszuprobieren, bietet Laschet auch die Laienspielgruppe seiner Gemeinde St. Aposteln. Hier gewinnt er weitere Bühnensicherheit, etwa wenn er im Stück „Der Totentanz“ mit weiß geschminktem Gesicht als personifizierter Tod aus der Kulisse tritt. Die Aktivitäten des Ensembles bleiben auch der Aachener Volkszeitung nicht verborgen. Am 22. Januar 1980 erscheint eine Kritik über das Stück „Die Posaune von Jericho“, in der die Handlung so beschrieben wird: „Man stelle sich die kleine Redaktion einer jüdischen Tageszeitung, der Posaune von Jericho, vor: Neben dem Chefredakteur, der gleichzeitig als Verleger und Herausgeber fungiert, arbeiten hier ein greiser Gesetzeslehrer, eine ebenso nervöse wie naive Redakteurin der Frauenseite, ein Mini-Casanova als Sportredakteur und ein Wirtschaftsjournalist, der jeden Moment darauf wartet, endlich Vater zu werden. Es bedarf keiner allzu großen Fantasie, sich die Komplikationen auszumalen, die entstehen, wenn in diese ‚heile Welt‘ des jüdischen Tagesblättchens ausgerechnet zwei katholische Ordensschwestern als Hospitantinnen hineinplatzen …“ Das Urteil des Lokalblatts fällt positiv aus: „Wie gut es die Laiengruppe mit der Wahl dieses erfrischend heiteren Stückes getroffen hatte, bewies der langanhaltende Applaus, der sicher auch der hervorragenden schauspielerischen Leistung der Darsteller galt. Mimik, Gestik, Sprache und Spontanität, aber auch das Bühnenbild – alles wirkte in einem Maße echt, die ans Professionelle grenzte. Der geplagte Chef des Tagesblättchens, Preßburger, wurde dargestellt von Armin Laschet. Sein Bruder Remo glänzte mit langem Rauschebart in der Rolle des Mische Turteltaub. Unter den Hauben der beiden Nonnen verbargen sich Susanne und Brigitte Malangré, die besonders von dem schlaksigen Sportreporter David Blum alias Norbert Rollinger geärgert wurden.“

Die Laienspielgruppe der Gemeinde St. Aposteln versammelt bereits 1980 viele Menschen, die für Laschet extrem wichtig sind. Er steht mit seinem Bruder Remo und seiner späteren Frau Susanne Malangré auf der Bühne, geleitet wird das Ensemble von seiner Schwiegermutter in spe, Thesi Malangré. Man bekommt beiläufig einen guten Eindruck, in welch fürsorglich-forderndem katholischen Milieu Laschet aufwächst. Er bleibt nicht der Einzige, der von hier aus eine beachtliche Karriere startet. Der Sportreporter Rollinger aus dem Theaterstück etwa wird später Vorstandsvorsitzender der zweitgrößten deutschen Versicherung R+V. Remo Laschet macht seinen Weg als Rechtsanwalt und Hochschul-Professor. Autor der Laientheater-Kritik ist Karl Doemens, der später als Hauptstadtbüroleiter und USA-Korrespondent diverser Tageszeitungen zu den führenden Stimmen des Politik-Journalismus wird.

Überhaupt ist auffällig, wie viele Vertreter der Generation Laschet aus dem kleinen Burtscheid ihren Weg gehen. Susannes Schwester und damit Laschets Schwägerin, Nicole Malangré, wird Musical-Sängerin. Ihr Debüt gibt sie in „Die Fledermaus“, einer Operette ihres Ur-Ur-Großonkels Johann Strauss. Heute arbeitet sie als Gesangcoach und sorgt mitunter dafür, dass Aachener Karnevalsprinzen den richtigen Ton treffen. Burtscheid bringt Chefärzte, Investmentmanager oder Unternehmer wie Heribert Walz hervor. Bemerkenswert ist auch eine hohe Dichte an erfolgreichen Journalisten, die hier groß werden: Die beiden WDR-Moderatorinnen Angela Maas (Fernsehen) und Gisela Steinhauer (Hörfunk). Oder Anne Reidt, die später die Redaktion des ZDF-heute journals leitet, bevor sie zur Leiterin der ZDF-Hauptredaktion Kultur aufsteigt. Auch Daniel Goffart, einst Hauptstadt-Bevollmächtigter der Deutschen Telekom und dann Chefkorrespondent des Nachrichtenmagazins Focus, entstammt diesem Kosmos. Goffart, der später immer wieder über Laschets Karriere schreiben wird, besucht ebenfalls das Pius-Gymnasium. Er dient wie die Laschet-Brüder als Messdiener im Hohen Dom zu Aachen.

„Diese Förderung auch jenseits des normalen schulischen Angebots befeuert natürlich solche Biografien“, erinnert sich jemand, der die gleiche Sozialisation durchlaufen hat. Gemeint ist ein Zusammenspiel von Kirche, schulischen Einrichtungen und Familie. Dieses produktive Milieu wird viele Jugendliche zu Menschen formen, die später die Gesellschaft beeinflussen und prägen wollen. Laschet wächst zudem in einer Zeit auf, die es gut mit einem wie ihm meint: Das Schichtendenken erodiert immer stärker, Bildung wird zum Schlüssel für den Aufstieg. Im katholischen Burtscheid der 70er und 80er Jahre bildet sich den Erzählungen zufolge eine Art sozialer Imperativ aus, der viele Jugendliche mitzieht: Engagiert Euch! „Durch das Vorleben des Engagements wurde dies zur Normalität – und setzt sich dann einfach später fort“, erzählt ein Zeitzeuge. Familienkreise mit Debatten-Abenden, Theatergruppe, Sommer-Camps, Kirchenchor, Literatur-Abende, Sternsinger-Aktionen. Da wird auch schon einmal ein Zug gemietet, um mit vielen Familien eine Reise nach Rom zu machen. Oder eine Tour nach Israel. Das Angebot ist riesig. Denn: „Es gehörte einfach zum guten Ton, mitzumachen, sich auch ehrenamtlich zu engagieren.“

Laschets Eltern und Schwiegereltern leben gleichermaßen diese Bereitschaft, sich einzubringen. Die katholische Kirche entwickelt in Burtscheid eine soziale Bindekraft über Herkunftsgrenzen hinweg, wie es heute kaum noch irgendwo möglich erscheint. Laschets Vater Heinz, der vom Steiger umlernt und schließlich Schulrektor wird, engagiert sich in der Gemeinde. Ebenso seine Mutter Marcella, die als gute Seele des Viertels gilt und regelmäßig Töpfer-Kurse anbietet. Nicht nur Laschets spätere Schwiegermutter engagiert sich in der Theatergruppe. Auch Susannes Vater Heinz Malangré, ein vielbeschäftigter Unternehmer und Präsident der Industrie- und Handelskammer (IHK) Aachen, ringt sich einige Stunden Freizeit für die Gemeinde ab. Er dirigiert den Kirchenchor. „Jeden Freitagnachmittag kam er auf den letzten Drücker in die Gemeinde gehetzt, die Notenblätter noch unter dem Arm“, erinnert sich Laschets Bruder Remo bewundernd, fast ehrfürchtig an diese Zeit. Denn Malangré steht damals mitten im Berufsleben, ist in der Geschäftsführung eines großen Konzerns. Doch der Dienst am Gemeindeleben darf nicht zurückstehen: „Der Kirchenchor und die Arbeit mit uns Kindern waren ihm wichtig.“

Diese besondere Prägung führt auch bei Armin Laschet und seinen Altersgenossen zu bemerkenswerten Initiativen. So etwa zur Gründung der 10-Prozent-Gruppe. Das Prinzip: Jeder opfert zehn Prozent seines Taschengeldes für soziale Zwecke. Laschet ist dabei, sein Bruder Remo ebenfalls und auch Heribert Walz. Gemeinsam verkaufen die Jugendlichen Printen in der Fußgängerzone, fahren die Ware vom Bäcker aus oder sammeln Altpapier und bringen es weg: 50 D-Mark gibt es für eine Tonne. Später leihen sie sich dafür an Samstagen einen Lkw. Oder sie erfinden ein lokales Talkshow-Format und schaffen es, dass Prominenz nach Aachen-Burtscheid kommt: Der österreichische Volksheld Anton „Toni“ Sailer ist darunter. Zu dem 2009 verstorbenen Skirennläufer, Schauspieler und Sänger hat einer der Mitstreiter verwandtschaftliche Beziehungen, die der umtriebige Laschet natürlich nutzt. Neben Sailer sitzen die SPD-Politikerin Annemarie Renger, von 1972 bis 1976 die erste Frau als Bundestagspräsidentin, und Bruno Duchamps, damals Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, auf der Burtscheider Bühne. Laschet moderiert. Allein der Talkshow-Abend im übervollen Pfarrsaal erlöst 3500 D-Mark, die als Hilfszahlungen nach Polen gehen. „Ich finde das, was ihr macht, gewaltig“, lobt Sailer die jungen Leute um Laschet. Der Star aus Kitzbühel akzeptiert als Gage eine selbstgebastelte Puppe.

Noch heute schwärmt Pfarrer Heribert August vom Einfallsreichtum der damaligen Gemeindejugend und ihrem großen sozialen Herzen. „Armin hat klare Prinzipien und an die hält er sich“, sagt er. Der Geistliche ist der Familie Laschet seit Jahrzehnten als Pfarrer der Gemeinde St. Aposteln verbunden. Heribert August hat Armin und Susanne getraut, später ihre drei Kinder getauft und geht heute im Ruhestand zusammen mit Laschets Vater zur Wassergymnastik.

Das Aufwachsen im katholischen Burtscheid bietet Armin Laschet eine Fülle an Anregungen, Mentoren und Vorbildern. Als Glücksfall erweist sich zudem seine eher mittelmäßige Schullaufbahn. Laschet bleibt in der zehnten Klasse auf dem technisch geprägten städtischen Rhein-Maas-Gymnasium sitzen. Er kann nicht einfach wiederholen, denn er hat neben Englisch und Latein erst als dritte Fremdsprache Französisch gelernt. Im Jahrgang unter ihm gibt es jedoch nur eine Klasse, die bilingual-französisch unterrichtet wird. Da kann er unmöglich mithalten. Laschet muss die Schule wechseln. Er geht zum Bischöflichen Pius-Gymnasium, das bereits sein Bruder Remo besucht. „Das war schon dramatisch“, erinnert sich Laschet an den Schulwechsel. Doch er kommt „am Pius“ überraschend gut zurecht. „Dabei galt das Pius-Gymnasium eigentlich als das schwere“, sagt er. Später wählt er dort die Leistungskurse Englisch und Geschichte. Die Trennung von den alten Klassenkameraden verwindet er schnell, denn auch auf dem Bischöflichen Gymnasium kennt Laschet viele Kinder. Aus der Freizeit, dem Viertel oder durch die Kirche. Die Welt in Aachen ist klein.

Am Pius-Gymnasium unterrichtet ein junger Religionslehrer: der heute emeritierte Domkustos und Domkapitular Hans-Günther Vienken, der seinerzeit zugleich Domvikar ist. Er gewinnt damals viele Schüler als Messdiener für den Hohen Dom zu Aachen. Laschet schließt sich diesem Kreis an und bleibt bis zum Studium dabei. „Das war eine sehr nette Gemeinschaft“, erinnert sich Laschets Bruder Remo. Im direkten Umfeld des Bischofs Klaus Hemmerle, der die Gruppe mag, ergeben sich immer wieder neue Möglichkeiten: Gesprächskreise, gemeinsame Fahrten, viele Erlebnisse.

Ohnehin gilt das Pius-Gymnasium als etwas Besonderes. Vom Erzbistum getragen, wird die Schule 1956 als Aufbau-Gymnasium gegründet, das in den 70er Jahren ein neues Schulgebäude bekommt. Diese Bildungseinrichtung ist mit einem modernen Sportplatz ausgestattet und beschäftigt viele junge, engagierte Lehrer. Man verteidigt hier einen klassischen Bildungskanon, bietet den Schülern aber zugleich zahlreiche kreative Entfaltungsmöglichkeiten. So reifen in diesem Umfeld auffallend viele Persönlichkeiten heran, die in Aachen einen Namen haben. Schon Laschets Pfarrer August ist der erste Schülersprecher des Pius-Gymnasiums. Auch seine Brüder machen hier ihr Abitur, ebenso Rollinger und Goffart. Der langjährige SPD-Politiker und Landtagsabgeordnete Karl Schultheis ist Pius-Schüler und auch Marcel Philipp, von 2008 bis 2020 CDU-Oberbürgermeister der Stadt. „Wer etwas auf sich hielt“, heißt es damals, „der schickt sein Kind auf das Pius.“ Dies gilt lange nur für die Söhne der Stadt. Mädchen werden erst ab 1991 in die Klassen 5 und 11 aufgenommen.

Laschet fühlt sich auf dem Pius-Gymnasium sofort wohl und darf 1981 sogar die Abiturrede halten. An seinen zentralen Punkt der Ansprache kann er sich auch Jahrzehnte später noch erinnern: „Ich warb dafür, sie für Mädchen zu öffnen. Das ist inzwischen geschehen.“ Dass er als Pius-Quereinsteiger überhaupt bei der Abitur-Feier ans Rednerpult darf, überrascht nur auf den ersten Blick. „An offiziellen Anlässen hat er schon damals gerne geredet“, erinnert sich ein Mitschüler aus seinem Jahrgang. Laschet weiß aber, dass es nicht selbstverständlich ist, dass er im Namen des Jahrgangs sprechen durfte: „Ich glaube, dass da ein gewisses Grundvertrauen der anderen in mich da war.“

Auf dem Schulhof ist längst bekannt, dass Laschet in die Politik strebt. Für ein Jahr amtiert er als Kreisvorsitzender der Schüler-Union (SU) in Aachen. Sein Landesvorsitzender heißt Ronald Pofalla, der spätere Kanzleramtsminister und heutige Vorstand der Deutschen Bahn. Den SU-Bundesvorsitz hat zu diesem Zeitpunkt der spätere Bundespräsident Christian Wulff inne. Noch heute sind den Weggefährten diese Konstellationen aus ihren politischen Anfangstagen sehr präsent.

Politisiert wird die konservative Jugend vor allem durch ein Volksbegehren gegen die Kooperative Schule im Jahr 1978. Die sozialliberale Landesregierung in Düsseldorf will angesichts rückläufiger Kinderzahlen ein schulformübergreifendes Modell etablieren, das als Vorläufer der Gesamtschule gilt. Dagegen richtet sich das Bündnis „Stop Koop“, das die Massen in Nordrhein-Westfalen mobilisiert. Laschet geht mit auf die Straße, auch wenn er noch keinen politischen Posten hat.

Laschets früheste politische Erfahrung stammt aus dem Jahr 1972, da ist er elf Jahre alt: „Das gescheiterte Misstrauensvotum von Rainer Barzel, der Willy Brandt als Kanzler ablösen wollte.“ Am Fernseher verfolgt Armin den Bonner Krimi über Stunden mit seinen Eltern auf dem Sofa. Den vielleicht stärksten politischen Eindruck hinterlassen beim jungen Laschet die Streiks auf der Danziger Werft 1980. Auf einmal sieht der Aachener Schüler, der im Glauben an fest zementierte Machtblöcke in Ost und West aufwächst, im Fernsehen mutige Menschen jenseits des Eisernen Vorhangs, die für ihre Freiheit demonstrieren. Laschet hängt sich anschließend ein Solidarność-Plakat in sein Kinderzimmer. Über das Franz-Josef Strauß-Poster des jungen Markus Söder ist häufig geschrieben worden. Dass der jugendliche Laschet dagegen einer neu gegründeten polnischen Gewerkschaft huldigt, illustriert wohl sehr anschaulich den Unterschied dieser beiden Unionspolitiker.

Später als Politiker wird Laschet immer wieder die Rolle von Papst Johannes Paul II. in den polnischen Wendetagen betonen. Freiheit und Glaube, Selbstbestimmung und Humanität, das beschäftigt Laschet früh. Er erlebt kurz vor Beginn seiner Politiker-Laufbahn die Ohnmacht im Mai 1989, als in China auf dem Platz des Himmlischen Friedens Demonstranten von Panzern überrollt werden. In einer solchen Welt kommt es auf jeden Einzelnen an.

Obwohl Laschet früh die großen Fragen der Zeit bewegen und er erkennbar ein politisches Gen in sich trägt, geht ihm doch das oft Kauzige vieler Jungunionisten ab. Er entspricht nicht dem Bild des steifen Aktentaschenträgers im Sakko, der in den Pausen allein in der Schulhof-Ecke steht. „Also, gelacht hat er schon damals gerne“, erinnert sich ein ehemaliger Mitschüler vom Pius-Gymnasium. Er sieht Laschet heute vor allem im Fernsehen und findet: „Verändert hat er sich kaum.“

Eine große Kontinuität in der Persönlichkeit erkennt auch Jugendfreund Walz. Trotz der Ernsthaftigkeit, mit der er von Kindesbeinen an die Weltläufe verfolgt, trage Laschet noch immer diese Lebensfreude aus der Jugend in sich, findet er. „Er hat Spaß daran, sich kaputt zu lachen.“ Immer habe Laschet irgendeinen Blödsinn im Kopf gehabt: „Als Kinder haben wir vor eine Parkuhr getreten, so dass es richtig gescheppert hat. Dann hat der Armin sich gekrümmt wie ein Verletzter“, erzählt Walz, „aber in Wirklichkeit hat er sich gebogen vor Lachen, weil zwei ältere Damen so besorgt um ihn waren.“ Für Walz steht fest, dass dies ein Charakterzug ist: „Er wird immer – bei aller Ernsthaftigkeit bei seinem Job – so eine Art Lausbub bleiben, dieses verschmitzte Grinsen, der kann sich amüsieren wie Bolle.“ Deswegen, so Walz, passe es auch so gut, dass Laschet den Orden wider den tierischen Ernst bekommen habe: „Wenn den ein Aachener verdient hat, dann Armin.“ Auch Monsignore August, der Pfarrer der Heimatgemeinde St. Aposteln, ist bei der Ordens-Verleihung dabei. Er erinnert sich an Laschets Jugendjahre in Burtscheid: „Wenn es im Dorf irgendeinen Blödsinn gab, waren die Laschet-Brüder immer dabei.“ Wer nach Details fragt, erntet ein verschwiegenes, aber vielsagendes Lächeln.

Laschet selbst beschreibt sein Gemüt einmal in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit differenzierter: „Ich bin ein sehr humorvoller Mensch, aber kein Witze-Erzähler.“ Politische Anekdoten, Situationskomik im kleinen Kreis mit Journalisten, gehören bei ihm immer dazu. Seinen notorischen Optimismus selbst in misslicher Lage kann man bemerkenswert finden. Ob er eher dafür oder dagegen sei? Laschets Antwort: „Dafür. Immer.“

Diese lebensbejahende Grundhaltung verschafft ihm offenbar ein gelassenes Urvertrauen, das später den Berufspolitiker Laschet durch zahlreiche Niederlagen steuert. Stecken in einer politischen Karriere am Ende nicht wirklich „20 Prozent Sein, 30 Prozent Schein und 50 Prozent Schwein“, wie Walz einmal mit Laschet launig taxiert hat? Dass diese höchst private Rechnung ausgerechnet im Landtagswahlkampf 2017 öffentlich wird, passt Laschet gar nicht. Wie kann Freund Walz das einem Reporter erzählen? Eine Karriere, die größtenteils auf Blendwerk und Glück basiert? Richtig böse ist Laschet seinem Freund aber nicht. Bis heute streiten sich die beiden, von wem der Dreiklang „Sein/Schein/Schwein“ eigentlich stammt. Beide schreiben ihn jeweils dem anderen zu. Gesichert scheint nur: Sie halten die Karriere-Rechnung in der Politik für plausibel. Wobei Walz vor allem eines wichtig ist: „Es geht auch nicht um die Prozentzahlen.“ Er windet sich im Konferenz-Saal seines Unternehmens: „Wenn es 80 Prozent Sein, zehn Prozent Schein und zehn Prozent Schwein sind, dann stimmt das bei Armins Karriere auch.“

Aachen ist die große Konstante in Laschets Leben. Seine drei Brüder sind zwar unter gleichen Bedingungen in Burtscheid aufgewachsen, haben sich aber irgendwann ein neues Lebensumfeld gesucht. Zwei wohnen in Köln, einer in Willich am Niederrhein. Sie attestieren ihrem ältesten Bruder eine ganz besondere Nähe zur Geburtsstadt: „Das ist seine Heimat.“ Manche Weggefährten und Freunde erkennen in Laschets Liebe zur rheinischen Provinz sogar Parallelen zu Helmut Kohl. Obwohl der „Kanzler der Einheit“ Deutschlands Geschicke so lange lenkt wie kein anderer, lebt er lange mit dem Zerrbild des tumben Provinzlers. Seine pfälzisch-vernuschelte Sprache und die Vorliebe für Saumagen gelten vielen als Ausdruck behäbigen Spießertums. Dazu die Bewirtung von Staatsoberhäuptern im Deidesheimer Hof nahe seines Hauses in Oggersheim. Auch Laschet, der sich seine rheinische Ch-Schwäche nicht abtrainieren will, verströmt eher die Aura des Kleinbürgers, der „nie richtig rausgekommen“ ist. Man nimmt ihm ab, dass er sich wie ein Kind über einen Teller Pommes mit Mayo freuen kann. Er verleugnet seine Herkunft nicht, ist durchs katholische Milieu geformt und mit dem Aufwachsen in der Grenzregion zu einem Herzenseuropäer geworden. Für ihn ist die CDU wie bei Kohl immer auch Familje. Das alles macht ihn zwar noch nicht zu einem zweiten Pfälzer. Aber Laschet trägt mehr Bonner Republik in sich als die meisten anderen Spitzenkräfte der Union.

Er holt sich ungeniert die Welt nach Aachen. Schon als Schüler lädt Laschet 1979 den CDU-Landtagsfraktionschef Heinrich Köppler zu sich nach Hause ein. Als der überraschend zusagt, bittet Laschet seine Mutter: „Kannst du Schnittchen machen? Der Köppler kommt zu uns.“ Der Düsseldorfer Oppositionsführer und CDU-Spitzenkandidat für die Landtagswahl 1980 darf vor der Einkehr im Hause Laschet in der Aula der Hauptschule Franzstraße für das gegliederte Schulsystem werben. Der 18-jährige Gymnasiast Laschet hat mit der Schüler-Union dort einen Diskussionsabend unter dem Motto „Für eine bessere Hauptschule“ organisiert. Als Köppler ein halbes Jahr später überraschend an zwei Herzinfarkten stirbt, ist Laschet am 24. April 1980 zum großen Requiem im Kölner Dom eingeladen.

Als junger Bundestagskandidat schafft Laschet es, aus dem nahen Bonn hochkarätige Politiker wie die damalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth einzuladen. Und zum Abschluss seines Landtagswahlkampfes im Jahr 2017 besucht Bundeskanzlerin Angela Merkel dieses Burtscheid. Die Regierungschefin wird von Laschets Pfarrer August durch die Kirche St. Michael geführt. Während andere ihre Herkunft glamouröser machen wollen als sie ist, führt Laschet mit Stolz seine vertrauten Quadratkilometer Aachen-Burtscheid vor. „Er ist jetzt viel in Düsseldorf, oft in Berlin. Das sind andere Welten“, sagt Pfarrer August, „aber Laschet weiß bis heute, wo seine Wurzeln sind, und ich denke, dass ihm das, dieser Ort, das Umfeld, auch Kraft geben.“

Dieser Herkunftsstolz zeigt sich bei Laschet in allen Lebensstationen. Als Frank-Walter Steinmeier 2018 zu seinem Antrittsbesuch nach Nordrhein-Westfalen kommt, darf eine Tour durch den Aachener Dom nicht fehlen. Laschet lässt dafür extra bei Dompropst Manfred von Holtum nachfragen, ob dieser die Führung übernehmen könne. Sie wird dann aber zu einer Art Dialog-Veranstaltung. Immer wieder streut Laschet beim Gang durch das Kirchenschiff persönliche Erinnerungen aus seiner Messdiener-Zeit ein oder reicht Details nach. „Man hat schon gemerkt, dass da jemand ist, der sich intensiv mit dem Bauwerk beschäftigt hat“, sagt von Holtum.

Als Ursula von der Leyen 2019 als erste Deutsche seit über 50 Jahren zur Präsidentin der Europäischen Kommission gewählt wird, nutzt Laschet die Gunst der Stunde, um sie im Aachener Rathaus zu empfangen. Die passionierte Reiterin ist gerade zum CHIO in der Stadt. Laschet wird so einer der ersten offiziellen Gratulanten der neuen Kommissionspräsidentin. „Wo ich Aachen unterstützen kann, tue ich es“, sagt Laschet. Die Stadt profitiert von ihrem bekannten Sohn – nicht nur durch den Glanz von Politiker-Besuchen. Der Nominierungsparteitag der NRW-CDU für die erfolgreiche Landtagswahl 2017 findet ebenso im äußersten Westen der Republik statt wie das Adventskonzert der Landesregierung oder die Taufe eines ICE-Schnellzuges der Deutschen Bahn. Der Name: Euregio Maas-Rhein.