Herbsthimmel über der kleinen Ambulanz in Wales - Kate Rapp - E-Book

Herbsthimmel über der kleinen Ambulanz in Wales E-Book

Kate Rapp

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Beschreibung

Ein unterhaltsamer Feel-Good-Roman über Freundschaft und Familie, Mütter und Töchter vor der wildromantischen Kulisse des herbstlichen Wales. Für alle Leser:innen von Jenny Colgan und Julie Chaplin  »Das Leben fühlte sich richtig und gut an. Wie eine dicke, weiche Strickjacke, die sie sich nur schnell überwerfen wollte und die nun saß wie angegossen. Sie würde sie nie wieder ausziehen.«  Holly ist seit wenigen Wochen die neue Gemeindeschwester im beschaulichen Örtchen Telynport an der walisischen Küste, und vollauf damit beschäftigt, sich einzuarbeiten. Ihre alte Kollegin Claire ist schwer an Krebs erkrankt und Holly fürchtet um ihr Leben, Hollys kleines Cottage ist nach einem Sommersturm noch immer nicht bewohnbar und bei ihrer Freundin Lady Beringford wird eingebrochen. Holly unterstützt Lady Beringford und ihre Freundin Jane zusammen mit der Polizistin Anne Hô bei der Jagd auf die Einbrecher und stürzt sich zur Ablenkung in einen Flirt mit dem attraktiven Umweltschützer Oscar. Als eines Tages auch noch ihre Mutter vor der Tür steht, ist das Chaos komplett. 

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

© Kate Rapp 2022

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Prolog

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Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Prolog

Februar 1996

Er hatte den Drachen unter den Arm geklemmt und stapfte den schmalen Pfad Richtung Strand entlang. Der Wind schnitt ihm scharfe Wunden ins Gesicht, die sich sofort wieder schlossen, sobald er den Kopf wegdrehte. Aber er hielt das aus. Er war kein Baby mehr. Er war stark und tapfer. Er konnte allein seinen Drachen steigen lassen.

Sein Onkel schlief noch und seine Tante war auch keine Hilfe. Sie blieb die meiste Zeit mit ihrem Säugling im Bungalow. Gareth wusste, dass er dankbar sein sollte, weil sie ihn wie einen eigenen Sohn behandelten. Ihn mit an die Küste nahmen, damit er hinauskam aus London. Es tat dennoch weh. Seine Eltern gaben ihn weg, als habe er eine ansteckende Krankheit. Sie hatten kaum Zeit für ihn, immer weniger, und das machte ihn wütend.

Im letzten Sommer hatte sein Vater ihm auf einmal das Drachensteigen beigebracht. Da war er sieben.

»Du bist groß für dein Alter«, hatte Dad gesagt und es klang anerkennend und vielversprechend. Dann hatte er ihm seinen alten Drachen geschenkt.

»Wenn es sonst nichts gibt im Leben, lass einen Drachen steigen und sieh zu, wie er fliegt«, hatte er gesagt und ihn in die Geheimnisse der Winde eingewiesen. Seine Mum hatte jeden Abend gekocht, sie hatten zusammen gelacht und Gareth dachte schon, sie würden nun öfter gemeinsame Ferien verbringen.

Am letzten Tag war Gareth der alte Drachen zerbrochen. Sein Dad hatte nur mit den Schultern gezuckt und er wurde zurück aufs Internat geschickt. Es änderte sich nichts, selbst als ihm seine Mum zu Weihnachten einen neuen, modernen Lenkdrachen schenkte. Er war dunkelblau mit gelben Streifen und konnte Kurven fliegen. Doch er hatte ihn bis jetzt nicht ausprobieren können, seine Eltern hatten zu arbeiten. Wie immer.

Gareth hatte sich auf dieses Wochenende am Meer gefreut. Seit Tagen wirklich richtig gefreut.

»Ich werde Loopings fliegen«, hatte er gestern seinem Onkel erklärt und der hatte ihm kurz in die Haare gegriffen, was er hasste, aber tolerieren konnte. Also zog er den Kopf nicht weg und fühlte sich trotzdem wie ein zugelaufenes Haustier.

Sie wohnten wie immer in ihrem gepachteten, klapprigen Bungalow neben dem Feriencamp an der West Angle Bay. Im Winter trostlos und verlassen, aber den Strand hatte er ganz für sich und auch den Blick über das Wasser von Milford Haven hinweg auf Fort Dale.

Gareth stapfte die letzten Meter durch das Strandgras, das bereits kurz hinter dem Bungalow begann. Irgendwie roch der Wind verändert und er sah zwei Laster an der Böschung stehen. Er wusste, dass Ebbe sein und er genug Platz haben würde, seinen Drachen steigen zu lassen. Einige Männer standen mit Ferngläsern am Rand der Bucht und starrten aufs Meer, wo ein Tankschiff, das vor den Klippen von Fort Dale lag, von kleinen Schleppern umkreist wurde. Gareth hatte sich nie für Boote interessiert. Am liebsten beobachtete er Papageientaucher an den Klippen, hier beim Ferienpark waren es die Möwen, die über seinem Kopf kreisten und ihn mit ihren frechen, übermütigen Schreien amüsierten. Er fütterte sie regelmäßig und lachte ebenso kreischend wie sie, wenn seine geflügelten Freunde ihn mit ihren Schwingen streiften.

Heute ging ein mittelstarker Wind und der Himmel war grau und klar. Er mochte diese Tage, fahl und glatt wie Strandkiesel, ohne Regenwolken und die gefürchteten Schauer, die einen Drachen vom Himmel holen konnten. Gareth ging weiter und sah endlich auf den Strand hinab.

Aber dort war kein Sand mehr.

Eine zähe, pechartige Masse lag über der Bucht. Das Watt glänzte schwarz wie eine von Dads alten Schallplatten und Regenbogenfarben schillerten in dunklen Lachen. Die Felsen am linken Rand des Strandes, auf die Gareth langsam zulief, waren wie mit einer klebrigen, dicken Schokoglasur überzogen. Er fühlte sich wie auf einem fremden Planeten.

Vorsichtig näherte er sich dem Rand der schwarzen Brandung, angezogen von einer Bewegung. An seinen Schuhen klebte der Sand wie Kaugummi.

Einige Meter vor ihm hing ein Vogel im zähen Schlick. Er hatte den Kopf einer Möwe, aber jeder Schalk war aus seinen Augen gewichen. Die Flügel waren schwer und unbeweglich, einzelne Federn standen wie Geäst daraus hervor. Sein Kopf ruckte hektisch von rechts nach links und der rote Schnabel öffnete und schloss sich. Doch kein übermütiges Kreischen war zu hören. Es blieb beim stummen Schrei.

Bevor Gareth noch einen Schritt weiter machte, packte ihn eine kräftige Hand an der Schulter und riss ihn zurück. Der neue Drachen fiel ihm aus der Hand und in den schwarzglänzenden Matsch.

»Keinen Schritt weiter, Junge!«

Es war sein Onkel.

»Aber der Vogel. Was hat er denn?« Hilflos, aber auch fasziniert starrte er auf das kämpfende Tier. »Was ist denn passiert?«

»Das Öl! Das verdammte Öl«, sagte sein Onkel und riss Gareth mit sich.

Sein Drachen, verklebt und verschmutzt, blieb neben der sterbenden Möwe zurück.

1

»Atmet sie noch?«

Mr Woods Stimme drang zischend in ihr Ohr, als Holly sich über den Körper von Mrs Peabody beugte, der vor ihr auf den Fliesen lag. Sie trug ihren Hausmantel, der sich tiefrot neben ihrem Körper ausbreitete. Ihre Beine waren nackt und lagen abgewinkelt wie bleiche, gebrochene Zweige auf ihrer linken Seite. Holly griff nach dem fragilen Handgelenk. Der Puls pochte so kräftig wie das Ticken von Janes altem Wecker in Hollys provisorischer Unterkunft.

»Ja, sie atmet und ihr Herz schlägt regelmäßig«, sagte Holly zu dem aufgebrachten Besitzer des Gemischtwarenladens, der sich an der Straßenkreuzung am Ortseingang des südwalisischen Fischerdörfchen Telynport befand. Sein Kopf legte sich beinahe auf Hollys Schulter, neugierig, sensationslüstern und kein bisschen diskret. Sein Atem stank nach Essigchips.

Holly machte eine schnelle Bewegung, die ihn zurückfahren ließ und sortierte die Unterschenkel der alten Dame, die mit ihrem Mundwerk üblicherweise so manchen das Fürchten lehrte. Ihr plötzliches Schweigen war noch sehr viel furchteinflößender, dachte Holly. Sie mochte diese zierliche Drachenlady mit der spitzen Zunge, obwohl sie ihr das Leben schwer gemacht hatte, als Holly vor vier Monaten das erste Mal hier auftauchte.

Sie hob die erschreckend leichten Beine über ihren Kopf. So würde das Blut zurück in Miss Peabodys Hirnwindungen fließen, damit sie aufwachte und wieder meckern konnte. Sie würde Holly zur Ordnung rufen oder den neuesten Klatsch verbreiten und Verdächtigungen anstellen und Hinweise auf ihre angeblich geheime Vergangenheit beim MI5 vor sechzig Jahren abgeben. Wenn es kein Schlaganfall war. Was Holly nur hoffen konnte.

»Was soll der Aufruhr?«

Anne stand mit glänzend polierten Stiefelspitzen und in ihrer gut gebügelten Polizeiuniform plötzlich neben ihr. Ihr Büro lag direkt neben dem Gemischtwarenladen, sie teilten sich sogar die Eingangstür. Es war ein winziger Ableger der South Wales Police, wie diese in Supermärkte integrierten Poststationen. Anne Hô betreute von hier aus den kleinen Ort Telynport sowie das daneben liegende Newport und gehörte zur Polizei-Einheit von Cardigan, dem pittoresken walisischen Hafen fünfzehn Meilen weiter nördlich.

»Machen Sie mal Platz«, herrschte sie Mr Woods an. »Haben Sie den Notruf gewählt, Woods? Krankenwagen? Irgendetwas?«

Der korpulente Mann richtete sich auf, strich über seine Glatze und sah unglücklich drein. »Ich kann ihren Schlüpfer sehen!«, rief er entsetzt.

Miss Peabodys Kleid war hochgerutscht, während Holly noch immer ihre Beine hochhielt.

»Er kann meinen Schlüpfer sehen?«

Miss Peabody schlug ihre hellblauen Puppenaugen auf, die wie gläserne Tümpel in den Tälern ihrer Gesichtsfalten lagen, und fing an, zu strampeln. Holly ließ überrumpelt ihre Beine fallen.

»Aua, passen Sie doch auf! Wenn ich außer der Hirnblutung auch noch einen Fersenbruch habe, ist das alles Ihre Schuld!«, beschwerte sich die alte Dame, kampflustig wie eh und je.

Holly grinste erfreut, als Miss Peabody sich zur Seite rollte und Anstalten machte, aufzustehen.

»Sie haben weder eine Hirnblutung noch einen Fersenbruch, nehme ich an.«

»Sie sind Krankenschwester, kein Durchleuchtungsapparat. Wie wollen Sie das so genau wissen? Und wann kommt endlich mein Krankenwagen?«

Sie tat so, als habe man ihr eine Limousine gerufen und Holly entschied, dass es das Beste wäre, sie einmal gründlich in der Klinik durchchecken zu lassen. Als die Sanitäter endlich eintrafen, hoben sie sie mit Schwung auf die Trage und ließen die Fixiergurte klicken.

»Ich brauche keine Zwangsjacke! Ich bin doch keine Irre!«

Anne und Holly sahen sich an und versuchten, das Lachen zu unterdrücken, während die Sanitäter sie in den Wagen schoben, die Türen schlossen und losfuhren.

Holly war im Sommer für einige Wochen nach Telynport gekommen, um eine Auszeit zu nehmen, nachdem einer ihrer Patienten im King’s College Hospital in London unter ihren Händen gestorben war. Es hatte eine unschöne Untersuchung gegeben und Anschuldigungen waren seitens eines Oberarztes erhoben worden, die sich als haltlos erwiesen hatten. Sein eigener Kunstfehler wurde erst gar nicht thematisiert, geschweige denn geahndet, seine sexuellen Übergriffe kosteten ihn dennoch die Stellung.

Sie hätte in London bleiben können, doch Holly hatte sich in die wilde walisische Küste, die Schafe und den merkwürdigen Menschenschlag der Waliser verliebt und beschlossen, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben. Deswegen hatte sie die Stelle der Gemeindeschwester von Claire Ambrose in Cardigan übernommen, da diese an Krebs erkrankt war.

»Mit siebzig ist ein guter Zeitpunkt, in den Ruhestand zu gehen, nehme ich an«, hatte Claire gesagt, und sie mit dem ihr eigenen Gesichtsausdruck angesehen, von dem Holly nie wusste, ob sie wütend war oder sich die Tränen verkniff, als sie ihr vor zwei Wochen die Schlüssel zur Ambulanz überreichte. »Niemand kann behaupten, ich hätte nicht meine Pflicht getan.«

Dass Holly nun ihre eigene Chefin war, fühlte sich großartig und auch ziemlich beängstigend an. Im Moment hatte sie noch alle Hände voll damit zu tun, die Unterlagen der Ambulanz zu sortieren, die Claire in ihren letzten Monaten nur lückenhaft geführt hatte. Zu allem Überfluss hatte ein Sommersturm das Cottage, das sie beziehen wollte, verwüstet, sodass sie vorläufig in der winzigen Wohnung ihrer Freundin Jane, der ansässigen Tierärztin, unterschlüpfen musste.

»Wieder einen Großeinkauf gemacht?«, fragte Anne grinsend und deutete auf Hollys halb gefüllten Rucksack, der auf dem Boden neben der Kasse des Gemischtwarenladens stand. Eine Dose Kokosmilch lag neben einem mickrigen Bund Karotten, darauf zwei Tüten Chips. »Und so gesund, Frau Gemeindeschwester.«

»Ich geh abends zum Essen zu Charlotte und Jane. Nach dem Welsh Rarebit dort bin ich immer drei Tage lang satt.«

Anne schüttelte angewidert ihren glänzend schwarzen Bob. »Habe diese Käse-Kartoffeln ein einziges Mal probiert. Meine Laktoseintoleranz hat meinen Bauch in einen brodelnden Vulkan verwandelt … Vierundzwanzig Stunden auf der Toilette und du siehst die walisische Küche mit anderen Augen.«

»Du Ärmste! Dann kannst du auch die grandiosen Glamorgan Sausages nicht essen.«

Holly liebte diese vegetarischen Würste, die aus Lauch und Käse geformt wurden, seitdem sie im Dryffryn Arms, dem Pub am Hafen, das erste Mal davon gekostet hatte.

»Ich halte mich lieber an Fish und Chips, aber wenn ich dummerweise einen schweren Diätfehler begangen habe, hilft nur die Reisnudel-Suppe meiner Mutter.«

»Dann bist du also nicht wirklich erpicht auf ein Abendessen bei Jane und Charlotte?«

Anne warf ihren runden Hut durch die offene Bürotür auf ihren Schreibtisch.

»Bloß nicht! Nimm es mir nicht übel, aber Jane kann nur diese unverdaulichen walisischen Spezialitäten zubereiten und Charly kann gar nicht kochen. Wozu auch, sie hatte immer eine Köchin auf ihrem Schloss.«

»Und du bist nicht sauer?«

»Es ist Freitagabend, Holly.« Anne zwinkerte ihr zu und schloss ihr Büro ab. »Ich habe ein Date. Nicht jede ist so glücklich gebunden wie Jane und Charlotte. Jetzt schau mich nicht so finster an.« Sie wandte sich zum Gehen. »Nur, weil du momentan schlecht auf das andere Geschlecht zu sprechen bist, werde ich nicht leben wie eine Nonne.«

»Ich sag doch gar nichts.«

»Du guckst ganz streng mit deinen grauen Kulleraugen, das reicht. Aber frag Charly und Jane von mir, was bei ihnen passiert ist. Anscheinend ist eine Anzeige bei der Cardigan Police eingegangen, als ich im Urlaub war. Und grüß die beiden Turteltauben von mir!«

Holly trat neben Anne auf das Kopfsteinpflaster vor Woods Laden und hielt die Nase in Richtung Meer. Der Himmel hing voller dunkler Wolken, doch am Horizont glitzerte das Wasser in der Nachmittagssonne. Der Wind war lau, herbstmild und feucht und schüttelte träge erstes Laub auf die Wege. Holly warf sich den Rucksack über die Schulter und winkte ihrer Freundin nach, die in ihrem kleinen Polizeiauto nach Hause flitzte. Dann bog sie auf die abschüssige, gewundene Straße ein, hinunter zum alten Hafen.

Langsam schlenderte Holly in den Spätnachmittag hinein. Mittags hatte sie die Ambulanz geschlossen, aber noch Stunden mit Organisatorischem verbracht. Claire hatte anscheinend die gelagerten Medikamente niemals auf ihr Ablaufdatum überprüft und wann der Sterilisator das letzte Mal benutzt worden war, könnte ihr wahrscheinlich Florence Nightingale erzählen. Offensichtlich hatte Claire nur Einwegmaterialien benutzt, ähnlich wie im King’s College Hospital. Doch Holly fühlte sich von den entstehenden Müllbergen angewidert und ihr Herz hatte entzückt ein paar Takte schneller geschlagen, als sie den Autoklav in einem der hinteren Räume der Ambulanz entdeckte. Für die paar Pinzetten und Scheren, die sie am Tag verbrauchte, würde er ausreichen. Nachdem sie die abgelaufenen Medikamente entsorgt hatte, machte sie sich daran, die Ambulanzzeiten neu einzuteilen, damit sie mit ihrem heiß geliebten Oldtimer-Krankenwagen nachmittags weiterhin Hausbesuche machen konnte.

Und dann war endlich Wochenende.

Mit federnden Knien ging Holly nun über das unebene Pflaster die Straße hinab, an den niedrigen Häusern vorbei, die rechts und links ihres Weges lagen. Die Gärten gaben im September noch einmal ihr Bestes und dicke Asternbüschel loderten über die Zäune, Disteln drohten mit silbrigen Lanzen, während sich das ein oder andere Cottage hinter hohen Hortensienhecken duckte, die noch immer mit blauen, pinken oder weißen Pompons wedelten.

Hinter der nächsten Kurve sah sie schon den kleinen Hafen liegen. Das Wasser grau und glatt wie aus Stahlbeton, die Schiffsmasten in der Windstille unbeweglich, wie einzementiert. Die bunten Boote leuchteten in Primärfarben. Links vom Kai grenzte der Garten des stattlichen Hotels der Familie Carrington an die Felsen. Rechts lag eine niedrige Häuserzeile ehemaliger Fischerhütten, zusammengepresst wie Bücher in einer alten Bibliothek. Holly schloss mit schwerem Eisenschlüssel die karmesinrot lackierte Holztür des Hauses auf, das genau neben dem schaukelnden Schild des Dryffryn Arms lag.

Die unmittelbare Nähe zum Pub hatte etwas Tröstliches, dachte Holly, als sie die murmelnden Stimmen und die walisische Musik wahrnahm, die aus dem Fenster strömten. Aber bevor sie einen Anflug von Einsamkeit spüren konnte, bohrten sich zwei spitze Krallen in ihren rechten Oberschenkel.

Fitzgerald hatte sich an Hollys Beinen zu ihrer vollen Länge aufgerichtet. Mit einem durchdringenden Schmerz ihren Anspruch auf Futter geltend zu machen, war für diese reinrassige, dunkle Maine-Coon-Katze, die nach einer von Janes Lieblingssängerinnen benannt war, die liebste Übung. Netrebko dagegen kläffte einmal mit ihrer samtigen Sopranstimme, setzte sich abwartend auf die Hinterbeine und legte den Kopf schräg. Ihre braunen Spanielaugen folgten Holly freundlich durch den winzigen Raum.

Nachdem sie die Tiere gefüttert hatte, machte sie sich einen starken Tee, mit dem sie sich auf die Kaimauer setzen wollte. Eine ruhige See hatte geradezu meditative Auswirkungen auf ihre Seele.

Und Holly brauchte das.

Sie war sich sicher, dass es der richtige Schritt gewesen war, London zu verlassen, trotzdem knabberte in regelmäßigen Schüben ein subkutaner Abschiedsschmerz an ihr. Sie hatte nicht nur ihren Job zurückgelassen, der deutlich besser bezahlt war als diese Gemeindeschwesterstelle. Es war auch irgendwie spannend gewesen, herausfordernd und niemals langweilig. Wenn sie an die Routine der Cardigan-Ambulanz dachte, fühlte sie sich manchmal entmutigt von der unspektakulären Tätigkeit, die aus Impfungen, Krankschreibungen und Überweisungen bestand, hin und wieder ein Verbandswechsel, niemals ein chirurgischer Eingriff. Das übernahmen die Ärzte der Klinik in Haverfordwest.

Holly nahm einen großen Schluck Tee und öffnete die Haustür. Na prima, schlieriger Dunst versperrte die Sicht aufs Meer. Sie konnte gerade noch die grob behauenen Steine der Kaimauer erkennen, vor der sie ihren Oldtimer geparkt hatte. Entmutigt warf sie die Tür ins Schloss und sich selbst auf das weiche Sofa mit der karierten Decke, das wie eine Insel der Gemütlichkeit mitten im Raum aufragte. Fitzgerald sprang sofort auf ihren Schoß und wedelte mit ihrem buschigen Schwanz vor Hollys Gesicht, bis sie sich zurechtgelegt hatte. Zufrieden und tröstlich schnurrend. Holly streichelte ihr kaschmirweiches Fell.

Sie hatte nicht nur das glamourös-erschöpfende Leben eines Engels der Notaufnahme aufgegeben. Sie hatte ihrer besten Freundin Dolly Bhatti, der glitzernden Stadt, den Bars und Events den Rücken gekehrt, und natürlich William. Ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus, wenn sie an ihn dachte. Er hatte sie fallen lassen, als die gerichtliche Untersuchung eingeleitet wurde. Und sie schneller ersetzt, als Holly gebraucht hatte, um sich den walisischen Ortsnamen Llanfairpwllgwyngyll einzuprägen.

Holly trank ihren Tee in kleinen Schlucken und der unangenehme Geschmack verflüchtigte sich. Sie entspannte sich, eingehüllt in die Wärme des riesigen Katzenkörpers und als sie einen von Netrebkos unschuldigen Blicken auffing, weil die Spanieldame an einer ihrer Socken kaute, musste sie lachen.

Sie hatte hier neue Freunde gefunden. Und Anerkennung. Immerhin hatte sie im Sommer zwei Teenagern das Leben gerettet und heute Miss Peabody aus einer Ohnmacht zurück in ihr über neunzig Jahre altes Leben geholt. Sie hatte sich eine neue Existenz aufgebaut, auf die sie zurecht stolz sein konnte. Und sie war ihre eigene Chefin!

Holly schenkte sich ein Lächeln, stellte die leere Teetasse auf den Boden und stand auf, um zu duschen. Fitzgerald dachte gar nicht daran, sich davon stören zu lassen, rollte sich auf dem warmen Sofasitz zusammen, legte den Schwanz vor die Augen und schlief weiter.

Freundlicherweise hatte der Regen etwas nachgelassen, als Holly zum Abendessen bei ihren Freundinnen aufbrach. Die Scheibenwischer ihres Mercedes-Krankenwagen, Baujahr 1962, waren nicht so fix, dass Holly bei schwerem Gewitter den Durchblick behielt. Während eines Wolkenbruchs hatte sie schon öfters anhalten und abwarten müssen, bis das Trommelfeuer der Regentropfen auf eine zu bewältigende Frequenz abgesunken war.

Sie warf sich ihre Regenjacke über und sprintete zum Wagen, wurde dennoch nass, denn mangels elektrischen Türöffners musste sie erst den Schlüssel in den Chromgriff fummeln und dann Netrebko in den Fußraum springen lassen. Sie hatte Jane versprochen, die karamellfarbene Spanieldame mitzubringen, die sehr an ihrem Frauchen hing und Hollys Sockenvorrat nach zwei Wochen bereits ziemlich reduziert hatte.

Mit feuchtem Haar zog Holly die Tür fest hinter sich zu und rutschte auf dem grauen Kunstledersitz der durchgehenden Vorderbank nach links. Sie sog den vertrauten Geruch nach kühlem Altplastik und Diesel ein, als sie den Motor startete, der tuckernd ansprang und sie gemächlich die steile Hafenstraße hinauftrug.

Sie hatte sich in diesen taubengrauen deutschen Oldtimer auf den ersten Blick verliebt, als sie ihn im Sommer von Shawn, dem Neffen der alten Gwyn, für ihre Ambulanz-Touren mietete.

»Mit seinen 15-Zoll-Rädern, einer geänderten Hinterachsübersetzung und einer hydropneumatischen Ausgleichfeder ist das ein typischer Retro-Rettungswagen. Eine Oldie-Mercedeslimousine mit Krankenwagen-Aufbauten von Binz und einem um 40 Zentimeter längeren Radstand als sein Vorgänger«, hatte Shawn geschwärmt, als er ihn ihr damals vorführte. Holly hingegen fand die runden Kulleraugen-Scheinwerfer und die Heckflossen niedlich. Kleine Flügel für die »rettenden Engel«. Den Ausschlag hatten das Rote Kreuz über der Frontscheibe gegeben, die blaue Signalleuchte und die pilzförmige Extrasirene auf dem Dach. Natürlich beide nicht mehr funktionstüchtig, aber zum Transport von liegenden Patienten war die Trage im Kofferraum bestens geeignet. In einem abschließbaren Einbauregal hatte sie Erste-Hilfe-Artikel untergebracht und seit einer Woche fuhr sogar ein brandneuer Defibrillator mit.

Jetzt tuckerte sie mit 52 PS die letzte Kurve am Hang hinauf, in die Gerade vor der Kreuzung mit Woods Gemischtladenhandlung. Ihre Hände ruhten glücklich auf dem altmodischen Lenkrad und hin und wieder verspürte Holly das Bedürfnis, über den glänzend geschwungenen Bakelithörer des eingebauten Notfall-Telefons zu streicheln. Dieser Wagen hatte nur auf sie gewartet, sie allein.

Da bemerkte Holly plötzlich eine Bewegung in ihrem rechten Augenwinkel und richtete den Blick auf die Häuserzeile der anderen Straßenseite. Miss Peabody lehnte sich im Nachthemd mit ihrem Oberkörper aus dem Fenster im Erdgeschoss. Sie fuchtelte aufgebracht mit einem Fernglas und winkte mit einer schwarz-weiß-karierten Flagge, wie sie auf Rennbahnen benutzt wurden.

Holly trat auf die Bremse und verringerte die Geschwindigkeit, während sie mit rechts das Fenster herunterkurbelte.

»Alles in Ordnung, Miss Peabody?«, rief sie besorgt.

Offensichtlich hatte man sie im Krankenhaus von Haverfordwest umgehend wieder nach Hause geschickt. Aber womöglich war die Alte wieder gestürzt und hatte sich nur mit Mühe zum Fenster hochziehen können. Oder sie war überfallen worden oder eingesperrt?

»Fahren Sie gefälligst langsamer! Wir sind hier doch nicht in Oulton Park. Sie gefährden die Sicherheit der Bewohner. Und meinen Schlaf. Ich werde sie wegen nächtlicher Ruhestörung anzeigen!«

Das faltige Gesichtchen war vor Wut zusammengeschnürt und ihre dünnen Arme wedelten wie wild.

»Ist gut, meine Liebe, ist gut«, sagte Holly lachend, und wunderte sich, dass die alte Dame die Autorennstrecke Oulton Park überhaupt kannte. Anscheinend war sie doch besser informiert als gedacht, diese Ex-MI5-Agentin, dachte Holly grinsend und schloss das Fenster wieder. Dann warf sie einen Blick auf die Uhr. Nächtliche Ruhestörung. Von wegen.

Es war halb sieben.

2

Holly kurbelte am riesigen Lenkrad und bog in die Auffahrt zum Schloss ein. Die Pappelallee flirrte vor herbstgelben Blättern wie ein Tunnel aus Sonnenlicht, obgleich es noch immer regnete und bereits dämmerte. Sie kam an den steinernen Stallgebäuden mit dem zierlichen Glockentürmchen auf dem Dach vorbei. Die offenen Boxenfenster waren verwaist, anscheinend hatte keines der Vollblüter Lust, sich seinen schönen, starken Hals nassregnen zu lassen.

Sie fuhr auf das düstere Gemäuer zu, das Lady Beringfords Heim war. Ein großer grauer Kasten, abweisend und gleichzeitig äußerst pittoresk, wenn man zugige Gruselschlösser liebte und einen Blick über die atemberaubenden Klippen hinter der Gartenmauer warf. Es thronte hoch über der Bucht von Telynport und war seit Jahrhunderten im Besitz von Charlys Familie. Deswegen hatte ihr untreuer Ehemann, Lord Beringford, unfähiger Unterhausabgeordneter und zukünftiger Ex-Lord, auch einen Ehevertrag unterzeichnen müssen, der ihr den alleinigen Anspruch auf ihr Erbe bewahrte.

Holly parkte vor dem Dienstboteneingang und zog an der altmodischen Glocke, die einen heiser bellenden, aber durchdringenden Klang abgab, auf den Netrebko mit ihrem hellen Sopran antwortete. Als niemand kam, öffnete Holly selber die Tür und der Hund stürzte auf Jane zu, die am Ende des langen Ganges in der Küche am Herd stand.

»Holly! Wie schön, dich zu sehen. Komm rein und gib mir deinen nassen Überwurf.« Charlotte Beringford, kam Holly im Gang entgegen und drückte sie an sich, während sie sie gleichzeitig von ihrer triefenden Jacke befreite. Egal, ob Anorak oder Pferdedecke, nasse Kleidung schien in den kalten Hallen des Schlosses den Pesthauch des Todes zu verströmen.

Holly war froh, dass Charly ihr nicht mit einem Bündel Stroh zu Leibe rückte, um sie trocken zu reiben, wie sie es bei ihren geliebten Vollblütern immer tat. So hatten sich ihre beiden Freundinnen auch kennen und lieben gelernt: Lady Beringford, Stallbesitzerin und hingebungsvolle Züchterin, und Jane Simmons, die Tierärztin, stets zur Stelle mit Rat und Tat und Trost, wenn eines ihrer Rassepferde erkrankte.

»Das Essen ist gleich fertig«, sagte Jane und warf Netrebko einen kleinen Leckerbissen zu, als Holly die Küche betrat.

Neben dem alten Aga-Herd züngelte ein moderner Gasherd. Janes helle Haut hatte einen angestrengten Rotton angenommen, von dem ihre zahlreichen Sommersprossen kaum noch zu unterscheiden waren. Eine Strähne ihres kurzen, dicken Haares fiel ihr in die Stirn, was ihr einen neckischen Ausdruck verlieh. Die Küche war groß genug für einen groben Tisch aus Eichenholz und filigrane Designerstühle, auf die Charly und Holly sich setzten. Das Speisezimmer im Süden des Hauses wurde niemals genutzt, ebenso wie der große Ballsaal, dessen Kronleuchter verhüllt wie kleine Fesselballons unter der Stuckdecke schwebten.

»Anscheinend ist das Experiment gescheitert«, sagte Holly, als sie beobachtete, wie Netrebko sich freudig um Jane schlängelte. »Ich bin eindeutig weniger Hundemensch als du, und das arme Tier kommt um vor Sehnsucht nach dir, Jane.«

»Wenn nur nicht der zickige Sir Galahad wäre«, seufzte Charly. »Natürlich würde ich mit Jane hier auch ein Tierheim eröffnen, genug Platz ist vorhanden. Nur mein Kater mit seinem majestätischen Grundbesitzanspruch hat etwas dagegen.«

Charly runzelte die Stirn und Holly dachte daran, wie Jane ihr von dem Angriff auf ihren Spaniel erzählt hatte. Als Jane schon einige Tage mit Netrebko bei Charly wohnte, hatte Sir Galahad der Spaniel-Dame auf einem Treppenabsatz aufgelauert und war ihr auf den Buckel gesprungen. Hatte Krallen und Zähne in ihren Rücken gerammt, sodass sie ihn abschütteln musste wie einen Rodeo-Reiter, bevor sie sich jaulend hinter einer Ritterrüstung versteckte.

»Netrebko hat ein sonniges Gemüt.« Jane knuddelte ihre Hündin überschwänglich. »Wahrscheinlich hat sie den Vorfall längst vergessen. Und Sir Galahad hat einen verdammten Palast zur Verfügung. Da kann er das Untergeschoss dem Fußvolk überlassen.«

»Fitzgerald ist es, glaube ich, egal, ob Netrebko da ist, oder nicht. Sie hängt eindeutig mehr an ihrem Haus als an den Bewohnern.«

»Das tun sie alle«, sagte Charly und seufzte. Holly meinte sich zu erinnern, dass Lord Beringford den Ragdoll-Kater ausgesucht hatte.

»Ich kann gut damit leben«, bekannte Holly, »und bekomme im Gegenzug eine lebendige Wärmedecke und stimmungsaufhellende Schnurreinheiten.«

Ohne Fitzgerald würde sie sich in Janes Wohnung einsam fühlen. Im Sommer hatte sie in dem kleinen Cottage am Ortseingang zusammen mit Spots gewohnt, einem Schaf, das sie, als sie zurück nach London ging, bei der alten Gwyn abgegeben hatte. Ihr war erst vor Kurzem bewusst geworden, wie sehr ihr dieses wiederkäuende Wollknäuel über die schwierige Auszeit hinweggeholfen hatte.

Jane stellte das Welsh Rarebit auf den Tisch und Holly spürte ein vorfreudiges Ziehen in der Magengegend. Die Kartoffelhälften waren mit einer Käsemischung überbacken, die Jane mit Ale und Kräutern deftig verfeinert hatte. Dazu gab es eine riesige Schüssel Salat und anschließend Kekse, die Charlys Tochter Cassy gebacken hatte.

»Wo steckt sie überhaupt?«

»Ach Holly, bei Teenagern weiß man das nie so genau. Meist ist sie mit Calvin unterwegs, die beiden sind unzertrennlich.«

Charlotte lächelte versonnen und Jane griff nach ihrer Hand.

»Junge Liebe eben«, sagte sie und zwinkerte ihrer Freundin zu.

»Im Augenblick ist sie, glaube ich, im Stall. Sie hat ein Picknick eingepackt und möchte in einer der Boxen übernachten. Zusammen mit Calvin natürlich. Vielleicht das letzte Mal dieses Jahr, bevor die Kältewelle kommt.«

»Soo romantisch!«, schwärmte Holly.

»Soo ungemütlich«, stöhnte Jane und nahm einen großen Schluck von ihrem Bier. Sie war eher der gemütliche Typ, eine Frau, die nach ihrer schweren körperlichen Arbeit ans Kaminfeuer zurückkehren, sich in eine Decke wickeln und wahlweise starken Tee, Bier oder einen Whisky trinken wollte. Charly dagegen schien stets gespannt wie eine Stahlsaite und genauso wetterunempfindlich zu sein. Aber Holly konnte sehen, dass sie die Ruhe und Wärme, die ihr in ihrem bisherigen Leben gefehlt hatten und die Jane ausstrahlte, heimlich ersehnt hatte und umso offensichtlicher genoss.

»Sagt mal, was hat es eigentlich mit dieser Anzeige auf sich, die ihr bei der Polizei in Cardigan gestellt habt?«, fragte Holly, als sie sich satt und zufrieden auf ihrem Stuhl zurücklehnte. Die Kerze war halb heruntergebrannt und eine gemütliche Vertrautheit schwebte über den Freundinnen. Dennoch sahen sich Jane und Charly überrascht an.

»Ich habe Anne heute Nachmittag bei Woods getroffen. Sie ist aus dem Urlaub zurück und macht sich Sorgen«, erklärte Holly verlegen. »Ich soll euch nicht nur lieb grüßen, sondern auch explizit fragen, ob alles in Ordnung ist.«

Charly und Jane nickten gleichzeitig, wie die solarbetriebenen Wackelkopf-Figuren der Queen.

»Das ist es doch, oder? Alles in Ordnung, meine ich.«

Allmählich wurde Holly nervös.

»Na ja«, sagte Charly zögernd. »Wir haben es nicht herumposaunt, aber ich habe den Hof vom grässlichen Fagin gekauft und dort ist eingebrochen worden.«

»Du hast WAS?«

Holly war entsetzt. Fagin war immer noch ein rotes Tuch für sie. Er hatte nicht nur ihr Schaf Spots schlachten wollen, das sie seinen dreckstarrenden Klauen gerade noch rechtzeitig entreißen konnte. Er hatte auch die kleine Laila und ihre Mutter Atifa jahrelang auf seinem Hof ausgebeutet und in einer gefährlichen Art von Abhängigkeit gehalten. Für Holly war das moderne Sklaverei, aber nicht jeder teilte ihre Meinung dazu.

»Ich dachte, er säße hinter Gittern«, krächzte Holly und räusperte sich. Ihre Stimme schien ihr plötzlich nicht mehr gehorchen zu wollen.

»Sein Prozess hat noch nicht einmal begonnen. Die Mühlen der Justiz, sie mahlen langsam. Überrascht dich das?«, meinte Jane.

Das musste Holly erst mal sacken lassen. Sie schenkte sich Ale nach und nahm einen langen Zug. Ihr Auto würde den Heimweg auch ohne sie finden. Es ging praktisch nur bergab, sie musste nicht mal Gas geben, nur den richtigen Schwung finden und im Takt mit den Kurven bleiben.

»Das Schloss umfasst zwar diesen wunderschönen kleinen Park mit Reitanlage, alle übrigen Ländereien musste mein Vater aber bereits vor Jahrzehnten verkaufen, um das Haus weiterhin zu unterhalten«, erklärte Charly. »Er ist ein gewiefter Geschäftsmann gewesen und dank seiner weitsichtigen Anlagestrategie hat sich unser Portfolio vergrößert. Erstaunlicherweise läuft es auch weiterhin nicht schlecht.«

»Wow«, sagte Holly. Sie hatte keine Ahnung von Finanzen und war froh, wenn ihr Konto am Ende des Monats nicht allzu sehr ins Minus rutschte.

»Ist sie nicht intelligent?«, schien Janes stolzer Blick zu sagen.

»Nun«, Charlottes kühles Gesicht überzog sich mit einem leichten Rosé-Ton. Sie hatte den hellen Teint der britischen Blondine, auf dem sich ihre Gefühlsregungen abzeichneten, wie ein Farbfilm auf riesiger Kinoleinwand. Sie holte tief Luft.

»Ich meine, wusstest du, dass Fagin bereits vor zwanzig Jahren mit ökologischer Schafzucht begonnen hat? Das hat sich erst mal nicht rentiert, er hat den Hof verkommen lassen und sich, weiß der Himmel wie, über Wasser gehalten. Seine Schulden sind so groß wie sein Appetit auf Alkohol und dennoch: Das Gebäude ist solides neunzehntes Jahrhundert, die Weiden sind weitläufig genug, sogar den Stall könnte man umbauen. Daher dachte ich, ich werde daraus einen schönen Bio-Hof machen mit Schafzucht und Hühnern und Gemüseanbau, du weißt schon.« Ihr Gesicht färbte sich vor Verlegenheit so dunkel wie Hollys Ale. »Ich wollte mir diesen Traum erfüllen.«

Holly hatte sich selbst gefeiert, dass sie hier in Wales einen Neuanfang startete, aber Charlys Plan war eine ganz andere Nummer. Es schien nicht nur alles neu für Charly, sondern auch ein gewisses Risiko zu sein. Holly war beeindruckt und kurz verschlug es ihr vor Scham die Sprache.

Als sie hier ankam, hatte sie, sie mochte es kaum zugeben, in Charlotte die verwöhnte reiche Lady gesehen, die sich helikoptermäßig besorgt um ihre sechzehnjährige Tochter zeigte. Sie hatte Janes Schwärmerei für die Hochwohlgeborene belächelt und sie in eine Schublade gesteckt, vollgestopft mit Vorurteilen über die britische Upperclass. Die letzten Wochen über hatte sie Charlotte näher kennen und schätzen gelernt. Auch wenn sie noch immer eine erbärmliche Ehrfurcht überkam, wenn sie die Haupthalle des Schlosses betrat. Aber Charly war auch nur ein Mensch, eine feine, aber idealistische Lady, die die Welt zu einem besseren Ort machen wollte.

»Du wirst also Unternehmerin, Hofbesitzerin, Landwirtin. All das. Respekt!«

»Es ist womöglich das Dümmste, das ich je unternommen habe«, gab ihre Freundin zu. »Aber es ist soo aufregend!«

Sie klatschte die Handflächen mehrmals hektisch aneinander, wie eine Fünfjährige. Fehlte nur noch, dass sie auf und ab hüpfte, dachte Holly gerührt.

»Und jetzt gibt es Probleme? Es ist eingebrochen worden?«

Die Begeisterung floh vom Tisch, wie ein Schwarm aufgescheuchter Basstölpel, wenn Touristenhubschrauber die Klippen abflogen.

Charly vergrub ihr Gesicht in den Händen.

»Als wir das letzte Mal auf dem Hof vorbeigeschaut haben, war das Tor aufgebrochen und im Stall waren einige Maschinen verschwunden. Der Hof ist unbewirtschaftet, nur ein Schäfer wurde angestellt, der die Herde im Auge behält und von Weide zu Weide lotst«, erklärte Jane.

»Glücklicherweise gibt es auch viele Klippenhänge, auf denen die Schafe grasen dürfen, aber bevor der erste Frost kommt, muss der Stall hergerichtet sein. Die Hühner werden in der Zwischenzeit von Atifa versorgt«, fuhr Charly fort. »Das macht sie gern und sie kennt sich dort aus.«

»Und sie darf die Eier mit zur alten Gwyn nehmen«, hob Jane hervor.

»Aber mit meinen Plänen muss ich bis zum Frühjahr warten, wenn die verschwundenen Maschinen ersetzt wurden«, ergänzte Charly und ihre Stimme hatte jeden Glanz verloren. Sie stand auf und schob die Teller zusammen. Erst jetzt fiel Holly auf, dass sie kaum etwas gegessen hatte.

»Und was ist mit ihm? Dem grässlichen Fagin? Er wohnt dort hoffentlich nicht mehr?« Holly befiel immer eine nervöse Unruhe, wenn sie an den ehemaligen Hofbesitzer dachte. Sie hatte eine pathologische Antipathie gegen ihn entwickelt, was an ihrer ersten Begegnung mit ihm lag. Er hatte sie für ihre Tierliebe mit einem grausamen Zug um den Mund verhöhnt. Er hatte ihr Todesangst eingeflößt. Das würde sie ihm niemals verzeihen.

»Nein, der musste raus, nachdem der Kaufvertrag unterzeichnet worden war. Vielleicht hätten wir ihn nicht auf die Straße setzen sollen, so ein verlassener Hof schreit geradezu nach Einbrechern.« Charly seufzte.

»Und wenn er es selber war? Wenn er die Maschinen geklaut hat, um sich zu rächen? Um deine Pläne zu vereiteln?«

»Na ja, das Geld könnte er brauchen, da bin ich sicher.«

»Um das herauszufinden, haben wir die Anzeige gestellt«, sagte Jane.

»Du meinst, die Diebe werden gefunden und ihr bekommt die Maschinen zurück?«

Das kam Holly mehr als blauäugig vor.

»Wahrscheinlich sind die Dinger längst zerlegt und jede einzelne Schraube fand bereits ihren Abnehmer. Ersatzteile sind auf dem Land sehr gefragt«, meinte Jane. »Sorry, Darling, aber wir müssen realistisch sein.«

»Die Anzeige war wichtig für die Versicherung. Vielleicht bekommen wir von denen etwas zurück.« Charly vergrub wieder das Gesicht in den Händen.

Etwas zerrte an ihrem Zwerchfell und Holly musste die Luft tief in ihre Lungen ziehen, um die Beklemmung zu vertreiben, die sie angesichts der Erschöpfung ihrer Freundin überkam. Sie beobachtete, wie Jane ihre Liebste von hinten umarmte und ihr leise etwas ins Ohr flüsterte. Jane war nicht der hysterische, aber auch nicht der Alles-wird-wieder-gut-Schatz-Typ. Jane war da und bewahrte die Ruhe. Sie bot auch Holly immer eine helfende Hand oder eine Schulter zum Ausweinen. Und jetzt war ihre Liebe zu Charly in jeder ihrer Gesten zu spüren, erfüllte die Küche und richtete die zarte Lady wieder auf.

Wenn Holly sie um etwas beneidete, dann war es weder ihr Schloss noch ihr Geld, sondern diese wunderbare Beziehung.

3

Erleichtert, dass der Regen aufgehört hatte, setzte Holly sich am Samstag mit einer Tasse duftenden Earl Greys in den Sessel neben dem kleinen Fenster, nachdem sie Fitzgerald gefüttert und hinausgelassen hatte. Sie beobachtete die majestätische Katze, die wie üblich eine Runde auf der Hafenmauer absolvierte, die eine oder andere Möwe erschreckte und sich dann auf einer der Holzbänke niederließ, um Hof zu halten. Die Boote im Hafen troffen vor Feuchtigkeit, die in glitzernden Tropfen an den Trossen hing, wie aufgezogene Glasperlen. Es klirrte leise in den Masten, die Sonne ließ den Nachtregen langsam von der Hafenmole verdampfen und es roch nach feuchten Planken, Tang und Rauch und dem Kaffee, den Sam bereits im Dryffryn Arms nebenan brühte.

Holly wollte heute dem Cottage, das sie gepachtet hatte, einen Besuch abstatten. Im Sommer hatte es sich zu einem Zuhause und Zufluchtsort für sie entwickelt, doch derzeit war es nach einem Sturm noch unbewohnbar und sollte instand gesetzt werden. Bei Jane war es wirklich cosy, aber sie fühlte sich an der Hafen-Mole wie auf einem Präsentierteller. Ihr fehlte der kleine Garten, in dem sie sich im Schlafanzug vor die Haustür setzen und sich sonnen konnte, ohne dass ein paar Touristen sie ansprachen.

Sie leerte ihre Tasse, schlüpfte in Jeans und T-Shirt, warf sich eine leichte Strickjacke über und griff nach der Regenjacke. Hier in Wales wechselte das Wetter schneller als die Bond-Girls von 007, sie sollte auf alles gefasst sein.

Mit knirschenden Reifen kam ihr Oldtimer vor der niedrigen Steinmauer zum Stehen. Das weiß gestrichene Gartentor stand offen und Holly trat auf die Sandsteinplatten im Rasen, bevor sie es hinter sich schloss. Die Wiese war wieder stark nachgewachsen und kitzelte Hollys bloße Knöchel. Sie würde sich Spots ausleihen müssen, damit sie sich wieder heimisch fühlen konnte, wenn sie hier einzog. Wenn. Es sah nicht gerade so aus, als sollte das in nächster Zeit möglich sein, dachte Holly entmutigt und musterte das Cottage.

Es machte nicht den Eindruck, als habe sich in den letzten Wochen irgendetwas getan.

Gareth, der Sohn der Hotelfamilie Carrington, der als Ingenieur in London lebte, hatte sich angeboten, das Dach zu erneuern und das Haus winterfest zu machen. Es zu einem sicheren, gemütlichen Ort herzurichten, der Holly Heim und Zuflucht in dem drohenden walisischen Winter sein würde. Das hatte er versprochen und sie dabei mit seinen dunklen Torfaugen intensiv angesehen. Doch noch immer ragten einzelne Dachsparren in die Luft wie gebrochene Rippen. Die Küche hatte rauchblinde Fenster und im Schlafzimmer löste sich eine tote Maus mithilfe eines Madenregiments in ihre Bestandteile auf. Das Scharnier eines der verblichenen, blau gestrichenen Fensterläden hatte sich gelöst und er hing lose vor der grauen Steinfassade herab. Es war ein erbärmlicher Anblick.

Holly traten die Tränen in die Augen. Sie hatte sich vorgestellt, bald hier einziehen zu können und nicht mehr von ihrer Freundin Jane abhängig zu sein. Sie wollte raus aus dem Provisorium und endlich ankommen in ihrem neuen Leben, das irgendwie schon gestartet war, aber irgendwie auch nicht. Was machte dieser unfähige Gareth nur? Wo steckte er überhaupt?

War sich wohl zu fein für diesen winzigen Auftrag, da er in London Hochhäuser plante oder die Landsitze der Upperclass aufhübschte. Er hatte sich auf Vorschlag von Charlotte hin angeboten und Holly vermutete, dass er ihrer Freundin nur einen Gefallen tun wollte, ohne wirklich bei der Sache zu sein.

»Verdammte Scheiße!«, schimpfte sie, sammelte ein paar herabgefallene Äste vom Rasen vor der Eingangstür auf und schleuderte sie beiseite.

»Hoppla!«

Gareth war in diesem Moment von hinten um die Hausecke gekommen und wehrte die Zweige ab, wie einen Schwarm aufdringlicher Möwen. Holly war zu überrascht und zu wütend, um sich zu entschuldigen.

»Was machen Sie denn hier?«, blaffte sie stattdessen. »Oder besser, was machen Sie hier nicht?«

»Hallo Holly, schön, Sie zu sehen.« Gareth streckte ihr die Hand hin, die Holly aufgebracht ignorierte. »Ist was passiert?«

»Nichts ist passiert, das ist es ja gerade.«

»Wie meinen Sie das?« Gareth schien verwirrt, aber keineswegs beunruhigt zu sein.

»Das Dach. Die Fensterläden. Tote Tiere!« Holly drehte sich anklagend nach rechts und links und fuchtelte mit den Armen. Dabei fühlte sie sich wie ein Derwisch auf Droge, ungebührlicher Zorn loderte in ihr auf. »Sie haben gesagt, Sie würden hier renovieren! Das Cottage wieder aufbauen. Dass ich hier bald wieder einziehen könnte, erinnern Sie sich?«

»Natürlich, Holly, aber –«

»Nichts ist passiert, rein gar nichts!« Ihre Stimme kochte über und die Worte liefen ihr zischend über die Lippen. »Sie sind vermutlich mit Ihrem schicken Sportwagen zwischen Cardigan und London hin und her gebraust, haben vielleicht auf den Hotelempfängen Ihrer Eltern mit Fachleuten parliert, während hier alles nur noch schlimmer geworden ist. Wenn Sie so weiter machen, wird man das Cottage abreißen müssen. Aber vielleicht wollen Sie das ja?«

»Wie bitte?« Gareth klopfte sich noch ein wenig Reisig von der Jacke und riss die Augen auf. »Ich fahre keinen Sportwagen.«

Doch Holly war nicht mehr zu bremsen.

»Vielleicht haben Sie erkannt, was für ein hübsches Fleckchen das hier ist. Und wenn Sie das Gebäude verfallen lassen und dann Mr Macintosh für ein paar Heller abkaufen, dann könnten Sie ein wunderbares, neues, großes Haus hier bauen. Ist es nicht so?«

Gareth stemmte die Hände in die Hüften und schüttelte den Kopf. »Und für wen sollte ich diesen ganzen Zirkus, den Sie sich da zusammenfantasieren, betreiben?«

»Für sich und Ihre hübsche Ingenieursgattin, die bestimmt nur darauf wartet, mit Ihrem niedlichen Kind von London aufs Land zu ziehen.«

»Holly, jetzt hören Sie mir mal zu. Ich weiß nicht, was Ihnen heute früh über die Leber gelaufen ist –«

»Maden! Sehen Sie sich dieses Madengewimmel an.« Holly deutete angewidert auf die tote Maus. »Ich meine, das nennen Sie, sich um ein Projekt kümmern?«

»Ich habe auf eine Lieferung Dachsparrenholz gewartet. Das Dach ist das Wichtigste, danach wenden wir uns dem Innenbereich zu.«

»Ach und wann wird Ihr Holz geliefert? Am Sankt-Nimmerleins-Tag oder doch noch irgendwann vor Weihnachten?«

Er sah sie mit einem Blick an, der sie an die gescholtene Netrebko erinnerte. Sie fragte sich, wie ein Mensch mit diesen Torfaugen es in London aushielt und warum er nicht über die Highlands oder zumindest die nahen Anhöhen von Mynydd Preseli streifte. Und warum, um alles in der Welt, sie sich mit ihm herumschlagen musste.

Mit seiner leicht kompakten Gestalt näherte Gareth sich ihr überraschend schnell und bevor sie zurückweichen konnte, hatte er ihr Handgelenk gepackt und zog sie um die Hausecke, nach hinten in den Garten.

»Was zum Teufel!«, rief sie empört und überlegte, ob sie, anstatt zu schimpfen, lieber um Hilfe rufen sollte.

»Hier! Sehen Sie«, sagte er, ließ ihr Handgelenk so schnell wieder los, als habe er sich verbrüht, und hob besänftigend die Hände. »Ich wollte Ihnen nur das hier zeigen, Holly. Es ist heute Morgen geliefert worden und ich kann schon nachmittags damit beginnen, die kaputten Dachsparren zu ersetzen.«

Holly sah auf einen Haufen Balken, der säuberlich gestapelt neben dem Gartenschuppen lag. Wie frisch geschälter Spargel glänzte das Holz in der Sonne.

»Oh«, stieß sie aus und ärgerte sich sofort über ihre wenig eloquente Erwiderung. Aber was sollte man auch dazu sagen? Der Typ war wirklich unmöglich. Machte ihr erst Angst und dann sowas.

»Das ist wirklich eine Überraschung.«

»Dachte ich doch, dass Sie das besänftigen würde. Wir kriegen das hin. Ich habe schon ganz andere Herausforderungen gemeistert, glauben Sie mir.«

Darauf möchte ich wetten, dachte Holly, und fühlte sich kein bisschen versöhnt. Eher, als sei sie ihm auf den Leim gegangen, und das war ihr erschütternd peinlich und machte sie wieder fuchsteufelswild. Wie hypnotisiert starrte sie auf die Dachbalken und konnte sich nicht überwinden, Gareth ins Gesicht zu sehen.

»Na gut, ich breche lieber mal auf«, sagte er und klopfte sich mit beiden Händen seitlich auf die Oberschenkel, als sei er ein Pferd, das er antreiben müsste.

»Und lassen mich einfach so stehen?«

»Auch wenn sie sich gebärden wie Wonder Woman, die Dachbalken tauschen Sie bestimmt nicht aus. Ich muss nach Hause, Arbeitsklamotten anziehen und den Transporter mit dem Werkzeug holen.«

»Zu Fuß?«

Das waren mindestens drei Meilen.

»Ganz genau. Denn anders als Sie bin ich hier aufgewachsen. Ich liebe es, gelegentlich über die Weiden zu streifen«, sagte er, warf ihr einen grimmigen Blick aus seinen Highlander-Augen zu und stapfte durch das Gartentor davon.

4

Perplex sah Holly ihm nach. Gareth ging ihr auf die Nerven, aber wenn sie bald in das Cottage einziehen wollte, sollte sie sich gut mit ihm stellen, das war ihr schon klar. Nur irgendetwas in ihr rebellierte und ließ sie jedes Mal, wenn sie ihn sah, patzig werden. Sie wusste auch nicht, was das war. Er war immer zuvorkommend, sah nicht gerade wie Quasimodo aus, aber auch nicht wie die Art von Dressman, die William verkörpert hatte und die sie nun regelmäßig in die Flucht trieb. Bis auf einen kleinen Bauchansatz hatte Gareth eine normale Statur und unauffälliges braunes Haar. Wahrscheinlich hatte Anne recht und sie war grundsätzlich nicht gut auf das männliche Geschlecht zu sprechen.

Das Gefühl, von einem Mann abhängig zu sein, von seiner freundlichen Zuwendung, Unterstützung und Anerkennung, bereitete ihr geradezu körperliches Unwohlsein. Die Demütigungen, die sie durch William, Chris und Oberarzt Lawson erfahren hatte, hatten sich wie Schädlinge in ihr Gehirn und Herz gesetzt, wo sie ihr unheilvolles Werk vorantrieben, an ihr und ihrem Selbstwertgefühl nagten, bis es einstürzen würde wie ein Schuppen mit Termitenbefall. Wie ihr Cottage nach dem Sommersturm.

Verdammt. Sie könnte sich dafür ohrfeigen, dass sie handwerklich so unbegabt war und keine Ahnung von Dachbalken hatte. Oder von Ziegeln. Wenn es sein musste, konnte sie vielleicht eine Wand streichen oder einen Schraubenzieher handhaben. Bei der elektrischen Bohrmaschine hörte es schon auf.

Sie schämte sich. Vor sich selbst, aber auch vor Gareth. Himmel, was mochte er jetzt von ihr denken! Sie war unemanzipiert und unzufrieden und ließ ihre Laune an dem einzigen Menschen aus, der ihr mit dem Cottage helfen wollte. Mist. Vorsichtig zog sie die Haustür zu und pflückte, um sich zu beruhigen, ein paar letzte weiße Hortensien, die in Janes enger Wohnung einen Hauch von Garten verbreiten sollten. Dann setzte sie sich in ihren Krankenwagen-Kokon und fuhr weiter zu Gwyn und Claire.

 

»Da war aber jemand fleißig«, sagte Holly, als sie ausstieg und zu Spots hinüberging, an deren wolligen Hals sich Laila kuschelte. Sie hockte sich vor die beiden hin und sog den schweren Geruch nach Schaf, Erde und Kokosfett in sich auf, der von dem Duo ausging.

»Wie geht es meinem Dream-Team?«

»Spots ist faul, wie immer.«

»Och, ich finde, den Rasen hat sie richtig gut hingekriegt.« Holly kraulte ihr Schaf hinter den Ohren. »Du solltest die Wiese beim Cottage sehen. Da findet man die eigenen Füße nicht mehr, wenn man hindurchgeht.«

»Ja, aber jetzt ist sie faul. Liegt seit einer Stunde hier rum. Dafür sind Auntie Gwyn und ich fleißig. Total. Wir haben Kräuter geerntet und machen Melissentee für Auntie Claire. Du weißt ja, sie ist krank und sie trinkt so viel von diesem Tee, als sei sie ein Kamel. Ein Glas davon, okay, aber immerzu? Literweise?«

»Du vergisst den Ingwer-Sirup, Laila.«

Gwyn hatte das Auto ebenfalls gehört und kam aus dem Garten nach vorne. Seit ihr diabetischer Fuß abgeheilt war, war die Zweiundsiebzigjährige wieder recht gut unterwegs. Allerdings glich sie mit ihrem wilden Schopf auf dem Kopf und der rundlichen Figur eher einem Galloway-Rind als einer leichtfüßigen Gazelle.

»Habe ich selber geschält und geschnitten und nach Gwyns Anleitung eingelegt.« Laila sprang auf. »Magst du probieren?«

»Klingt großartig, aber ich hätte lieber einen Tee. Soll ich mit reinkommen und schnell das Wasser aufsetzen?«

Holly staunte mal wieder, was Atifa in den letzten Wochen geleistet hatte. Aus Gwyns heruntergekommenem Hexenhaus hatte sie ein freundliches Zuhause geschaffen, in das erst vor Kurzem Claire miteingezogen war. Die beiden Schwestern legten zusammen und zahlten Atifa das Gehalt einer Haushälterin, abzüglich eines kleinen Mietbetrags. Die alte Gwyn kam die Treppe nur noch unter Schwierigkeiten hinauf und wohnte in einem winzigen Schlafzimmer zwischen dem Wohnzimmer und dem ehemaligen Arbeitszimmer ihres verstorbenen Mannes, das zur Trockenkammer umfunktioniert worden war. Der Duft von Zitronenmelisse und frischem Grün wehte durch die Tür bis in den Flur.

Laila und ihre Mutter bewohnten mit Claire die oberen drei Zimmer. Damit war Leben in Gwyns Einsamkeit zurückgekehrt, abgesehen von einer völlig neuen Dimension von Sauberkeit und Ordnung. Der Holzboden war nun gewienert, die Vorhänge erneuert und die Küche blitzte, als könne man sich an ihren Oberflächen schneiden. Im Wohnzimmer waren Gwyns Bücherstapel vom Boden verschwunden und ordentlich sortiert, das Sofa gesaugt und die karierte Wolldecke gewaschen und säuberlich zusammengefaltet.

»Wow, du hast ja hier eine richtig schnuckelige Bibliothek«, staunte Holly. Sie kannte die alte Gwyn seit ihrem ersten Tag in Wales und eine tiefgehende, warmherzige Freundschaft hatte sich zwischen ihnen entwickelt. Manchmal sah Holly in ihr die Großmutter, die sie niemals gehabt hatte.

»Das Regal habe ich vorletztes Wochenende mit Laila geordnet, um ihr die englischen Dichterinnen nahezubringen. Austen, Barret-Browning, Woolf. Du weißt schon.«

»A rose is a rose is a rose!«, trällerte Laila.

»Gertrude Stein für eine Zehnjährige?« Holly lachte.

»Ich liebe Rosen!«, sagte Laila.