Herz einer Löwin - Rita de Monte - E-Book

Herz einer Löwin E-Book

Rita de Monte

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Beschreibung

Als Einzelkind in eine Familie hineingeboren mit einem kühlen, strengen Vater und einer psychotischen Mutter, erzählt diese wahre Autobiografie spannend von gescheiterten Ehen, sexuellem Missbrauch, Selbstmord des Vaters und vielen anderen Traumata. Man fragt sich, wie ein Mensch der so viele Schicksalsschläge ertragen hat und einige schwere Krankheiten überstanden hat, wieder solch eine Lebensenergie entwickeln kann. Die Autorin gab ihren Lebensmut nie auf, obwohl sie dem Tod zweimal von der Schippe gesprungen ist. Durch das Erkennen des Zusammenhangs zwischen Krankheiten und erlittenen Traumata, stieg sie wie Phönix aus der Asche. Die Autorin nutzte ihren schweren Lebensweg dazu, heute als Lebensberaterin und Coach, anderen Menschen in schweren Situationen beizustehen und wieder Licht am Horizont aufzuzeigen.

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Inhalt

VORWORT

August 1961

Meine Eltern Erika und Karl

Baby Rita

Der erste Kuss

Lehrling

Erste große Liebe

Hochzeit

Wundervolles Schweden

Auf zu neuen Ufern

Der schöne René

1986 - Arianna

1988 - Desiré

Das Örtchen Calvi und Spaghettis

Die Tierklinik

Omar kommt

Algerien

Diabolo und Blacky

Engelchen flieg

Bungee Jumping

29. September 2001

Rebellion

Esoterische Ambitionen

Der Allgäuer

Mein Holzhaus

Morbider Plan

Medium Bill

Meine Oase

Retraumatisierung

Leben oder sterben?

VORWORT

Meine lieben Leserinnen und Leser,

ich habe mich oft gefragt, wieviel seelischen Schmerz ein Mensch ertragen kann, als ich mein bisheriges Leben reflektierte, denn ich haben viele Traumata erlebt.

Doch wenn ich bedenke, wieviel Leid es in dieser Welt gibt, obwohl wir doch eigentlich zivilisiert und gebildet sind, dann relativiert sich mein Schmerz auf eine unwesentliche und geringe Summe.

Auch wenn meine seelischen Verletzungen für mich schwer wogen und mich fast zerstörten, so hatten sie auch etwas Gutes, denn sie haben mich zu dem empathischen Menschen gemacht, der ich heute bin. Schon meinVater sagte immer zu mir: „Was einen nicht umbringt macht einen nur stärker“. Im Nachhinein betrachtet denke ich, dass er recht hatte, auch wenn er mir dies letztendlich nicht vorgelebt hat und an seinem eigenen Schicksal zerbrach.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen.

Herzlichst Ihre

Rita de Monte

August 1961

Spirituelle Menschen behaupten, dass die Seele sich vor ihrer erneuten Reinkarnation ihre Lernaufgaben selbst aussucht. Da scheine ich wohl viel zu oft „Hier“ gerufen zu haben.

Meine Mutter Erika erzählte immer, dass sie kugelrund war als sie mit mir schwanger war. Es wurde Hochsommer und sie ernährte sich nur noch von Buttermilch und Aprikosen. Später erzählte sie oft davon, dass sie sich die Schnürsenkel nicht mehr selbst binden konnte vor lauter dickem Bauch.

Es war ein wunderschöner, heisser Tag im August als meine Mutter mit Wehen ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Der diensthabende Gynäkologe hatte an diesem Tag Geburtstag, genauso wie mein Vater Karl. Man wartete und wartete, doch bereits während des Geburtsvorganges hatte ich meinen eigenen Kopf. Ich wollte meinen eigenen Geburtstag und kam einfach einen Tag später per Zangengeburt auf die Welt. Vermutlich hätte ich meine arme Mutter sonst noch länger geplagt.

Angeblich war ich von Anfang an ein quirliges Kind und nicht gerade pflegeleicht. Wenn man alte Fotos betrachtet, dann sieht man darauf, dass ich den Schalk im Nacken hatte und sicher oft schwer zu bändigen war. Heute kann ich mir das gar nicht mehr vorstellen.

Als ich geboren wurde, wohnten meine Eltern in einer Firmenwohnung im ersten Stock. Ich kann mich noch an den langen Flur dieser Wohnung erinnern, er maß dreizehn Meter und war perfekt dazu geeignet auf den Socken zu rutschen. Meine Mutter schüttelte nur den Kopf über meinen Bewegungsdrang.

Mein Kinderzimmer lag am Ende des Flurs. Es gab eine Verbindungstür zu der angrenzenden Wohnung in der zwei ältere Damen lebten. Sie hatten eine verwandtschaftliche Beziehung zum Chef meiner Eltern. Eine der älteren Damen besuchte mich in der Nacht manchmal, als ich ein kleines Baby war. Meine Mutter erzählte mir später, dass ich nachts anfing zu schreien. Sie schaute natürlich sofort nach mir und erwischte die alte Dame dabei, wie sie an meinem Bettchen stand. Meine Eltern schoben dann einen schweren Schrank vor die Verbindungstür damit dies nicht wieder vorkommen konnte.

Unser Wohngebäude stand an einer Kreuzung. Auf der einen Seite eine vielbefahrene Straße, auf der anderen Seite eine kleine Nebenstraße. Dort war auch der Eingang zum eingezäunten Hofgelände. Hier musste man hindurch, wenn man zu unserem Treppenaufgang wollte.

Über das Hofgelände wachte der Schäferhundmixrüde Arco. Der Hund gehörte dem Chef meines Vaters und in diesem geteerten Hof stand seine Hundehütte. Arcos Gelände war auch mein Spielgelände, denn ich hatte nur den geteerten Hof als Spielfläche. Wir wohnten ja mitten in der Kleinstadt, da gab es nicht so viele grüne Flächen. Arco jedenfalls war mein bester Freund, und bereits im zarten Alter von zwei Jahren fühlte ich mich zu Tieren sehr hingezogen. Arcos große Hundehütte fand ich toll. Oft kroch ich hinein zu dem Hund, denn er war so warm und kuschelig und schien es auch zu genießen, dass sich jemand zu ihm legte. Als kleines Kind wußte ich natürlich noch nicht, dass es Teile an Tier und Mensch gibt, die sehr empfindlich sind. Ich hatte Arco wohl streicheln wollen und untersuchte auch seine Hoden ganz genau. Vermutlich habe ich zu fest gedrückt, denn er biß mich plötzlich in den Kopf. Er hat sich nur gewehrt, weil es weh tat, es war keine böse Absicht gewesen.

Für mich war dieser Biß nicht weiter schlimm, er wurde mit zwei Stichen genäht und schon war es vergessen. Schließlich hatte ich dem Hund weh getan. Er war trotzdem immer noch mein Freund. Nur durfte ich leider nicht mehr zu ihm. Meine Eltern stuften den Hund als Gefahr für mich ein. Vermutlich dachte mein Vater, dass der Hund aggressiv zu mir gewesen war und hatte Angst um mich und meine Gesundheit. Jedenfalls war Arco plötzlich weg und ich konnte wieder im Hof spielen, aber mein Freund fehlte mir sehr.

Mein Vater hatte den armen Hund nachts entführt und mit seiner Pistole, die er noch aus einem kurzen Kriegseinsatz hatte, erschossen. Diese Pistole hat er leider sein Leben lang behalten. Seinen Hundemord beichtete er mir erst sehr viel später, als ich lange erwachsen war und außer Haus wohnte. Damals hatte er gerade erst einen schweren Herzinfarkt hinter sich und war wohl in der Stimmung, sein Gewissen zu erleichtern. Ehrlich gesagt, hätte er das besser für sich behalten.

Meine Eltern arbeiteten beide in diesem Betrieb. Mein Vater als Maschinenschlosser und meine Mutter als kaufmännische Sachbearbeiterin. Mama arbeitete nur halbtags. Das Büro der Firma war direkt unter unserer Wohnung. Ich konnte also immer im Büro vorbeischauen, wenn ich ein Anliegen hatte. Aber natürlich spürte ich schon damals sehr genau, wenn ich störte.

Da ich keine Geschwister hatte und zu diesem Zeitpunkt auch keine anderen Kinder in meiner Nähe wohnten, fühlte ich mich oft sehr einsam und jetzt war leider mein Freund Arco auch weg. Eines Tages spielte ich alleine im Hof, als eine Horde von Schulkindern draußen am Zaun vorbei ging. Ich fand das Gelärme, das sie veranstalteten toll, machte das Gartentürchen auf und schloß mich ihnen einfach an. Vielleicht hatten sie mich auch ermuntert mitzukommen, das weiß ich nicht mehr. Damals war ich drei Jahre alt.

Meine Mutter erzählte mir, dass ich mich einfach dieser fröhlich lärmenden Gruppe angeschlossen hätte und mit ihnen nach Hause gegangen wäre. Es handelte sich wohl um mehrere Geschwister einer großen Familie. Die Mutter der Kinder reagierte ganz gelassen, legte ein weiteres Gedeck für das Mittagessen auf und fragte mich aus. Meine Mama hatte mir meinen Namen und meine Adresse schon beigebracht und so konnte mich die angerufene Polizei wohlbehalten wieder zu Hause abliefern. Die große Familie hatte mich nicht behalten wollen. Schade, denn der Trubel hatte mir wirklich sehr gefallen. Zum Glück war meine eigene Mutter sehr froh, dass ich wieder zu Hause war. Sie bestrafte mich nicht einmal.

Meine Mama merkte, dass sie mich nicht mehr so alleine zu Hause behalten konnte, da ich mit Sicherheit weiteren Unfug anstellen würde. Also meldete sie mich im nahe gelegenen Kindergarten an. Dieser lag nur zwei Querstraßen von unserer Wohnung entfernt. Es war allerdings ein katholischer Kindergarten in dem Zucht und Ordnung, bzw. strenge Regeln herrschten.

Anfangs brachte mich meine Mutter jeden Morgen dorthin und lieferte mich bei der Kindergartentante ab. Doch schon bald ging ich alleine hin. Obwohl ich neugierig und abenteuerlustig war, zeigte ich das nicht nach außen. Ich wirkte immer eher schüchtern und introvertiert. Laute, herrschsüchtige Personen schüchterten mich sofort ein. Da mir die Geschwister fehlten, hatte ich nie gelernt, meine Befindlichkeiten verbal auszudrücken. Außerdem kam ich mit mir selbst ganz gut zurecht, und oft fühlte ich mich irgendwie anders und auch ausgeschlossen, weil ich die soziale-Sprache der anderen Kinder nicht verstand. Also beobachtete ich und lernte dadurch. Später wurde mir bewusst, dass mir schlicht und einfach eine gewisse Sozialisierung fehlte. Meine Mutter hatte nie dafür gesorgt, dass ich mit anderen Kindern spielen konnte. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie mit anderen Müttern Kontakt gehabt hätte, um sich mit ihnen und ihren Kindern zu treffen. Auch einen Spielplatz gab es bei uns in der Nähe nicht. Also lernte ich einfach mich alleine zu beschäftigen, denn es blieb mir gar nichts anderes übrig, und wenn man nichts anderes kennt, dann empfindet man es auch nicht als schlimm. Bis man eben die ersten Vergleichsmöglichkeiten bekommt. Damals bemerkte ich, dass ich eher nebenher lief und sich bei meinen Eltern alles ums Arbeiten und Geldverdienen und sich selbst drehte.

Meine Mutter stand sehr früh auf. Bereits bevor sie hinunter ins Erdgeschoß ging um im Büro zu arbeiten, kochte sie das Mittagessen vor. Mein Vater hatte es ja auch nicht weit von seinem Arbeitsplatz bis zur Wohnung und deshalb kam er immer mittags – kurz nach 12 Uhr - nach Hause und da musste das Essen auf dem Tisch stehen.

An unser Wohnhaus war eine Halle angebaut, in der einige Mitarbeiter arbeiteten, doch es gab auch noch ein Betriebsgelände, etwa fünf Minuten zu Fuß vom Wohnhaus entfernt. Dort war die Eisenbiegerei angesiedelt die auch zur Firma Kern gehörte. Mein Vater war handwerklich sehr geschickt und wurde immer dort eingesetzt wo man ihn gerade brauchte. Manchmal fuhr er auch Ware aus, da er auch den LKW Führerschein hatte. Er war sozusagen „Mädchen für alles“ und sein Chef schätze ihn sehr.

Da Geld trotzdem immer knapp war, verdiente sich meine wunderschöne Mutter noch ein bisschen Geld als Mannequin für ein Modegeschäft dazu.

An jenem Abend fand ein solches Event statt, nicht weit von meinem zu Hause entfernt. Damals war ich fast fünf Jahre alt und schon recht selbständig. Ich ging bereits alleine zum Kindergarten oder besuchte meinen Vater in der Eisenbiegerei. Manchmal schickte mich meine Mutter mit der Milchkanne zum Milchholen in den kleinen Laden ein paar Straßen weiter. Er war gegenüber des Kindergartens. Diesen Weg kannte ich inzwischen im Schlaf.

Am Tag der Modeschau wollte mein Vater unbedingt seine Angetraute dort sehen. Er brachte mich recht früh zu Bett. Da ich nicht einschlafen konnte, bemerkte ich natürlich, dass er sich aus der Wohnung schlich. Ich wollte ihm nachgehen, doch er hatte meine Kinderzimmertür abgeschlossen. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Fieberhaft überlegte ich wie ich herauskommen könnte.

Meine Eltern hatten beim Mittagessen darüber gesprochen, dass meine Mutter abends diese Modeschau laufen würde. Sie hatten auch erwähnt, dass dies im alten Zollamt neben dem Güterbahnhof stattfinden sollte. Ich wusste wo das war, nämlich keine zweihundert Meter von meinem zu Hause entfernt. Ich würde nur über zwei Hauptstraßen gehen müssen. Aber wie sollte ich aus meinem Zimmer kommen, das sich ja im ersten Stock befand?

Kurzerhand zog ich das Laken von meinem Bett ab, nahm es und band es an einen der inneren Holzriegel. Damals gab es noch Holzläden mit Holzriegeln. Nicht unbedingt sehr stabil. Das Leintuch war zwar ein bisschen zu kurz, trotzdem kletterte ich aus dem ersten Stock des Hauses und hüpfte die restlichen 1,5 Meter einfach hinunter.

Es stand eine ganze Traube von Menschen da unten auf dem Gehsteig, doch keiner half mir. Alle gafften nur das kleine Mädchen an, das aus dem Fenster kletterte. Bevor mich jemand aufhalten konnte, rannte ich wie der Blitz über die Hauptstraße zum alten Zollamt. Ihr seht, meine Schutzengel hatten schon damals eine Menge zu tun. Meine Eltern waren nicht erfreut darüber was ich angestellt hatte, aber auch froh, dass nichts passiert war und so bekam ich nicht all zu viel Ärger. Mein Vater bekam allerdings Ärger mit meiner Mutter, weil er mich eingeschlossen hatte.

Meine Eltern Erika und Karl

Obwohl meine Eltern sich sehr liebten, waren sie doch sehr unterschiedlich. Mein Vater wirkte stets sehr kühl und legte großen Wert auf klare Regeln und dass diese auch eingehalten wurden. Heute ist mir klar, dass er Angst vor Kontrollverlust hatte.

Meine Mutter war sehr lebhaft und temperamentvoll. Wenn die beiden miteinander stritten und das passierte leider relativ oft, dann warf meine Mutter durchaus auch hin und wieder eine Pfanne nach meinem Vater, oder sie schlug mit Absicht die Tür sehr geräuschvoll zu. Mein Vater hasste es wenn man sich nicht unter Kontrolle hatte und strafte meine Mutter dann mit tagelangem Schweigen. Dies zermürbte sie dann so, dass sie wieder anfing sich „gut“ zu benehmen. Meine Eltern waren so beschäftigt mit sich selbst, dass ich mich immer mehr in mein eigenes Inneres zurück zog. Ich teilte meine eigene Befindlichkeit niemals mit. War ich traurig, so heulte ich in meinem Zimmer.

Mein Vater Karl, vermutlich schwer traumatisiert durch seine eigene Geschichte und sehr pflichtbewusst, hielt sich an strengen Regeln fest, die auch sein Umfeld befolgen sollte. Meine Mutter dagegen war eher eine labile, unsichere Frau, die viel lieber auf Parties gegangen wäre und sich amüsiert hätte. Sie war immer auf der Suche nach Wärme und Geborgenheit. Mein Vater, durch seine eigene Geschichte geprägt, konnte ihr dies aber nicht in der Form geben, wie sie das gebraucht hätte. Für ihn war eher Sex und Leidenschaft etwas, das er mit Liebe und Geborgenheit verwechselte.

Ich glaube meine Mutter fühlte sich oft sehr eingesperrt, weil mein Vater kein geselliger Typ war, sondern das Geldverdienen und die materielle Sicherheit im Vordergrund standen.

Meine Mutter Erika hatte drei Geschwister. Zwei Schwestern und einen jüngeren Bruder. Sie selbst war die Zweitälteste und musste oft auf die Kleineren aufpassen. Meine Oma Maria war Hausfrau und mein Opa Paul arbeitete in der ZF Friedrichshafen und somit war das Geld auch hier knapp, denn es waren vier hungrigen Mäuler zu stopfen. Im Krieg schickten manche Eltern ihre Kinder in die Schweiz. Als ausgewählt wurde welches der Kinder weggeschickt werden sollte, fiel die Wahl auf meine Mutter. Sie war damals erst zwölf Jahre alt. Eine Bekannte der Familie wohnte in St. Gallen und hatte sich bereit erklärt, das Kind bei sich aufzunehmen. Diese Dame war weder verheiratet, noch hatte sie eigene Kinder. War also im Umgang mit Kindern etwas unbeholfen auch wenn sie es gut meinte. Meine Mutter erzählte manchmal, wie sehr sie darunter gelitten hatte, von ihrer Familie weggeschickt worden zu sein. Sie hatte zwar genug zu essen, auch oft Schweizer Schokolade, aber sie hatte furchtbares Heimweh. Anscheinend wurde sie regelrecht gemästet und war dann auch ziemlich mollig, als sie mit fünfzehn Jahren wieder nach Hause durfte.

Ihre Eltern meldeten sie in der Kaufmännischen Handelsschule an und als sie diese abgeschlossen hatte, fing sie in der Maschinenfabrik in Ravensburg im Büro an. Dort lernte sie bei einem Betriebsausflug meinen Vater kennen und lieben. Bald darauf kündigten die beiden dort ihre Jobs und fingen nur eine Straße weiter weg bei der Eisenbiegerei Kern in Ravensburg an, weil sie dort eine Betriebswohnung zugesagt bekommen hatten. In dieser Wohnung lebten die beiden, als ich 1961 zur Welt kam.

Mein Vater schwärmte immer davon, dass meine Mutter eine ganz bezaubernde, kurvige Frau gewesen sei. Beim damaligen Betriebsausflug war sie vor ihm einen steilen Hügel zu einer Burg hochgegangen und das Popogewackel hatte in ganz wuschig gemacht. Bald darauf haben sie geheiratet. Meine Mutter war erst neunzehn Jahre alt, als sie vor dem Traualtar stand. Die Eltern meiner Mutter waren nicht begeistert, beugten sich aber diesem Entschluß, als sie bemerkten, dass ihre Tochter heillos verliebt war. Mein Vater war fast zehn Jahre älter. Vielleicht hatte Mama damals einfach ein Gefühl der Sicherheit durch ihn. Aber sicher war es auch eine große körperliche Anziehungskraft, jedenfalls von Seiten meines Vaters. Er liebte meine Mutter bis zum bitteren Ende mit all seiner Leidenschaft.

Meine Mutter war eine sehr schöne Frau. Damals musste man nicht Größe 36 haben um als schön durchzugehen. Sie stylte sich aufwändig und hatte immer ein besticktes Stofftaschentuch, einen Spiegel und einen Kamm in ihrer Handtasche. Vom Grundcharakter war sie ein sehr lebenslustiger Mensch, sehr gastfreundlich und liebenswert. Viel später ist mir bewusst geworden, dass sie sich sicher oft gefangen gefühlt hat. Sie verstand sicher oft nicht, warum mein Vater so reagierte wie er eben reagierte. Sie wurde immer trauriger, in sich gekehrter und schien mich oft gar nicht wahrzunehmen. Vermutlich habe ich damals bereits meine Intuition geschult, denn ich hab immer versucht auszuloten, ob ich sie gerade stören durfte oder ob sie mit ihren eigenen Befindlichkeiten beschäftigt war.

Nach meiner heutigen Lebenserfahrung würde ich behaupten, dass mein Papa ein schweres Kindheitstrauma und sowohl ein Mutter- als auch ein Vaterthema hatte. Leider habe ich nie viel aus seiner Vergangenheit erfahren. Außer, dass sein Vater (mein Opa Franz-Josef), nachdem er in einem Wirtshaus in betrunkenem Zustand mit einer Waffe herumgefuchtelt und nazifeindliche Parolen von sich gegeben hatte, in eine Art Internierungslager in Sigmaringen kam. Das war im Juni 1938. Man schrieb das Deutsche Reich und der zweite Weltkrieg stand kurz bevor. Von Sigmaringen wurde mein Opa Karl-Josef de Monte, geboren am 04.06.1898 als Häftling (Quelle: NARA Zugangsbuch des KZs Dachau) am 21.03.1939 ins KZ Dachau überführt. Man nannte das Haftkategorie: Arbeitszwang. Es wurde zwar behauptet, dass er das KZ lebend verlassen hätte, aber es war keinerlei Spur mehr von ihm zu finden. Deshalb denke ich, dass er, wie viele andere auch, im KZ gestorben ist. Ich habe ihn also nie kennengelernt.

Die Ehe meiner Großeltern war scheinbar nicht so gut, denn es ging das Gerücht um, dass meine Oma Paula ihren Mann bereits vor diesem Vorfall hatte vergiften wollen. Als Hebamme hätte sie sicher das nötige ärztliche Wissen dazu gehabt. Dies wurde aber nie weiter verfolgt. Ich weiß also nicht, ob es wirklich stimmt. Ihr Ruf war durch die Tat ihres Mannes so oder so ruiniert. Kurz nach dessen Verhaftung wurde sie von der Polizei mitsamt ihren Kindern zu einem schnell einberufenen Gerichtstermin abgeholt.

Mein Vater erzählte mir, dass seine Mutter und sein Vater bei diesem Termin zwangsgeschieden wurden. Während die Mutter im Gerichtssaal abgeurteilt und zwangsgeschieden wurde, saßen mein Vater Karl und sein jüngerer Bruder Alfons, total eingeschüchtert und voller Angst auf einer harten Bank vor dem Gerichtssaal. Mein Vater war damals sieben Jahre alt. Sein Bruder erst fünf.

Ohne Vorwarnung wurde die Mutter sofort abgeführt und in ein Krankenhaus nach Ostdeutschland abgeschoben. Da sie eine Hebammenausbildung abgeschlossen hatte, war es kein Problem für die Behörden, einen Arbeitsplatz für sie zu finden. Der Beruf der Hebamme war schon immer etwas sehr wertvolles.

Die Kinder – die als einzigen Besitz ihre Kleidung hatten, die sie auf dem Leib trugen - wurden voneinander getrennt und direkt von der Gerichtsbank in verschiedenen Familien untergebracht. Der Bruder Alfons kam in eine gut situierte, liebevolle Familie, während man meinen Vater bei einer Bauersfamilie unterbrachte, die selbst keine Kinder hatte. Die Bäuerin konnte leider keine Kinder bekommen.

Auf diesem Bauerhof musste er sehr viel arbeiten. Sein Ziehvater Hermann war ein sehr strenger Mann, alles musste genau nach seinen Regeln ablaufen, sonst setzte es Schläge. Seine Ziehmutter Rosa war zwar eine sehr liebenswerte Person, aber sie hatte sich ihrem Mann unterzuordnen und getraute sich nicht, sich schützend vor das Kind zu stellen. Schließlich war sie von ihrem Mann abhängig. Sie hatte keinerlei Berufsausbildung.

Papa erzählte oft wie einsam er sich gefühlt hat und dass sein Pflegevater einiges von ihm abverlangte. Den Schulweg musste er ohne Schuhe laufen, denn er hatte schlichtweg keine. Auch im Winter ohne Schuhe und Socken gehen zu müssen kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Es waren immerhin zwei Kilometer bis zu seiner Schule.

Die anderen Schulkinder hänselten ihn, weil er eben nicht wirklich zum Dorf gehörte und somit hatte er auch keine wirklichen Freunde, bis auf einen. Der hieß Otto. Den habe ich später auch noch kennengelernt und auch dessen Söhne. Leider starb Otto sehr früh an einem Herzinfarkt. Er war ein sehr warmherziger Mensch. Mein Vater war damals sehr traurig, als er davon erfuhr.

Dass solche Erlebnisse eine zarte Kinderseele traumatisieren und ihre Spuren hinterlassen, dürfte wohl jedem von uns klar sein.

Kurz vor Ende des zweiten Weltkrieges wurde er dann noch zum Wehrdienst eingezogen. Damals war er fünfzehn Jahre alt, kam dann noch kurz in französische Gefangenschaft und wurde dort mehrfach geschlagen und mißhandelt. Seit damals hasste er alle Franzosen. Aus dieser Zeit stammte wohl auch seine Pistole. Er nannte sie immer nur meine Null Acht.

Baby Rita

Zwei Jahre nach der Heirat meiner Eltern, kam ich in besagtem heißen Monat August 1961 – als Sternzeichen Löwe - auf die Welt. Leider blieb ich ein Einzelkind, was mich oft sehr traurig machte. Vor allem, da meine Mutter immer sehr mit sich selbst beschäftigt war und mein Vater oft erst spät abends von der Arbeit heimkam. Er schien gar nicht wirklich zu wissen, dass ein Kind mehr als Essen und ein Bett braucht. Eigentlich logisch, wenn man sich seine eigene Kindheit anschaut. Aber für mich selbst nicht so toll.

Wobei er sich an den Wochenenden wirklich sehr bemühte und mit uns oft zum „Froschweiher“ fuhr. Dort zeigte er mir Kaulquappen und viele Insekten.

Er hatte sich eine Isetta gekauft. Ein kleines Auto bei dem die Tür nach vorne aufging und wir drei gerade so Platz hatten. Die Isetta wurde meines Wissens damals von den Bayerischen Motorenwerken gebaut, war also ein BMW und der ganze Stolz meines Vaters.

Der Wald in dem der Froschweiher lag war für mich ein richtiger Erlebnisspielplatz. Einmal fingen wir einen Aal und ich durfte ihn in einem Eimer mit nach Hause nehmen. Der Aal stieg aber tatsächlich nachts aus seinem Eimer aus und ich fand ihn – zum Glück noch lebend – unter meinem Bett. Wir brachten ihn natürlich wieder zurück in die Freiheit.

Ich bin mir inzwischen sicher, dass er mich sehr geliebt hat. Nur konnte er mir das nie wirklich zeigen. Er hat ja nie selbst lernen können, dass man ein Kind in den Arm nehmen oder ihm liebevoll über den Kopf streicheln könnte. Er sagte immer zu mir „Was einen nicht umbringt, macht einen nur härter“. Das war sein altbewährtes Motto.

Ja, ohne Zweifel sorgte mein Vater vorbildlich und pflichtbewusst für uns. Er ging oft zwölf Stunden arbeiten, wir hatten genug zu essen, ein Bett und konnten sogar einmal im Jahr in den Urlaub fahren. Meistens zum Zelten. Trotzdem hatte ich ihn immer als harten Hund in Erinnerung. Ehrlich, konsequent und hart. Gefühle zu zeigen oder zu heulen war verpöhnt. Durch sein Verhalten nahm ich ihn als Menschen wahr, der mich nicht liebte, denn er nahm mich niemals in den Arm. Ich hatte das Gefühl, dass ich seine Liebe nur durch Taten und Leistung bekommen konnte, denn wenn ich etwas gut gemacht hatte, dann lobte er mich manchmal und das war schön. Trotzdem war es irgendwie nie genug für mich. Ich glaubte deshalb auch meiner Mutter nicht, die immer wieder beteuerte, wie sehr er mich lieben würde.

Einmal zog er mir ein Hühnerauge mit der Beißzange. Dies sage ich nur, damit ihr nachvollziehen könnt, dass er mich zu einem Menschen erziehen wollte, der einiges aushalten kann.

Jedenfalls lernte ich Dinge zu erdulden, obwohl ich mich längst hätte wehren sollen. Manche Kinder reagieren mit Rebellion, ich stellte mich eher tot. Ja nicht auffallen, keine Ansprüche stellen, mich überall anpassen und einfügen. Dadurch entwickelte ich auch meine sehr starke Empathie. Sich anpassen zu können, ist natürlich sehr hilfreich für's Leben. Allerdings war es so extrem, dass ich meine eigenen Wünsche mit der Zeit immer mehr vergaß. Ich spürte einen Mangel in dieser Familie, den ich mir nicht erklären konnte. Wie sollte ein Kind auch wissen was es vermisst. Schon in meiner frühen Kindheit, so mit sieben Jahren, spürte ich, dass meine Mutter mehr in ihren eigenen inneren Problemen gefangen war und ich eigentlich nur störte. Ich ging deshalb entweder auf die Gasse, so nannte man das spielen und herumstreunen draußen, oder ich zog mich mit einem Buch in mein Zimmer zurück, um mich in eine Fantasiewelt zu beamen. Denn indem ich in diesen Geschichten lebte, konnte ich meinen Bewegungsdrang mental ausleben und die tollsten Abenteuer erschaffen. Das war in dieser Zeit das Höchste für mich.

Als quirliges, ungestümes und sehr wissbegieriges Kind geboren, wurde ich somit immer stiller und in mich gekehrter. Meine Empathie entwickelte sich zwar extrem, weil ich immer fühlen musste, ob ich mein emotionales Befinden äußern durfte oder lieber gerade nicht. Meistens kam ich zu dem Entschluß, dass ich es gerade nicht durfte und zog mich zurück.

Dadurch dass ich - außer im Kindergarten und später in der Schule – nicht wirklich soziale Kontakte mit anderen Kindern pflegen konnte, lernte ich auch nie wirklich mich konstruktiv zu streiten. Mir fehlten auch oft die Worte, um das was ich innerlich fühlte, verbal zu äußern. Irgendwann hab ich innerlich wohl resigniert, mich gar nicht mehr getraut mich zu äußern und letztendlich alles mit mir selbst ausgemacht. Somit habe ich schon recht früh gelernt, sehr angepasst zu sein und nichts zu fordern. Was sich später sehr negativ auf meine Beziehungen auswirken sollte. Meine Mutter hatte immer ein schlechtes Gewissen mir gegenüber, und irgendwann kaufte sie mir einen Goldhamster als Spielgefährten. Goldi, wie ich sie nannte, bekam irgendwann sogar viele kleine Hamsterkinder. Ich hab noch ein Foto, wie sie alle zusammen in der Obstschale sitzen neben ein paar Äpfeln. Irgendwann büchsten die Kleinen allerdings aus und lebten bei uns in den Zwischenwänden. Mama Goldi hatte leider eines Tages Glaswolle gefressen und wurde von meiner Mutter vorsorglich mit dem Hausschuh erschlagen. Schon wieder ein Mord vor meinen Augen. Die Erwachsenen verstehen anscheinend nicht, dass ein Tier für ein Kind ein Geschwisterersatz sein kann und dass da durchaus eine innige, unschuldige Verbindung entsteht. Und schon wieder verlor ich ein Haustier, das ich kindlich geliebt hatte.

Meine Kindheit wäre noch sehr viel einsamer verlaufen, wenn ich nicht Marianne kennengelernt hätte. Sie war ebenfalls Einzelkind und hatte niemanden zum Spielen.

Eines Tages saß sie auf dem Mäuerchen an unserer Nebenstraße vor ihrem Wohnhaus. Sie war gerade von der Schule heimgekommen und wartete auf ihre Mutter, da sie den Schlüssel vergessen hatte. Ihr Wohnhaus stand direkt schräg gegenüber von meinem zuhause. Von unserem Hof aus sah ich das Mädchen dort sitzen und wurde neugierig.

Ich ging hinüber zu ihr und wir unterhielten uns. Dabei stellte sich heraus, dass wir den gleichen Schulweg hatten. So freundeten wir uns immer mehr an. Wenn ich meine Hausaufgaben gemacht hatte, trafen wir uns meistens bei ihr. Sie hatte ein riesiges Zimmer und ganz viele Spielsachen. Ihre Eltern arbeiteten auch beide, aber die Oma war immer da und verwöhnte uns mit Kuchen und Süßigkeiten. Trotzdem war Marianne extrem dünn und schlaksig und erweckte immer den Eindruck, dass sie sich nicht alleine helfen konnte. Schon früh mutierte ich zu ihrer Beschützerin.

Meine Mutter musste in der Grundschule öfters antanzen, weil ich kratzte und biß. Natürlich verteidigte ich auch meine Freundin, wenn ihr jemand zu nahe kam. So baute ich wohl meine aufgestauten Agressionen ab.

Es gab da den Sohn des Schornsteinfegers. Der wohnte in der gleichen Straße wie ich und oft begegnete ich ihm wenn ich herum streunerte. Er wechselte oft schon die Straßenseite, wenn er mich aus der Ferne sah. Dies hielt mich jedoch nicht davon ab auf ihn zuzurennen und ihm eine zu klatschen. Meistens mitten ins Gesicht. Der arme Junge war einen ganzen Kopf grösser als ich, aber irgendetwas an ihm, vielleicht seine scheinbare Hilflosigkeit, reizte mich zuzuschlagen. Irgendwann mied er mich dann so gut er konnte. Verständlich.

Da ich inzwischen eine sehr gute Intuition entwickelt hatte, merkte ich genau, wenn meine Mutter gestresst war. Da sie nur halbtags arbeitete, war sie ja Nachmittags immer zu Hause und eigentlich hätte ich mir mehr Zuwendung von ihr gewünscht. Doch ich hatte immer das Gefühl, dass sie ihre Ruhe brauchte und ich sie mit meinen kleinen Anliegen nicht belasten durfte. Dann ging ich zu meiner Freundin Marianne oder auf meinen heiß geliebten Schrottplatz.

Das Betriebsgelände auf dem mein Vater arbeitete, empfand ich als sehr spannend. Dort wurde Eisen gebogen, es lagen verrostete Eisenmatten und Stahlträger herum und eben auch diverser Schrott. Wenn sich in einem der Eisenträger Wasser gesammelt hatte, entstanden mit der Zeit kleine rote Würmchen, die dort herumschwammen. Solche Dinge faszinierten mich. Ich wäre die geborene Forscherin geworden. Vieles lernte ich einfach nur, indem ich alles sorgfältig beobachtete.

Wenn es regnete, verkroch ich mich in meinem Kinderzimmer und las. Ich fraß Bücher regelrecht. Das Lesen gab mir eine kleine heile Welt mit vielen Abenteuern. Ich konnte dadurch in meiner eigenen Fantasie versinken und vergaß alles um mich herum. Damals gab es noch kein Internet, keine Handys oder Spielekonsolen. Man musste sich selbst beschäftigen.

Eines Tages erzählte mir Marianne, dass sie in den Ferien drei Wochen zu ihrer Tante aufs Land fahren würde. Mich grauste schon vor dem Alleinsein. Also bettelte ich zu Hause so lange, bis ich mitfahren durfte. Und Juhu, ich durfte. Vermutlich war meine Mutter froh, eine Weile ihre Ruhe zu haben.

Die Tante von meiner Freundin besaß einen Bauernhof und hatte zwei Söhne, etwas älter als wir beide. Dort bestand das Leben zwar aus Arbeiten, Essen und Schlafen, aber es gab dort so viele unterschiedliche Tiere. Ich war in meinem Element und habe wunderschöne Erinnerungen daran. Einmal bin ich auf einer Kuh geritten und musste feststellen, dass die einen ziemlich harten Rücken hatte. Ganz anders als Pferde. Außerdem mussten wir beim Heu machen helfen, füttern und Beeren zupfen. Wir waren abends total k.o. aber glücklich.

Allerdings war es nicht immer so ganz sauber bei Tante Hilde. Einmal sah ich ihren eingeweichten Schlüpfer in einem Eimer unter dem Waschbecken vor sich hingammeln, beschmiert mit Blut. Damals wussten wir noch nichts von Monatsblutungen.

Trotzdem war dieser Urlaub ein tolles Erlebnis, und das Beste war, dass Tante Hilde uns zwei Hasen schenken wollte. Seltsamerweise erlaubte mir mein Vater mein Hasenkind. Er baute sogar einen Hasenstall in einem Wellblechschuppen, der auf dem Betriebsgelände seines Chefs stand.

Ich war selig. Endlich war ich nicht mehr allein. Immer mehr wurde Frau Schwarzohr zu meiner besten Freundin. Eigentlich war die Häsin weiss und hatte zwei schwarze Ohren, einen schwarzen Aalstrich auf dem Rücken und die Augen waren ebenfalls schwarz umrandet. Sie war wohl schon trächtig gewesen, als ich sie bekommen hatte, denn eines Tages fand ich in ihrem Stall ein weich ausgepolstertes Nestchen mit kleinen Hasenkindern. Ich freute mich natürlich sehr. Mein Vater eher weniger. Ich musste ihre Kinder dann später leider hergeben. Nur ihren Sohn Klopfer durfte ich behalten. Er klopfte immer mit den Hinterläufen, wenn er wütend war.

Schwarzohr konnte ich meine tiefsten Sorgen anvertrauen. Sie war Freundin, Schwester und Vertraute für mich. Damals war ich etwa acht Jahre alt. Jeden Nachmittag besuchte ich sie nach den Hausaufgaben und sie durfte dann, zusammen mit ihrem Sohn, im Schuppen herumhoppeln. Sie kam sogar angehoppelt, wenn ich ihr pfiff. Es waren die drei schönsten Jahre meines Kinderdaseins, denn ich war nicht mehr allein. Es war so schön sich in das Fell meiner Häschen zu kuscheln, so warm. Noch heute überkommt mich eine tiefe Ruhe, wenn ich meine Katzen und Hunde kraule und meine Nase in ihr kuscheliges Fell stecke.

Kurz vor meinem elften Geburtstag kam mein Vater mit einer schlechten Nachricht von der Arbeit nach Hause. Die Firma seines Chefs war pleite und deshalb wollte dieser das Betriebsgelände an eine große Firma verkaufen. Der Wellblechschuppen sollte abgerissen werden, denn dort sollten neue Gebäude und eine Umgehungsstraße entstehen.

Mein Vater sagte, die Hasen müssen weg. Ich heulte, flehte, bettelte, er ließ sich nicht umstimmen. Obwohl wir bereits in eine Eigentumswohnung mit Balkon umgezogen waren und es dort sicher ein Plätzchen gegeben hätte, blieb er hart wie Stahl.

An einem Samstag Vormittag sagte er: „Komm wir gehen zum Schrottplatz.“ Ich dachte, er hätte eine Lösung gefunden. Hatte er auch, allerdings eine sehr grausame. Ich musste meine Hasenfreunde herholen und festhalten. Dann nahm mein Vater sein Kleinkalibergewehr, das er sich für seine Mitgliedschaft im Schießverein zugelegt hatte, legte an und erschoss Schwarzohr und Klopfer. Dann zog er ihnen das Fell ab und hängte es zum Trocknen an einer Leine auf. Die Kadaver nahm er mit nach Hause.

Vielleicht kann man sich vorstellen was das für ein Kind bedeutet. Der Vater bringt die besten Freunde um. Und die Mutter stellt sich nicht dazwischen, um dem Kind zu helfen oder eine Lösung zu suchen. Auch sie war in meinen Augen eine Verräterin.

Ich hatte Angst vor meinen Eltern, besonders vor meinem Vater und kapselte mich noch mehr in mir selbst ab. Viele sagen jetzt sicher, das waren doch nur Hasen. Stimmt, es waren keine Menschen. Zum Glück. Aber für mich waren sie eben meine engsten und verlässlichsten Freunde, und auch Tiere haben eine Seele und fühlen Emotionen und Schmerzen, genau wie wir.

Ich schluckte alle meine Tränen und Gefühle hinunter, denn ich hatte bereits gelernt niemandem zu zeigen wie ich mich fühlte. Auch das Verhältnis zu Marianne kühlte deutlich ab. Sie hatte ihren eigenen Hasen natürlich noch und liebte ihn bei weitem nicht so wie ich meine Hasen geliebt hatte. Aber sie hatte auch einen Rückhalt in ihrer Familie. Sie durfte immer sagen, was sie fühlte und dachte und ihre Bedürfnisse wurden ernst genommen.

Ich jedoch hatte lange daran zu knabbern und sah meinen Vater ab da auch als Bedrohung für Leib und Leben. Er war vorher schon sehr hart und geradlinig gewesen, aber jetzt ging es um eine Bedrohung. Und ich fühlte mich als Verräterin an meinen geliebten Freunden, weil ich ihnen nicht hatte helfen können. Massivste Schuldgefühle quälten mich, weil ich nicht aufbegehrt und rebelliert hatte.

Damals begriff ich noch nicht, dass mein Vater mir die „Härte“ des Lebens beibringen wollte, allerdings aus seiner Sichtweise. Keines meiner Elternteile begriff, wie einsam ich mich fühlte und wie sehr dies schmerzte. Kein in den Arm nehmen, nur dumme Sprüche wie: „Es waren doch nur Tiere.“

Etwa zwei Wochen später servierte meine Mutter „Hähnchen“ zum Abendessen. Auch wenn ich noch nicht viel über Tieranatomie wusste, so war mir doch klar, dass das ein zerlegter Hasenbraten war. Das erste Mal in meinem Leben wehrte ich mich und weigerte mich meine Hasen zu essen. Natürlich musste ich ohne Essen ins Bett. Aber das war mir egal. Ich fühlte mich so schon schlecht genug. Vielleicht war das dann letztendlich auch der Auslöser, dass ich einen Jungen wieder einmal scheinbar grundlos ohrfeigte. Ich musste diesen inneren Druck loswerden. Damals war ich bereits in der 5. Klasse der Realschule.

Auch dort hatte ich es nicht leicht. Mathe war ein rotes Tuch für mich. Ich war eher mit einer Sprachbegabung gesegnet statt mit logischem Denken. Deshalb hatte der Mathelehrer mich auf dem Kieker. Den hatten wir leider auch noch in Gemeinschaftskunde und Erdkunde. Ich musste ständig vor der ganzen Klasse Referate halten, was für einen introvertierten Menschen wie mich wirklich ein Albtraum war.

Ja, natürlich meisterte ich das. Aber da ich generell wenig redete, konnte man das schon als schwer für mich bezeichnen. Die Nacht davor konnte ich vor lauter Angst nicht schlafen. Im Nachhinein bin ich aber froh, dass mich mein Lehrer dazu „gezwungen“ hat, denn es gab mir dann doch auch einige Erfolgsmomente.

Mariannes und meine Wege hatten sich bereits getrennt. Ich war in die Realschule gewechselt während Marianne aufs Gymnasium durfte, obwohl sie viel schlechtere Noten hatte als ich. Mein Weg war laut meinem Vater schon