Herzen aus Asche - Narcia Kensing - E-Book
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Herzen aus Asche E-Book

Narcia Kensing

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Beschreibung

Ein mystischer Romantic-Fantasy-Roman vor der faszinierend-bedrohlichen Kulisse eines Dorfes in der schwedischen Einöde. Die junge Studentin Amelie zieht aus Geldnot allein in eine riesige, baufällige Villa auf dem Land bei Uppsala. Leif, der gutaussehende Besitzer, verlangt nämlich keine Miete. Irgendetwas stimmt jedoch nicht mit dem geisterhaften Gebäude, die Menschen im Dorf meiden das Anwesen, und die antiken Möbel zerfallen nach und nach zu Asche. Die Legenden des Nordens, die mystischen Sagen und die alten Geistergeschichten der Wikinger scheinen lebendig zu werden. Amelie und Leif kommen sich näher, doch schon bald muss sie feststellen, dass Leif ein schreckliches Geheimnis hütet, das nicht nur Amelies Welt völlig auf den Kopf stellt, sondern sie auch noch in Lebensgefahr bringt … feelings-Skala (1=wenig, 3=viel): Gefühlvoll: 2, Erotisch: 2, Mystisch: 3 »Herzen aus Asche« ist ein eBook von feelings*emotional eBooks. Mehr von uns ausgewählte erotische, romantische, prickelnde, herzbeglückende eBooks findest Du auf unserem Blog: http://feelings-ebooks.de/. Genieße jede Woche eine neue Geschichte - wir freuen uns auf Dich!

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Narcia Kensing

Herzen aus Asche

Romantic Fantasy

Knaur e-books

Über dieses Buch

Ein mystischer Romantic-Fantasy-Roman vor der faszinierend-bedrohlichen Kulisse eines Dorfes in der schwedischen Einöde. Die junge Studentin Amelie zieht aus Geldnot allein in eine riesige, baufällige Villa auf dem Land bei Uppsala. Leif, der gutaussehende Besitzer, verlangt nämlich keine Miete. Irgendetwas stimmt jedoch nicht mit dem geisterhaften Gebäude, die Menschen im Dorf meiden das Anwesen, und die antiken Möbel zerfallen nach und nach zu Asche. Die Legenden des Nordens, die mystischen Sagen und die alten Geistergeschichten der Wikinger scheinen lebendig zu werden. Amelie und Leif kommen sich näher, doch schon bald muss sie feststellen, dass Leif ein schreckliches Geheimnis hütet, das nicht nur Amelies Welt völlig auf den Kopf stellt, sondern sie auch noch in Lebensgefahr bringt …

»Herzen aus Asche« ist ein E-Book von feelings – *emotional eBooks. Mehr von uns ausgewählte romantische, prickelnde, herzbeglückende E-Books findest Du auf unserer Facebook-Seite: www.facebook.de/feelings.ebooks

Inhaltsübersicht

Kapitel eins – HexenwerkKapitel zwei – Zu vermieten!Kapitel drei – Asche zu AscheKapitel vier – Von Gräbern und GeisternKapitel fünf – BriefeKapitel sechs – SpurensucheKapitel sieben – RunenKapitel acht – Der Tod ist nicht das EndeKapitel neun – Fortsetzung folgtKapitel zehn – Von Mythen und MördernKapitel elf – Knapp entkommenKapitel zwölf – SéanceKapitel dreizehn – Für immer dein
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Kapitel eins

Hexenwerk

Das Meer aus cremefarbenen und mokkabraunen Sprenkeln auf dem dunkelblauen Hochflorteppich erinnerte stark an ein Werk von van Gogh, doch Amelie bezweifelte, dass ihre Mutter die bleibenden Fettflecken als wertvolles Kulturerbe akzeptieren würde. Nicht jeder begeisterte sich für moderne Kunst, und wenn Amelie ehrlich war, schätzte sie die Fresken und Skulpturen der alten Meister ohnehin mehr als die bunten Eskapaden der Moderne. Davon abgesehen würde sie die Sahnekleckse nicht ewig im Teppich belassen können, Kunst hin oder her.

Amelie verkniff sich ein entnervtes Seufzen und beugte sich hinab, um die Reste ihrer Geburtstagstorte, die ihre Freundin Sara mit dem Ellbogen vom Klapptisch gestoßen hatte, mit einem Taschentuch zurück auf den Teller zu schieben.

»Amelie, das tut mir schrecklich leid! Lass mich dir helfen.« Sie sprang von dem kleinen Angelhocker auf, den Amelies Mutter als Ergänzung zu den Küchenstühlen aus dem Keller geholt hatte. Es gab eindeutig zu wenig Platz in dem zwölf Quadratmeter großen Zimmer, zumindest, wenn man versuchte, mehr als eine Handvoll Personen darin unterzubringen.

Sara hockte sich auf den Boden und rieb die Flecken mit einer Serviette heraus, was das Desaster eher verschlimmerte als beseitigte.

»Ist schon in Ordnung, du hast es doch nicht mit Absicht gemacht.« Amelie bemühte sich um einen beiläufigen Tonfall, obwohl sie sich innerlich maßlos ärgerte. Ein fettiger Schandfleck mitten in ihrem tadellosen Zimmer. Wunderbar.

»Es ist aber auch wirklich ein wenig eng hier«, sagte Jarik. Amelie kannte ihn seit der Grundschule, und er schien sich seitdem kaum verändert zu haben. Er hatte immer schon jünger ausgesehen und musste auch mit einundzwanzig Jahren noch stets seinen Ausweis vorzeigen, wenn er eine Flasche Alkohol kaufen wollte. »Vielleicht ist es keine gute Idee gewesen, deinen Geburtstag bei dir zu Hause zu feiern.«

Amelie hätte am liebsten erwidert, dass dies nicht ihr Einfall gewesen sei. Wenn es nach ihr gegangen wäre, wäre sie mit Sara allein einen Kaffee trinken gegangen, aber ihre Mutter hatte es bevorzugt, der halben Stadt vom zwanzigsten Geburtstag ihrer Tochter zu erzählen. Und da Inger Ivarsson halb Uppsala kannte, hatte sich schnell herumgesprochen, dass es heute Torte und Eisschokolade in ihrem Haus geben würde. Amelie verbrachte grundsätzlich gerne Zeit mit ihren Freunden, aber alle zugleich in ihrem kleinen Zimmer? Das strapazierte ihre Nerven bis zur Grenze des Erträglichen.

Amelie verzichtete auf eine ehrliche Antwort und nickte stattdessen nur. »Ja, ich hätte woanders feiern sollen.«

Sie stellte den Teller mit dem zermatschten Kuchenstück auf den behelfsmäßigen Klapptisch und wandte sich an ihre Freundin Sara, die mittlerweile damit aufgehört hatte, den Teppich mit der Serviette zu quälen. »Nimm dir einfach ein neues Stück. Es sind noch welche übrig.«

Sara grinste und nahm sich einen frischen Kuchenteller vom Stapel. Dann zog sie ihren Minirock zurecht und ließ sich umständlich zurück auf den Angelhocker sinken. »Das hätte ich ohnehin gemacht. Und jetzt lach doch mal, du hast Geburtstag!«

»Du hast recht, was interessiert mich ein Fleck im Teppich.« Amelie grinste zurück, obwohl sie nicht ehrlich empfand, was sie sagte. Sie beneidete Sara um ihre unkomplizierte Art. In der Nähe ihrer modeverrückten und tadellos frisierten besten Freundin fühlte Amelie sich zwar stets wie das berüchtigte hässliche Entlein, doch zum Glück verstand Sara es, ihr diesen Gedanken mit kessen Sprüchen und geschicktem Wortwitz auszutreiben. Sie bildete sich nichts auf ihr ansehnliches Äußeres und das pralle Bankkonto ihrer Eltern ein, und deshalb gab Amelie sich Mühe, ebenfalls darüber hinwegzusehen.

In diesem Moment ertönte ein Klick aus Richtung der Stereoanlage, weil der letzte Song der CD durchgelaufen war. Amelie machte einen Schritt über Saras ausgestreckte Beine hinweg und steuerte auf die Musikanlage im Regal neben ihrem Bett zu. Die Füße ihrer Freundin steckten in Designer-Ballerinas, die vermutlich mehr gekostet hatten als Amelies gesamte Zimmereinrichtung.

»Kannst du etwas Rockiges spielen?«, fragte Mikael, der es sich auf dem Klappstuhl neben Saras Angelhocker bequem gemacht hatte und seiner Freundin über das Knie strich.

»Deinen Musikgeschmack kenne ich schon«, sagte Amelie und reckte ihm neckisch den Zeigefinger entgegen. »Der ist allenfalls dazu geeignet, Hunde zum Jaulen zu bringen.«

Mikael warf mit einer zerknüllten Serviette nach ihr und streckte die Zunge raus. Er war ein netter Kerl, aber mit seinem dunklen Pferdeschwanz und der mit Band-Aufnähern bestickten Weste wollte er einfach nicht zu seiner modebewussten Freundin passen. Mikael hörte ziemlich harte Musik, Amelie hatte nie verstanden, wie sich das jemand freiwillig antun konnte. Er bezeichnete sich selbst als Neo-Wikinger, und seine Vorliebe für die alten Götter trug er gerne in Form von Kettenanhängern und Aufnähern zur Schau. Er konnte von Glück reden, dass Sara so tolerant und offen war. Amelie liebte ihre Freundin für diese Eigenschaft, und sie entschied sich für einen Partymix aus den Achtzigern, startete die CD und wandte sich zu ihren Freunden um.

»Ich bringe den matschigen Kuchen mal eben runter in die Küche. Wenn ich ihn entsorge, bevor meine Mutter das Desaster entdeckt, fällt ihr der Fettfleck vielleicht nicht auf.«

Amelie griff nach dem Teller, schlüpfte durch die Tür und zog sie hinter sich zu. Sie trat auf den Flur hinaus und hielt einen Augenblick lang inne. Das undeutliche Murmeln des Fernsehprogramms drang durch die geschlossene Wohnzimmertür. Vielleicht war ihre Mutter auf dem Sofa eingeschlafen. Sie arbeitete hart, seit sie das Geschäft für Antiquitäten und Trödel übernommen hatte. »Arbeite selbst und ständig«, hatte ihre Großmutter immer gesagt, und damit hatte sie recht behalten.

Amelie ging in die Küche, die einer solchen Bezeichnung nicht würdig war. Obwohl es in Uppsala eine Menge historischer Altbauten und typisch skandinavischer Holzhäuser gab, hatte ihre Oma ausgerechnet eine Eigentumswohnung in einem Betonklotz aus den Siebzigern kaufen müssen, dessen Wohneinheiten augenscheinlich für Hobbits oder Gnome konzipiert worden waren. Immerhin gab es einen Aufzug, der der alten Dame zu Lebzeiten die Wege erleichtert hatte. Amelies Mutter hatte nach dem Tod der Großmutter die Wohnung übernommen, und Amelie war mehr als froh darüber gewesen, keine Geschwister zu haben. Ihr kleines Zimmer war auch für eine Person schon zu eng. Die Küche maß auch nur drei Meter in der Länge, und wenn Amelie beide Arme ausstreckte, konnte sie die gegenüberliegenden Wände berühren. Ein Mensch mit Platzangst hätte es auf fünfzig Quadratmetern schlecht geschnittener Wohnfläche nicht lange ausgehalten. Dennoch mochte sie die Wohnung, denn sie war ein Hort vieler schöner Erinnerungen. Ebenso wie ihre Mutter konnte sie sich schlecht von alten Dingen trennen. Kein Wunder, dass Inger Ivarsson einen Antiquitätenhandel betrieb, während ihre Tochter sich anschickte, Kunstgeschichte zu studieren. Doch so sehr Amelie an ihrem Kinderzimmer hing, es wurde höchste Zeit, auf eigenen Beinen zu stehen.

Sie öffnete den Deckel des Treteimers und beförderte das bis zur Unkenntlichkeit verunstaltete Stück Kuchen in den Restmüll.

»Was tust du in der Küche, Liebes?«

Amelie hätte vor Schreck beinahe den Teller fallen lassen. Sie fuhr herum und blickte in das fragende Gesicht ihrer Mutter, die den Kopf durch einen Spalt in der Küchentür steckte. Einige Strähnen hatten sich aus dem Haarknoten am Hinterkopf gelöst und hingen ihr bis über die Schultern. Sie wirkte zerknittert, als hätte sie geschlafen.

Amelie stellte den Teller auf die Spüle. »Ich habe ein Stück Kuchen in den Müll geworfen.« Noch während sie den Satz sagte, fiel ihr auf, wie herzlos er klang. Ihre Mutter hatte sich mit dem Backen der Mokkatorte viel Mühe gegeben. »Es ist vom Tisch gefallen«, fügte sie zähneknirschend hinzu. Amelie hatte erwartet, wenigstens eine kleine Rüge à la »Kannst du nicht besser aufpassen?« als Antwort zu erhalten, doch ihre Mutter nickte nur. Vielleicht war sie noch nicht richtig wach. Amelie beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

»Habt ihr denn Spaß?« Sie glaubte, einen Anflug von Wehmut in der Stimme ihrer Mutter wahrzunehmen. Seit einigen Tagen verhielt sie sich seltsam, sie meckerte wenig und seufzte viel. Amelie wusste, dass sie nur schwer akzeptieren konnte, dass ihre Tochter in wenigen Wochen auszog, um sich ins Studentenleben zu stürzen.

»Ja, es ist ganz witzig, aber es ist ziemlich eng in meinem Zimmer.«

Inger Ivarsson lächelte. »Genieße deine Jugend, man wird immerhin nur einmal zwanzig. Ich bin froh, wenn noch etwas Leben im Haus ist. Bald wird es hier sehr ruhig sein.« Sie senkte den Blick.

»Mama, das Thema hatten wir doch nun schon zur Genüge. Ich kann nicht ewig hier wohnen bleiben.«

»Ich möchte doch bloß nicht, dass du in der weiten Welt dort draußen untergehst oder an die falschen Männer gerätst.«

»Mama! Erstens bin ich nicht aus der Welt, weil mein Zimmer im Wohnheim nur zwanzig Autominuten entfernt sein wird, und zweitens solltest du nicht immer denken, alle Männer seien wie mein Vater.« Amelie wusste, dass ihre Worte harscher klangen als beabsichtigt, und sogleich bereute sie ihre Ungeduld. Ihre Mutter hatte kein einfaches Leben gehabt und war von Amelies Vater schon verlassen worden, als ihre gemeinsame Tochter noch ein Säugling gewesen war. Amelie nahm sich oft vor, verständnisvoller zu sein. »Ich werde jetzt wieder zurück zu meinen Gästen gehen. Es ist unhöflich, so lange wegzubleiben.« Sie schob sich durch die Küchentür in den Flur. Bevor sie in ihr Zimmer schlüpfen konnte, rief ihre Mutter ihr hinterher: »Sofia und Marie haben sich angekündigt, sie müssten jeden Moment hier sein. Ich wollte es dir nur sagen.«

Amelie fuhr herum. »Noch mehr Leute in meinem Zimmer? Hast du sie eingeladen?«

Inger zuckte die Achseln. »Nein, sie sagten, sie hätten ein besonderes Geburtstagsgeschenk für dich.« Ein leiser Vorwurf schwang in ihrer Stimme mit.

»Ich mag Sofia, das sollte nicht so klingen, als sei es mir nicht recht.« Amelie hatte das Gefühl, von einem Fettnäpfchen ins nächste zu treten.

Sofia war eine gute Freundin ihrer Mutter, die beiden kannten sich seit Jahrzehnten und trafen sich mindestens einmal in der Woche auf einen Tee. Sofias Tochter Marie war mit Amelie zur Schule gegangen, sie würden künftig zusammen Kunstgeschichte zu studieren. Amelie mochte Marie, dennoch behagte ihr der Gedanke an einen weiteren Gast nicht.

Amelie spürte allmählich, wie Müdigkeit nach ihr griff. Es war schon nach zweiundzwanzig Uhr, und der Tag war anstrengend gewesen. Seit dem frühen Morgen hatte sie ihrer Mutter im Geschäft geholfen. Sie freute sich schon jetzt auf ihren wohlverdienten Schlaf.

»Ist schon okay«, sagte sie und warf ihrer Mutter ein entschuldigendes Lächeln zu. Dann drehte sie sich um und betrat ihr Zimmer.

Ihre Gäste vertieften sich gerade in ein angeregtes Gespräch über die letzte Folge der Talentshow Schwedens neuer Superstar, die letzten Abend ausgestrahlt worden war. Amelie interessierte sich nicht für das reißerische Format, bei dem hoffnungsvolle junge Sänger gnadenlos vorgeführt wurden. Sara hatte es sich mittlerweile auf Mikaels Schoß bequem gemacht, einen Arm um seinen Hals geschlungen, die Lippen auf sein Ohr gepresst. Obwohl Amelie sich selbst nicht für verklemmt hielt, spürte sie dennoch, wie ihr das Blut in den Kopf stieg. Ihre letzte Beziehung lag schon zwei Jahre zurück, und als Beziehung konnte man es eigentlich gar nicht bezeichnen. Der junge Mann hatte sie ein paarmal ins Kino begleitet, bis ihre Mutter ihr wieder einmal eingeredet hatte, dass ein Heißsporn aus der Musikszene kein guter Umgang für sie sei.

»Amelie, du hast mein Geschenk noch nicht ausgepackt.« Ida hielt ein rechteckiges, schwer anmutendes Paket in Blümchenpapier hoch, das stark an ein Buch erinnerte. Amelie schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln.

»Ja, stimmt, tut mir leid.« Sie setzte sich zwischen die Zwillinge Anna und Ida auf das schmale Metallbett, über dessen Kopfende ein riesiger Kunstdruck mit dem Portrait der Mona Lisa prangte. Ida legte ihr das Paket in den Schoß. Amelie öffnete die Klebestreifen und wickelte einen dicken Wälzer aus dem bunten Blumenpapier. Es handelte sich um eine gebundene Ausgabe des Klassikers Die italienische Renaissance, ein fast tausend Seiten starker Bildband.

»Du interessierst dich doch für diese Epoche, oder?« Anna sah sie zugleich erwartungsvoll und ängstlich an, als fürchtete sie, etwas Falsches geschenkt zu haben.

»Ja, sehr. Danke schön.« Amelie umarmte ihre beiden Freundinnen kurz und legte das Buch zu den anderen Geschenken neben ihr Bett. Sie liebte Kunst, und das Buch würde sie für ihr Studium gut gebrauchen können. Dennoch erschien es ihr als Geburtstagsgeschenk ein wenig unpersönlich. Künftig würde sie Anna und Ida sowieso nur noch sehr selten sehen, denn die beiden planten, in den Norden Schwedens zu ziehen.

Es klopfte, und augenblicklich erstarben alle Gespräche. Einen Atemzug später erschienen ein blonder Schopf und das grinsende runde Gesicht von Marie in der Tür.

»Überraschung!« Der Rest von Maries gedrungenem Körper schob sich ins Zimmer. Sie trug einen flachen, rechteckigen Gegenstand unter dem Arm, der in braunes Papier eingeschlagen war und an ein Tablett erinnerte.

Amelie stand vom Bett auf und umarmte Marie. »Schön, dass du da bist.«

Marie lehnte den undefinierbaren Gegenstand an den Tisch und begrüßte nacheinander die anderen Gäste, die sie, abgesehen von Ida und Anna, alle kannte. Besonders mit Jarik und Sara hatte Marie schon des Öfteren Bekanntschaft gemacht, weil die beiden bei Amelie beinahe täglich ein und aus gingen.

»Ist deine Mutter auch mitgekommen?«, erkundigte Amelie sich und bot Marie den Platz zwischen den Zwillingen auf dem Bett an. Sie ließ sich mit einem Ächzen darauf fallen. Sie zählte nicht zu den Schlanksten, dementsprechend schwerfällig wirkten ihre Bewegungen. Ida und Anna rückten ein wenig beiseite.

»Ja, sie ist im Wohnzimmer und tratscht mit deiner Mutter. Du weißt ja, wie die beiden sind.« Marie verdrehte kurz die Augen, doch ihr darauffolgendes verschmitztes Lächeln nahm der Geste die Schärfe.

»Möchtest du ein Stück Kuchen? Es sind noch zwei übrig.« Amelie deutete auf den Kuchenteller mit dem kläglichen Rest der Mokkatorte.

»Nein, danke. Ich habe schon gegessen. Außerdem tut das meiner Leibesfülle nicht gerade gut.« Sie klopfte sich mit einem Grinsen auf den Bauch. Marie schämte sich nicht für ihr Äußeres, was Amelie sehr bewunderte. Ein wenig mehr Selbstbewusstsein hätte ihr selbst auch gut getan.

»Pack das Geschenk aus. Deswegen bin ich doch extra noch so spät hergekommen. Mama und ich haben es restauriert, wir sind gerade erst damit fertig geworden. Ich hoffe, es gefällt dir.« Maries Augen leuchteten erwartungsvoll, und auch Amelie packte die Neugier.

»Jetzt bin ich aber auch gespannt wie ein Flitzebogen.« Sara sprang von Mikaels Schoß auf, als hätte sie eine Biene gestochen. »Warte, ich gebe es dir. Uff, ist das schwer.« Sie nahm das Paket und streckte es Amelie entgegen, die das Corpus Delicti an sich nahm und sich damit neben Jarik auf dem Teppich niederließ. Es wog tatsächlich einige Kilos.

Alle Augen richteten sich gebannt auf Amelies Hände, als sie das braune Packpapier herunterzog. Bis auf den Sänger, der ihnen inbrünstig einen Elektro-Popsong aus den Boxen der Kompaktanlage entgegenschmetterte, blieb es still im Zimmer.

Amelie zog den Rest des Papiers ab und benötigte einen Atemzug lang, den Gegenstand zu identifizieren. Es handelte sich um ein Holzbrett, etwa siebzig mal fünfzig Zentimeter groß, dessen Oberfläche mit allerhand Schnitzereien verziert war. In der Mitte befand sich in geschwungenen Lettern ein in drei Reihen angeordnetes Alphabet, darunter die Zahlen von eins bis neun. In den Ecken prangten Bilder von Sonne und Mond. Das Holz duftete nach frischer Lasur.

»Da müsste noch etwas im Papier sein«, kommentierte Marie.

Amelie schüttelte es, und tatsächlich fiel ihr ein herzförmiges flaches Stück Holz von der Größe ihrer Hand vor die Füße.

»Das sind ein Hexenbrett und ein Plektrum«, sagte Jarik völlig emotionslos. »Ich wusste gar nicht, dass du dich für diesen esoterischen Kram interessierst.«

»Tut sie auch nicht«, antwortete Thore, noch bevor Amelie den Mund öffnen konnte. »Dazu ist sie viel zu feige.«

»Halt den Mund.« Amelie warf ihm einen mahnenden Blick zu. »Ich denke nicht, dass Marie und ihre Mutter es mir geschenkt haben, um Geister zu beschwören. Es sieht ziemlich alt aus.«

»Ist es auch. Wir haben es einem Trödler abgekauft.« Marie ließ sich von der Bettkante auf den Boden sinken und rutschte neben Amelie. Auch Sara hielt nichts mehr auf ihrem Stuhl. Sie strich ehrfürchtig über das Holz, als handelte es sich um einen wertvollen Schatz. Mikael lehnte sich lässig zurück und schüttelte leicht den Kopf, als könnte er nicht fassen, dass sich die Mädchen von einem bloßen Brett hinreißen ließen.

»Der Verkäufer sagte, es stamme aus dem vorletzten Jahrhundert. Deine Mutter konnte das Alter nicht genau bestimmen, aber sie hielt es für denkbar. Ich weiß, wie sehr du alte Dinge liebst, und das Teil ist zusätzlich noch von künstlerischem Wert.« Maries Augen leuchteten, und auch auf Amelies Gesicht machte sich ein immer breiter werdendes Grinsen breit.

»Es ist wirklich wunderschön.«

Sara nahm das Plektrum vom Teppich und drehte es in der Hand. »Was haltet ihr davon, wenn wir es ausprobieren?«

»Du glaubst doch nicht im Ernst daran, oder?« Amelie knuffte ihre Freundin freundschaftlich in die Seite.

»Sara, das ist wirklich lächerlich«, meldete Mikael sich zu Wort. »Du bist eine erwachsene Frau und möchtest Kinderspielchen machen?«

»Es ist doch bloß ein Spaß. Natürlich glaube ich nicht daran!«

»Das könnte doch lustig werden«, sagte Jarik und setzte sich ebenfalls auf den Teppich. »Was sagt ihr dazu?«, fragte er an die Zwillinge gewandt.

»Nein, wir sehen lieber dabei zu.« Ida lächelte unbeholfen. Es hätte Amelie sehr gewundert, wenn die beiden schüchternen Mädchen sich dazu hätten hinreißen lassen. Sie selbst hielt es für albern, aber sie hatte mit Sara schon weitaus kindischere Dinge angestellt.

»Meinetwegen können wir es probieren. Aber wehe, einer von euch bewegt das Teil, um jemand anderen zu beleidigen. Und ich möchte keine Kratzer im Holz, okay?« Amelie wandte den Blick in die Runde. »Also los, wer möchte mitmachen?«

Bis auf Mikael und die Zwillinge stimmten alle zu, das Hexenbrett zu testen. Amelie hoffte, dass Sara danach endlich Ruhe geben würde. Sara, Marie, Jarik und Amelie setzten sich im Kreis um das Brett. Sara bestand darauf, dass Amelie den Dimmer herunterregelte, obwohl sie nicht glaubte, dass Geister lichtscheu waren. Nachdem Amelie die Musik ausgemacht hatte, legte jeder von ihnen einen Finger auf das Plektrum, das sie in der Mitte des Brettes platzierten.

Es erwies sich als schwieriges Unterfangen, mit einer Gruppe aus sieben Personen, von denen die Hälfte nicht über den nötigen Ernst verfügte, eine Séance abzuhalten. Mikael quatschte dauernd dazwischen, und Sara brach ständig in Gekicher aus. Marie fielen zudem nur lächerliche Fragen ein, die sie der Geisterwelt stellen konnten. Falls es paranormale Wesen gab, hätten sie ihnen spätestens bei der Frage nach dem Gewinner der aktuellen Staffel von Schwedens neuer Superstar den Rücken gekehrt. Amelie bezweifelte, dass Geister Privatfernsehen empfingen.

Zwei Mal bewegte Jarik das Plektrum so offensichtlich, dass Amelie ihm einen Klaps auf den Hinterkopf verpasste. Nachdem Sara ihre Lachanfälle unter Kontrolle gebracht hatte, fanden alle endlich die Ruhe, wortlos darauf zu warten, dass ein vermeintlicher Geist mit ihnen sprach. Amelie wusste natürlich, dass sich das Plektrum nur deshalb bewegte, weil allein der Gedanke daran das motorische Zentrum im Gehirn reizte, was wiederum zu einer unbewussten Muskelkontraktion führte. Sie hatte darüber vor Jahren einen Artikel in der Vogue gelesen. Dennoch konnte einem ein Hexenbrett manchmal interessante Hinweise geben, die im Unterbewusstsein des Fragenden ansonsten keine Beachtung gefunden hätten.

Nach nur wenigen Atemzügen vibrierte das Plektrum tatsächlich, und es setzte sich im Zeitlupentempo in Bewegung. Amelie versuchte, in Jariks Gesicht einen Hinweis zu finden, dass er dahintersteckte, doch der junge Mann starrte kreidebleich auf das Brett und bewegte keinen Muskel. Sara und Marie wirkten ebenso blass. Amelie überkam der Impuls, augenblicklich den Finger wegzuziehen, doch sie schaffte es nicht. Es war, als klebte er auf dem Holz fest.

Die Spitze wanderte langsam, aber zielstrebig auf den Buchstaben B zu. Amelie beobachtete im Augenwinkel, wie Ida und Anna sich argwöhnisch näherten und über Maries Schulter hinweg auf das Brett sahen.

Das Plektrum schrieb das Wort Berg, bevor es auf das Zeichen für ein Wortende wanderte.

»Was hat das denn zu bedeuten?« Jarik zog die Stirn kraus, ließ seinen Finger aber an Ort und Stelle ruhen. Amelie fragte sich, ob alle anderen auch Schwierigkeiten damit hatten, ihre Hand vom Holz zu lösen.

»Keine Ahnung. Berg? Welcher Berg?« Saras Wangen waren vor Eifer gerötet, und ihre Augen leuchteten glasig, als hätte sie Fieber.

»Das ergibt keinen Sinn. Ich denke, wir sollten die Séance für beendet erklären«, sagte Marie. »Wer von euch auch immer nachts vom Mount Everest träumt, sollte seine seltsamen Fantasien besser für sich behalten.«

»Seht, das Plektrum bewegt sich schon wieder!« Ida schnappte geräuschvoll nach Luft. Sie hatte recht. Es zitterte kaum merklich, bevor es erneut dazu ansetzte, ein Wort zu bilden. Amelie wollte den Unfug nun unbedingt beenden, aber noch immer ließ sich ihr Finger nicht vom Holz lösen. Angst stieg in ihr auf, sie hörte das Blut rhythmisch in ihren Ohren pulsieren. Sara stieß sogar einen unartikulierten Schrei aus.

»Hört auf! Egal, wer von euch das tut!«

Schneller als zuvor beschrieb das Holz nun das Wort Tod, und direkt im Anschluss gelang es Amelie endlich, die Hand wegzuziehen. Alle Beteiligten rutschten so weit zurück, wie es ihnen Wände und Möbelstücke erlaubten. Sie starrten auf das Brett, als handelte es sich dabei um etwas Giftiges. Doch das Plektrum blieb still, nichts bewegte sich mehr. Amelie sprang auf und regelte das Licht wieder hoch.

»Seid ihr eigentlich verrückt?«, fragte Mikael in verärgertem Tonfall, als seine Freundin sich ihm um den Hals warf und ihr Gesicht in seinem Pullover vergrub. »Ihr seid doch keine Kinder mehr! Habt ihr getrunken? Amelie, ich dachte in den Flaschen sei nur Cola gewesen.«

Jarik sagte gar nichts und blieb starr wie eine Statue. Ihm war sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen, und Amelie beschlich das Gefühl, dass er nichts mit der geisterhaften Bewegung zu tun hatte.

»Berg und Tod. Seltsam.« Marie war die Erste, die den Schock überwand und sich wieder entspannt in den Schneidersitz setzte. »Ich denke, ich werde nie erfahren, was das zu bedeuten hatte. Und ich gehe auch nicht davon aus, dass es mir der Verursacher verraten wird, oder?« Sie ließ ihren Blick in die Runde schweifen.

»Selbst wenn keiner von euch absichtlich etwas bewegt hat, ist es mit Sicherheit ein unbewusster Reflex gewesen. Man kennt doch mittlerweile die Funktionsweise dieser Dinger.« Mikael schob seine verstörte Freundin sanft, aber bestimmt von seinem Schoß herunter. »Und du, hör auf zu heulen. Das ist lächerlich!«

Sara funkelte ihren Freund böse an, beruhigte sich aber. Sie setzte sich zurück auf den Angelhocker. »Pack das unsägliche Ding weg, Amelie. Ich will es nie wieder sehen.«

Amelie hätte am liebsten gesagt, dass es ihr genauso ging, doch sie wollte Maries Geschenk nicht verschmähen. Immerhin handelte es sich um eine Antiquität.

»Ich schiebe es erst einmal beiseite – das gute Stück.« Mit zittrigen Knien erhob sie sich und bugsierte das Hexenbrett mit dem Fuß unter das Bett. Ihr Blick glitt flüchtig über das Poster der Mona Lisa am Kopfende, und beinahe hätte sie geschrien. Die hübsche Unbekannte auf dem Portrait grinste. Sie grinste, und das, obwohl sie für gewöhnlich nur milde lächelte. Amelie hielt in der Bewegung inne und fühlte sich außerstande, sich zu rühren.

»Aha, eine Seherin.« Jetzt sprach die Dame auch noch, aber seltsamerweise mit einer männlichen Stimme. Die Lippen des Gemäldes bewegten sich. Amelie fuhr herum und wandte sich hektisch ab. Sie setzte sich vor ihr Bett neben Anna auf den Teppich und bemühte sich nach Kräften, das Poster zu ignorieren.

»Amelie, ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen. Es war doch wirklich nur ein dummes Spiel.« Marie lächelte sie mitleidig an. Die Séance war nicht der Grund, weshalb es Amelie an den Rand einer Ohnmacht trieb, aber ein sprechendes Poster überstieg ihre Vorstellungskraft um ein Vielfaches.

»Alles in Ordnung.« Ihre Stimme klang dünn und zittrig. »Aber lass uns nie wieder so etwas tun.«

»Sind das deine Verwandten?« Amelie drehte sich nicht nach dem Poster um, aber es sprach schon wieder mit ihr. Sie blickte verängstigt in die Runde. Niemand schien etwas gehört zu haben. »Ich habe den Eindruck, die Herrschaften haben meine Botschaft nicht verstanden«, fuhr der Unbekannte im Poster fort, der ein Faible für die Malerei der Renaissance zu haben schien. Amelie wollte sich die Ohren zuhalten, konnte sich aber nicht rühren. Schweiß rann ihre Wirbelsäule hinab. »Entschuldige bitte meinen geheimnisvollen Auftritt, aber ich habe mir einen Spaß erlaubt. Die seltsame Form der Geisteranrufung von Menschen erschließt sich mir nicht ganz. Ihr wollt es unbedingt mystisch und rätselhaft, und deshalb habe ich das Spiel mitgespielt. Doch ich befürchte, ihr habt es nicht entschlüsselt. Natürlich meinte ich mit Berg und Tod die Hügelgräber vor der Stadt. Und ich wollte damit sagen …« Die geisterhafte Stimme beendete ihren Satz nicht. Ein Gurgeln ertönte, dann ein Schrei, der sich zu entfernen schien. Dann blieb es ruhig.

»Habt ihr das gehört?« Amelie sah jedem ihrer Freunde einzeln in die Augen, doch alle zuckten nur die Achseln.

»Was gehört? Es ist total still hier«, sagte Mikael.

»Die Hügelgräber«, murmelte Amelie. »Berg und Tod. Er hat die Hügelgräber vor der Stadt gemeint.« Ihre Stimme klang dünn, und sie schämte sich, das Thema überhaupt noch einmal aufgegriffen zu haben. Vor den Toren Uppsalas gab es drei Erhebungen von etwa fünfzig Metern Durchmesser. Laut Volksglauben lagen dort drei der alten Schwedenkönige begraben. Manche Mythen behaupteten sogar, es seien Gräber der Götter Odin, Thor und Freya persönlich. Jedes Kind der Umgebung besichtigte die Grabstätten bei diversen Schulausflügen. Aber was hatte der Geist – oder was auch immer in ihr Poster gefahren war – damit sagen wollen?

»Er hat die Gräber gemeint? Du hast zu viel Fantasie, Amelie. Typisch Kunststudentin.« Mikael bemühte sich um einen freundlichen Tonfall, doch Amelie nahm deutlich die Abneigung darin wahr.

Anna legte einen Arm um sie. »Die Arme ist ganz mitgenommen. Wir sollten einen Arzt rufen. Marie, hol ihre Mutter.«

Das Stichwort ließ Amelies Lebensgeister zurückkehren. »Nein, auf keinen Fall meine Mutter! Mir geht es gut, ich habe nur ein wenig Kreislaufprobleme.«

»Wir wollten es so langsam packen … Bist du sicher, dass wir dich allein lassen können?« Sara legte die Stirn in Falten. Sie wirkte ernsthaft besorgt.

»Ja. Ich möchte jetzt nur noch schlafen.« Amelie zitterte am ganzen Körper, und nur widerwillig verabschiedeten sich ihre Freunde von ihr. Sie halfen noch, die Gläser und die leeren Chipstüten in die Küche zu bringen, wünschten Amelies Mutter eine gute Nacht und verschwanden im Treppenhaus.

Als Amelie allein in ihr Zimmer zurückkehrte, löste sie die Tesafilm-Streifen vom Poster, nahm es von der Wand und zerriss es in viele kleine Schnipsel, die sie in den Papierkorb warf. Unter keinen Umständen wollte sie unter einem besessenen Poster schlafen, obwohl die Erinnerung daran bereits verblasste wie ein schlechter Traum. Als sie im Bett lag und an die Decke starrte, war sich Amelie nicht einmal sicher, ob sie sich die geisterhafte Stimme nicht doch eingebildet hatte.

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Kapitel zwei

Zu vermieten! Zwei Jahre später …

Ist noch etwas von der Luftpolsterfolie übrig?« Sara wischte sich mit dem einen Zipfel ihrer blauen Seidenbluse den Schweiß von der Stirn. Amelie konnte nicht nachvollziehen, weshalb ihre Freundin an einem warmen Sommertag ein Oberteil mit langen Ärmeln trug. Sara mochte die Bluse, sie brachte ihr hübsches Dekolleté optimal zur Geltung, doch das Kleidungsstück eignete sich mitnichten für einen schweißtreibenden Umzug.

Amelie griff in die Bananenkiste, die Sara aus dem Supermarkt mitgebracht hatte, und zog ein etwa ein Quadratmeter großes Stück der begehrten Verpackungsfolie heraus. »Das ist der letzte Rest.«

»Vielleicht komme ich damit aus. Ich muss nur noch ein paar Gläser einschlagen.« Sara griff in einen Umzugskarton und förderte drei Sektgläser zutage, die sie sorgfältig in die Folie wickelte. Amelie saß auf dem Boden, die Füße unter den Po geklemmt. Das Zimmer im Studentenwohnheim war inzwischen so leer, dass jedes Wort von den Wänden widerhallte.

Amelie erfüllte es mit Traurigkeit. Weniger als zwei Jahre lang hatte sie hier gelebt. Jetzt lag das schöne Leben in Scherben vor ihren Füßen. Amelie gab sich größte Mühe, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Die Zimmer im Wohnheim durften die Studenten nur maximal drei Semester lang bewohnen, bevor man von ihnen verlangte, sich eine eigene Bleibe zu finanzieren. Womöglich würde Amelie zurück zu ihrer Mutter in die kleine Wohnung ziehen müssen, wenn sie keinen Job fand, um sich das teure Leben in Uppsala leisten zu können. Nun ja, es gab Schlimmeres.

»Ist das der letzte Karton?«, fragte Amelie. Sie konnte die Schwermut in ihrer Stimme kaum verbergen.

»Ja, alle anderen stehen schon bei deiner Mutter in der Garage.«

Amelie war dankbar, dass Sara ihr beim Packen geholfen hatte.

»Kopf hoch«, sagte Sara, als hätte sie Amelie die Traurigkeit im Gesicht abgelesen.

Amelie schluckte ihren Seelenschmerz hinunter. Sie besaß nicht genügend Geld für eine eigene Wohnung. Sara lebte mittlerweile bei Mikael, und ihre anderen Freunde wollte sie nicht darum anbetteln, bei ihnen wohnen zu dürfen. Wie erniedrigend!

Sara seufzte. »Wie geht es jetzt weiter mit dir?«

»Ich ziehe wohl oder übel in mein altes Kinderzimmer zurück.« Amelie hatte nicht beabsichtigt, Bitterkeit in ihre Stimme zu legen, aber es gelang ihr nicht vollständig. »Oder ich suche mir ein bezahlbares Apartment am Stadtrand, mal sehen. Ist die Zeitung heute eigentlich schon gekommen?«

Sara richtete ihren schlanken Körper vom Teppich auf. »Ich weiß nicht, ich war noch nicht am Briefkasten. Möchtest du die Wohnungsanzeigen durchforsten?«

»Ich mache mir keine große Hoffnung, aber ich würde es dennoch gerne versuchen.«

»Ich wollte den letzten Karton eh nach unten in den Hausflur bringen. Bei der Gelegenheit sehe ich nach, ob die Zeitung schon da ist, okay?« Sara wandte sich ab und nahm mit einem Ächzen die Umzugskiste vom Boden auf. Amelie öffnete ihr die Wohnungstür und sah ihrer Freundin hinterher, wie sie um den ersten Treppenabsatz bog.

»Soll ich dir beim Tragen helfen?«

»Nein, nein, ich komme schon klar«, hallte Saras Stimme durch den Flur. Amelie hörte noch eine Weile auf ihre schweren Schritte, die unterhalb der zweiten Etage allmählich verhallten. Sie wandte sich von der Tür ab, ließ sie jedoch einen Spaltbreit offen stehen. Es war seltsam still und leer im Zimmer. Amelie hatte schon vor Wochen damit begonnen, ihre Habseligkeiten auszusortieren. Sie konnte sich nur schwer von Altem trennen, doch wenn sie tatsächlich zurück in die kleine Eigentumswohnung ihrer Mutter ziehen musste, würde sie für all den Krempel keinen Platz mehr haben. Unglaublich, was sich in nur zwei Jahren alles angesammelt hatte! Gemälde, Skulpturen, Trödel jedweder Art. Amelie seufzte, als sie darüber nachdachte, die Dinge bald in Kartons packen zu müssen.

Sie hörte, wie die Tür knarrend aufschwang, und drehte sich um. Sara erschien auf der Schwelle, unter dem Arm hielt sie einen Stapel mit Werbeprospekten und dem kostenlosen Wochenanzeiger.

»Die Zeitung ist gekommen.« Sie legte ihre Last mangels Alternative auf den Teppich. Sara warf ihrer Freundin ein trauriges Lächeln zu, breitete die Arme aus und legte sie um Amelies knochige Schultern.

»Mikael ist übrigens gerade aufgekreuzt, ich habe ihn unten am Briefkasten getroffen. Ich werde dann jetzt gehen. Wir bringen den letzten Karton noch schnell in die Garage.«

Amelie sog den fruchtigen Duft von Saras Parfüm ein und umarmte ihre Freundin herzlich.

»Halt die Ohren steif, Amelie.«

Sara klopfte ihr noch einmal auf die Schulter, ehe sie sich abwandte. Amelie begleitete sie noch zur Tür und winkte ihr hinterher, als sie die Treppen hinabstieg. Als sie außer Sichtweite war, stellte Amelie sich ans Fenster im Flur. Sie beobachtete, wie Sara und Mikael drei Stockwerke tiefer den letzten Karton in den Kofferraum eines alten Fords luden. Nur wenige Atemzüge später fuhren sie aus der Einfahrt.

Amelie war zum Heulen zumute. Sie nahm den Papierstapel vom Teppich und sortierte die Prospekte. Als sie die Zeitung aufschlagen wollte, fiel eine Karte heraus und segelte zu Boden. Es war eine Postkarte, schlicht weiß und mit Hand beschrieben. Amelie hob sie auf und betrachtete sie von beiden Seiten. Die eine Seite war unbeschrieben, die andere mit blauer Tinte in einer schwungvollen und gleichmäßigen Handschrift versehen. Es standen nur zwei Sätze darauf:

Für ein historisches Anwesen im kleinen Dorf Länna, zwanzig Kilometer von Uppsala entfernt, suche ich einen Bewohner, der das Gebäude vor dem Verfall bewahrt und regelmäßig heizt. In diesem Fall mietfrei, ab sofort.

Darunter stand eine Telefonnummer. Amelie las den Text immer wieder. Wollte Sara oder einer ihrer anderen Freunde sich einen Scherz mit ihr erlauben? Niemand ließ einen Fremden kostenfrei in einem wertvollen alten Haus leben! Die Handschrift kam Amelie gänzlich unbekannt vor. Wie viele dieser Karten hatte der Verfasser geschrieben? Das musste eine Menge Arbeit gewesen sein! Hatte die Sache einen Haken? Ihre Hände zitterten. Es klang verlockend, doch alle Alarmglocken in ihrem Kopf schrillten. Zu oft hatte man schon davon gelesen, dass ahnungslose Frauen auf diese Weise in eine Falle gelockt wurden. Andererseits … Anrufen könnte doch nicht schaden, oder?

Es handelte sich um keine kostenpflichtige Hotline, sondern um eine normale Handynummer. Zudem konnte Amelie – sollte sich das Angebot als verlockend herausstellen – ihre Mutter oder einen Freund zur Besichtigung mitbringen. Vermutlich hatten vor ihr ohnehin schon Hunderte Leute angerufen, und derlei Gedanken waren überflüssig.

Amelie kramte in ihrer Handtasche nach ihrem Handy. Minutenlang starrte sie auf die Tastatur, ohne eine Zahl getippt zu haben. Ihr Herz raste. Sollte sie es tun oder die Sache lieber vergessen? Neben ihren Füßen lag noch immer der Stadtanzeiger. Vielleicht sollte sie lieber nach einem seriösen Wohnungsangebot suchen, anstatt auf einen handgeschriebenen Flugzettel zu reagieren. Für die Dauer eines Wimpernschlags spielte Amelie mit dem Gedanken, zuerst ihre Mutter anzurufen und um Rat zu fragen, doch sie verwarf die Idee sogleich. Inger Ivarsson galt als stadtbekannt, was ihre Überempfindlichkeit bezüglich der Sicherheit ihrer Tochter anging, zudem würde sie alles tun, um Amelie wieder in die kleine Wohnung zu holen, wo sie sicher und fern von der schlechten Welt unter Beobachtung stand. Nein. Das wollte Amelie in keinem Fall. Nur weil ihre Mutter in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen – insbesondere mit der Männerwelt – gemacht hatte, wollte sie nicht unter ihrer Obhut stehen, bis sie alt und grau war.

Amelie wählte deshalb zuerst die Telefonnummer von Sara. Es klingelte. Immer wieder. Aber ihre Freundin hob nicht ab. Vermutlich hörte sie das Handy in ihrer Handtasche während der Autofahrt nicht.

Resigniert legte Amelie auf. Sie strich sich nervös mit dem Handrücken über die Stirn und lief im Flur auf und ab. Wieder las sie die Karte. Sie atmete einmal tief durch und gab sich einen Ruck. Was hatte sie zu verlieren? Wer auch immer am anderen Ende abnahm, würde sie wohl kaum durch das Telefon hindurch umbringen.

Es klingelte. Einmal. Zweimal. Dann hob jemand ab. Amelie hielt die Luft an.

»Leif Eriksson, ja bitte?« Eine männliche Stimme. Nett, ruhig und allem Anschein nach noch recht jung.

»Mein Name ist Amelie Ivarsson, ich habe Ihre Karte in meinem Briefkasten gefunden.« Sie machte eine Pause, um Luft zu holen, doch der Mann am anderen Ende riss das Gespräch an sich.

»Tatsächlich? Sie sind die Erste, die deswegen anruft. Sind Sie interessiert? Suchen Sie eine neue Bleibe? Ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn Sie vorbeikommen und sich mein Haus ansehen könnten. Sie müssen wissen, ich bin schon sehr verzweifelt, weil ich niemanden finden kann.«

Sein Redefluss verwirrte Amelie. Herr Eriksson erweckte ebenfalls den Eindruck von Nervosität, was ihn äußerst sympathisch machte.

»Ich bin tatsächlich auf der Suche nach einer Unterkunft. Wie vielen Haushalten haben Sie die Karte denn in den Briefkasten geworfen? Ich kann kaum glauben, dass ich die Erste sein soll, die sich darauf meldet. Sie müssen zugeben, das Angebot klingt schon ein wenig seltsam.« Trotz seiner offensichtlichen Freundlichkeit regten sich wieder Zweifel in Amelie.

Eine kurze Pause. Dann: »Ich habe auf gut Glück einige Karten in Uppsala verteilt.«

»Weshalb inserieren Sie nicht in der Zeitung wie alle anderen? Jemand, der ein historisches Herrenhaus besitzt, sollte die Kosten einer Anzeige doch nicht scheuen, oder?«

»Nein, da haben Sie schon recht. Aber ich suche schon so lange nach einem passenden Bewohner. Glauben Sie mir, die Zeitung war keine Option mehr.«

Die Antwort war kaum befriedigend, aber der nette Herr hatte eine ungewöhnlich ehrliche und aufrichtige Art. Beinahe glaubte sie, er würde einen Zauber auf sie legen. Sie hakte nicht weiter nach.

»Stimmt es, dass Sie keine Miete verlangen?«

»Ja, ich möchte nur, dass sich jemand um das Haus meiner Eltern kümmert. Sie sind vor einiger Zeit verstorben, und ich habe seither weder die Zeit noch die Kraft, mich um das Anwesen zu kümmern. Mir geht es nicht um Geld, das spielt für mich keine Rolle.«

»Ungewöhnlich.«

»Mag sein.« Wieder eine Pause. »Möchten Sie unverbindlich herkommen und sich das Haus ansehen?«

»Wollen Sie denn gar nicht wissen, wer ich bin? Ich kenne das von den meisten Vermietern anders. Die quetschen einen sonst aus wie eine Zitrone.«

»Das können wir doch alles noch vor Ort besprechen. Ich brenne darauf, Sie persönlich kennenzulernen. Sie klingen so nett.«

Amelie lachte. Herr Eriksson hatte es tatsächlich geschafft, dass sie sich entspannte. »Danke, das könnte man von Ihnen auch behaupten.«

Herr Eriksson nannte ihr eine Adresse. Sie vereinbarten einen Termin für den folgenden Nachmittag und verabschiedeten sich herzlich, als würden sie sich schon seit Jahren kennen. Als Amelie das Handy schließlich beiseitelegte, hatte sich ein Dauergrinsen in ihr Gesicht geschlichen. Ihr Herz klopfte, und beinahe bildete sie sich ein, sich in eine Stimme verliebt zu haben. Sie kannte den Mann doch überhaupt nicht! Dennoch freute sie sich nicht nur auf die Besichtigung des Hauses, sondern auch darauf, das Gesicht zur Stimme zu sehen. Sie stellte ihn sich als sportlichen Mann in den Dreißigern vor, vielleicht auch etwas jünger. Selbst wenn sie am Ende keine Gratisunterkunft bekommen würde, brannte sie dennoch darauf, sich das alte Haus anzusehen. Sie liebte geschichtsträchtige Orte, und gewiss würde sie den Besuch in dem kleinen Örtchen Länna nicht bereuen.

***

Amelie kochte vor Wut. Am liebsten wäre sie auf der Stelle zurückgefahren. Wenn sie gewusst hätte, wo genau sich Sara in diesen Minuten herumtrieb, hätte sie es vielleicht sogar getan, nur um ihrer Freundin die Meinung zu sagen. Ein letztes Mal wählte sie ihre Handynummer, obwohl sie die Hoffnung schon aufgegeben hatte.

Besetzt. Seit einer Stunde. Mit wem telefonierte Sara bloß so lange? Die Leute begannen bereits, Amelie anzustarren, weil sie schon so lange an der Bushaltestelle stand, einen Bus nach dem anderen passieren ließ und immer wieder ihr Handy ans Ohr hielt. Vielleicht glaubten einige von ihnen sogar, Amelie arbeite im zwielichtigen Gewerbe … Gegen Abend standen des Öfteren Prostituierte an der Bundesstraße 282. Obwohl ihr geblümtes Halstuch und die Röhrenjeans in Kombination mit dem Dutt am Hinterkopf nicht zu diesem Berufszweig gepasst hätten, hoffte Amelie doch, längst zurück zu sein, ehe es an diesem Ort von düsteren Kerlen wimmelte.

Sie gab es auf und steckte das Handy zurück in die Handtasche. Es nützte nichts. Entweder sie machte sich allein auf den Weg, oder sie rief Herrn Eriksson an und sagte den Besichtigungstermin ab. Sara würde sich in jedem Fall warm anziehen müssen! Sie hatte Amelie versprochen, sie zu begleiten. Treffpunkt war eine Bushaltestelle am östlichen Ortsausgang von Uppsala gewesen. Amelie sollte sich melden, wenn sie sich entschlossen hatte, nach Länna zu fahren. Sara hatte versprochen, dann sofort loszufahren. Amelie hatte es versucht. Viele Male. Aber Sara zog es anscheinend vor, mit jemand anderem zu quatschen und die Leitung zu blockieren.

Ein paar Minuten lang gab sich Amelie der Verzweiflung hin. Zumindest war es nicht kalt, aber die Sonne ließ sich an diesem Sommertag nicht blicken. Stattdessen zogen dichte Wolkenfelder über sie hinweg, und am Horizont kündigte sich ein Gewitter an. Gerne hätte sie hemmungslos geweint, wenn es ihr in der Öffentlichkeit nicht so peinlich gewesen wäre. Was würde es für ein Licht auf sie werfen, wenn sie den Termin absagte? Sie hasste unangenehme Telefongespräche und musste sich ohnehin immer dazu zwingen.

Als der Bus der Linie 3B in den Kreisverkehr einbog, hinter dem sich die Haltestelle befand, fasste Amelie einen Entschluss. Der Bus fuhr nur alle dreißig Minuten, und er würde sie bis fast vor die Tür des Hauses bringen, das Herr Eriksson so dringend vermieten wollte. Ohne lange darüber nachzudenken, stieg sie ein, zeigte ihr Studententicket beim Fahrer vor und setzte sich in die vorderste Sitzbank. Instinktiv wusste sie, dass sie im Begriff war, etwas äußerst Dummes zu tun. Ihrer Mutter hatte sie überhaupt nichts von ihrem Vorhaben erzählt. Wenn Amelie in der Einöde vor Uppsala verschwand, würde dort niemand nach ihr suchen.

Mit einem flauen Gefühl im Magen starrte sie aus dem Busfenster. Mit jedem Kilometer, den sie sich von der Stadt entfernte, wurde das Land rauer und unberührter. Dichte Tannenwälder erstreckten sich neben der Bundesstraße, gelegentlich durchbrochen von Wiesen und Feldern. Über alldem thronte ein grauer Himmel, der von drohendem Unheil zu künden schien.

Eine halbe Stunde später passierte der Bus das Ortseingangsschild von Länna, einem Siebenhundert-Seelen-Dorf innerhalb der Gemeinde von Uppsala. Die Straße wand sich an einem malerischen See entlang, auf der anderen Seite verlief ein kleiner Bach. Amelie entdeckte eine Wassermühle, einen winzigen Gemischtwarenhandel und eine Holzkirche. Das Örtchen wirkte verschlafen, und man sah nur wenige Menschen auf den Straßen. Der Stil der Wohngebäude entsprach der typischen Holzarchitektur der Vororte Südschwedens: bunt gestrichene Fassaden mit weiß abgesetzten Fensterrahmen und farblich passender Veranda.

Es gab nur eine Haltestelle im Ort. Amelie stieg als einziger Fahrgast aus und sah dem Bus noch hinterher, bis er aus ihrem Sichtfeld verschwand.

Die Luft roch frisch und sauber. Die vollen Ausmaße des Sees konnte Amelie nicht ausmachen, denn sein gegenüberliegendes Ufer verschwand im dichten Nebel. Es gab nur wenige Wohnhäuser, die sich in die bewaldete Landschaft schmiegten wie Farbkleckse auf einem Gemälde. Ein wunderschöner Ort für einen Ausflug ins Grüne – wenn das Wetter besser gewesen wäre. Amelie atmete tief ein und schloss die Augen. In der Ferne hörte sie Wasservögel kreischen, in den dicht beblätterten Bäumen am Straßenrand sangen Meisen um die Wette. Ein lauer Wind strich durch das Laub. Schade, dass Sara das nicht sah. Es glich einer Wohltat für die Sinne, dem Trubel in Uppsala einmal zu entfliehen.

Der Gedanke an ihre Freundin brachte Amelie auf das zurück, weshalb sie hergekommen war. Sie griff in ihre Jackentasche und förderte den Zettel mit der Wegbeschreibung zutage, die sie sich mithilfe einer Straßenkarte angefertigt hatte. Das Anwesen von Herrn Eriksson befand sich demnach nur wenige Gehminuten von der Bushaltestelle entfernt.

Amelie bog in eine Seitenstraße ein. Es ging sanft bergauf, an satten grünen Wiesen und einem Landhaus vorbei. Am Ende der Straße zweigte ein Pfad nach links ab, geradewegs auf ein Waldstück zu. Es gab nur ein handgeschriebenes Straßenschild, das den Weg als »Kleine Waldstraße« betitelte. In Amelies Straßenkarte und auch im Internet hatte sie den Pfad gar nicht finden können, aber darauf hatte Herr Eriksson sie bereits am Telefon aufmerksam gemacht. Dennoch war sie sich sicher, den richtigen Weg gefunden zu haben, denn ein zweites Schild wies schlicht auf eine Villa hin, mit einem Pfeil in Richtung des Straßenverlaufs. Allmählich beschlich Amelie ein ungutes Gefühl, und die Stimme ihrer Mutter hallte in ihrem Kopf wider.

»Kind, was machst du denn? Geh niemals allein in einsame Gegenden, bla, bla, bla.«

Sie fühlte sich tatsächlich nicht wohl dabei, und sie wünschte, Sara wäre an ihr verdammtes Handy gegangen, als noch Zeit dafür gewesen war. Noch war es nicht zu spät, Amelie konnte zurückgehen, auf den nächsten Bus warten und das Angebot einfach vergessen. Doch irgendetwas zwang ihre Beine dazu, immer weiterzugehen, als zöge ein Magnet an ihr.

Der Untergrund war matschig, und ein paar vereinzelte Regentropfen landeten auf ihrem Kopf. Das Wasser weckte die Gerüche der Erde, ein herrlicher Duft. Der Weg schlängelte sich etwa dreihundert Meter weit in den Wald hinein, stieg dann etwas steiler an und führte auf eine Lichtung hinaus. Hinter einer Biegung schob sich ein dreistöckiges Gebäude in ihr Blickfeld.

Der Anblick jagte Amelie einen Schauder über den Rücken, obwohl sie nicht genau benennen konnte, weshalb. Ein Zaun mit einem schmiedeeisernen Tor umgab die Villa und einen weitläufigen Vorgarten. Langsam ging Amelie darauf zu und griff nach der Klinke. Es war nicht verschlossen und schwang mit leichtem Druck quietschend nach innen auf. Ihr Herz schlug so laut, dass sie das Blut in ihren Ohren rauschen hörte. Jede Faser ihres Körpers schrie nach Flucht, doch noch immer fühlte sie sich von diesem Ort wie magisch angezogen.