Herzenssache - Nataly Bleuel - E-Book

Herzenssache E-Book

Nataly Bleuel

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Beschreibung

Würden Sie das Herz Ihres Kindes verschenken, um das Leben eines Fremden zu retten? Wenn der Preis dafür wäre, es nicht im Arm zu halten, wenn es seinen letzten Atemzug tut? Und wenn die Antwort auf diese Frage Nein lautet: Was, wenn es Ihr Kind wäre, das dringend ein neues Organ braucht?

Die Autoren recherchieren an dieser Schnittstelle von Leben und Tod, an der extreme Gefühle mit komplexen medizinischen Prozessen und herausfordernden ethischen Fragen zusammentreffen. Sie sprechen mit Betroffenen und Beteiligten, begleiten ein Organ auf seiner „Reise“ vom Spender zum Empfänger, erläutern die Probleme moderner Hirntoddiagnostik und was wir über den Prozess des Sterbens wissen. Sie beschreiben aber auch die Transplantationsskandale und die fragwürdigen Vorgänge um die Transplantationsbürokratie, die viele davon abhalten, einen Organspendeausweis auszufüllen.

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Buch

Würden Sie das Herz Ihres Kindes verschenken, um das Leben eines Fremden zu retten? Wenn der Preis dafür wäre, es nicht im Arm zu halten, wenn es seinen letzten Atemzug tut? Und wenn die Antwort auf diese Frage Nein lautet: Was, wenn es Ihr Kind wäre, das dringend ein neues Organ braucht?

Die Autoren recherchieren an dieser Schnittstelle von Leben und Tod, an der extreme Gefühle mit komplexen medizinischen Prozessen und herausfordernden ethischen Fragen zusammentreffen. Sie sprechen mit Betroffenen und Beteiligten, begleiten ein Organ auf seiner »Reise« vom Spender zum Empfänger, erläutern die Probleme moderner Hirntoddiagnostik und was wir über den Prozess des Sterbens wissen. Sie beschreiben aber auch die Transplantationsskandale und die fragwürdigen Vorgänge um die Transplantationsbürokratie, die viele davon abhalten, einen Organspendeausweis auszufüllen.

Autoren

Nataly Bleuel ist freie Reporterin und Autorin und wurde für ihre Recherchen zur Organspende mehrfach ausgezeichnet – unter anderem mit dem Deutschen Sozialpreis.

Christian Esser arbeitet als Redakteur beim ZDF-Magazin »Frontal 21«; seine Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet – u. a. mit dem Deutschen Fernsehpreis.

Alena Schröder arbeitet als freie Autorin u. a. für Brigitte und das Magazin der Süddeutschen Zeitung. Zuletzt erschien von ihr Die Vollstrecker (gemeinsam mit Christian Esser).

Nataly BleuelChristian EsserAlena Schröder

HERZENSSACHE

Organspende: Wenn der Tod Leben rettet

C. Bertelsmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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© 2017 by C. Bertelsmann Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-08832-3V002
www.cbertelsmann.de

Inhalt

VORWORT

TEIL 1: DIE SPENDE

Die Spender

WIE WIRD MAN EIGENTLICH ORGANSPENDER?

Die Transplantationsbeauftragte

WANN IST DER MENSCH TOT?

Der Koordinator

WARUM WERDEN GERADE IN DEUTSCHLAND SO WENIGE ORGANE GESPENDET?

Die Krankenschwester

UND NACH DER SPENDE? IST DANN ALLES VORBEI?

Die Seelsorgerin

TEIL 2: DIE ORGANSPENDE – EIN SKANDAL?

DAS SYSTEM, SEINE AKTEURE UND DER EIGENTLICHE SKANDAL DER ORGANTRANSPLANTATION

DIE SKANDALE UND DIE MEDIEN

Die Politikerin

TEIL 3:DER EMPFANG

WIE WIRD MAN EIGENTLICH ORGANEMPFÄNGER?

Der Chirurg

WIE VERTEILT MAN ORGANE GERECHT?

Der Empfänger

GERETTET, NICHT GESUND: WAS KOMMT NACH DER TRANSPLANTATION?

Die Psychologin

HAT DIE ORGANSPENDE EINE ZUKUNFT? UND WENN JA, WELCHE WOLLEN WIR?

DIE EMPFÄNGERIN

NACHWORT

DANK

WEITERE INFORMATIONEN UND LEKTÜREHINWEISE

REGISTER

VORWORT

Würden Sie das Herz Ihres Kindes verschenken?

Man muss diese Frage kurz auf sich wirken lassen, damit sie ihre ganze Wucht entfalten kann. Würden Sie das Leben eines Fremden retten, wenn der Preis dafür wäre, dass Sie Ihr sterbendes Kind nicht im Arm halten dürfen, wenn es seinen letzten Atemzug tut? Dass Sie sich vor einer OP-Tür von Ihrem Kind verabschieden müssten, dessen Herz schlägt, dessen Brustkorb sich hebt und senkt, dessen Körper warm ist – wissend, dass dieses Herz auf einem OP-Tisch zum Stillstand gebracht wird?

Und wenn die Antwort auf diese Frage »Nein« lautet – was, wenn es Ihr Kind wäre, das ein neues Herz braucht?

Diese Fragen möchte niemand beantworten müssen. Und doch kann jeder von uns von einem Moment auf den anderen dazu gezwungen sein. Das Thema Organspende ist uns allen viel näher, als wir wahrhaben wollen. Es lauert an Straßenkreuzungen, an Autobahnauffahrten, im Krankenhauszimmer. Es betrifft nicht nur jeden Einzelnen persönlich, sondern auch die Menschen, die uns am nächsten stehen. Denn letztendlich sind es meist nicht die Spender selbst, sondern ihre nächsten Angehörigen, die sich im Augenblick ihres größten Unglücks mit einem schier unlösbaren Dilemma befassen müssen: in das Sterben ihres Kindes, ihres Partners, eines Elternteils einzugreifen, um andere Menschen zu retten. Auf der anderen Seite müssen sich Tausende Patienten auf den Empfängerlisten mit dem Wissen auseinandersetzen, dass ihr Überleben den Tod eines anderen Menschen voraussetzt. Dass der Tag, den sie herbeisehnen, untrennbar verbunden ist mit einer menschlichen Katastrophe.

Die Organspende ist gleichermaßen Chance wie Zumutung. Sie gilt als die Königsdisziplin der Intensivmedizin und offenbart dabei exemplarisch ihr größtes Dilemma: Soll die Medizin alles tun – weil sie es kann? Wie wird die Würde eines Sterbenden gewahrt, wenn er nicht länger Patient, sondern menschliches Ersatzteillager ist? Wie kann man die raren Organe gerecht verteilen? An den, der sie am dringendsten braucht? Oder an den, der am meisten davon hat? Und was für ein Leben ist es, das man zusammen mit dem neuen Organ geschenkt bekommt? Wirklich in jedem Fall ein besseres?

Das Thema Organspende ist mit einem großen Unbehagen behaftet. Gern wird dieses Unbehagen auf das Unwissen der Menschen geschoben, auf irrationale Ängste, auf von den Medien gierig aufgegriffene Skandale um angeblich manipulierte Wartelisten. Doch dieses Unbehagen geht viel tiefer: Es ist das berechtigte Gefühl, dass es beim Thema Organspende keine einfachen Antworten, kein einfaches Richtig oder Falsch gibt. Und dass nicht offen diskutiert wird, was genau eigentlich bei einer Organspende geschieht und was der Vorgang mit den Menschen macht, die unmittelbar mit einer solchen Spende befasst sind. Diese Menschen sollen hier zu Wort kommen: Angehörige, Ärzte, Pfleger, Therapeuten, Organempfänger. Ihre ganz persönlichen Erfahrungen sind Wegmarken in einer dringend notwendigen gesellschaftlichen Debatte, die weit über die Organspende hinausweist: Die Frage, wie und zu welchem Preis wir sterben und leben wollen.

TEIL 1: DIE SPENDE

Die Spender

»Ich wollte das starke und gute Herz nicht einfach so sterben sehen.«

Ein vierzehnjähriges Mädchen geht morgens aus dem Haus und wird auf dem Schulweg von einem Auto angefahren. Wenige Stunden später sitzen die Eltern an ihrem Krankenbett und müssen die schwierigste Entscheidung ihres Lebens fällen.

Die Mutter

Als unsere Tochter noch lebte, hatte mein Mann schon lange einen Organspendeausweis. Einmal hat er zu mir gesagt: »Du brauchst doch keinen – wenn es so weit ist, gebe ich deine Organe schon frei.« Da habe ich ihn erschrocken angeschaut, das weiß ich noch. Ich bin eigentlich für die Organspende. Aber ich hatte dieses Papier nie in der Tasche. Warum, das kann ich mir auch nicht erklären.

Der Vater

Dann kam bei uns der Fall.

Und obwohl man irgendwann für sich die Entscheidung getroffen hat, das ist was Gutes, ist in diesem Moment alles auf null gesetzt. Man denkt alles noch mal durch. Da ist es hilfreich, wenn man sich mit dem Thema schon mal auseinandergesetzt hat. Insofern war es, für mich zumindest, relativ schnell klar. Und vielleicht leichter als für jemanden, der sich noch nie damit befasst hat und auf einmal, mitten aus dem Leben heraus, vor dieser Entscheidung steht: Spenden wir die Organe unseres Kindes?

Die Mutter

Donnerstag früh war unsere Tochter wie immer um fünf vor halb acht aus dem Haus gegangen, zur Schule. Um kurz nach halb acht habe ich ihre kleine Schwester zur Schule gefahren, und da sah ich den Krankenwagen stehen und dachte, ah, da ist ein Unfall passiert. Als ich zurückkam, stand er immer noch da. Dann wollten wir uns gerade zum Frühstück setzen, mein Mann und ich. Wir müssen erst um neun zur Arbeit. Um zehn nach acht klingelte es an der Tür. Es war ein Polizist. Ich wollte ihn erst gar nicht reinlassen und dachte, der hat sich bestimmt getäuscht. Dann fragte er, ob er reinkommen darf, es gehe um unsere Tochter Franziska. Mein erster Gedanke war: Sie hat irgendwas angestellt. Und ich habe noch ganz unbedarft gefragt: »Hatte sie einen Unfall?«

»Ja.«

Als Medizinerin dachte ich, ach, bestimmt nicht schlimm. Wenn wir ins Krankenhaus kommen, sitzt sie lachend im Bett, gebrochenes Bein und so. Da hat er schon was von Kopfverletzungen gesagt. Da dachte ich auch noch nichts Schlimmes. Selbst im Krankenhaus, als sie sagten, sie müssten den Schädel aufmachen, weil der Hirndruck zu groß sei, dachte ich: Das wird. Na gut, Skiurlaub können wir nicht machen in diesem Jahr, und im Sommer muss sie vielleicht in eine Therapie.

Der Vater

An der großen Kreuzung war die Ampel kaputt, und als sie fast über die Straße war, ist sie erfasst worden. Genaues wissen wir nicht, möglicherweise war der Autofahrer ja sogar ein Nachbar. Um 7.35 Uhr ging der Notruf ein. Wahrscheinlich war in der Sekunde des Unfalls alles schon entschieden. Beim Eintreffen der Rettungskräfte hatte sie lichtstarre Pupillen. Das ist das Zeichen für enormen Hirndruck, schwere Verletzungen, Blutungen. Und die Reflexe funktionierten auch nicht.

Die Mutter

Von neun bis halb zwölf haben wir während der OP im Krankenhausflur gewartet. Und dann kam die Oberärztin mit ganz ernstem Gesicht und hat gesagt: »Ich hole Sie gleich ab.« Ich dachte, wieso macht sie so ein ernstes Gesicht? Also, wenn ich mit Eltern im Krankenhaus gesprochen habe, dann habe ich immer ein freundliches Gesicht gemacht und ein bisschen positive Stimmung verbreitet.

Und dann kam dieser Satz.

»Ihre Tochter hat Verletzungen, die man nicht überleben kann. Sie wird sterben.«

Mein Mann hat das relativ schnell realisiert. Er hat die Todesnachricht sofort angenommen. Während ich bis zum Schluss dachte, nein, das Kind wird leben. So viele Unfallopfer überleben, die Medizin ist heute so weit, warum sollte ausgerechnet mein Kind sterben? Die schafft das!

Dann durfte ich zu ihr. Sie hatte Ödeme, war aufgequollen und wurde beatmet. Aber eigentlich sah sie äußerlich unversehrt aus.

Erst als die Hirndiagnostik kam und sie wirklich für tot erklärt wurde, habe ich es irgendwie annehmen können. Da war für mich sofort klar, was der nächste Schritt sein musste. Weil ich aus meinem Beruf als Ärztin die Menschen kenne, die auf ein Organ warten, die krank sind über viele Jahre und deren Leben abhängt von einem Organ.

Deswegen war es für mich in dem Moment, als ich wusste, das Kind ist tot, klar, dass die Organe weggegeben werden. Denn hätten wir gesagt, kommt nicht infrage – dann hätten sie in dem Moment das Gerät abgeschaltet.

Das fand ich unmenschlich. Den Schalter umzulegen. Ich kenne das Geräusch. Es ist ganz leise. Und dann macht es piep.

Der Vater

Außerdem war für mich klar, dass ich dadurch diesem sinnlosen Tod … dass ich diese Sinnlosigkeit zumindest etwas entschärfen kann. Indem ich durch die Gabe von vier Organen vier anderen Familien ersparen kann, was uns geschehen ist: den Tod ihres Kindes. Es waren das Herz, die Nieren, die Bauchspeicheldrüse und die Leber. Die Lunge war leider schon entzündet, durch das Intubieren, und nicht mehr geeignet für eine Transplantation. Das fand ich sehr schade. Sonst hätten wir fünf Empfänger gehabt. Aber so hatte ich immerhin das Gefühl, in unserem Unglück noch ein bisschen Hoffnung für andere gebracht zu haben. Und ich weiß, dass das Herz unseres Kindes jetzt noch irgendwo schlägt.

Die Mutter

Unsere Tochter war fast Leistungssportlerin, sie war topfit. Wir haben dann immer gesagt, das tolle Herz muss doch irgendwie weiterschlagen. Und der schöne Nebeneffekt war, dass wir noch fast anderthalb Tage mehr Zeit im Krankenhaus hatten. Bis es dann sozusagen über die Bühne gegangen war. Es war für mich sehr wichtig, dass ich noch so viel Zeit hatte mit ihr. Auch wenn sie schon hirntot war. Die Diagnostik war Freitagabend, und wir hatten noch den ganzen Samstag bis Sonntagmorgen. Bis die ganze Organspende-Maschinerie anlief, die Empfänger gesucht, die Teams eingeflogen wurden.

Und dann gab es eine große Diskussion. Ich wollte sie nach der Organentnahme noch einmal sehen. Die Ärzteschaft und die Pflegerschaft haben alle abgeraten und gesagt: Behalten Sie sie so in Erinnerung, verabschieden Sie sich vor der OP!

Der Vater

Das war der Moment, als meine Frau anfing, sich auf die Hinterbeine zu stellen. Sonst hätte ich immer gesagt, wenn die Ärzte es so sagen, machen wir das. Ich arbeite für eine Krankenversicherung, ich habe eine Nähe zur Medizin. Aber bei dem Punkt dachte ich mir, nee! Ich habe jetzt mein Kind verloren, und ich will es nach der OP wiedersehen! Und das war gut so.

Denn ich wusste: Es wird das letzte Mal sein, dass ich mein Kind sehe. Auch wenn es noch so viel Mühe macht für die Ärzte und Pfleger. Es ist ja ein zusätzlicher Aufwand. Der Körper muss nach der OP versorgt werden. Und dann muss ein Pfleger das Bett noch mal irgendwohin rollen. Im Klinikum hatten sie dafür sogar einen Extraraum, zum Abschiednehmen. Ich glaube aber, vor allem will man die Eltern schützen, vor einem Bild.

Wir haben danach noch mal Abschied genommen, im Bestattungsinstitut. Und wir haben den Sarg unserer Tochter auch in der Kirche noch mal aufgebahrt. Aber dieses Bild, nach der OP, das ist das schönste, das ich im Rahmen dieser … ganzen Geschichte habe. Ich habe Fotos gemacht. Man fotografiert sein Kind ja auch, wenn es geboren wird. Warum sollte ich es nicht fotografieren, wenn es stirbt?

Die Mutter

Ich hätte mich nicht vor der OP verabschieden können. Weil sie aussah, als würde sie noch leben. Auch wenn sie hirntot war. Die warme Haut, der Brustkorb hat sich gehoben und gesenkt. Sie war offensichtlich schwer verletzt. Aber nicht tot. Nur der Kopf war tot.

Aber das konnte ich nicht begreifen, nicht mal als Ärztin. Als Mutter konnte ich es erst realisieren nach der Organentnahme. Da war sie kalt und bewegte sich nicht. Sie sah nicht mehr so verletzt und verquollen aus, sogar friedlich.

Es war dieser Eindruck: Da liegt ein totes Kind, und es ist meines. Es ist gestorben. Man muss das sehen, um es begreifen zu können. Erst im Laufe der Trauerarbeit ist mein medizinisches Gedächtnis als Ärztin wieder aufgewacht. Dann wollte ich alles noch mal abklären und habe ein paar Monate später die Ärzte befragt: Was ist genau passiert, weshalb, warum musste sie sterben? Wurde alles Menschenmögliche getan, um sie zu retten?

Der Vater

Im Krankenhaus nennen sie das den »warmen Abschied« und den »kalten Abschied«.

Die Mutter

Zwischen Leben und Tod. Also, zwischen Hirntod und wirklich tot.

Manchmal, wenn ich schwach werde, komme ich ins Hadern. Ich habe ja auch eine spirituelle Seite, und das ist bei der Transplantation ein Dilemma. Was haben wir mit ihrem Körper gemacht? Hat sie, auch wenn das Hirn keinen Schmerz mehr verarbeiten konnte, bei der Operation vielleicht doch etwas erlebt? Wir wissen ja nicht, wie es ist zu sterben.

Hatte die Seele die Zeit, die sie brauchte? Nach der Organentnahme war sie noch da. Man spürt das. Nach der Organentnahme sah das Kind noch aus, als ob es schläft. Als wir Franziska aus der Rechtsmedizin wieder bekamen, einige Tage später, da war die Seele weg, eindeutig. Irgendwo dazwischen ist sie gegangen.

Mir fehlt manchmal die, wie soll ich sagen, Konsistenz.

Als meine Mutter vor einigen Jahren starb, war das anders. Ich saß an ihrem Bett, hielt ihre Hand und sah auf dem EKG, wie der Herzschlag sich verlangsamte. Ich spürte auch, wie ihr Herz allmählich aufhörte zu schlagen. Das ist der stimmige Tod.

Über die Zweifel darf ich gar nicht nachdenken, dann kriege ich solche Schuldgefühle und denke: Vielleicht habe ich mein Kind umgebracht.

Der Vater

Aber die Frage stellt sich doch nicht. Wir hatten uns schon vorher mit dem Hirntod und der Organspende beschäftigt und wussten: Hirntod ist tot, das ist das Entscheidende, und nicht das Herz. Wir haben die EEG-Linie gesehen, und da war nichts mehr. Also war die Frage nicht: Verursachen wir durch die Organentnahme den Tod? Der war ja schon da. Interessanterweise sprechen sie in der Klinik dann auch nicht mehr von lebenserhaltenden Maßnahmen, sondern von organerhaltenden Maßnahmen. Und ich will ja keinen Körper als Tochter haben. Sondern einen Menschen. Und dieser Mensch, der sitzt nun mal im Hirn. Wenn das Zentrum den Körper nicht mehr steuern kann, dann … So rational es klingt, aber dann muss man sagen: Das war’s. Die Zustimmung zur Organentnahme ist ja kein Todesurteil. Sondern die Zustimmung zur Organentnahme kann erst dann erfolgen, wenn das Todesurteil schon gesprochen war.

Die Mutter

Wenn ich nur wüsste, was war in den Minuten, bis der Notarzt kam: Hat jemand ihre Hand gehalten?

Der Vater

Vielleicht war sie da sogar schon tot. Früher, als die Medizin noch nicht so weit war, wäre sie vermutlich gar nicht lebend ins Krankenhaus gekommen. Es fängt ja schon bei der Notfallversorgung im Rettungswagen an, da hatte sie lichtstarre Pupillen. Und im Schockraum brach ihr Kreislauf weg, und sie haben sie wiedergeholt. Das geht nur mit moderner Medizin. Damit kann man Leben retten.

Und dann werden wir durch die Möglichkeiten der Intensivmedizin eben mit Fragen und Entscheidungen konfrontiert, die uns vielleicht überfordern. Aber ich finde es gut, dass wir die Entscheidung treffen konnten, zu sagen: Für unser Kind können wir jetzt nichts mehr tun. Aber da gibt es irgendwo ein paar Menschen, für die können wir noch was tun. Für die kann unsere Tochter noch was tun.

Man muss sich in so einem Fall ja die Frage stellen: Wie hätte sie sich entschieden? Das war für uns klar, denn sie hat sich immer gekümmert, sie hat Kindertrainingsstunden gegeben und war für andere da. Sie hätte das auch gewollt. Davon gehen wir aus.

Die Mutter

Ich wollte das starke und gute Herz nicht einfach so sterben sehen. Wenn schon der Kopf gestorben ist und der Mensch gestorben ist, dann soll doch zumindest das Herz weiterleben. Weil, mit dem Herz verbindet man auch viel. Es macht den Menschen aus, es kommt doch aufs Herz an, finde ich. Das Hirn war tot, aber das Herz sollte weiterleben. Das war eine gute Entscheidung. Und verhältnismäßig einfach.

Ich wüsste so gern, wo es jetzt schlägt. Aber man erfährt ja nichts. Der Todestag meines Kindes, das war ja quasi der Geburtstag für ein anderes. Oder sogar mehrere. Ich habe von Eltern gehört, die sind extra nach Kroatien gefahren, als sie gehört hatten, das Organ ihres Sohnes sei dahin vermittelt worden. Nur um die Luft zu atmen, in der das Herz ihres Kindes weiterlebt. Es ist nicht leicht, mit dem Tod zu leben.

Der Vater

Es war schon ein komisches Gefühl, als ich da draußen auf der Rampe stand. Und dann kam der Mann mit dem Koffer. Da war das Herz meiner Tochter drin. Und dann fuhr es mit dem Wagen davon.

Aber das Leben geht weiter, und wir haben noch ein Kind. Wir sollten jetzt nicht den Rest unseres Lebens lamentieren. Das ist doch auch eine Entscheidung.

Die Mutter

Schon. Aber das Leben ist halt noch lang. Und man muss lernen, mit der Trauer zu leben. Ich bin ängstlich geworden. Jeden Morgen fahre ich an der Schule vorbei und gucke, ob das Fahrrad meiner jüngeren Tochter da steht. Sie geht um Viertel vor acht aus dem Haus, ich um halb neun, und bis dahin, denke ich dann – ja, jeden Tag eigentlich –, wäre die Polizei ja wohl da gewesen.

Der Vater

Wir haben zwei sehr unterschiedliche Kinder. Die Jüngere war immer diejenige, von der man dachte, die passt im Straßenverkehr nicht so auf oder rennt mal schnell auf die Straße, wenn irgendwo ein Hund bellt. Franziska, die Ältere, war sehr straight, sie hatte ihr Leben total im Griff. Bei ihr hätte man nie Angst gehabt, dass sie über die Straße läuft, ohne zu gucken. Ist sie wohl auch nicht. Sie war für ihr Alter sehr umsichtig. Wenn es so jemandem passieren kann, dann kann es jedem passieren.

WIE WIRD MAN EIGENTLICH ORGANSPENDER?

Als der südafrikanische Chirurg Christiaan N. Barnard im Jahr 1967 zum ersten Mal das Herz eines Toten im Körper eines anderen Menschen zum Schlagen brachte, war das eine weltweite medizinische Sensation. Zwar überlebte Barnards Patient mit dem neuen Herzen nur achtzehn Tage, zwar hatte es auch schon zuvor erste erfolgreiche Transplantationen von Nieren, Lebern und Bauchspeicheldrüsen gegeben – und trotzdem gilt Barnards chirurgischer Erfolg als der Beginn der modernen Transplantationsmedizin, was vor allem an der Symbolkraft des Herzens liegt. Der Herzschlag steht wie nichts anderes für den Beginn und das Ende des Lebens. Der Herzschlag der Mutter ist das Erste, was ein Fötus im Mutterleib wahrnimmt. Der Herzschlag des Fötus das Erste, was wir in den grauen Schlieren des Ultraschallbilds erkennen. Genau wie die Nulllinie auf dem Krankenhausmonitor zu einem Symbol für den Tod geworden ist.

Heute sind Organtransplantationen längst keine Sensation mehr. An mehr als fünfzig Kliniken in Deutschland werden Herzen, Nieren, Lungen, Lebern, Bauchspeicheldrüsen, Augenhornhäute und anderes Gewebe (wie etwa Herzklappen oder Sehnen) verpflanzt. Längst hat sich die Öffentlichkeit an Promis gewöhnt, die per Plakatwerbung versprechen, ihr »Herz zu verschenken«. Ebenso an die regelmäßige Postsendung der Krankenkassen, in der wir animiert werden sollen, unsere Haltung zur Organspende klar zu formulieren. Und als Frank-Walter Steinmeier 2010 in seinem Amt als SPD-Fraktionsvorsitzender pausierte, um seiner kranken Frau eine Niere zu spenden, brachte ihm das große Anerkennung. Klar, wer würde nicht so handeln wie er? Und warum nicht auch nach dem Tod Organe spenden? Schließlich braucht man sie ja dann nicht mehr.

81 Prozent der Deutschen stehen laut einer Umfrage der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) der Organspende grundsätzlich positiv gegenüber. Und trotzdem gab es im Jahr 2015 in Deutschland genau 877 Organspender. 877 Menschen (Lebendspender wie Frank-Walter Steinmeier nicht eingerechnet), bei denen nach Eintritt des Hirntods ein oder mehrere Organe entnommen werden konnten, um sie einem Organempfänger zu transplantieren. Das klingt nach wenig – und ist es auch. Die Zahl der Organspender ist in Deutschland seit dem Jahr 2010 um ein Drittel gesunken. Woran liegt das?

Zunächst kommt nicht jeder, der grundsätzlich bereit wäre, Organe zu spenden, auch als Spender infrage. Die meisten Menschen sterben in Deutschland nach wie vor an Herzversagen und an Krebs – beides in aller Regel Ausschlusskriterien für eine Organspende. Um Organspender zu werden, müssen die inneren Organe intakt, muss die Funktion des Gehirns jedoch unwiederbringlich zerstört sein. Diesem sogenannten Hirntod geht meistens eine starke Hirnblutung oder ein Schädel-Hirn-Trauma voraus, etwa durch einen Schlaganfall oder einen Unfall. Nur wenn durch eine rechtzeitige intensivmedizinische Betreuung das Herz-Kreislauf-System künstlich aufrechterhalten werden kann, bleiben die Organe durchblutet und funktionsfähig.

Eine Organspende ist also nur dann möglich, wenn die Intensivmedizin ein kleines Zeitfenster zwischen dem unwiederbringlichen Erlöschen des Bewusstseins und aller Funktionen des Gehirns – dem Hirntod – und dem klinischen Tod des Menschen schafft. Wenn es im Krankenhaus einen Transplantationsbeauftragten gibt, der seine Aufgabe ernst nimmt, einen Intensivpatienten als potenziellen Organspender auch bei der DSO meldet und bereit ist, mit geschockten Angehörigen zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt das Thema Organspende anzusprechen. Wenn der potenzielle Spender einen Organspendeausweis oder eine entsprechende Patientenverfügung hat oder sich seine nächsten Angehörigen für eine Organspende entscheiden. Und wenn dann noch alle medizinischen Parameter stimmen – erst dann kommt es zu einer Organentnahme.

Im Jahr 2015 hatte die DSO 2245 sogenannte »organspendebezogene Kontakte«. 2245 Mal also wurde die Stiftung, die in Deutschland die Organspende organisiert, von einem Krankenhaus wegen eines potenziellen Organspenders kontaktiert. Das ist nicht besonders oft. Zwar muss jede Klinik in Deutschland mit einer Intensivstation einen Transplantationsbeauftragten bestimmen, der Patienten, die möglicherweise als Organspender infrage kämen, erkennt und bei der DSO meldet. Doch im Klinikalltag ist oft wenig Raum und Zeit für zusätzlichen medizinischen Aufwand und für ausführliche Gespräche mit Angehörigen. Es ist für Kliniken auch finanziell nicht besonders attraktiv, einen hirntoten Patienten weiterzuversorgen – ein Bett mit einem lebenden Patienten zu belegen ist deutlich lukrativer. Und auch wenn engagierte Transplantationsbeauftragte mögliche Organspender bei der DSO melden, kam es im Jahr 2015 bei 61 Prozent dieser Kontakte anschließend doch nicht zu einer Organspende, teils wegen medizinischer Kontraindikation, teils weil Angehörige sich entweder vor der endgültigen Feststellung des Hirntods oder auch danach und nach Beratung durch die DSO gegen eine Organspende entschieden.