Hexenbälger - Sandra Busch - E-Book

Hexenbälger E-Book

Sandra Busch

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Beschreibung

Inhalt: Um eine Prophezeiung zu verhindern, wurde er ausgeschickt, alle Hexer des Landes zu töten. Voller Hass auf die Zauberkundigen folgt er dem Befehl, denn er wurde von einem der ihren geschaffen: Der Kriecher. Auf seinem tödlichen Weg stößt der Kriecher auf Sid und Tinkim, die wie Brüder unter den Fittichen der alten Muhme aufwuchsen. Und plötzlich finden sich die beiden Hexenbälger in einem Kampf ums Überleben wieder. Ca. 64.233 Wörter Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte dieses Buch etwa 311 Seiten

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Inhalt:

Um eine Prophezeiung zu verhindern, wurde er ausgeschickt, alle Hexer des Landes zu töten. Voller Hass auf die Zauberkundigen folgt er dem Befehl, denn er wurde von einem der ihren geschaffen: Der Kriecher.

Auf seinem tödlichen Weg stößt der Kriecher auf Sid und Tinkim, die wie Brüder unter den Fittichen der alten Muhme aufwuchsen. Und plötzlich finden sich die beiden Hexenbälger in einem Kampf ums Überleben wieder.

 

Ca. 64.233 Wörter

Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte dieses Buch etwa 311 Seiten

 

 

Danksagung:

 

♥ Sandra Gernt hat wieder ein wunderschönes Cover gebastelt und daneben noch Zeit gefunden, mich pomponschwingend zu ermuntern.

Brigitte erschlug tapfer meine Feinde Dativ und Genitiv und gab mir den Hinweis, dass Meister Yoda in diesem Buch nichts zu suchen hat. Dankbar ich dir bin.

Meine Eltern lesen immer noch tapfer jedes Buch und freuen sich, wenn ich mich freue.

Uwe hat mir bislang noch nicht den Strom abgedreht. Wahrscheinlich weil er Angst hat, dass ich ansonsten die Wohnung mit Strickware überschwemme.

Das Drachentier hat huldvoll etliche Passagen als Vorlesung ertragen und jedesmal anerkennend genickt, sobald ich gaaaanz nebenbei mit einer Möhre winkte.

Unendlicher Dank gilt selbstverständlich auch meinen getreuen Lesern, die mich durch ihr Feedback zum Weiterschreiben animieren.

 

 

Es brachte einst ein Mägdelein

Voller Furcht und Zag

Dem alten Hutzelweib ihr Knäbelein

Zum weitren Zeitvertreib

 

Drei Winter zogen durch das Land

Als unterm finstern Tann

Das Hutzelweib ein‘ Säugling fand

Nun hat‘s der Söhne zwei

 

 

Mitten im tiefen Wald, stand auf einer Lichtung ein windschiefes Häuschen mit einem kleinen Garten, einem sorgfältig gepflegten Kräuterbeet und einem überdachten Brunnen. Faul und fett lag eine weiße Katze auf der Bank neben der niedrigen Tür des Häuschens und blinzelte mit ihren gelben Augen missmutig in Richtung der beiden Streithähne, die sich wie in einem Duell gegenüberstanden. Die Mienen der beiden Kinder waren ausgesprochen finster und die Luft zwischen ihnen schien vor Spannung zu knistern. Die Katze fauchte gereizt. Sie fühlte sich in ihrer Ruhe gestört, denn die Zauberstäbe der beiden Knirpse waren zum Angriff gezückt.

„Nimm das, du hässliche Gestalt!“

Dicke Warzen erblühten in Tinkims Gesicht, doch schon holte er zum Gegenschlag aus und ließ seinen Zauberstab tanzen.

„Und du nimm das!“

Sids Haut färbte sich dunkelblau.

„Im Feenstaub sollst du ersticken!“

„Die Kobolde sollen dich holen!“

„Die Muhme soll dich in ihren Kessel stecken!“

„Nein, dich soll sie am Spieß braten!“

Erneut wirbelten die Zauberstäbe und gleich darauf hatte Tinkim einen buschigen Schwanz aus seinem angeschmuddelten Kittel ragen und Sids Ohren ähnelten denen des mächtigen Hirschen, den sie gestern erst während eines eher seltenen Waffenstillstandes beobachtet hatten. Tinkim verrenkte sich beinahe den Hals, um seinen Schwanz zu betrachten. Tränen stiegen ihm in die Augen und der Zauberstab fiel ihm aus der Hand. Wie sollte er denn damit am Abendbrottisch sitzen?

„Mach den weg.“

„Heulsuse! Heulsuse!“ Sid lachte und wackelte spöttisch mit seinen langen Ohren.

„Mach den weg!“ Tinkim begann zu weinen, mehr aus Wut, weil er wieder einmal nicht gegen den drei Jahre älteren Jungen ankam, der ihn lautstark auslachte.

„Du flennst wie ein Mädchen.“

Mit einem aufgebrachten Schrei warf sich Tinkim auf seinen Widersacher und hieb mit den geballten Fäusten auf ihn ein. Sein ungestümer Angriff brachte Sid tatsächlich zum Wanken und die wilde Boxattacke warf ihn um.

„Na warte, du kleine warzige Kröte!“ Sid schlug zurück. Angestrengtes Keuchen erklang, Wegerichblätter wurden zerdrückt, nackte, schmutzige Füße rissen Furchen in den Grasboden. Gleich darauf heulte Sid auf, weil Tinkim ihm heftig in die Hand biss.

„Du verdammte Schnappschildkröte!“

„Du hässlicher Waldschrat!“

„Du blödes Wechselbalg!“

„Du stinkendes Stück Trollscheiße!“

Sie traten, prügelten und kratzten sich, bis Sid die Oberhand gewann – ebenfalls wie üblich. Triumphierend hockte er auf Tinkims Brust und starrte auf ihn nieder, seinen Sieg sichtlich auskostend.

„Du Jammerlappen hast …

 

 

„… verloren.“ Sids höhnisches Grinsen brachte Tinkim innerlich zum Kochen. Vierzehn Jahre später und nichts hatte sich zwischen ihnen geändert. Sid war hassenswert geblieben, spielte ihm nach wie vor Streiche und lachte ihn regelmäßig bei seinen misslungenen Hexereien aus. Und diese stümperhaften Bemühungen, wie Sid sie bezeichnete, stellten einen wunden, sehr wunden Punkt in Tinkims Leben dar.

„Geh runter von mir, du schleimiger Lurch“, zischte er, stemmte die Hände gegen Sids Brust und versuchte ihn von sich zu schieben. Plötzlich stutzte er, denn sein Gefährte schaute ziemlich seltsam auf ihn herab. Unsicher versuchte er in Sids schwarzen Augen zu lesen, die zwischen dem dichten Fell in seinem Gesicht funkelten. Plante der hinterlistige Mistkerl die nächste Gemeinheit?

„Geh runter“, flüsterte er, von dieser ungewohnt nachdenklichen Miene schlagartig eingeschüchtert und dieses Mal kam Sid der Aufforderung nach.

Plötzlich ging ein ganzer Hagel grauenhafter Flüche auf sie hernieder, sodass sie sich eilig aufrappelten und ihre verdreckten Hemden zu glätten versuchten. Ein kleines, gebeugtes Weib mit einem Buckel unter dem bunten Kleid und einem Triefauge in dem runzligen Gesicht humpelte verärgert auf sie zu. Gleich darauf untermalte sie ihre deftigen Beschimpfungen mit Hieben ihres knorrigen Stocks, auf den sie sich sonst stützte. Schmerzhaft wurde Tinkim mehrmals getroffen und er verbiss sich einen Aufschrei. Die Muhme besaß Riesenkräfte, so hilflos sie auch aussehen mochte.

„Tag für Tag, Jahr für Jahr!“, kreischte sie ungehalten. „Wann werdet ihr jemals Frieden miteinander schließen? Ich hätte euch in den Höllenpfuhl geworfen, wenn ich das geahnt hätte.“

„Du hättest ja in deine Kristallkugel schauen können, Muhme“, murmelte Sid frech. Gleich darauf ruckte sein Kopf zur Seite, als er aus dem Nichts heraus eine deftige Ohrfeige erhielt. Tinkim fixierte betreten seine nackten Zehen, als sich der verärgerte Blick der Muhme auf ihn richtete.

„Es dämmert bereits. Ihr solltet lediglich Wasser holen und nun seht euch an. Der eine hat überall grüne Beulen und der andere hat sich ein Fell anhexen lassen und wird mir mit Sicherheit Flöhe ins Haus bringen. Das sind Kindereien. Dabei solltet ihr euch wie erwachsene Männer benehmen.“ Aus den Falten ihres Kleides zog sie einen fingerdicken Stab hervor und schwenkte ihn in einem eleganten Muster. Fell und Beulen verschwanden und ihre Hemden und Hosen waren von einer Sekunde auf die andere blitzsauber.

„Nun geht euch waschen und holt mir das Wasser, damit wir endlich zu Abend essen können. Und wenn ihr euch heute nicht mehr benehmen könnt, werde ich mit einem Hexenzauber dafür sorgen, dass ihr euer alberndes Verhalten bereuen werdet. Ich bin eure Streitereien allmählich leid.“ Mit dieser Drohung humpelte die Muhme in das Häuschen zurück.

„Rabenaas“, flüsterte Sid in Tinkims Richtung.

„Lumpensack“, murmelte er gewohnheitsmäßig zurück und folgte seinem Hexenbruder zum Brunnen.

Als Sid den Eimer in die dunkle Tiefe ließ, brummte er: „Ich frage mich immer wieder, wieso sie sich das Wasser nicht ins Haus zaubert. Es wäre um vieles leichter und schneller.“

„Damit du ehrliche Arbeit zu würdigen lernst.“ Tinkim konnte sich die Stichelei nicht verkneifen. Er bohrte seine Zehen ins Gras, das sich weich und kühl unter seiner Sohle anfühlte.

„Oder damit du dir nicht dumm vorkommst, weil du als einziger von uns nicht vernünftig hexen kannst.“ Sid grinste und zerrte den gefüllten Eimer in die Höhe, um ihn gegen einen leeren auszutauschen, den er in die Tiefe schickte. Der offene Spott tat Tinkim in der Seele weh. Er gab sich große Mühe, strengte sich wirklich an, aber seine Hexerei funktionierte lediglich, wenn er richtig wütend war. Sid Furunkel und eine lange Nase zu verpassen fiel ihm ausgesprochen leicht. Doch wenn die Muhme ihn unterrichtete oder er alleine übte, gingen seine Zauber ständig schief. Inzwischen hatte er große Angst, ein Unheil anzurichten, das die Muhme nicht mehr beheben konnte. Das Spiel mit den Mächten war gefährlich, das war ihm wohl bewusst. Allerdings ging dieser Gedanke in seinen Auseinandersetzungen mit Sid regelmäßig verloren.

„Oooh, fängt der kleine Tinny gleich zu flennen an?“

Halbherzig schlug er nach Sid, der den zweiten gefüllten Eimer flink vom Haken zog und zum Haus lief.

„Da musst du früher aufstehen“, rief Sid lachend. Tinkim reagierte darauf gar nicht, sondern lehnte sich mit einem leisen Seufzen gegen den Brunnen, der aus hellen Feldsteinen gebaut war. Endlich hatte er eine Minute lang Ruhe vor diesem dem Höllenpfuhl entsprungenen Quälgeist.

Den Kopf in den Nacken gelegt versuchte er die ersten Sterne zu erspähen. Ihr silbriges Glimmen übte eine beruhigende Wirkung auf ihn aus, daher mochte er die Nacht mit ihren Eulenrufen und dem seltsamen Knistern und Kraspeln in der Finsternis. Enttäuscht musste er einsehen, dass es für Sterne noch zu hell war, obwohl es auf ihrer Lichtung stets rasch dunkel wurde. Eine Igelfamilie wanderte an ihm vorbei und hatte bestimmt den Garten zum Ziel. Mit einem Lächeln schaute Tinkim ihnen hinterher.

„Junge, komm zu Tisch!“ Die Stimme der Muhme schreckte ihn schließlich auf. Sie stand wartend in der niedrigen Tür und so riss er sich von dem orangegefärbtem Abendhimmel los.

 

 

Ein fröhliches Feuer knisterte in dem Kamin, das Wasser für den Tee blubberte in dem eisernen Kessel und Holunderduft zog durch die ganze Hütte. Zahlreiche Kerzen standen auf dem blank gescheuerten Tisch. Dünne kalte Bratenscheiben, eine Fischpastete, knuspriges Brot und gelb glänzende Butter luden zum Schmausen ein. Die Muhme füllte ihre hölzernen Becher mit Tee, bevor sie sich zu ihnen an den Tisch setzte.

„Die Krume der Muhme, die Rinde dem Kinde“, murmelte sie, als sie das Brot brach und verteilte. Mit ihren wenigen Zähnen fiel ihr das Kauen schwer. Verstohlen musterte Sid die Muhme und versuchte einzuschätzen, wie alt sie war. Schon als er ein Dreikäsehoch war, war die Muhme eine Greisin gewesen. Auch ihren Namen hatte er nie erfahren. Vor lauter Neugier hatte er sie als junger Spund einmal gefragt, wie sie eigentlich hieß.

„Ich bin so alt, mein süßer Schattenprinz“, hatte sie ihm damals geantwortet. „Inzwischen habe ich meinen Namen vergessen.“

Konnte das wirklich sein? Ein Name war ein wertvolles Gut und eine Mutter suchte für ihr Kind bestimmt einen ganz besonderen Namen aus. Den vergaß man gewiss nicht einfach. Das ging irgendwie über sein Begreifen.

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte sie: „Ich habe mir alle Mühe gegeben, euch wie Brüder und wie mein eigen Fleisch und Blut aufzuziehen. Was werdet ihr tun, wenn ich eines Tages nicht mehr bin? Euch im Streit die Köpfe einschlagen?“

„Ach, Muhme, sag so etwas nicht. Du wirst ewig leben.“

Beinahe hätte Sid abfällig geschnauft. Tinkim, dieser elendige Schleimer! Musste er sich derartig anbiedern? Prompt strich die Muhme seinem Hexenbruder über das helle Haar.

„Mein Sonnenschein“, murmelte sie gerührt und begann mit dem Triefauge zu schielen, was immer dann geschah, wenn sie besonders bewegt war. „Auch Hexen leben nicht ewig.“

„Du aber ganz sicher.“

Aufmerksam musterte Sid seinen jüngeren Gefährten. Tinkim wollte gar nicht schmeicheln, wurde ihm bewusst, als er die Furcht in dessen himmelblauen Augen erkannte. Tinkim hatte lediglich Angst vor der Einsamkeit.

„Ich passe schon auf dich auf.“ Das rutschte regelrecht aus ihm heraus. Eigentlich hatte er seinen Hexenbruder einen Schisser schimpfen wollen. Nun legte sich die knotige Hand der Muhme liebevoll auf seine Finger.

„Und du bist mein Schattenprinz, Sid.“

„Du? Auf mich aufpassen?“ Zweifelnd rieb sich Tinkim über die blauen Flecken an seinem Arm, die er bei ihrer jüngsten Rangelei erhalten hatte.

„Alleine bist du ja überhaupt nicht lebensfähig.“

„Ich kann mehr, als du mir zutraust.“

Sid grinste sich eins. „Was ist denn mehr von nichts?“

„Du … du …“

Es rumste, als die Muhme ihre Faust auf den Tisch krachen ließ und damit die Teller und Schüsseln zum Tanzen brachte. „Fangt ihr Strolche wieder an zu zanken?“

Schnell senkte Sid den Blick auf seinen Teller und stopfte sich einen gewaltigen Bissen Pastete in den Mund.

„Ihr seid wie Hund und Katze.“ Die Muhme schimpfte, seufzte dann und schob Tinkim, der lustlos in seinem Essen herumstocherte, die Butter zu.

„Nimm dir mehr von der guten Butter, Sonnenschein.“

„Ja, damit du groß und stark wirst.“

Tinkims Kopf ruckte in die Höhe und er starrte Sid böse an.

„Sid!“ Die Muhme klopfte drohend mit dem Stock auf den Boden. „Du wirst nie alt genug sein, dass ich dich nicht noch übers Knie lege und dir den Hintern versohle.“

„Muttersöhnchen“, brummte Sid, widmete sich nun allerdings bewusst seiner Mahlzeit.

„Ist es das?“, fragte die Muhme leise. „Fehlt euch eine Mutter? Geht ihr euch deswegen ständig an die Gurgeln? Weil euch in eurem Leben eine richtige Mutter fehlt?“

Sid schüttelte heftig den Kopf und Tinkim tat es ihm gleich. In diesem Fall waren sie sich absolut einig.

„Uns hat es nie an etwas gemangelt“, erklärte Tinkim entschieden und Sid widersprach ihm nicht, sondern nickte bekräftigend.

Sie waren beide Säuglinge gewesen, als sie zu der Muhme kamen, daher konnte sich keiner von ihnen an seine Eltern erinnern. Sids Mutter hatte sich ganz allein in den verrufenen Wald gewagt, da ihre Angst vor ihrem zauberkräftigen Baby größer war als die vor der Wildnis. Herumfliegende Gegenstände und ständig bunt gefärbte Windeln hatte sie nicht ertragen können.

„Hutzelweib, ich bitte dich“, soll sie damals gesagt haben. „Nimm mir den Hexenbalg ab, sonst wird mein Mann ihn ertränken.“

Lange hatte die Muhme nicht mit sich gerungen und das dargebotene Baby in ihren Armen geborgen. Noch ehe sie etwas hätte entgegnen oder nach einem Namen für das Kind fragen können, war die junge Frau panisch davongerannt.

Drei Jahre später hatten sie zusammen beim Pilzesammeln unter einer gewaltigen Föhre das Greinen eines Säuglings vernommen. Das erbärmliche Weinen gehörte zu Sids ersten Erinnerungen. Tinkim war von seiner Mutter unter dem Baum ausgesetzt und den wilden Tieren überlassen worden. Doch er war nicht getötet und gefressen worden, sondern eine ganze Kolonie Wildkaninchen hatte sich an den Säugling geschmiegt und ihm Schutz und Wärme geboten. Als sie Tinkim gefunden hatten, war er beinahe verhungert gewesen. Sid konnte sich schwach daran erinnern, dass die Muhme tagelang um sein Leben gebangt hatte.

„Ihr habt dasselbe Schicksal geteilt“, sagte die Muhme. „Ihr solltest zusammenhalten, anstatt euch dauernd zu schlagen.“

Natürlich wusste Sid, dass die Muhme recht hatte und ihre Schelte angebracht war. Trotzdem machte es ihm großen Spaß, seinen jüngeren Hexenbruder zu ärgern. Tinkim war leicht zu verunsichern. Dass seine Zaubersprüche meistens misslangen, trug zu dieser Unsicherheit erheblich bei. Und neuerdings … Sid schluckte trocken. Neuerdings provozierte er Tinkim absichtlich zu einer Schlägerei. Damit er ihn anfassen, ihn unter sich zwingen und unterwerfen konnte. Er sah in Tinkim nicht mehr den kleinen Jungen in seinem schmuddeligen Kittel, sondern einen schlanken, etwas linkischen Mann, dessen blaue Augen mit dem Sommerhimmel um die Wette strahlten und dessen zerzaustes, blondes Haar regelrecht nach einer sanften Berührung schrie. Rittlings auf seinem Hexenbruder zu sitzen, wenn dessen Wangen von ihrem Gerangel erhitzt waren, und seine Handgelenke zu fixieren, erregte ihn auf sonderbare Weise. Er musste sich verdammte Mühe geben, Tinkim nichts davon merken zu lassen. Wann genau dieser Beziehungswandel gekommen war, wusste Sid nicht zu sagen. Auch nicht, ob es Liebe war oder Tinkim ähnlich empfand. Und da er seiner Gefühle nicht sicher war, schwieg er lieber darüber. Doch er wusste, dass sich selbst zu befriedigen keine dauerhafte Lösung darstellte. Hinterher war er meist frustriert, weil da eine Leere war, die nicht gefüllt werden konnte.

„Morgen werde ich ins Dorf gehen“, verkündete die Muhme plötzlich. Das Dorf suchte sie regelmäßig zu jeder Jahreszeit auf. Zwei Tage brauchte sie für den Hin- und Rückweg und einen ganzen Tag blieb sie dort, verkaufte ihre Tränke, Salben und Hexensprüche und erwarb Notwendiges für ihr abgeschiedenes Leben im Wald.

„Sid wird mich begleiten.“

Freudige Aufregung breitete sich in ihm aus. Seit einem Jahr durfte er die Muhme begleiten und eine völlig andere Welt erleben. Und im letzten Sommer hatte er dort auch gelernt, wie wohltuend die körperliche Nähe zwischen zwei Männern sein konnte. Sollte das etwa der Auslöser gewesen sein, dass er seinen Hexenbruder neuerdings mit anderen Augen sah? Tinkim dagegen hatte immer bei der Hütte bleiben müssen.

Wie erwartet fragte sein Gefährte hoffnungsvoll: „Darf ich morgen mitgehen?“

Die Muhme schüttelte wie die Male davor ablehnend den Kopf und Sid konnte beobachten, wie Tinkim enttäuscht in sich zusammensank.

„Du hütest das Haus und kümmerst dich um die Ziegen“, beschied sie ihm. „Und übst dein Handwerk.“

Anfangs hatte er noch gebettelt und die Muhme angefleht, ihn mitzunehmen. Heute blickte er lediglich unglücklich drein.

Sid wusste, dass die Muhme befürchtete, Tinkim würde sich in einem Notfall nicht verteidigen können. Denn außerhalb des Waldes lauerten Gefahren für das Hexenvolk in Gestalt der Ordensmänner. Sie töteten gnadenlos jeden Zauberkundigen, den sie in ihre Fänge bekamen. Deswegen versuchte er auch nicht, die Muhme zu überreden, Tinkim mitzunehmen. Er hexte ihm zwar gerne grüne Beulen an den Leib, doch er wünschte ihm nichts Böses. Schon gar nicht einen grauenhaften Tod.

„Ich kann nicht ewig auf euch aufpassen“, sagte die Muhme leise und sehr, sehr ernst.

„Ich werde fleißig üben“, versprach Tinkim.

„Und ich gebe auf ihn Acht, bis er die Hexerei wirklich sicher beherrscht, Muhme.“ Sid schaute dabei Tinkim an, der deutlich mit den Zähnen mahlte. Klar, das letzte, was Tinkim wollte, war von ihm behütet zu werden.

„Das wirst du auch müssen, Sid. Es werden dunkle Tage kommen. Nicht morgen, nicht übermorgen, aber irgendwann. Beschütze Tinkim. Beschützt euch gegenseitig. Und streitet nicht mehr.“

 

 

Später lagen sie nebeneinander in ihrem Nest aus Decken und Kissen in dem Anbau, den sie vor fünf Jahren für sich errichtet hatten. Sid spürte Tinkims nacktes Bein an dem seinen. Die Berührung fühlte sich gut an und sandte ein aufregendes Kribbeln in nicht weit entfernt liegende Regionen.

„Wirst du mir nach deiner Rückkehr von dem Dorf berichten?“, wisperte es neben ihm in der Dunkelheit. Er konnte die Sehnsucht nach fremden Dingen direkt aus Tinkims Stimme heraushören.

„Natürlich werde ich das.“

Tinkim drehte sich zu ihm um. „Was …was wirst du dort tun? Was dir ansehen?“

„Ich habe dir doch schon erzählt, dass es in dem Dorf nicht viel zu bestaunen gibt. Häuser, wie dieses hier, einen kleinen Platz für Versammlungen, Viehweiden und ein paar Felder.“

„Andere Menschen“, ergänzte Tinkim leise. Sid drehte den Kopf. Das Gesicht seines Hexenbruders war im Mondlicht, das durch das Fenster drang, kaum zu erkennen.

„Bist du mit mir und der Muhme nicht zufrieden?“

„Gegen die Muhme habe ich nichts.“

Diese Worte, die keineswegs im Scherz gesprochen waren, taten überraschend weh.

„Du kannst mich nicht leiden.“

„Du bist gemein zu mir. In dem Dorf könnte ich jemanden kennenlernen, der mir etwas bedeutet.“

Der Schmerz in seiner Brust verstärkte sich. Er wollte für Tinkim bedeutend sein. Sein Hexenbruder sollte zu ihm gehören. Unvermittelt rollte er sich auf ihn und starrte auf ihn hinab.

Tinkim keuchte überrumpelt. „Hey!“

„Ich werde mich dort mit einem Mann treffen“, erklärte Sid, bevor Tinkim ihn von sich stoßen konnte. Oder es zumindest versuchte. Schon spürte er dessen Hände warm und verlockend auf seiner nackten Brust. Jetzt blieben sie verwundert dort liegen.

„Was für ein Mann?“

„Einer aus den Ställen des Gasthauses.“ Sid log einfach drauflos. Er musste ja nicht unbedingt erzählen, dass er es mit dem dickbäuchigen Wirt aus der Schenke trieb, der nach schalem Bier stank und sich nicht fürchtete, einem Hexenbalg zu nahe zu kommen. „Breite Schultern, gewaltige Armmuskeln … ein richtiger Kerl. Nicht so ein Hänfling wie du.“

„Ich bin kein Hänfling“, protestierte Tinkim. „Und wieso trefft ihr euch?“

„Um unanständige Dinge zu tun.“ Ungeniert spann Sid seine Lügengeschichte weiter. „Wir haben uns die letzten Male stets im Heu gewälzt, während die Muhme ihre Zaubersprüche und Mittel verkaufte.“

Tinkim schwieg. Vor Ehrfurcht? Verblüffung? Unglaube? Oder weil er keine Ahnung hatte, was Sid da andeutete? Die Muhme hatte sie vor Jahren über ihre Körper aufgeklärt. Das Gespräch war sehr sachlich gewesen und mehrere Tierarten hatten als Anschauungsobjekte herhalten müssen. Es war ein sehr peinlicher Unterricht für sie alle gewesen.

„Tin, du weißt doch wohl, wovon ich rede? Du hast dich schließlich schon selbst angefasst.“

Weiteres Schweigen deutete auf die tiefe Verlegenheit seines Gefährten hin. Bestimmt erinnerte er sich ebenfalls an den Tag, als Sid ihn beim Onanieren erwischt hatte. Der Anblick, wie der helle Samen aus der prachtvollen Erektion gespritzt war, war für Sid ziemlich erregend gewesen. Sein Hexenbruder hatte diesen Höhepunkt nicht wirklich genießen können, denn von Sid ertappt zu werden, hatte ihn ziemlich aus der Bahn geworfen. Tinkim war immer so schüchtern. Das war … niedlich. Sid unterdrückte ein sehnsüchtiges Seufzen. Tinkim rührte sich weiterhin nicht. Sogar seine Hände lagen noch auf seiner Brust. Sollte er sein Geflunker ausreizen? Probieren, wie weit er das Spiel treiben konnte?

„Er konnte toll küssen, Tin. Mir wurde ganz heiß dabei. Ich weiß gar nicht, wie ich es beschreiben soll. Am besten zeige ich dir, wie das war.“ Sid senkte den Kopf und presste seine Lippen auf Tinkims Mund. Der Kleine zuckte überrascht zusammen, wehrte sich jedoch nicht. Starr lag er unter ihm und begann lediglich leicht zu zittern, als Sid sanft an seiner Unterlippe saugte, seinen Mund mit der Zunge streichelte und sie schließlich zwischen Tinkims Lippen schob. Oh, beim Höllenpfuhl! Er küsste Tin! Und Tin ließ sich küssen! Das war Tausend Mal besser als mit diesem Wirt. Sid presste sich fester an seinen Gefährten. Mittlerweile war es ihm egal, ob der Kleine seine Erregung spürte. Tinkim wurde ja selbst hart. Außerdem verwandelte dieser Kuss das Blut in Sids Adern in reines Feuer. Dass er sich verlangend an Tinkim rieb, wurde ihm erst bewusst, als dieser ihn grob boxte. Sid fuhr zurück.

„Bist du verrückt?“, fauchte Tinkim, schlängelte sich unter ihm hervor und sprang aus ihrem gemütlichen Nest. Hastig wandte er sich ab, bestimmt um seinen Steifen vor Sid zu verbergen.

„Dann willst du nicht wissen, was wir weiter getrieben haben?“ Sid grinste und fasste sich provozierend zwischen die Beine, als sich der Kleine zu ihm umschaute. Sein Hexenbruder flüchtete sich an das Fenster, um in den Garten hinauszustarren.

„Tin? Tinny?“ Sein hinausgeflöteter Spott hatte den gewünschten Erfolg, denn es ertönte ein gefauchtes „Halt die Klappe!“

Sid lachte leise und kuschelte sich in die Decken, von wo aus er Tinkims Silhouette am Fenster betrachtete. Schlank und langbeinig war sein Gefährte. Er wusste um die festen Muskeln unter Tinkims weicher Haut, kannte seinen angenehmen Geruch nach der Pfefferminzseife, die der Kleine bevorzugte, und wusste wie weich das blonde Haar war – schließlich hatte er ihn oft genug daran gezogen. Und jetzt kannte er Tinkims Geschmack ebenfalls. Er war … aufregend. Sid verging das Grinsen. Seine Erektion ließ nicht nach und Tinkim stand immer noch am Fenster und hatte die Arme um sich geschlungen, als müsste er sich selbst Schutz bieten.

„Ich geh austreten.“ Mit dieser Ansage ließ Sid seinen Gefährten allein.

 

In einer Ecke des Gartens, halb verborgen durch eine Rosenhecke, befand sich der Abtritt. Erst im Frühling hatten Sid und Tinkim das morsche Holz des Häuschens durch frische Bretter ersetzt. Ein praktischer Zauber sorgte dafür, dass es in der Latrine nicht unangenehm roch und die Ausscheidungen verschwanden idealerweise durch einen Schacht in Felsspalten, die direkt in den Höllenpfuhl führten, wie die Muhme häufig behauptete. Unter dem Hexenhäuschen musste es ein Labyrinth an Höhlen geben und Sid hatte sich als Kind in den seltenen friedlichen Momenten zusammen mit Tinkim ausgemalt, wie sie diese Höhlen eines Tages erforschen würden. Dieses Abenteuer hatten sie sich in den lebhaftesten Farben ausgemalt und in den unterirdischen Gängen grandiose Heldentaten vollbracht. In ihrer Vorstellung hatten sie gegen Lindwürmer und Trolle gekämpft, waren sagenhaften Schätzen auf der Spur gewesen und den Geistern längst verstorbener Verbrecher begegnet. Irgendwann hatten sie aufgehört, sich über die unterirdischen Tunnel auszutauschen.

Sid zog die Tür hinter sich zu, stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und umfasste mit der anderen seine pralle Erektion. Die Augen schließend, stellte er sich Tinkim an seiner Seite vor und dass es seine Finger waren, die ihn lustvoll rieben. Er rief sich die weichen Lippen seines Hexenbruders und das frivole Spiel ihrer Zungen in Erinnerung. Seine Bewegungen wurden hektischer, heftiger. Sid keuchte und biss sich in die Faust, um nicht laut zu stöhnen. Tinkim … Wie würde es sich wohl anfühlen, seinen Steifen zwischen Tinkims feste Hinterbacken zu schieben, ganz langsam in ihn einzudringen und … Sid stöhnte nun doch laut, als es ihm kam und er sich über seine Finger ergoss. Beim Höllenpfuhl! Was hatte er bloß für Phantasien? Und wieso hatte Tinkim sie nicht?

 

Beim ersten Hahnenschrei stand Tinkim vor der Hütte und schaute Sid und der Muhme sehnsüchtig hinterher, die sich auf den Weg zum Dorf machten. Am Rand der Lichtung drehte sich Sid noch einmal um. Den Blick, den er ihm schenkte, konnte Tinkim nicht einordnen, aber er war ernst und eindringlich. Seit gestern Abend hatten sie kein einziges Wort miteinander gewechselt, obwohl sein Hexenbruder mehrmals dazu angesetzt hatte. Warum hatte Sid ihn geküsst?

Sicherlich bloß eine weitere seiner zahlreichen Gemeinheiten. Ich soll mir jetzt darüber den Kopf zerbrechen, anstatt die Aufgabe zu lösen, die mir die Muhme gestellt hat. Oder er wollte mich schlicht und ergreifend wieder einmal demütigen. Tinkim seufzte schwer. Sid war ein einziges Ärgernis in seinem Leben. Die wenigen friedlichen Momente, die sie miteinander verbracht hatten, konnte er an einer Hand abzählen. Ständig hatte er den Eindruck, dass Sid ihn herausforderte – ob es ums Schwimmen, Holzhacken, Beerensammeln oder Hexen ging – und das lediglich aus dem Grund, ihm seine Überlegenheit unter die Nase zu reiben. Dabei wusste er nur zu gut, dass Sid der Bessere von ihnen war. Er selbst war halt ein Stümper, der einfach nichts richtig machen konnte.

Und nun hatte ihm die Muhme aufgetragen, einen Stein in einen Becher zu verwandeln. Eine Lektion, die Sid bereits mit sechs Jahren perfekt beherrscht hatte. Wenn dagegen er sich an diesem Zauber versuchte, bekam der Stein allerhöchstens hässliche Flecke. Bestimmt würde er die Muhme erneut enttäuschen und einen neuerlichen Fehlschlag zugeben müssen. Wie sollte er sich außerdem auf die Hexerei konzentrieren können, wenn er daran denken musste, dass sich Sid zu einem Treffen mit einem Stallburschen begab, um …?

Tinkim wirbelte auf dem Absatz herum, eilte mit großen Schritten zum Ziegenstall, ließ die fünf meckernden Schecken ins Freie und begann eifrig den Stall auszumisten. Arbeit, so war er sich sicher, harte Arbeit würde ihn von sämtlichen Gedanken ablenken. Allen voran, den hartnäckigen Gedanken an den Kuss. Schwer atmend lehnte sich Tinkim mit dem Rücken gegen die Stallwand. Seine Finger wanderten zu seinen Lippen und berührten sie. Als er merkte, was er da tat, riss er sie sogleich fort.

„Er ist ein Schweinehund. Ein Mistkerl. Ständig lacht er mich aus und erniedrigt mich. Das gestern Abend gehörte dazu. Und wie werde ich darauf reagieren? Indem ich sein dämliches Tun ignoriere.“ Nach diesem frustrierten Schrei in Richtung der erstaunt dreinblickenden Ziegen wandte sich Tinkim wieder seiner Arbeit zu, streute frisches Stroh in den Verschlag und fügte für den Abend eine großzügige Armvoll duftendes Heu dazu. Anschließend holte er sich aus dem Brunnen Wasser und begann auf den Knien liegend den Dielenboden in der Küche des Häuschens zu schrubben, bis er blitzblank war. Doch auch diese Tätigkeit war bald erledigt. Also fütterte er die Hühner, zupfte im Kräuterbeet Unkraut und reparierte einen beschädigten Fensterladen. Nichts half, um Sid und den gestrigen Abend aus seinem Kopf zu vertreiben. In den Höllenpfuhl mit ihm!

Mittags, als die Hitze am Größten war, schnappte sich Tinkim den zu verwandelnden Stein und suchte seinen Lieblingsplatz im verrufenen Wald auf, einen großen schattigen Weiher. Funkelnde Libellen sausten über dem kühlen Wasser dahin, silberne Fische sprangen ab und zu aus der Tiefe empor, Salamander krochen am Ufer entlang und ein Frosch quakte sein Herzeleid hervor. An manchen Abenden tanzten zarte Feen zum Flöten des Pirols einen Reigen über den Seerosenblüten. Das waren ganz besondere Momente, die er zutiefst genoss.

Tinkim wanderte an Hahnenfuß, Sumpfdotterblumen und Schilfrohr vorbei, bis er einen winzigen Sandstrand erreichte. Ergriffen von der Schönheit dieses Ortes, die ihn jedes Mal aufs Neue fesseln konnte, blieb er stehen und atmete tief den Geruch nach Blutweiderich und den Seerosen ein, lachte über einen dahingleitenden, flinken Wasserläufer und bewunderte die Schwimmkünste einer Ringelnatter, die auf der Suche nach Lurchen und kleinen Fröschen durch die Wasserlinsen schlüpfte. Hastig fuhr Tinkim aus Hemd und Hose, Schuhe trug er bei diesem Wetter beinahe nie. Gleich darauf ließ er sich voller Wohlbehagen ins kühle Nass gleiten und schwamm langsam auf den Weiher hinaus. Libellen umkreisten ihn und setzten sich in seine Haare, um sich von ihm tragen zu lassen. Was gab es Herrlicheres, als hier an diesem verzauberten Ort beinahe schwerelos dahinzutreiben?

Ins Dorf zu gehen und andere Menschen zu sehen! Natürlich hatte ihnen die Muhme viel von der Welt außerhalb des Waldes erzählt und ihnen alles beigebracht, was ein junger Mann wissen musste. Nicht umsonst waren ihre Tage voller Unterricht gewesen. Ständig gab es etwas zu lernen. Aber es war eine Sache, Geschichten über fremde Leute zu hören, als sie selbst kennenzulernen.

Dieser unerwünschte Gedanke ließ ihn verärgert schnaufen und Tinkim tauchte unter. Geschmeidig schlängelte er sich zwischen den Stängeln der Seerosen hindurch, sank tiefer und tiefer, bis er den schlammigen Grund erreichte. Ein Krebs lief mit aufgerichteten Scheren vor ihm davon, aber ein Schwarm Rotfedern schwamm eine Weile neben ihm her, bis sich ein großer Schatten über sie hinwegbewegte. Tinkim erkannte einen stattlichen Karpfen, den die Muhme bestimmt gerne in ihrer Pfanne gebraten hätte. Er liebte Tiere sehr und brachte es nicht über sich, Fleisch zu essen. Der Karpfen war daher vor ihm sicher.

Prustend durchbrach er die Wasseroberfläche, rang nach Atem und kehrte zu seinem Ausgangspunkt zurück. Zufrieden, abgekühlt und deutlich ruhiger als zuvor warf er sich in die Sonne. Ihre Strahlen liebkosten seine Haut und wärmten ihn rasch auf. Mit nassen Fingern nahm er den faustgroßen grauen Stein und wog ihn grübelnd in der Handfläche. Es war an der Zeit, sich seinen Übungen zu stellen. Angestrengt die Stirn runzelnd fragte sich Tinkim, woran es lag, dass er den Stein nicht in einen Becher verwandeln konnte. Er war glatt, nahezu gleichmäßig rund und von heller grauer Farbe. Ein ganz normaler Stein. Es gab nichts, was seiner Hexerei im Wege stand … außer ihm selbst. Tinkim verdrehte die Augen. Wenn er sich gleich von Anfang an die Fähigkeit zu hexen abschrieb, dann würde es mit Sicherheit nichts werden. Zumindest die Bewegungen seines Zauberstabes waren perfekt, das hatte ihm die Muhme bestätigt. Das konnte also nicht die Ursache seines Unvermögens sein. Ließ er vielleicht seine magischen Energien auf eine falsche Art und Weise durch den Stab fließen? Tinkim schloss die Augen und versuchte sich zum wiederholten Male zu erinnern, was genau er tat, wenn er wütend war.

Sid verhexen, mehr nicht.

Abermals Sid! Bestimmt hatte der mit der Muhme bereits den halben Weg zum Dorf hinter sich gebracht und malte sich gerade aus, wie wild er es in den Armen des Stallknechts treiben konnte.

Tinkim seufzte. Er musste zugeben, dass er auf seinen Hexenbruder neidisch war. Er selbst sehnte sich sehr nach einer vertrauten Person an seiner Seite. Jemand, der ihn liebevoll umfing und zarte Küsse auf seine Haut hauchte. Wie dieser Kuss von Sid … Ärgerlich schüttelte Tinkim den Kopf. Nein, er brauchte einen Gefährten, der ihn mit liebevollen Blicken bedachte, die nichts mit denen der Muhme zu tun hatten. Mit einer Hand fuhr er langsam über seinen Bauch, berührte seinen schlaffen Penis und strich sanft darüber. Im nächsten Moment wälzte sich Tinkim herum, legte den Stein vor sich auf den Boden und griff nach seinem Zauberstab. Es hatte keinen Sinn über ungelegte Eier nachzugrübeln und sich in Tagträumereien zu verlieren. Er sollte sich lieber an seine Aufgabe machen, sonst würde er sie nie meistern und sich damit den Weg ins Dorf bis in alle Ewigkeit verbauen.

Ein Reiher landete direkt neben ihm und lenkte ihn erneut von seinem Vorhaben ab. Majestätisch schritt der Vogel ins seichte Wasser und begann mit seinem langen Schnabel im Schlamm nach Kleingetier zu suchen.

Konzentriere dich endlich!, ermahnte sich Tinkim und erhob sich in eine kniende Position. Den Stein fixierend schwenkte er den Zauberstab in einem bestimmten Muster. Hoch, runter, ein kleiner Kringel, den man locker aus dem Handgelenk meistern musste. Dabei achtete er darauf, dass er die Bewegung fließend ausführte. Er fühlte die Energien strömen, die Magie funktionierte. Leider nicht mit dem erhofften Ergebnis. Der Stein schaute nicht anders aus als zuvor. Behutsam stieß ihn Tinkim mit dem Finger an und kniff halb die Augen zusammen. Er war weich! Vorsichtig nahm er den Stein in die Hand. Mühelos konnte er ihn wie einen Schwamm zusammendrücken.

„Na, wunderbar!“, murmelte er. „Sollte ich ein Kissen brauchen, ist dieser Zauber bestimmt ganz vorteilhaft.“

Er legte den verhexten Stein ab und probierte es erneut. Das Ergebnis war weiterhin sehr nachgiebig, leuchtete dafür in einem grellen Rot. Tinkim stöhnte und vergrub verzweifelt das Gesicht in den Händen. So würde es nie etwas werden. Er konnte Sid direkt hämisch lachen hören.

Zwei Stunden lang mühte sich Tinkim noch ab, dann war von dem Stein lediglich ein Häufchen stinkender, rot-blau getupfter Schleim übrig.

„Das hat überhaupt keinen Sinn. Warum versuche ich es eigentlich immer wieder?“ Enttäuscht ließ er die Schultern hängen. Er sollte die Hexerei lieber aufgeben, ehe eines Tages durch seine Stümperei etwas Schreckliches passierte und womöglich jemand verletzt wurde. Dieser unschöne Gedanke suchte ihn neuerdings häufiger heim und trug nicht gerade zu seiner Motivation bei. Tinkim legte den Zauberstab auf sein Kleiderbündel und überlegte, ob er zum Häuschen zurückkehren, oder lieber eine weitere Runde schwimmen sollte. Da hörte er Hufgetrappel und das Schnauben von Pferden. Zuerst duckte sich Tinkim unwillkürlich.

Fremde!

Im Hexenwald!

Das war in seinem ganzen Leben noch nicht einmal vorgekommen. Die Dorfbewohner mieden den Wald und warteten geduldig, bis die Muhme sie besuchte, um Tränke und Salben gegen ihre Zipperlein zu kaufen. Und da die Muhme regelmäßig einen Blick in ihre Kristallkugel und damit in die Zukunft warf, war sie ebenfalls auf Notfälle eingestellt und konnte rechtzeitig helfen. Eine Tatsache, die großen Eindruck bei den Dörflern schindete.

Ein junger, ehrgeiziger Holzfäller war einmal in das grüne Dickicht vorgedrungen, hatte die Muhme Sid und ihm an einem langen Winterabend erzählt. Die Dörfler hatten ihn wenige Stunden später mit schlohweißem Haar und sabbernd auf einem Feldweg gefunden. Es schien, als würden die Bäume sich selbst vor Schaden bewahren und ihren eigenen Zauber besitzen. Dazu lebte seltsames Gelichter und Unholde im Unterholz. Ab und an hatten Sid und er Kobolde und Trolle gesehen, Irrwische und seltsame knorrige Männchen, die an Puppen aus Stöcken erinnerten, sowie Pilzmännchen, die ihre Kolonien energisch gegen jeden Eindringling verteidigten. Es waren allesamt magische Geschöpfe, die in einträchtiger Nachbarschaft mit dem Hexenvolk lebten.

Und trotzdem waren heute Unbekannte zu Pferd im Wald.

Die Neugier siegte über seine Vorsicht. Nackt wie er war, huschte Tinkim durch das Röhricht und das Gesträuch, bis er einen schmalen Pfad erreichte. Dort verbarg er sich hinter einem Holunderbusch und spähte aufgeregt durch die Zweige und Blätter. Reiter auf riesigen schwarzen Pferden kamen langsam den Weg entlang, einer hinter dem anderen. Tinkim hielt den Atem an. Endlich bekam er andere Menschen als die Muhme und Sid dem Stinktier zu Gesicht. Was mochten sie hier suchen? Jedermann wusste um die Gefahren, die von den Zauberwesen ausgingen. Dennoch waren Fremde in den Wald eingedrungen, ritten still und stumm wie eine düstere Prozession ganz in Schwarz gewandet an ihm vorbei. Allein ihre blank polierten silbernen Helme glänzten im Sonnenlicht. Tinkim war versucht, sich den Fremden zu erkennen zu geben. Gerne hätte er sie nach Neuigkeiten aus der großen weiten Welt gefragt. Doch er war nackt und sein Schamgefühl größer als die Wissbegier. Außerdem hinderte ihn seine verflixte Schüchternheit an einer Kontaktaufnahme. Dann plötzlich registrierte er, dass sämtliche Reiter wallende schwarze Umhänge mit einer gestickten roten Fackel auf dem Rücken trugen. Unvermittelt schlug seine Neugier in blanke Furcht um und er wagte nicht auch nur den kleinsten Finger zu rühren. Jetzt schlug sein Herz nicht mehr vor Aufregung sondern vor Furcht.

Ordensmänner!

Das waren Ordensmänner! Suchten die Hexenjäger etwa die Muhme? Die gewaltigen Pferde schienen ihn zu wittern, denn einige drehten die Köpfe in seine Richtung, als spürten sie seine Angst. Was würden die Männer tun, wenn sie ihn entdeckten? Sie alle trugen ausnahmslos Waffen bei sich und machten durchaus den Eindruck, als könnten sie mit ihnen umgehen. Und er Narr hatte seinen Zauberstab beim Weiher liegen lassen. Nicht, dass er ihm von großem Nutzen gewesen wäre. Aber eventuell hätten sich die finsteren Gestalten von seltsam aussehenden Furunkeln abschrecken lassen. Der Blick eines Ordensmannes glitt über den Holunder, hinter dem er sich versteckte. Tinkim grub seine zitternden Finger in den weichen Boden und hoffte, dass sein helles Haar ihn nicht verriet. Glücklicherweise ging der bedrohliche Moment vorbei. Der Ordensmann ritt weiter und bald war die Gruppe im Unterholz verschwunden. Erleichtert hockte sich Tinkim nieder und wischte sich über das Gesicht. Schweiß hatte sich auf seiner Stirn gebildet und lockte die Mücken an. Ungehalten wedelte er sie mit einer Hand fort. Plötzlich spürte er eine Bewegung an seinem Bein. Zwei Eichhörnchen saßen vor ihm und schauten ihn frech aus dunklen Augen an. Gleich darauf turnten sie an ihm empor, kitzelten ihn mit ihren buschigen Schwänzen an der Nase und keckerten vergnügt in seine Ohren. Tinkim musste lachen. Die Anspannung und die Furcht fielen von ihm ab.

„Ihr seid schon zwei fröhliche Gesellen“, murmelte er und kraulte den beiden das weiche Fell. „Vielen Dank für die Aufmunterung.“ Vorsichtig stand er auf, damit die Eichhörnchen nicht von seinen Schultern rutschten, und kehrte an den Weiher zurück, wo die possierlichen Tierchen zu Boden sprangen, um eine Sekunde später verspielt einen Baum hinaufzujagen. Tinkim dagegen kniete am Ufer nieder und wusch sich das Gesicht, bevor er seine Hose anzog, den Zauberstab in den Bund steckte und sich das Hemd schnappte. Er würde sich jetzt einen neuen Stein suchen und fleißig weiter üben. Die Ordensmänner hatten bestimmt nichts Gutes zu bedeuten. Und ihr überraschendes Auftauchen hatte einen dunklen Schatten über den Tag geworfen.

 

 

Unruhig wälzte sich Tinkim auf seiner Decke hin und her. Es war ungewohnt ohne Sid im Anbau zu liegen und jedes Mal, wenn sein Hexenbruder die Muhme ins Dorf begleitete, hatte er Schwierigkeiten Schlaf zu finden. Heute kamen die beklommenen Gedanken an die Ordensmänner hinzu. Hatten sie den Wald bereits verlassen oder lagerten sie irgendwo unter den mächtigen Eichen? Musste er befürchten, dass sie das Hexenhäuschen fanden? Vielleicht sollte er besser Wache halten, als die Augen zu schließen? Wäre die Muhme hier, so könnte sie einen Schutzzauber über die Lichtung legen und er wäre sicher. Mit einiger Anstrengung würde sogar Sid einen solchen Zauber weben können. Er dagegen bräuchte es gar nicht erst zu versuchen. Wahrscheinlich würde er bloß das Gras violett färben oder dafür sorgen, dass sich Regenwolken direkt über dem Haus sammelten und ihm ein böses Gewitter bescherten.

---ENDE DER LESEPROBE---