Hexengold - Hedwig Courths-Mahler - E-Book

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Hedwig Courths-Mahler

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Beschreibung

Roman um eine junge Komtess und eine alte Schuld.
Einsam und verbittert lebt Graf Ravenau in seinem Schloss, brennenden Hass im Herzen auf die Frau, die das Leben seines einzigen Sohnes zerstörte. Nie wieder soll Gräfin Gwendoline Schloss Ravenau betreten und ihre Tochter, Komtess Jutta, nie erfahren, dass die Mutter noch am Leben ist. Und wenn der schwer kranke Graf seine Enkelin Jutta nicht mehr schützen kann, so muss es Götz von Gerlachhausen tun, den der Graf zum Gatten der Komtess bestimmt hat.
Ahnungslos, was über sie beschlossen wurde, kehrt Jutta aus dem Pensionat nach Schloss Ravenau heim. Es wird der Beginn eines Weges durch Himmel und Hölle.

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Hedwig Courths-Mahler

HEXENGOLD

Copyright

First published in 1914

Copyright © 2019 Classica Libris

Hexengold

Rudolf Graf von Ravenau schritt, in tiefes Sinnen verloren, in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Sein vornehmes Greisengesicht war von Schmerz getrübt. Auf der Stirn lag eine scharfe, eigentümlich gezeichnete Falte.

Endlich blieb er an einem der hohen Fenster stehen, dessen tiefe Nischen mit schweren Brokatvorhängen dekoriert waren. Sein Blick schweifte über den geräumigen Schlosshof, zwischen dessen mächtigen Steinplatten graugrünes Moos hervorquoll. In der Mitte des Hofes erhob sich auf einem Rasenrondell ein alter Brunnen. Vier groteske Drachenleiber wanden sich um das runde Becken.

Der Blick des Grafen haftete an diesem Brunnen, der unzertrennlich mit der Geschichte des Hauses verknüpft war.

Die Ravenaus, ein altes, stolzes Geschlecht, gehörten zu den wenigen Adelsfamilien, die ihren Glanz und Reichtum bis in unsere Zeit zu wahren gewusst hatten. Durch Graf Rudolfs Heirat mit der Reichsfreiin Ulrike von Schönrode war auch das etwa eine Stunde entfernte Schloss Schönrode an die Ravenaus gekommen. Sie nannten sich seitdem Grafen von Ravenau-Schönrode.

Nun lebte nur noch ein einziger Ravenau, der Greis, der mit düsterer Miene am Fenster seines Arbeitszimmers stand. Er wandte sich jetzt vom Fenster ab und ließ sich vor seinem Schreibtisch nieder. Mit bebenden Händen ergriff er einen Brief, der geöffnet vor ihm lag, und überflog noch einmal die energische Damenhandschrift.

Ich möchte Euer Hochgeboren zu bedenken geben, dass Komtess Jutta in den nächsten Tagen ihr neunzehntes Jahr vollendet. Ihre Erziehung ist in allen Teilen abgeschlossen, so dass Euer Hochgeboren zufrieden sein werden.

So gern wir die junge Dame noch behielten, halten wir es doch für unsere Pflicht, darauf aufmerksam zu machen, dass alle Altersgenossinnen der Komtess unser Institut bereits verlassen haben. Komtess Jutta quält sich nun mit der Frage, weshalb sie nicht heimgerufen wird. Deshalb bitten wir ganz ergebenst, diesen Gedanken in gütige Erwägung zu ziehen und uns mit Instruktionen versehen zu wollen.

Uns Euer Hochgeboren empfehlend zeichnen wir hochachtungsvoll

Geschwister Leportier

Der Graf legte den Brief seufzend beiseite.

„Neunzehn Jahre alt“, sagte er, wie in tiefes Sinnen verloren. Komtess Jutta! Seine Enkelin, das einzige Kind seines Sohnes!

Er blickte zu dem lebensgroßen Porträt seines Sohnes empor. Es zeigte die edlen Züge des Vaters, die hohe Stirn mit der charakteristischen Trotzfalte. Aber die Augen sahen lebensfroh, in sonniger Heiterkeit auf den einsamen Mann hernieder.

Fest hafteten die Augen des Greises an dem jungen Gesicht. Es war nun schon längst in Staub zerfallen. Nichts war dem Greis von seinem Sohn geblieben, der sein Stolz, sein Glück, seine Hoffnung war, nichts… als sein Kind, die Enkelin. Und dieses Kind hatte er fremden Leuten übergeben, die es erziehen sollten. Nach dem Tod des Vaters war das damals sechsjährige Mädchen einem Genfer Pensionat übergeben worden. Nicht ein einziges Mal in all den Jahren hatte die Komtess beim Großvater geweilt.

Warum aber musste Jutta in der Verbannung, fern vom Großvater, aufwachsen? Weil sie nicht nur das Kind seines Sohnes, sondern auch das der Frau war, die Schuld trug am Tod seines Sohnes, die ihm Schmach und Schande gebracht und seine Lebenskraft gebrochen hatte. Hans-Georg hatte gegen den Willen seines Vaters eine Schauspielerin geheiratet, die er in Paris kennen lernte. Er war der koketten Sirene mit den schwarzen Augen und dem rotgoldenen Haar ins Netz gegangen.

Sein Vater hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um diese Heirat zu verhindern, aber es war nutzlos. Und so musste er, wenn er sich nicht für immer mit seinem Sohn entzweien wollte, seine Ehe sanktionieren.

Zwei Jahre des vermeintlichen Glücks verlebte Hans-Georg mit seiner schönen Gattin. Sie wohnten auf Schloss Schönrode, und dort wurde nach einem Jahr Jutta geboren.

Nachdem die junge Frau zwei Jahre lang auf Schönrode die Schlossherrin gespielt hatte, wurde ihr das stille Leben langweilig. Sie bestimmte ihren Gatten, den Winter mit ihr in Nizza zu verbringen.

Dort traf sie mit Henry de Clavigny zusammen, in den sie sich leidenschaftlich verliebte. Er aber beutete ihre Zuneigung schamlos aus. So verpfändete sie heimlich den wertvollen Familienschmuck der Ravenaus, um mit dem Erlös Clavignys Spielschulden zu bezahlen und ihm zu weiterem Spiel zu verhelfen.

Hans-Georg blieb die Untreue seiner Frau nicht verborgen. Er stellte zuerst sie und dann Clavigny zur Rede. Beide versuchten zuerst zu leugnen. Als Hans-Georg ihren falschen Beteuerungen keinen Glauben schenkte und Clavigny energisch aufforderte, sofort die Stadt zu verlassen, andernfalls er ihn wegen Betrugs zur Anzeige bringen würde, wurde Gwendolines Geliebter handgreiflich. Hans-Georg, der auf diesen Angriff nicht vorbereitet war, stürzte bei dem Schlag, den Clavigny ihm versetzte, so unglücklich, dass er schwer verletzt liegen blieb. Er hatte eine gefährliche Quetschung des Brustkorbs davongetragen.

Der alte Graf Ravenau eilte sofort an das Lager seines Sohnes. Nach einer hässlichen Szene, die Gwendoline ihm machte, zwang er sie, abzureisen.

Die Ehe wurde geschieden, Clavigny war rechtzeitig geflohen, ohne sich darum zu kümmern, was aus Gwendoline wurde. Hans-Georg sollte nie wieder ganz genesen. Als er im nächsten Sommer mit seinem Vater nach Ravenau zurückkehrte, ein kränklicher, gebrochener Mann, war die Scheidung bereits rechtskräftig geworden und Gwendoline aus seinem Leben gestrichen. Ob auch aus seiner Erinnerung, wusste niemand. Ihr Name wurde nie mehr erwähnt, aber in Hans-Georgs eingesunkenen Augen lag oft ein Ausdruck furchtbarer Seelenqual.

Der alte Graf wich auch jetzt nicht von der Seite seines Sohnes, dem er rührende Sorgfalt angedeihen ließ. Ihn selbst hatte dieser Schicksalsschlag innerlich zermalmt. Ein unversöhnlicher Hass gegen die Verderberin seines Sohnes erfüllte seine Seele und machte ihn hart und finster.

Die kleine Jutta war inzwischen fröhlich herangeblüht. Wäre es nach Graf Rudolf gegangen, so hätte sie Schönrode auch jetzt nicht verlassen. Aber Hans-Georg sehnte sich nach seinem Kind, dem einzigen, was ihm von seinem trügerischen Glück geblieben war. So kam sie nach Ravenau.

Graf Ravenau wich der Kleinen aus, so viel er konnte. Er sah sie kaum an. Sein Hass gegen die Mutter übertrug sich auch auf das schuldlose Kind. Wäre es wenigstens ein Sohn gewesen!

Die Nachbarn und Freunde des Grafen Ravenau erfuhren nie recht, was eigentlich geschehen war. Durch die Dienerschaft wurde verbreitet, Graf Hans-Georg sei mit seiner Gemahlin bei einer Wagenfahrt verunglückt, und Gräfin Gwendoline sei gestorben.

Dieser Auslegung widersprachen Vater und Sohn nicht, zumal Hans-Georg wünschte, dass Jutta an den Tod ihrer Mutter glaubte. Die wenigen Besuche, die sich in der letzten Zeit nach der Rückkehr der beiden Grafen in Ravenau einfanden, blieben später allmählich aus. Nur einer kam immer wieder und suchte die beiden Einsamen aufzuheitern: Fritz von Gerlachhausen, dessen Gut zwischen Ravenau und Schönrode lag, war Hans-Georgs bester Freund, obwohl er fast zehn Jahre mehr zählte. Zuweilen brachte er seinen Sohn Götz mit, und dieser spielte mit der kleinen Jutta, die mit ihren großen Kinderaugen erstaunt zu dem großen Jungen aufsah.

Über vier Jahre schleppte Hans-Georg sein Leben noch hin. Als er starb, stützte ihn die langjährige treue Haushälterin, die ihm herzlich ergeben war. Am Bett saßen sein Vater und Fritz von Gerlachhausen und hielten seine erkalteten Hände.

Als er den letzten Seufzer aushauchte, trippelten draußen in der langen Galerie leichte Kinderfüßchen an der Tür vorbei. Das sechsjährige Komtesschen spielte mit seinem Dackel und jauchzte vor Vergnügen. Dieses Jauchzen durchschnitt Graf Rudolfs Herz. Mit finsterer Miene starrte er nach der Tür, dann drückte er die gebrochenen Augen seines Sohnes zu und wandte seinen Blick nicht mehr von den geliebten Zügen.

Graf Rudolf verfiel fortan in eine finstere Schwermut. Die kleine Jutta, die noch zu jung war, um zu begreifen, was ihr der Tod genommen hatte, durfte ihm nicht vor die Augen kommen. Vergebens suchte Fritz von Gerlachhausen zwischen dem verbitterten Mann und seiner unschuldigen Enkelin zu vermitteln. Voll Liebe nahm sich Frau Henriette Wohlgemut, die Haushälterin des Grafen, der kleinen Komtess an, wusste sie doch manches, was das übrige Hauspersonal nicht wusste.

Fritz von Gerlachhausen wollte Jutta seiner Frau zur Erziehung überbringen. Graf Rudolf aber lehnte das Anerbieten finster ab. Er schickte die Kleine, wenige Wochen nach dem Tod des Vaters in das Genfer Pensionat. Nun lebte Rudolf Graf von Ravenau während der letzten Jahre fast ganz verlassen in seinem großen Schloss. Er sprach nur mit seinen Beamten und hin und wieder ein paar Worte mit der Haushälterin.

Ganz allein saß Graf Rudolf bei seinen Mahlzeiten im großen Speisesaal an der reich gedeckten Tafel mit dem herrlichen Silbergeschirr. Hinter ihm am Kredenzschrank pflegte dann Franz Seidelmann zu stehen und mit den Augen die Diener zu dirigieren. Franz Seidelmann war eine Art Vertrauensmann des Grafen. Halb Kammerdiener, halb Haushofmeister, nahm er die erste Stelle unter den männlichen Dienern ein, während Jettchen Wohlgemut über die weiblichen Dienstboten regierte.

Nie hatte Graf Ravenau eine der Fotografien Juttas angesehen, die er geschickt bekam. Auch von der Gräfin Gwendoline existierte kein Bild mehr im Schloss.

Und nun, nachdem Komtess Jutta fast dreizehn Jahre in der Genfer Pension verbracht hatte, schrieben deren Inhaber, die Geschwister Leportier, dass seine Enkelin gewissermaßen ihrem Institut entwachsen sei. Nun ging es wohl nicht mehr an, ihre Heimkehr zu verzögern. Er würde sie heimrufen müssen, das sah er ein.

Eine leise Hoffnung regte sich in ihm, dass Jutta ihrem Vater ähnlich sehen möge, dass sie eine echte Ravenau sein könne und ihn nicht an ihre Mutter erinnere. Wenn das möglich wäre, wenn er sie lieben könnte, wenn sein einsames Alter durch ihre Gegenwart erwärmt und erhellt würde!

Aber wie dem auch sei – heimrufen musste er sie, die Erbin von Ravenau-Schönrode, die künftige Herrin des ausgedehnten Besitzes. Ihr Platz war nun, da sie erwachsen war, an seiner Seite. Auch galt es, einen passenden Gatten für sie zu wählen. Das fiel ihm nicht schwer. Im Grunde hatte er ihn schon längst gefunden. Ravenau und Schönrode sollten wenigstens einen Besitzer nach seinem Wunscherhalten: Götz von Gerlachhausen sollte sein würdiger Nachfolger sein. Er war seines Vaters echter Sohn, ehrlich, rechtschaffen, klar und wahr. An diesem Gedanken hielt der Graf mit der ganzen Zähigkeit seines Willens fest.

Während Graf Rudolf an seinem Schreibtisch saß, erwog er seine Idee noch einmal nach allen Seiten hin.

Dann nahm er mit einer entschlossenen Bewegung die Feder zur Hand und begann zu schreiben. Zuerst einen Brief an die Geschwister Leportier, denen er mitteilte, dass er in kurzer Zeit seine Enkelin durch seinen Haushofmeister abholen lassen werde. Eine Jungfer zu ihrer persönlichen Bedienung würde den Hofmeister begleiten. Dann schrieb er einen zweiten Brief, der sehr viel kürzer ausfiel und an Götz von Gerlachhausen gerichtet war. Diesen Brief schickte er durch einen Boten nach dessen Gut.

Götz von Gerlachhausen war von einem Ritt über die Felder heimgekommen. Schnell hatte er sich vom Staub gesäubert und trat in das altväterlich eingerichtete Speisezimmer. Nachdem er seine Mutter begrüßt hatte, tat er dem schmackhaft zubereiteten Mahl alle Ehre an.

„Nichts Neues, Mama?“, fragte Götz während des Essens. „War Besuch da?“

„Nein. Aber eine Überraschung habe ich für dich! Höre und staune! Graf Ravenau hat eine Botschaft für dich gesandt! Der Bote wartet auf Antwort.“

„Graf Ravenau? An mich?“

Seine Mutter gab ihm den Brief. Götz öffnete ihn rasch.

„Warum hast du mir den Brief nicht gleich gegeben, Mama?“

„So eilig wird es ja nicht sein, dass du deine Mahlzeit aufschieben musstest. Er hat jahrelang nicht nach uns gefragt.“

Sie war etwas erzürnt über Graf Rudolf, hatte er doch, nachdem ihr Mann ihm bis zu seinem Tod treu zur Seite stand, ihren Sohn bei einem Besuch abgewiesen. Trotzdem sah sie nun mit einiger Spannung in ihres Sohnes Gesicht.

„Nun? Was schreibt der Einsiedler von Ravenau?“

Götz sah auf. „Er bittet um meinen Besuch, und zwar dringend.“

Sie machte ein ungläubiges Gesicht. „Willst du mich necken?“

„Da lies selbst!“

Frau von Gerlachhausen las und schüttelte den Kopf.

„Das ist allerdings überraschend. Natürlich musst du der Aufforderung Folge leisten, und zwar gleich.“

Götz lachte. „So eilig?“

„Gewiss, mein Sohn, dass er dich so dringend bittet, beweist, dass er dich braucht!“

Er fasste ihre Hand und küsste sie.

„Meine gütige, schnell versöhnte Mutter! Es genügt dir, dass man deine Hilfe braucht, um dich sofort zu besänftigen. Nun gut. Damit du dich zufrieden gibst, will ich dem Boten Bescheid geben, ich würde heute Nachmittag nach Ravenau kommen. Ist es so recht?“

Sie nickte lächelnd, und er ging, um den Boten abzufertigen.

Graf Ravenau hatte Befehl gegeben, Herrn von Gerlachhausen in sein Arbeitszimmer zu führen. Dort saß der alte Herr mit zusammengepresstem Mund und sinnenden Augen und wartete auf den Besucher.

Im Geist versuchte er, sich seine Enkelin vorzustellen. Wenn er nur wüsste, ob sie ihrer Mutter ähnlich war, ob sie auch deren unheilvolle schwarze Augen besaß!

Er erhob sich plötzlich und verließ das Zimmer.

In der ersten Etage befand sich eine Galerie. In dieser Galerie hingen die Porträts seiner Ahnen. Sie reichte vom östlichen Turm bis zum westlichen, dem Gespensterturm. Die Tür, die von hier in diesen Turm führte, sollte sich – so behauptete das Schlossgesinde – zuweilen um Mitternacht geheimnisvoll öffnen, obwohl Jettchen Wohlgemut den Schlüssel dazu verwahrte. Dann erschien auf der Schwelle eine schwarz gekleidete Frauengestalt mit bleichem Gesicht und Blutflecken an den schlanken Händen. Sie glitt die Ahnengalerie entlang, die Treppe hinab, durch die große Halle in den Schlosshof. Im Hof schwebte sie bis zum Drachenbrunnen, dessen Wasserstrahl sie über die blutbefleckten Hände fließen ließ. Dann huschte sie auf demselben Weg zum Gespensterturm zurück.

Der eine oder andere von den Bediensteten wollte der Gestalt begegnet sein. Aber alle behaupteten, zuweilen aus dem Gespensterturm Stöhnen und Wimmern gehört zu haben.

Es half nichts, dass Jettchen Wohlgemut energisch gegen solchen Unsinn zu Felde zog, hinter ihrem Rücken erzählten sich die Leute immer wieder die gruseligen Geschichten.

Graf Ravenau wusste um diese Spukgeschichten, ohne mehr als ein Achselzucken dafür zu haben. Wie sie entstanden, wusste niemand. Später durchforschte er einmal die alten Chroniken seines Geschlechtes nach einem Anhalt für das Entstehen dieses Gerüchtes und entdeckte folgendes: Ein Roderich Graf Ravenau war in dem Gespensterturm eines Tages ermordet aufgefunden worden. In seiner Brust steckte ein Dolch, der seiner Gattin, der Gräfin Katharina Charlotte, gehörte. Diese – eine geborene Prinzessin Twiel – wurde des Gattenmordes beschuldigt. Ihr eigener Sohn glaubte an die Schuld der Mutter und schrieb diese Historie nieder. Die Seele der Gräfin Katharina Charlotte sollte nun keine Ruhe im Grab gefunden haben und verdammt sein, ruhelos umherzuwandeln.

Graf Rudolf schritt langsam die Galerie hinab, von Bild zu Bild. Vor manchem blieb er eine Weile stehen, als wollte er sich die Züge einprägen. Vor allem die Porträts der Frauen seines Hauses sah er forschend an. Alle hatten helle Augen, blaue oder graue, die meisten braunes Haar. Schwarze Augen besaß keine dieser Gräfinnen.

Doch halt! Graf Rudolfs Fuß stockte, und sein Blick heftete sich düster auf ein Frauenporträt, das unweit des Eingangs zum Gespensterturm hing. Es trug die Unterschrift:

Katharina Charlotte, geb. Prinzessin Twiel.

Der alte Herr sah auf die feinen, kapriziösen Züge dieser erlauchten Frau. Sie war ihrer Abstammung nach die vornehmste unter den Gräfinnen von Ravenau. Das blasse Antlitz verriet einen leidenschaftlichen Charakter.

Er stand und bohrte die Blicke hinein in diese schwarzen Augen, und zu gleicher Zeit stieg ein anderes Frauenbild vor seinem Geist auf, das der Gattin seines Sohnes. Auch sie besaß solche schwarzen Augen und auch sie war schuldig am Tod des Gatten, wenn sie auch selbst keine Hand an ihn gelegt hatte.

Mit müden Schritten ging er zurück.

Unten in der Halle traf er Frau Wohlgemut. Er ersuchte sie, mit ihm ins Zimmer zu kommen.

Sie trat mit ehrerbietigem Knicks ins Gemach und blieb an der Tür stehen.

Einige Male ging der Graf im Zimmer auf und ab. Schon glaubte sie, er habe ihre Anwesenheit vergessen und wollte sich gerade respektvoll räuspern, als er plötzlich vor ihr stehen blieb.

„Welche Zimmer im Haus eignen sich am besten als Wohnung für eine junge Dame?“, fragte er kurz.

Jettchen Wohlgemut wäre vor Schreck beinahe zu Boden gesunken. Ihr altes Herz klopfte heftig. Eine junge Dame? Damit konnte doch nur ihr liebes Komtesschen gemeint sein! Die gute Alte schluckte krampfhaft, dann sagte sie: „Alle Zimmer, Euer Gnaden brauchen nur zu befehlen!“

„Alle Zimmer dürften sich sicher nicht dazu eignen, Frau Wohlgemut. Sie haben mich wohl nicht recht verstanden. Ich meine die Zimmer, die sich für meine Enkelin, Komtess Jutta, zur Wohnung eignen würden.“

Jettchen Wohlgemut war das Blut ins Gesicht gestiegen. Ihre Hände zitterten.

„Die Zimmer, die sich über denen des Herrn Grafen befinden, im ersten Stock, dürften sich wohl am besten dafür eignen“, sagte sie endlich, ohne zu verraten, dass sie seit etlichen Jahren schon diesen Gemächern die liebevollste Fürsorge angedeihen ließ, weil sie immer darauf wartete, dass Komtess Jutta sie eines Tages beziehen würde.

Der Graf wandte sich ihr wieder zu:

„So, meinen Sie? Sind sie denn vollständig eingerichtet?“

„Ja, Euer Gnaden. Ich habe sie regelmäßig reinigen und lüften lassen.“

„Schön. Nun aber weiter! Unter unserem weiblichen Personal befindet sich wohl kaum eine Person, die Komtess Jutta persönlich bedienen könnte. Ich meine eine Jungfer, die einer vornehmen Dame bei der Toilette behilflich zu sein versteht.“

„Nein, Euer Gnaden, das sind alles nur Mägde für Hausarbeit.“

„Hm! Dann müssen Sie schleunigst eine solche Person engagieren. Das beste ist, Sie annoncieren in den Zeitungen der Hauptstadt. Seidelmann kann Ihnen die Annonce aufsetzen. Das Engagement überlasse ich Ihnen. Sorgen Sie dafür, dass eine geeignete Persönlichkeit in zwei bis drei Wochen in Ravenau eintrifft! Sie muss dann von hier aus mit Seidelmann nach Genf reisen, um der Komtess auf der Heimreise zur Verfügung zu stehen. Ich verlasse mich auf Sie, Frau Wohlgemut, und gebe Ihnen vollständig freie Hand.“

Götz von Gerlachhausen war inzwischen angekommen und trat nach einer Weile in das Arbeitszimmer des Grafen.

Ravenau trat auf ihn zu und reichte ihm die Hand.

„Seien Sie mir herzlich willkommen, Götz! Ich danke Ihnen, dass Sie meine Bitte so schnell erfüllt haben.“

Götz sah mit heimlichem Mitleid in das schmerzdurchfurchte Gesicht des Alten. „Als ich das letzte Mal auf Ravenau weilte, zeigten Sie mir deutlich, dass ich Ihnen ein lästiger Fremder sei, Graf.“