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Beschützerinstinkt verleitet Ian MacScott dazu, das Geschenk der Unsterblichkeit anzunehmen. Doch keine Schlacht und kein Krieg schenken ihm Frieden. Erst als das Schicksal die junge Madelyn seinen Weg kreuzen lässt, findet er seine Bestimmung: Ohne seine wahre Identität preiszugeben, wird er zu ihrem Beschützer. Nachdem eine zufällige Begegnung der beiden Jahre später in einem One-Night-Stand endet, ist er überzeugt, dass er selbst es ist, vor dem Madlyn beschützt werden muss. Neuauflage, überarbeitet und neu lektoriert. Dieser Titel erschien bereits unter dem Namen "Aphrodites Söhne - Unsterbliche Sehnsucht" mit anderem Cover erst bei einem Verlag und dann im SP.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Highland Hearts
Ivy Paul
© 2020 Ivy Paul, alle Rechte vorbehalten
© Covergestaltung: Ivy Paul
© Bildnachweis: depositphoto
© Vektorgrafik: Cattallina/Bigstockfoto
In diesem Buch sind sämtliche Personen frei erfunden. Dieses eBook darf weder auszugsweise oder vollständig ohne die ausdrückliche Genehmigung der Autorin weitergegeben werden.
Beschützerinstinkt verleitet Ian MacScott dazu, das Geschenk der Unsterblichkeit anzunehmen. Doch keine Schlacht und kein Krieg schenken ihm Frieden. Erst als das Schicksal die junge Madlyn seinen Weg kreuzen lässt, findet er seine Bestimmung. Ohne seine wahre Identität preiszugeben, wird er zu ihrem Beschützer.
Als eine zufällige Begegnung der beiden Jahre später in einem One-Night-Stand endet, ist er überzeugt, dass er selbst es ist, vor dem Madlyn beschützt werden muss.
Oder kann das Herz einer Sterblichen die Last um das Wissen eines unsterblichen Geliebten ertragen?
Der Roman erschien 2014 bei einem Verlag und später im SP unter dem Titel „Aphrodites Söhne – Unsterbliche Sehnsucht“.
»Es kann nur einen Sieger geben!
Mich, den Gott des Krieges.«
Ares
So weit das Auge reichte, waren Eis und Schnee zu sehen. Es war so kalt, dass selbst der Atem eines Gottes gefror.
Eine Windböe wirbelte die feinen Eiskristalle aus der Schneewehe auf.
Entspannt rekelte sich Aphrodite im Whirlpool, während sie durch die Dampfschwaden des heißen Wassers den Tanz der Flocken beobachtete.
Ares‹ Augen funkelten, als sein Blick über ihre nackten Brüste glitt. Er stieg in das Becken und kam eilig auf sie zu.
Aphrodite lächelte, berührte ihr Dekolleté mit den Fingerspitzen und strich träge darüber, während sie ihm laszive Blicke unter ihren gesenkten Lidern zuwarf.
Als Ares sie erreichte, umfasste er ihre Hüfte und sein nasser, muskulöser Körper drängte sich an ihren. Mit festem Druck presste sich sein Brustkorb an ihren Busen und als sich seine sinnlichen Lippen auf die ihren legten, seufzte sie genießerisch.
Eher hätte sie sich von Zeus auf ewig im Styx versenken lassen, als zuzugeben, dass der Kriegsgott der einzige Mann war, den sie je begehrt hatte und je lieben würde.
Feuer und Eis, Liebe und Krieg, gegensätzlichere Kräfte gab es kaum auf der Welt, dennoch waren sie das perfekte Paar. Vollkommenheit gelang nur durch die Verschmelzung von Widersprüchen. Nicht einmal Hera verstand das. Dabei war sie die Schutzgöttin der Ehe und hätte wissen müssen, dass gleichgesinnte Charaktere nicht selten in der Ehe an endloser Langeweile dahinsiechten, die sie in ihrer Unwissenheit Harmonie nannten.
Sie lächelte in seinen Kuss und er schien ihr Amüsement zu spüren, woraufhin er ein Stück von ihr abrückte und sie mit hochgezogenen Augenbrauen ansah. »Was belustigt dich, Dite?«
Sie schüttelte den Kopf. Ares war ein arroganter Bastard, sie würde den Teufel tun und ihm ihre Gefühle gestehen. Lieber verpasste sie ihm einen Dämpfer, es war immer gut, einen Macho wie den Kriegsgott in seine Schranken zu verweisen.
»Ich musste an unsere Wette denken«, erklärte sie mit seidenweicher Stimme.
»So?« Träge ließ er seine Finger über ihren Rücken gleiten und es kostete sie Mühe, nicht den Faden zu verlieren. »Was geht in deinem hübschen Köpfchen vor?« Die Zärtlichkeiten erreichten ihren Hintern und provokativ umschloss Ares‹ Griff ihre Pobacke, knetete sie sacht und zog Aphrodite enger an sich. Für den Bruchteil einer Sekunde schmiegte sie sich in seine dominante Umarmung, dann stemmte sie sich gegen seine Brust.
»Genug! Lass uns doch über die Wette sprechen. Hast du einen weiteren Kandidaten erwählt?«
Ares ließ mit einem frustrierten Stöhnen von ihr ab und achtete darauf, dass sie einen sicheren Stand im Whirlpool hatte. Erst dann schnippte er, worauf sich der riesige Flachbildschirm über dem Jacuzzi anschaltete.
Nach einem Aufblitzen erschien das Bild einer nebelverhangenen Hügellandschaft.
Wie graue, dürre Finger schlängelte sich der Dunst durch das Unterholz, kroch hinab in die Täler der Highlands und legte sich in dichten Schwaden über die Moore Cullodens.
Sowohl englische als auch schottische Truppen formierten sich in der kargen Landschaft.
Die Kamera zoomte näher und nahm eine größere Gruppe wild aussehender Schotten jeglichen Alters ins Visier. Es regnete und Aphrodite fand, die rauen Kerle besaßen mehr Ähnlichkeit mit einer Meute räudiger Straßenköter, als mit potentiellen Liebhabern, die einer Frau den Atem raubten.
Sie unterdrückte ein Schnauben. Nun, vielleicht gelang ihnen Letzteres tatsächlich. Wenn auch nicht aus den Gründen, die eine Liebesgöttin für angemessen hielt.
Zwar missfielen ihr die rauen Kerle allesamt, doch einer erregte ihr Interesse. Sie lehnte sich ein wenig vor, um ihn genauer betrachten zu können.
Er war jung und stand auf einer Anhöhe, sodass ihn seine Männer sehen konnten. Wie diese trug er einen Kilt und ein Plaid um die Schultern. Sein goldbraunes Haar hing ihm ungekämmt über den Rücken, und an den Schläfen waren dünne Zöpfe hineingeflochten. Seine Gesichtszüge waren ebenmäßig, sein Kinn männlich-markant und die Lippen sinnlich geschwungen. Im Vergleich zu den Angehörigen seines Clans war er fast sauber zu nennen und er wirkte gesund und kräftig. Außerdem besaß er die grünsten Augen, die Aphrodite je an einem Mann gesehen hatte. Wäre er gebadet, rasiert und parfümiert gewesen, hätte sie ihn in den Kreis ihrer Günstlinge erhoben. Da er aber derjenige war, den Ares auserwählt hatte, um ihre Wette auszufechten, stand ein derartiges Ansinnen außer Frage.
Der junge Clanchef rammte sein Breitschwert vor sich in die Erde. Da der Ton des Fernsehers ausgeschaltet war, hörte Aphrodite nichts, doch seine Männer nickten zustimmend und kommentierten seine Ansprache, indem sie mit ihren Waffen rasselten und die Fäuste erbost in die Luft reckten, während er mit kämpferisch gerecktem Kinn eine offenbar flammende Rede hielt.
»Das ist Ian MacScott, wie gefällt er dir?«, erkundigte sich Ares stolz. Selbst wenn man den Kriegsgott nicht näher kannte, spürte man seine Zuneigung für den Highlander. Aber er hatte schon immer eine Vorliebe für die rauen Kerle auf diesem unbedeutenden Eiland im Atlantik besessen.
Aphrodite zuckte mit den Schultern. »Ein Schotte«, erklärte sie gelangweilt. »Hat dir deine Erfahrung mit Antimachos nicht gereicht? Vor allem Krieger sind jene, die am ehesten meinen Gaben erliegen.«
Ares runzelte die Stirn. »Ist ein wenig Demut zu viel erwartet von der Göttin der Liebe?«
»Du bemerkst deinen Fehler selbst, oder? Demut und Göttin sind zwei Wörter, die sich nicht in einem Satz unterbringen lassen, mein Lieber!« Hocherhobenen Hauptes entzog sie sich seinen Armen und entstieg ungeniert dem Wasser. Dampfwölkchen stiegen von ihrer Haut auf, als die eisige Winterkälte darauf traf. Fast sofort war einer ihrer Günstlinge, ein nubischer Prinz zur Stelle und hüllte sie in einen dekadent kuschligen, vorgewärmten Frotteebademantel.
Sie fühlte Ares‹ Blick in ihrem Rücken und verkniff sich ein Lächeln. Sie wusste, wie man einen Mann bei Laune hielt, vor allem einen, der sich so schnell langweilte wie der Kriegsgott. Als sie mit den Fingern schnipste, erschien eine unscheinbare Terrassentür, die sich direkt auf dem Olymp öffnete. Mit einem Surren glitt sie auf und Aphrodite spürte die mediterranen Temperaturen durch die Tür strömen, ließ den Bademantel auf einer Seite herabgleiten, so dass ihre nackte Schulter zu sehen war und warf einen beiläufigen Blick auf ihren Geliebten.
»Du kümmerst dich darum, dass dein neuer Wetteinsatz bereit ist.« Damit trat sie gefolgt von dem Nubier durch den Eingang.
Liebe Madlyn,
Geschichte ist oftmals tragisch und ohne Happy End.
Dein Lee
Schlachtfeld von Culloden, 16. April 1746
Seine Welt lag in Trümmern.
Brandgeruch schwängerte die Luft. Heisere Todesschreie durchpflügten die sonst so idyllische Stille des Moors. Überall im hohen Gras lagen Körper, Mitglieder unterschiedlichster Clans, im Tode vereint oder kurz davor ihr Leben auszuhauchen. Unverbrüchliche Gefährten im Kampf gegen die verfluchten Engländer und ihre Unterdrückung.
Ian starrte in den grauen Himmel. Ein Rabe flog vorüber.
Eine Kanonenkugel hatte ihm die Beine fortgerissen, als er seine Truppe zum Angriff über das Moor führte, doch er empfand keine Schmerzen. Ein Hustenreiz explodierte in seiner Kehle, er keuchte, spuckte Blut und würgte.
Euphorisch hatte er versprochen, als Sieger heimzukehren. Nun lag er hier und verreckte qualvoll wie all die anderen. Er hoffte nur, dass ihm wenigstens die Schmach erspart bliebe, von einem der verhassten Engländer den Todesstoß zu empfangen. Ein Fluch lag auf seiner Zunge, doch alles, was er hervorbrachte, war ein Wimmern.
Die Jüngsten und Unerfahrensten unter den Kriegern hatten gehofft, diese Schlacht würde ihnen den Sieg bringen. Einige der altgedienten Haudegen der MacScotts hatten zur Besonnenheit und taktischem Geschick aufgerufen und längere Auseinandersetzungen vorausgesagt.
Sie alle lagen falsch.
Culloden bedeutete ihrer aller Untergang. Sie hatten verloren. Auf der ganzen Linie. Die Rache der Engländer würde fürchterlich sein.
Ian schluckte den metallischen Geschmack von Blut hinunter, leckte sich über die Lippen und schmeckte salzige Verzweiflung.
Dichte Dunstschwaden stiegen auf. Er fand es nur allzu passend, denn bei Morgennebel hatte er zur Offensive gerufen und sobald die Dunstschwaden aus dem Moor emporstiegen, würde er seinen letzten Atemzug tun.
Sein linkes Bein fühlte sich feucht und kalt an. Sein gesamter Leib wurde von schmerzhaftem Prickeln erfüllt, das ihn in mehreren Wellen überrollte. Das Empfinden steigerte sich zu einem eisigen Brennen und hörte plötzlich auf.
Ian sah an sich herunter und sprang erschrocken auf.
Er stand. Auf seinen eigenen Beinen. Welche Hexenkünste waren am Werk?
»Keine Hexerei!«, donnerte eine Stimme. »Knie nieder vor deinem Gott!« Eine große Gestalt schälte sich aus dem Nebel, bekleidet mit Kilt und einem Breitschwert in der Hand trat er näher.
Störrisch verschränkte Ian die Arme vor der Brust und fixierte den Unbekannten, ohne seine Empfindungen preiszugeben. Aber vielleicht besaß er im Moment auch keine, bis auf einen wild wummernden Herzschlag, der schmerzhaft intensiv in seinen Ohren widerhallte.
Er wurde mit einem dröhnenden Lachen bedacht. »Du bist ein wahrhaft unbeugsamer Highlander, meine Wahl war weise!«
»Wer zur Hölle bist du?«
»Ich bin deine Rettung. Möchtest du leben?«
»Ich will kämpfen! Und dann werde ich diese verfluchten Engländer bis ins Meer hinausjagen!«
Die Augen des riesenhaften Highlandkriegers glitzerten triumphierend. Er hob den Arm. »So sei es! Kämpfe, Ian! Räche deinen Clan! Ich verleihe dir Unsterblichkeit, sei der Krieger, der du immer sein wolltest!«
Der Nebel verzog sich und Ian befand sich allein auf dem Schlachtfeld. Etwas Bittersüßes benetzte seine Zunge und befeuchtete seinen Gaumen, er schluckte und fühlte sich augenblicklich stark und lebendig wie nie zuvor …
***
Burg Cairness in den Grampians, 18. April 1750
Die Ruine der heimatlichen Festung war weithin zu sehen. Ihr Bergfried ragte wie der ausgestreckte Zeigefinger eines wütenden Titanen aus der Ebene und erinnerte Ian beim Näherkommen an all die abenteuerlichen Geschichten, die ihm sein Großvater einst über die Helden der alten Sagen erzählt hatte. Damals wie heute liebte er den Anblick, auch wenn sich ein gehöriges Maß Furcht in seine Wiedersehensfreude mischte. Heimzukehren hatte er nicht vorgehabt, doch die Umstände verlangten es.
Ein Stück östlich lag das Dorf Cairness, in dessen Richtung er unverdrossen marschierte.
Bald trat er seiner Mutter gegenüber und musste ihr Rede und Antwort stehen. Er hatte sie und die anderen Überlebenden seines Clans schmählich im Stich gelassen. Statt zu bleiben und ihnen durch die schwere Zeit zu helfen, hatte er sich wie ein Feigling über das Meer davongemacht. Er war mit Bonnie Prince Charlie geflohen, weil er geglaubt hatte, man würde Wunden lecken, Gelder und Gefolgsmänner mobilisieren und neue Verbündete gewinnen wollen, um im Anschluss einen weiteren Versuch zu unternehmen, zurückzuerobern, was von Gottes Gnaden und Rechts wegen den Stuarts und den Highland-Clans gehörte. Aber er musste sehr schnell erkennen, dass der junge Thronanwärter keineswegs vorhatte, einen neuen Feldzug zu planen. Zu diesem Zeitpunkt konnte Ian nicht mehr zurückkehren, zu groß waren die Scham und das Schuldgefühl. Stattdessen hatte er sich als Söldner verdingt und jeden Sol, der ihm möglich war, nach Hause gesandt. Den Pfarrer MacMahoney hatte er in einem langen Brief beauftragt, seiner Mutter die Zuwendungen anonym zukommen zu lassen.
Gelegentlich hatten ihn Schreiben des Gottesmannes erreicht, in denen dieser von dem behaglichen Leben seiner Mutter berichtete, aber auch von der Not der Dorfbewohner. In der letzten Depesche hatte er dann Andeutungen gemacht, die Ian zutiefst beunruhigten und veranlasst hatten, nach Hause zurückzukehren, um sich davon zu überzeugen, dass seine geliebte Mutter Fiona wohlauf war.
Kaum nach Erhalt des Briefes durch den Priester hatte er die Söldnerarmee verlassen und sich sofort mit dem erstbesten Schiff nach Schottland aufgemacht. Ungeachtet der Gefahr, von den Engländern als Jakobit enttarnt zu werden, wollte er an der Seite seiner Mutter sein.
Er erreichte die Grampians unbehelligt, und je näher er Cairness kam, desto angespannter wurde er. Er hoffte, MacMahoney falsch verstanden zu haben und Fiona MacScott gesund und munter anzutreffen. Als er die Rauchfahne entdeckte, die aus seinem Elternhaus aufstieg, und beim Näherkommen Hühner sah, die in einem Verschlag neben dem Haus gackerten, erlaubte er sich ein wenig durchzuatmen.
Er betrat den Hof, als die Tür des Hauses aufgestoßen wurde und eine junge Frau mit wilden lockigen Haaren und einer Muskete im Anschlag im Türrahmen auftauchte.
»Nicht einen Schritt näher!«
Ian hob die Hände, damit sie sah, dass er keine Gefahr darstellte. Ob sie vom Pfarrer eingestellt worden war, um sich um seine Mutter zu kümmern? Der Pfaffe hatte Derartiges angedeutet.
»Seien Sie gegrüßt, Mistress! Ich bin gekommen, um die MacScott zu besuchen«, erklärte er ruhig.
Die junge Frau blinzelte und ließ die Muskete ein paar Zoll sinken, ohne Anstalten zu machen, sie ganz fortnehmen zu wollen.
»Die MacScott? Fiona MacScott?«, vergewisserte sie sich misstrauisch.
»Eben diese.« Er unterdrückte seine Ungeduld. Vier Jahre war er fortgewesen, aber mit einem Mal konnte es ihm nicht schnell genug gehen, seine Mutter wiederzusehen.
»Da sind Sie zu spät.« Ein Schatten flog über die Miene der jungen Frau. »Es tut mir leid.«
In diesem Augenblick brach Ians Herz. Vorbei. Er hatte zu lange gezögert. Wann war sie gestorben? Vor ein paar Tagen? Oder lag ihr Tod nur einige Stunden zurück?
»Was ist geschehen?«
Die Unbekannte ließ ihre Waffe sinken, offenbar war sie nun von seiner Aufrichtigkeit überzeugt. »Das Übliche: Not, Entbehrung und Enttäuschung. Die Kinder und die Alten sterben immer als Erstes. Und Fiona hat weder Kälte noch Nässe nicht gut vertragen. Dazu der entsetzliche Hunger. Die Dorfbewohner haben, so gut es ging, für sie gesorgt, aber sie hat den zweiten Winter nach der Schlacht von Culloden nicht überlebt«, resigniert hob sie die Schultern und ergänzte: »Die wenigen von uns, die nach dem Aufstand noch hier waren und helfen konnten.«
Ian war fassungslos. Was hatte ihm der Pfarrer erzählt? Hatte er Fiona MacScott verwechselt? Das war unvorstellbar, er lebte bereits seit vielen Jahren in den Grampians und kannte alle Clan-Angehören. Hass begann in seinem Innern zu brodeln, als ihm klar wurde, dass der Pfaffe ihn betrogen haben musste.
»Sind Sie sicher, dass es die alte MacScott ist, von der wir reden?«
Die Frau nickte. »Selbstverständlich, man hat sie gemeinsam mit meinem Paddy im Armengrab verscharrt.«
In Ians Ohren rauschte es unheilvoll. »Armengrab?«, echote er. Hatte der priesterliche Pfeffersack seiner Mutter nicht einmal ein anständiges Begräbnis gegönnt? »Was ist mit Pfarrer MacMahoney?«
»Der hat keinen Grund zu klagen. Fett und faul ist er geworden.«
Ian drehte sich abrupt um. Er wollte nicht, dass die Frau den Hass in seinen Augen erkannte, der nun jäh aufloderte.
»Wer sind Sie? Sind Sie ein Verwandter von Fiona?«
Kurz hielt er inne. »Ein Geist der Highlands«, gab er zur Antwort, ehe er ins Moor hinausstapfte.
Sein Weg führte ihn zu einem Platz in der Heide, wo er bereits als Kind Verstecken gespielt hatte. Wie ihm schien, war das im Augenblick das Einzige, das nach wie vor unverändert war. Von hier aus hatte er auch einen ausgezeichneten Blick auf das Dorf und ließ sich auf einem moosbewachsenen Steinbrocken nieder.
Er kam kaum mit den Gefühlen zurecht, die nun auf ihn einstürmten. All die Zeit hatte er vermieden etwas zu empfinden oder darüber nachzudenken, was in der Heimat vor sich ging. Weil er sich zu sehr für sein Versagen geschämt hatte, redete er sich ein, doch in Wahrheit war er einfach zu feige gewesen, sich seiner Verantwortung und der Enttäuschung der Zurückgebliebenen zu stellen. Also hatte er es Dritten überlassen, sich um die, die er liebte und die ihm am Herzen lagen, zu kümmern. Die vergangenen Jahre hatte er darauf vertraut, dass andere taten, was seine Pflicht sein sollte. Nun wurde er nicht nur bitter enttäuscht, sondern seine Schutzbefohlenen mussten für seine Nachlässigkeit büßen.
Nie wieder würde ähnliches geschehen!, schwor er sich. Vom heutigen Tage an würde er ein Mann sein, auf den Fiona MacScott stolz sein würde. Er würde ihr und seinem Clan Ehre machen.
Seine Mutter der Obhut des Pfarrers MacMahoney zu überlassen, war ihm als das Richtige erschienen. Er hatte dem Gottesmann und dessen Redlichkeit vertraut. Doch wie hatte der es ihm gedankt! Der Kirchenmann hatte das Geld eingestrichen und Ians Mutter elendig verhungern lassen.
Wut brandete in Ian auf. Keinen Moment zweifelte er an der Ehrlichkeit der jungen Frau.
Am Ende hatte der Pfaffe Fiona MacScott sogar im Tod das letzte bisschen Würde geraubt und sie wie eine Bettlerin in einem Armengrab verscharren lassen.
Sie war von Entbehrung und Kälte dahingerafft worden, weil der Pfarrer ein betrügerischer Schmarotzer war. Genauso gut hätte er seine Mutter eigenhändig ermorden können.
Der Hass auf den Kirchenmann verengte Ians Sichtfeld und in seinen Ohren rauschte der Pulsschlag, er fühlte, wie sein Herz wild in der Brust tobte. Er sprang hoch und starrte zur Dorfkirche hinüber. Direkt neben dem unscheinbaren Bau stand das Pfarrhaus, wo sich dieser verlogene Schweinepriester am warmen Kaminfeuer aalte und den Wanst vollfraß.
Ian ballte die Fäuste. Der Verräter hätte nicht mehr lange Freude an seinem Diebesgut.
Die Nacht war dunkel und kalt, es hatte geregnet und vom Meer war ein scharfer Wind aufgekommen, der dafür sorgte, dass sich niemand vor die Tür wagte.
Entsprechend lange dauerte es, bis Robert MacMahoney öffnete und verärgert über den späten Besucher, der so penetrant an seinem Portal klopfte, hinaus starrte. Die Gestalt, die sich in das Plaid im Tartan der MacScotts gehüllt hatte, sodass man kaum das Gesicht erkennen konnte, war ihm offensichtlich unbekannt.
Grimmig wartete Ian, dass der Pfarrer den Eingang mürrisch aufstieß. »Ich hoffe, es geht um Leben und Tod, wenn du mich zu dieser unchristlichen Stunde störst, Bursche!«
Ian drängte ins Innere des Hauses und verpasste der Tür einen kräftigen Schubs, erst jetzt zog er sein Plaid zurück.
Als der Pfarrer Ian erkannte, quollen ihm fast die Augen aus den Höhlen und er schnappte nach Luft.
»So sprachlos, Pfaffe?«, höhnte Ian und stemmte die Hände in die Hüften. »Erkennst du mich wieder?«
»Natürlich. Du bist Ian MacScott!«, ächzte er. Mit dem schlechten Gewissen, das ihm aus dem Gesicht sprang, erübrigte sich jede weitere Frage.
Bevor MacMahoney reagieren konnte, packte er den Mann an der Kehle und stieß ihn gegen die Wand. Der Pfaffe stöhnte und stierte Ian aus weitaufgerissenen Augen an.
»Verräterischer Drecksack! Mörder!« Die Wut, die seit der Entdeckung der ruchlosen Tat des Mannes in ihm brodelte, ließ Ians Hand zittern.
»Mein Sohn, du verstehst das falsch …«, stammelte der andere und röchelte, als Ian fester zudrückte.
Erneut stieß er ihn an die Wand. Das Geräusch, als der Kopf dagegen schlug, klang süßer, als jeder Heidehonig schmecken könnte. Am liebsten hätte Ian den Schädel genommen und ihn mit brachialer Wucht gegen die Mauer geschlagen, bis der Knochen platzte und die Hirnmasse herausspritzte.
»Ich verstehe das genau richtig. Du hast das Geld, das ich dir für meine Mutter geschickt habe, in die eigene Tasche gesteckt.« Ian blickte sich um. Es war gemütlich, warm und trocken. Durch die offenstehende Speisekammertür sah er einen großen Schinken, der an einem Haken baumelte. Darunter auf einem Regalbrett lagen Wurzelgemüse, Eingemachtes und Getreidesäcke. »Heimelig hast du es hier. Ein hübsches Rattennest, genau wie es sich für eine Ratte wie dich gehört!«
Der Pfarrer zappelte, öffnete und schloss ein paar Mal den Mund, sodass er aussah wie ein Karpfen auf dem Trockenen. »Bitte, Ian …«, ächzte er.
Ian zwang sich zur Ruhe und die rasende Wut kühlte sich ein wenig ab, als er die Todesangst in den Augen seines Gegenübers sah.
Dann erinnerte er sich an das, was die Frau, die nun in seinem ehemaligen Elternhaus lebte, erzählt hatte, und der Gedanke, dass seine Mutter in ihren letzten Tagen nicht so angenehm warm und gemütlich leben durfte und Hunger gelitten haben musste, ließ den Hass auf den Pfarrer explodieren. Ians Geld hätte ausreichen müssen, um weiteren Bedürftigen unter die Arme zu greifen. Was Fiona MacScott, die fromme und herzensgute Frau, die sie gewesen war, ohne zu zögern getan hätte. Der Zorn auf den Mann vor sich schoss in ihm hoch, so heftig und intensiv, dass er sich als blutroter Schleier über sein Blickfeld senkte.
»Eins der zehn Gebote lautet doch: Du sollst nicht töten, nicht wahr?«
Dem Pfarrer tropfte mittlerweile der Angstschweiß von der Stirn. Er nickte eifrig und in seinen Augen leuchtete Hoffnung auf.
Ian war immer ein Anhänger der katholischen Lehre gewesen. Als gläubiger Mensch sollte man die zehn Gebote befolgen. Da die Kirchenmänner diese Leitsätze locker auslegten, gab es auch für ihn keinen Grund, sich sklavisch daran zu halten.
»Wie unangenehm für dich, dass ich meinen Glauben an die Kirche und ihre Vertreter verloren habe!« Grelle Wutblitze zuckten vor seinem Sichtfeld.
Ian packte den Kopf MacMahoneys und donnerte ihn mit aller Kraft, die er zur Verfügung hatte, gegen die Wand. Der Pfarrer ächzte und wollte zusammensacken, wurde aber am Schopf gepackt und auf den Beinen gehalten. Ian zog mit seiner freien Hand seinen Dolch und rammte die Klinge in den Bauch des Mannes. MacMahoney röchelte, Speichel rann ihm über das Kinn, er ruderte mit den Armen und spuckte Blut. Mit zusammengekniffenen Augen zog Ian das Messer hoch, bis die Schneide gegen die Rippen stieß. Er zog die Klinge aus dem Fleisch, wischte das Blut an der Weste des Pfaffen ab und trat zurück. Der Mann sackte in die Knie, starrte Ian fassungslos an und kippte zur Seite.
Mitleidslos stand er über dem Sterbenden und beobachtete, wie der Geistliche sein Leben aushauchte.
»Ich würde gern behaupten, wir sehen uns in der Hölle wieder, doch mein Weg führt mich garantiert nicht dorthin!«
Ian drehte sich um und begann, die Kammern und Truhen des Pfarrhauses leerzuräumen.
Schwer bepackt verließ er anschließend das Haus. Ian kümmerte sich nicht darum, ob ihn jemand sah und ob man ihn festnehmen würde, während er tat, was die Pflicht des Pfarrers gewesen wäre.
Am nächsten Morgen würden die Einwohner milde Gaben vor ihren Haustüren finden, Lebensmittel, Münzen, Haushaltsgegenstände. Die alte Kendrick, die seit ihren Mädchenjahren fröstelte, wurde mit einem warmen Federbett beglückt. Dougal MacScott, der zu jung für die Schlacht bei Culloden gewesen war und Vater und die älteren Brüder verloren hatte, erhielt einen feinen Schinken samt Messer. Nicht ein Haushalt des Dorfes wurde von Ian vergessen.
Sein brennendes Herz hatte Rache genommen, doch er fand keinen Frieden.
Er gab sich ein Versprechen: Nie wieder würde er sich des Vergehens schuldig machen, die Fürsorge eines Schutzbefohlenen einem anderen zu überlassen.
***
Amerika, Lexington, 19. April 1775
(Amerikanischer Unabhängigkeitskrieg)
Mit einem infernalischen Brüllen stürzte sich Ian auf den englischen Soldaten.
Der Rotrock hob sein Bajonett.
Ian schwang sein Breitschwert und schlug dem Mann die Hand mitsamt der Waffe ab. Der Brite sank schreiend auf die Knie und fingerte an seinem Gurt. Blut lief als dünnes Rinnsal aus dem Handstumpf und benetzte seinen Bauch, an den er die Wunde presste, während er schluchzte und mit der heilen Hand an seinem Dolch zerrte. Seine Wangen wiesen den ersten Flaum auf, doch Ian war es gleichgültig. Er erinnerte sich an Rory, einen Trommler, der so jung gewesen war, dass er Jahre vom Bartwuchs entfernt gewesen war, als er auf dem Schlachtfeld von Culloden gestorben war. Ein englischer Bastard hatte ihm in die Augen gesehen, die Tränen verlacht und dem kleinen Kerl die Kehle durchgeschnitten.
Ian warf sich dem Soldaten entgegen, bevor der Mann den Dolch auf ihn richten konnte. Er entriss ihm das Messer und führte es in derselben Bewegung an die Kehle des Briten. Verzweifelt leistete der Rotrock Widerstand. Als er die scharfe Messerklinge in seine Haut eindringen fühlte, hob er seine Hand, verzweifelt den Angriff abwehrend. Rasend vor Zorn und Blutdurst verdoppelte Ian den Druck, und ein Finger des Mannes kullerte über seine einst so blitzsaubere Uniform. Heulend versuchte der Soldat sich freizumachen. Ian packte ihn am Kragen, zog mit der Klinge durch.
Gurgelnde Geräusche von sich gebend, sank der Engländer nach hinten. Blut sprudelte aus seinem Hals und benetzte Ians Hände. Ein letztes Mal bäumte sich der Körper des Mannes auf.
Ian sprang hoch. Seine Mordlust war noch lange nicht gestillt und so sah er sich auf dem Schlachtfeld nach einem neuen Gegner um.
Jegliches Zeitempfinden ging ihm verloren.
Stunden, vielleicht auch Tage später waren die Rotröcke in die Flucht geschlagen.
Ian wankte an den Feiernden vorbei und niemand hielt ihn auf. Blutverschmiert und zerschunden schleppte er sich immer weiter, bis er den nahegelegenen Fluss erreichte. Dort stieg er in die Fluten. Das Wasser war eiskalt und umspielte seinen Unterleib. Rosafarbene Rinnsale trudelten davon.
Ian beugte sich vor, wollte seine blutigen Hände eintauchen, stockte aber, als er sein Spiegelbild auf der Oberfläche erkannte.
Ein schmutziges, wildes Monster starrte ihm entgegen. Das Haar hatte sich aus dem Zopf gelöst und hing ihm wirr ins blut- und schlammbesudelte Gesicht. Hass glomm noch immer in seinen Augen, sein Mund war zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Eine harte Linie aus Zorn und Selbsthass.
Er sank rücklings in die Fluten, legte sich in die Strömung und ließ sich vom kühlen, klärenden Nass umgarnen. Kiesel stachen in seinen Rücken, Ian beachtete es nicht. Bewegungslos lag er am Grund, sah, wie sich das Blut seiner Feinde in den Wellen verdünnte und fortgetrieben wurde.
Erst als ihm die Luft knapp zu werden drohte, erhob er sich. Wasser floss an ihm herab. Er fuhr sich über sein Haar und das Gesicht. Wieder betrachtete er die Spiegelung.
Ein junger Mann starrte ihn an.
Zitternde Lippen, ein verlorener Ausdruck in den Augen. Und Schuldgefühle im Herzen.
Die Schuld, überlebt zu haben.
Lieber Onkel Lee,
der Stern ist so toll! Und er raschelt! Danke, danke, danke!
Du bist der coolste Onkel überhaupt!
Deine Madlyn
Liebe Madlyn,
Der Stern ist nur eine Verpackung. Das eigentliche Geschenk
befindet sich im Innern der Schachtel.
Dein Lee
Nashville 1988
Das kleine Mädchen saß seit dem frühen Nachmittag auf dem Spielplatz.
Beim ersten Mal war sie Ian aufgefallen, weil sie allein auf der Schaukel saß, während die anderen Kinder miteinander tobten und spielten. Als er auf dem Rückweg mit seiner Harley Davidson vorbeikam und sie immer noch auf dem Spielgerät hockte, als hätte sie sich während der ganzen Zeit nicht fortbewegt, nahm er sie bewusst wahr. Aus irgendeinem Grund konnte er sie sich nicht aus dem Kopf schlagen und so fuhr er erneut dort entlang.
Inzwischen war es Abend geworden und sämtliche anderen Kinder befanden sich zu Hause im Warmen. Nur das kleine, dunkelhaarige Mädchen saß weiterhin da und schaukelte selbstvergessen.
Ian hielt an, stellte seine Harley ab und ging zu ihr hinüber. Der Sand des Spielplatzbodens dämpfte die Schritte seiner Füße, die in schweren Boots steckten.
Die Kleine beachtete ihn nicht, schwang unbeirrt weiter, und die Ketten des Spielgeräts quietschten bei jeder Bewegung.
Ian ging in die Hocke, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. »Musst du nicht nach Hause? Es wird dunkel.«
Die Sonnenbrille, die er am Ausschnitt seines T-Shirts eingehängt hatte, drohte davonzurutschen und er steckte sie in die Brusttasche seiner Lederjacke. Als er den Kopf wieder hob, starrte ihn das Kind aus großen hellblauen Augen an
»Nee«, sagte sie gedehnt. Das lange Haar hing ihr wirr und ungekämmt ins Gesicht. Außerdem trug sie zu ihren Shorts unterschiedliche Kniestrümpfe.
»Deine Mom sucht dich bestimmt schon.« Um sie nicht zu verschrecken, sprach er so sanft wie möglich mit ihr, doch die Kleine zeigte keine Angst vor ihm, obwohl er in seiner schwarzen nietenbesetzten Lederkluft und mit der Sonnenbrille, die er tagsüber ständig trug, oft genug selbst auf Erwachsene bedrohlich wirkte. Dabei hatte er die Lust an Auseinandersetzungen schon lange verloren. In den letzten hundert Jahren war ihm bewusst geworden, wie wertvoll, zerbrechlich und kurz die Lebensspanne der Menschen war.
»Meine Mom kümmert sich nur um Rusty.« Schmollend schob die Kleine ihre Unterlippe vor.
Rusty? Wohl der Bruder oder ein Freund der Mutter.
»Na komm, deine Mom macht sich bestimmt Sorgen. Ich bring dich nach Hause.«
Das Mädchen schüttelte ihren Kopf. »Ich geh nicht mehr zurück«, erklärte sie entschlossen und starrte flüchtig auf einen Kinderrucksack, der unter einer Bank lag.
Ian folgte ihrem traurigen Blick und nickte verständnisvoll. »Ich verstehe.«
Die Kleine wollte weglaufen. Das konnte er keinesfalls zulassen. Er würde es sich nie verzeihen, falls ihr etwas zustieß. Also kümmerte er sich darum, dass sie wohlbehalten heimkehrte.
»Komm, ich bring dich heim. Du wirst sehen, dass deine Mom dich genauso lieb hat wie Rusty!«
Hoffnungsvoll sah das Mädchen ihn an.
»Glauben Sie wirklich, Sir?«
»Ganz bestimmt«, erwiderte er sanft. Der Blick aus den Augen der Kleinen berührte ihn tief. Er reichte ihr die Hand, die sie, ohne zu zögern, ergriff.
Furchtlos ließ sie sich begleiten und führte ihn zu einer trostlosen Betonsiedlung am Rande des Viertels.
Die Bauten stammten aus den Sechzigerjahren. Damals der Inbegriff der Modernität, heute jedoch ein schäbiger Sozialbau mit abbröckelndem Putz, vergilbten Fliegengittern vor den Fenstern und verrosteten Regenrinnen. Ein Gummischlauch lag wie eine tote Boa constrictor auf dem verdorrten Rasen und jemand hatte ein senffarbenes Ungetüm von einem Sofa mit hervorquellender Polsterwolle dazugestellt.
Die Kleine betrat das Haus und Ian folgte ihr. Unrat lag im Hausflur. Im Parterre stank es nach Urin und Erbrochenem. Aus einem der Appartements drang laute Heavy-Metal-Musik, irgendwo stritt sich ein Paar. Es schepperte, das Geschrei einer Frau steigerte sich zu einem Kreischen, die von einer brüllenden Männerstimme übertönt wurde und dann krachte es erneut.
Von all dem unbeeindruckt lotste ihn das Mädchen in den ersten Stock zu einer zerschrammten Tür und zeigte stumm darauf.
Ian klopfte, und es dauerte ewig, bis endlich geöffnet wurde. Eine verlebt aussehende junge Frau stand schwankend in der Tür. Das Haar hing ihr zottelig ums Gesicht, obwohl sie versucht hatte, es mit kleinen Krebsklammern an den Seiten hochzustecken. Ihre verquollenen Augen blinzelten verwirrt.
»Was’n los?« Sie verströmte unterschwellige Aggressivität und den Geruch eines ungewaschenen Körpers. Sie schwankte leicht und hielt sich am Türrahmen fest.
Kein Wunder, dass die Kleine davonlaufen wollte. Einen Moment überlegte er, ob er das Mädchen mitnehmen sollte. Vermutlich wäre es der Frau sowieso egal gewesen. Er verwarf den Gedanken. Sie war immer noch die Mutter und es stand ihm nicht zu, bereits nach fünf Minuten über sie und ihr Leben zu urteilen.
»Madlyn, du kleines Miststück, hast du wieder was angestellt?«, fragte sie mit verschwommener Aussprache, packte ihre Tochter und schubste sie in die Wohnung.
Aufgebracht kniff Ian die Augen zusammen. »Sie saß allein auf dem Spielplatz. Es ist dunkel! Ist Ihnen überhaupt aufgefallen, dass sie nicht Zuhause ist?«
»Brauch keine gottverdammte Moralpredigt!« Die Frau knallte ihm die Tür vor der Nase zu.
Während Ian das zitternde Holz anstarrte und überlegte, ob er den Eingang auftreten sollte, bemerkte er das Paar dattelbrauner Augen, die durch den mit Vorhängeschloss gesicherten Türspalt der Nachbarwohnung spähte. »Denk nicht mal dran Ärger zu machen, du Rowdy, ich ruf die Cops!«, quäkte die dazugehörige Stimme.
Er hob die Hände, um seine friedfertige Gesinnung zu zeigen. »Bin schon weg.« Es würde ihm kein bisschen in den Kram passen, von der Polizei aufgegriffen zu werden. Vor allem, da er wusste, wie sie reagieren würden, sobald sie das Gras fänden, das er bei sich trug. Also machte er kehrt und trollte sich.
Der Gedanke an die kleine Madlyn ließ Ian keine Ruhe. Er musste unaufhörlich an ihre kindlich-unschuldigen Blicke denken und daran, dass sie es nicht verdient hatte, in einem solchen Umfeld groß zu werden. Niemand sollte so aufwachsen. Ein Kind brauchte ein Zuhause, in dem es beschützt und bedingungslos geliebt wurde.
Tagsüber hielten ihn Verpflichtungen auf, doch am Abend fuhr er wieder am Kinderspielplatz vorbei.
Madlyn saß erneut auf der Schaukel.
Er stellte sein Motorrad ab und setzte sich neben sie auf das Spielgerät.
»Hallo«, sagte sie sofort und musterte ihn neugierig. Dass sie so traurig wirkte, tat Ian aus tiefster Seele weh.
»Du bist Madlyn, nicht wahr?«
Die Kleine nickte. »Madlyn Rose Caprelli«, stellte sie sich mit ernster Stimme vor. »Wie heißt du?«
Er überlegte kurz. »Sag einfach Lee. Alle meine Freunde nennen mich so«, schlug er vor.
»Lee.« Sie betonte seinen Namen auf entzückende Art und Weise.
Ian hatte Kinder schon immer geliebt. Zuhause, vor Culloden hatte er geplant, eine Menge eigener zu machen. Eine kleine Tochter wie Madlyn war etwas, worauf er stolz sein würde. Ein Sprössling, für den man sorgen durfte und aufwachsen sah – kurz, ein Vater zu sein – würde ihn glücklich machen. Und zugleich war es für ihn auf ewig unerreichbar. Was für ein Leben könnte er einem Kind denn bieten? Ständig umziehen. Immer neue Identitäten annehmen. Keine echten Freunde haben. Wenigstens nicht dauerhaft.
»War deine Mom böse mit dir, weil ich dich heimgebracht habe?«
Madlyn zuckte mit den Achseln. »Sie hat sich mit Rusty beschäftigt, da vergisst sie alles andere ganz schnell.« Sie sprang von der Schaukel. »Muss jetzt gehen. Mom hat versprochen, mit mir zu spielen.«
Sie drehte sich noch einmal um und winkte ihm zu. Ihre winzige Hand weckte in Ian das Bedürfnis, danach zu greifen, sie auf den Arm zu nehmen und für immer vor der großen, bösen Welt zu beschützen.
Er sah ihr lange hinterher und sein Beschützerinstinkt ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Der Fehler, der seiner Mutter das Leben gekostet hatte, würde ihm kein zweites Mal unterlaufen. Niemals wieder erlaubte er, dass sein Vertrauen derart schändlich missbraucht werden würde.
In diesem Augenblick beschloss er, die Kleine ab sofort unter seine Fittiche zu nehmen. Aus der Ferne und heimlich, wenn es sein musste. Aber solange sie lebte, würde er sich persönlich um sie und ihr Wohlergehen kümmern.
Lieber Lee,
Meine Mama ist eines Morgens weg gewesen.
Ich wohne bei Sally und Pete. Die beiden sind total nett.
Pete riecht so ähnlich wie Du. Er sagt, das wäre Affa Shaf.
Ich habe jetzt ein Zimmer mit Fenster.
Deine Madlyn
Ares fand Aphrodite im Park, wo sie auf einer Picknickdecke saß und einen blonden Jüngling anschmachtete, der auf der Lyra herumzupfte und schnulzige Lieder über ihre Locken und ihre leuchtenden Augen zum Besten gab.
Missgünstig beäugte Ares ihn. Es passte ihm überhaupt nicht, dass dieser Jungspund Aphrodites Aufmerksamkeit fesselte. Der junge Kerl war groß, schlank und besaß weich aussehende Hände mit langen Fingern, die geschickt über die Saiten des Instruments glitten.
Während Ares in einiger Entfernung stehenblieb, überlegte er, woher er den Burschen kannte. Dann erinnerte er sich wieder. Aphrodites neuer Günstling war Adonis, ein Sohn des Pygmalion.
Die Vorstellung, dass dieses halbe Hemd mit seinen Händen über Aphrodites Körper streicheln und ihr süße Worte ins Ohr flüstern könnte, machte Ares rasend. Verärgert stapfte er über die Wiese hinüber zu den beiden. Er beschleunigte seine Schritte und seine Miene verfinsterte sich zusehends.
Aphrodite bemerkte sein Näherkommen und hob den Kopf. »Meine Güte. Hattest du keine Zeit, dich zu baden und umzuziehen?« Sie rümpfte die Nase, während sie den Blick über seinen Körper gleiten ließ. Er wusste, was sie sah. Die Kleider, die er trug, waren schlammverspritzt, feucht von Wasser und Blut. Bisher hatte sie das nie gestört. Seine Laune – sofern das überhaupt möglich war – verschlechterte sich weiter.
Adonis drehte sich zu ihm um und betrachtete ihn viel zu abschätzend. Dieser Wurm! Zu allem Überfluss beugte er sich vor, um Aphrodite etwas zuzuflüstern. Sie lachte und Ares stand kurz davor, den anderen Kerl zu packen und windelweich zu prügeln.
Aphrodite musterte ihn erneut. »Warum gehst du nicht, badest und ziehst dich um, und kommst wieder, wenn du angemessen gekleidet bist?« Ihr liebliches Lächeln kam ihm schal und falsch vor, wahrscheinlich versuchte sie, ihn loswerden, um mit dem Schönling allein zu sein. Einzig aus dem Grund, weil er nicht wollte, dass Adonis Zeuge wurde, wie sich Kriegsgott und Liebesgöttin in die Haare kriegten, bewogen ihn kehrtzumachen.
Ungehalten stapfte er davon.
Dieses Bürschchen! Dieser Milchbart sollte sich nichts darauf einbilden, dass Aphrodite mit ihm schäkerte, das war keinesfalls ernstzunehmen. Bald wäre sie seiner überdrüssig und würde sich wieder ausschließlich Ares zuwenden.
Statt sich Aphrodite und Adonis anzuschließen, hatte er Besseres im Sinn. Er würde die Gunst der Stunde nutzen und sich ein bisschen mit Ian beschäftigen.
***
Florida, 2000
Nach einer anstrengenden mehrwöchigen Tour als Guide bei einer Mount Everest-Bergbesteigung genoss Ian seine Rückkehr ins sonnige Florida.
Nach seiner Ankunft am Flughafen holte er sein Motorrad ab und mietete sich in einem sauberen Zimmer in der Nähe des Highways ein.
Dann fuhr er in Sunshine Heights vorbei, wo Madlyn mit ihren Pflegeeltern wohnte. Die Familie war nicht zuhause, aber das war auch ganz gut so.
Es war riskant, dort mit der Harley aufzutauchen, doch seine Ungeduld, nach dem Rechten zu sehen, ließ sich nicht unterdrücken. Vor sechs Jahren hatte er Madlyn das letzte Mal getroffen. So schmerzhaft es auch war, um das Geheimnis seiner Unsterblichkeit vor ihr und ihren Pflegeeltern zu verbergen, war ihm nichts anderes übriggeblieben. In Madlyns Erinnerung musste er ein alter Knochen bleiben, eine Mischung aus Indiana Jones, Reinhold Messner und wildem Rocker. Ein normaler Mann, der mit den Jahrzehnten, die vergingen, älter und hinfälliger wurde.
Den jungen Motorradfahrer, der durch die Wohnsiedlung tuckerte, würde sie wohl kaum noch mit ihrem Onkel Lee gleichsetzen, den sie damals in Nashville auf dem Spielplatz kennengelernt hatte.
Nach einer kurzen Spritztour kehrte Ian um und fuhr in sein Motel zurück. Er würde ein wenig dösen, duschen und dann ausgehen. Morgen würde er losziehen und ein Geburtstagsgeschenk für Madlyn besorgen, das er ihr wie immer liefern lassen würde. Manchmal tat es weh, seine Kleine auf Distanz halten zu müssen. Aber es ging nicht anders. Er tat alles für sie, was aus der Ferne machbar war, um ihr ein gutes Leben zu ermöglichen. Und damit nie wieder Ähnliches geschah wie mit dem betrügerischen Pfaffen und seiner Mutter, überzeugte er sich regelmäßig selbst davon, dass es Madlyn gut ging.
Ihm wurde bewusst, dass er sie seit letztem Jahr nicht mehr gesehen, sondern nur über vertrauenswürdige Dritte Berichte erhalten hatte. Umso größer war seine Vorfreude, in Kürze wieder einmal einen Blick auf sie zu erhaschen, und war er noch so verstohlen und aus größerer Distanz. Allmählich besaß er genug Erfahrung im Beschatten, um problemlos als professioneller Schnüffler arbeiten zu können.
Als Ian seine bevorzugte Bar aufsuchte, war es zwar früh am Abend, aber es hatten sich bereits zahlreiche andere Gäste eingefunden. Einige waren angetrunken, doch es war friedlich. Stress gab es meist erst nachts oder wenn verfeindete Motorradclubs in der Bar aufeinandertrafen. Von derartigem Ärger hielt sich er jedoch fern.
Er fand einen Platz, bestellte ein Bier und beobachtete die anderen Barbesucher.
Eine brünette Frau in engen Jeans und T-Shirt kam an seinen Tisch. »Hallo, darf ich mich zu dir setzen?«
Ian hatte eigentlich kein Interesse an weiblicher Gesellschaft, doch sie wirkte nett, war nicht in einen Farbtopf gefallen und attraktiv. Er deutete auf den Hocker vor sich.
»Danke«, hauchte sie. »Mein Name ist Charlene.«
Er überlegte einen Moment lang, ob er seinen alten Alias Lee verwenden sollte, verwarf dies aber wieder. Lee gehörte allein Madlyn.
»Ian«, stellte er sich vor.
Charlene musterte ihn interessiert. Zu interessiert.
Im Geiste seufzte er, bedauerte, ihr nicht doch einen Korb gegeben zu haben und rüstete sich für den üblichen Smalltalk verbunden mit etwas zu affektiertem Gehabe und Flirterei. Überraschenderweise verhielt sich Charlene keineswegs so wie er befürchtet hatte. Ein Pluspunkt für sie.
»Bist du öfter hier?«, erkundigte sie sich und spielte mit ihrem Haar, während sie ihn anlächelte.
»Erst heute Mittag gelandet.«
»Oh, woher kommst du?«
Einen Moment lang wurde Ians Aufmerksamkeit auf eine Gruppe Männer gelenkt, die eine hitzige Diskussion zu führen schienen. Vor allem einer von ihnen, ein grobschlächtiger Hüne mit schwarzem Haar, das über der Stirn lichter war, gestikulierte lautstark.
»Kümmere dich nicht um die Kerle. Die kommen regelmäßig her, lassen sich volllaufen und stänkern dann herum«, meinte Charlene, als sie seinen Blick bemerkte.
Ian wandte sich wieder ihr zu. »Ich war auf einer Mount Everest-Bergtour«, beantwortete er die vorangegangene Frage.
»Wie interessant!« Sie klimperte mit den Wimpern.
Ian musterte sie freundlich. Vielleicht konnte er sie doch erwärmen. »Und du? Stammst du von hier?«
»Ja, bin noch nie aus Florida herausgekommen.« Sie warf ihr schulterlanges Haar zurück. »Ich arbeite in einem Immobilienbüro.« Sie zuckte mit den Achseln. »Abends kellnere ich im Moon River, einem Speiselokal.« Sie sah unauffällig auf ihre Uhr.
»Musst du gehen oder langweile ich dich bereits?« Ian zwinkerte ihr zu und sie lachte.
Es schien ihr ein wenig peinlich zu sein, dass er sie so direkt darauf angesprochen hatte. »Keineswegs, meine Schicht geht in einer Stunde los. Ich darf mich auf keinen Fall verspäten.«
»Alles cool, Charlene. Behalte die Uhr im Blick, ich kriege das nicht in den falschen Hals.«
Sie strahlte ihn an und entspannte sich.
Nachdem sie sich angeregt unterhalten hatten, stellte sie fest, dass es Zeit wurde zu gehen. Sie erhob sich und Ian stand ebenfalls auf.
»Ich begleite dich. Bist du mit dem Auto da?«
Charlene strahlte, offenbar war sie solch galantes Benehmen nicht gewohnt, fand aber Gefallen daran, so wie die meisten Frauen. »Gerne, mein Wagen steht einen Block weiter.«
Ian folgte ihr nach draußen. Es war noch hell und auf der Straße herrschte reger Betrieb.
Hoffnungsvoll sah sie zu ihm, und er wusste, dass sie einen Annäherungsversuch von ihm erwartete. Er war kein Kind von Traurigkeit, doch bei ihr brannten ihm keine Sicherungen durch. Sie war das typische: Wir-daten-uns-ein-paar-Mal-und-sehen-dann-weiter-Mädchen. Sie plauderte locker über irgendein Straßenfest, das sie gerne besuchen würde. Ian nickte und überlegte, ob er sich mit ihr verabreden wollte. Als sie an ihrem Wagen ankamen, zog sie ihren Schlüsselbund hervor und öffnete mit einem Klick auf den Autoschlüssel die Türen.
Ein weiteres Mal griff sie in ihre Hosentasche und drückte Ian einen Notizzettel in die Hand. »Meine Handynummer, vielleicht rufst du mich mal an?« Ehe er reagieren konnte, beugte sie sich vor und küsste ihn auf die Wange. Sie roch nach Kaugummi und Apfelshampoo.
Er lächelte. »Falls ich länger in der Stadt bleibe, sehr gerne«, versprach er und sah ihr nach, als sie davonfuhr. Er blickte auf den Zettel. Vielleicht würde er sich bei Charlene melden.
Langsam schlenderte er zur Bar zurück. Bevor er wieder eintreten konnte, hörte er aus der Seitenstraße wütende Stimmen.
Ian zögerte einen Moment. Er hatte keine Lust, in etwas hineingezogen zu werden und wandte sich ab, doch dann hörte er einen dumpfen Schlag und ein gequältes Stöhnen. Klang so, als erhielte jemand eine Abreibung und so ungern Ian es sich auch eingestehen wollte, er verspürte den Drang, sich einzumischen.
Die Lautstärke schwoll an und der aggressive Ton steigerte sich ebenfalls.
Nun hielt ihn nichts mehr zurück. Entschlossen trat Ian in die Gasse und folgte den Stimmen auf den schmuddeligen kleinen Hinterhof-Parkplatz der Bar.
Die sechs Männer, die ihm bereits im Innern aufgefallen waren, standen sich im Kreis gegenüber. So wie es aussah, hatten sich fünf von ihnen gegen den schwarzhaarigen Hünen verschworen.
Das Zahlenverhältnis erschien Ian reichlich unfair.
Dieser schüttelte seine Fäuste drohend. »Kommt nur, ihr Daumenlutscher, wenn ihr euch traut! Ich versohl euch den Arsch, dass ihr eine Woche nicht mehr sitzen könnt!«
»Du miese Kakerlake, wir sind zu fünft, was glaubst du, gegen uns ausrichten zu können? Wir werden dir deine große Fresse ein wenig polieren!«
Aggression lag in der Luft wie dicker Nebel und Adrenalin schwängerte die Brise, die Ian entgegenschlug. Sein Blut raste durch die Venen und sein Herzschlag beschleunigte sich. Er kannte das Gefühl, sein Körper war in Alarmbereitschaft. Erfolgreich rang er das Verlangen nieder anzugreifen und betrat den Platz. Seine Nerven waren angespannt und die aggressive Stimmung legte sich wie ein Eishauch auf seine Haut, wollte eindringen und von ihm Besitz ergreifen.
Er zwang sich zu einer beschwichtigenden Geste. »Leute, wollt ihr euch nicht vertragen?«
»Wer bist du? Sein Daddy?« Der Anführer verzog verächtlich seinen breiten Mund.
»Nur ein harmloser Passant.«
»Ha!«, brüllte der Hüne im nächsten Moment. »Seht ihr? Ich bin nicht mehr allein! Habt ihr jetzt die Hosen voll?« Der Kerl hatte eindeutig eine viel zu große Klappe und im Vergleich dazu ein enorm kleines Hirn.
Er unterdrückte einen Fluch. Die fünf Biker wandten sich erneut dem Hünen zu. Dieser drehte sich herum, bückte sich und wackelte mit dem Po, während er die Hose runterließ und so dem Ganzen die Krone aufsetzte. Mit dieser Aktion hätte er selbst Ian provoziert.
»Leckt mich, ihr Arschficker!«
Mit einem Aufschrei stürzte sich der Wortführer auf den Schwarzhaarigen, während sich zwei seiner Leute auf Ian konzentrierten.
Sofort ging er in Verteidigungsstellung. Die langen Jahre im Shaolin-Kloster waren nicht nur zur Meditation gewesen, sondern hauptsächlich, um die uralte Kunst des Kung Fu zu erlernen. Dies und die Jahrhunderte, die er als Krieger durch die Welt gezogen war, hatten aus ihm die sprichwörtliche Kampfmaschine geformt. Derlei Fähigkeiten verlor ein Mann nicht, nur weil er dem Kampf abgeschworen hatte. Und so hatten die Angreifer nicht die geringste Chance gegen Ian, obwohl er ein wenig aus der Übung war.
Ein gezielter Schlag mit der Faust setzte den Ersten sofort außer Gefecht und Ian duckte sich unter dem Arm des Zweiten, der auf ihn zugesaust kam. Ian riss ihm die Füße weg und schlug ihn k.o., noch bevor er richtig am Boden lag.
Dann ging er zu dem Hünen, der gerade von drei Angreifern auf einmal in die Mangel genommen worden war, sich aber geschickt und nach Leibeskräften wehrte.
Mit einem kräftigen Tritt in die Kniekehlen brachte Ian einen der Männer zu Fall und verpasste diesem abschließend einen Handkantenschlag.
Der Hüne packte einen der beiden Übriggebliebenen und schlug ihm mit kurzen Schlägen mehrmals ins Gesicht, bis ihm das Blut aus der Nase spritzte.
Der andere zog eine lange Eisenkette aus seiner Hose, die ihm bis dahin als Gürtelersatz gedient hatte. Er schwang sie drohend gegen Ian und wirkte völlig überrumpelt, als der nicht zurückwich, sondern stattdessen auf ihn zutrat, die schwingende Kette ergriff und ihm entriss.
Er warf sie davon. Das Metallteil landete scheppernd und rasselnd hinter den Mülltonnen, sodass es für den Biker unmöglich war, schnell, geschweige denn einfach daran zu kommen. Ian näherte sich dem Kerl in Angriffshaltung. Der Rowdy fluchte und wich zurück. Als er an seine Hosentasche griff, reagierte Ian mit einem Fußtritt vor dessen Brust, der den Mann taumeln ließ und platzierte als Nächstes einen Roundkick am Oberkörper seines Gegners, der ihn von den Füßen katapultierte. Mit einem dumpfen Aufprall plumpste er auf den Asphalt, stöhnte und kippte besinnungslos zur Seite.
Eine Hand groß wie eine Baggerschaufel legte sich auf Ians Schulter. Er warf sich herum, ließ seine Fäuste aber sinken, als er den Hünen erkannte. Der wich mit beschwichtigenden Gesten einen Schritt zurück. Er grinste breit und blickte auf die stöhnenden oder bewusstlosen Biker am Boden.
»Meine Güte, du hast’s echt drauf! Soldat oder Polizist?«
Ian schüttelte den Kopf, ohne sich zu erklären, und ergriff die ausgestreckte Hand des Mannes.
»Ich bin Esra, mein Freund.« Seine Augen blitzten vergnügt. Ihm schien das Ganze einen Heidenspaß zu bereiten.
»Ian MacScott.«
Esras Grinsen wurde noch breiter. »Ein Highlander, kein Wunder!« Er legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend.
»Wir sollten verschwinden, bevor die Kerle wieder auf die Beine kommen oder jemand die Cops ruft.«
»Hast recht, auf die Bullen hab ich echt keinen Bock.« Er trottete Ian hinterher.
»Wo kommst du her?« Esra bewegte den Kopf und ließ seinen Nacken knacken.
»Inverness«, entgegnete Ian. Ursprünglich lag sein Heimatdorf in der Nähe der Stadt, aber heutzutage gab es dort nur noch eine Moorlandschaft. An der Stelle, wo einst das Haus seiner Eltern gestanden hatte, wuchsen Ginsterbüsche. Er hatte für jeden König und jede Königin, die seit Culloden regiert hatten, einen Busch auf diesem Gebiet gepflanzt. Ein Symbol der Hoffnung. Hoffnung, dass Schottland eines Tages seine Unabhängigkeit zurückerhielt. Er glaubte ganz fest daran, dass irgendwann die Zeit kam, in der seine stolzen Highlands wieder frei waren.
Er zwang sich in das Hier und Jetzt zurück. »Eigentlich bin ich heimatlos.«
Esra schlug ihm begeistert auf die Schulter. »Passt ja! Ich bin auch ein Vagabund, war erst kürzlich auf einer Kilimandscharo-Trekkingtour dabei und wollte die alte Heimat besuchen. Wusste nicht, dass die Kerle empfindlicher als jede Pussy geworden sind.« Er lachte dröhnend. »Weißte was, Ian, du hast mir die Haut gerettet, jetzt zeige ich dir, wo man hier den besten Spaß haben kann.« Er beugte sich vor. »Was hältst du von Tittenshows? Ich kenne da ein paar Schuppen, ich sag’s dir, da sind die Weiber so geil, das hast du noch nicht erlebt! Und Möpse, groß wie Melonen, Ärsche, bei deren Anblick selbst ein Gott in Tränen ausbrechen könnte, und die eine oder andere lässt dich für einen Schein extra sogar ran.«
»Keine Striplokale!«, erklärte Ian entschieden. Derartige Örtlichkeiten verursachten ihm eher Frust als Lust. Für ihn musste eine Frau mehr als verfügbare Körperöffnungen zu bieten haben, um sie interessant zu finden.
»Dann also die Bars und Kneipen. Davon gibt’s auch Unmengen!« Esra wieherte. »Und Schicksen kann man da ebenfalls aufreißen.«
Lieber Onkel Lee,
ich habe meinen Abschluss und im Gegensatz zu allen anderen meines Jahrgangs weiß ich nicht, was ich mit meinem Leben anstellen soll.
Deine Madlyn
Liebe Madlyn,
hast Du nicht einmal geschrieben, dass Du gerne reisen würdest?
Vielleicht wäre jetzt der richtige Moment dafür gekommen?
Dein Lee
Florida, Madlyns 21. Geburtstag
Ian saß mit seinem neugewonnenen Freund Esra in einer schummrigen Bikerkneipe. Dieser hatte Wort gehalten und Ian durch sämtliche verrufene Lokale und Spelunken geführt, die er kannte, und das waren nicht wenige.
Esras breites Gesicht glühte und sein Blick wurde allmählich glasig, ein Wunder, denn er schien mehr Alkohol zu vertragen als ein ganzer MC zusammen. Seine gedrungenen Schultern und die tätowierten Arme fielen in dieser Bar nicht weiter auf. Doch seine Trunkenheit sorgte dafür, dass die Barbesucher einen Bogen um ihn machten, selbst wenn er den einen oder anderen mit dummen Kommentaren bedachte. In Ian keimte der Verdacht auf, dass es dem Rocker, sowohl nüchtern wie alkoholisiert, Freude bereitete, sein Umfeld bis aufs Blut zu reizen.
»He, guck mal, da sind grad zwei süße Schnecken reingekommen.«
Ian wollte nur einen flüchtigen Blick auf die Neuankömmlinge werfen, da Esra dieses Spiel schon seit dem letzten Bier trieb. Die meisten weiblichen Gäste, die der Hüne anpries, hätten Ian eher dazu veranlasst, die nächsten fünfzig Jahre als Mönch zu leben.
