HINTER DEN MAUERN DER ZEIT - Horst Pukallus - E-Book

HINTER DEN MAUERN DER ZEIT E-Book

Horst Pukallus

0,0
6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kurz vor Düsseldorf erwacht in einem Transrapid ein Mann. Er stellt fest, dass er sein Gedächtnis verloren hat; weder sein Name noch seine Anschrift sind ihm bekannt; seine Vergangenheit ist verschwunden. Steht er unter Drogen? Hilflos irrt er umher, trifft absonderlichste Menschen, die ihn zu kennen scheinen, entdeckt Bücher, die ihm auf unerklärliche Weise vertraut scheinen. Wirklichkeit und Alptraum werden eins. Die Suche nach seiner Vergangenheit führt ihn zu einer Villa im Schwarzwald, und er findet heraus, dass er der totgeglaubte SF-Schriftsteller Konstantin Bohlen ist. Hat er sein Ableben vorgetäuscht, um ein neues Leben beginnen zu können? Ist er als Autor in die Fänge der fanatischen Gottes-Partei geraten? Oder wurde er von seinem Literatur-Agenten getäuscht und betrogen? In diesem, dem amerikanischen SF-Autor Philip K. Dick (1928 – 1982) gewidmeten Buch knüpfen die Autoren an die nach Dicks Tod aufgekommenen Gerüchte an, dieser habe sein Ableben selbst inszeniert, um inkognito ein neues Leben anfangen zu können. Sie greifen zahlreiche philosophische Gedanken Dicks und Themen seines Werkes auf und verarbeiten diese mit einer originären Handlung zu einem phantastischen Roman in bester Dick'scher Tradition: Wie er hinterfragen auch sie fortwährend die vordergründige Realität und zertrümmern eingefahrene Wahrnehmungsmuster und Denkschablonen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



HORST PUKALLUS

MICHAEL K. IWOLEIT

Hinter den Mauern der Zeit

Roman

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Die Autoren 

 

Eins 

Zwei 

Drei 

Vier 

Fünf 

Sechs 

Sieben 

Acht 

Neun 

Zehn 

Epilog 

 

NACHBEMERKUNG 

 

Das Buch

Kurz vor Düsseldorf erwacht in einem Transrapid ein Mann. Er stellt fest, dass er sein Gedächtnis verloren hat; weder sein Name noch seine Anschrift sind ihm bekannt; seine Vergangenheit ist verschwunden. Steht er unter Drogen?

Hilflos irrt er umher, trifft absonderlichste Menschen, die ihn zu kennen scheinen, entdeckt Bücher, die ihm auf unerklärliche Weise vertraut scheinen. Wirklichkeit und Alptraum werden eins.

Die Suche nach seiner Vergangenheit führt ihn zu einer Villa im Schwarzwald, und er findet heraus, dass er der totgeglaubte SF-Schriftsteller Konstantin Bohlen ist. Hat er sein Ableben vorgetäuscht, um ein neues Leben beginnen zu beginnen? Ist er als Autor in die Fänge der fanatischen Gottes-Partei geraten? Oder wurde er von seinem Literatur-Agenten getäuscht und betrogen?

In diesem, dem amerikanischen SF-Autor Philip K. Dick (1928 – 1982) gewidmeten Buch knüpfen die Autoren an die nach Dicks Tod aufgekommenen Gerüchte an, dieser habe sein Ableben selbst inszeniert, um inkognito ein neues Leben anfangen zu können. Sie greifen zahlreiche philosophische Gedanken Dicks und Themen seines Werkes auf und verarbeiten diese mit einer originären Handlung zu einem phantastischen Roman ist bester Dick'scher Tradition: Wie er hinterfragen auch sie fortwährend die vordergründige Realität und zertrümmern eingefahrene Wahrnehmungs-Muster und Denkschablonen.

Die Autoren

Horst Pukallus, Jahrgang 1949.

Schriftsteller, Herausgeber und Übersetzer.

Seit den späten 1960er Jahren veröffentlichte er Kritiken zur SF-Literatur, vor allem in der Zeitschrift Science Fiction-Times. 1974 erschien seine erste Erzählung Interludium. Es folgten u.a. die Story-Sammlungen Die Wellenlänge der Wirklichkeit (1983) und Songs aus der Konverter-Kammer (1985), die Pukallus als einen der vielseitigsten und intellektuell versiertesten deutschsprachigen Genre-Autoren seiner Generation etablierten. Neben seiner Meisterschaft im Metier der Kurzgeschichten/Erzählungen sind auch seine Romane Krisenzentrum Dschinnistan (1985) und Hinter den Mauern der Zeit (1989, zusammen mit Michael Iwoleit) von überragender inhaltlicher und stilistischer Qualität. Zu Recht wird Horst Pukallus mit dem großen amerikanischen SF-Schriftsteller Philip K. Dick verglichen.

Zu seinen herausragenden Übersetzungen aus dem Englischen/Amerikanischen gehören u.a.: Iain Banks: Vor einem dunklen Hintergrund (1998), John Brunner: Morgenwelt (1980), John Brunner: Schafe blicken auf (1978), John Brunner: Der Schockwellenreiter (1979), Philip K. Dick: Kinder des Holocaust (1984), Jack Womack: Heidern (1993) sowie die Deryni-Romane von Katherine Kurtz (1978 – 2000).

In den Jahren 1980, 1981, 1984, 1985 und 2001 erhielt er den Kurd-Laßwitz-Preis für die beste Übersetzung; 1991 erhielt er diese Ehrung für seine Erzählung Das Blei der Zeit.

Horst Pukallus lebt und arbeitet in Wuppertal.

Michael K. Iwoleit, Jahrgang 1962.

Schriftsteller,Übersetzer und Kritiker.

Michael K. Iwoleit wurde in Düsseldorf geboren. Nach dem Abitur und einem Abschluss als Biologisch-technischer Assistent (1982), war am Botanischen Institut der Universität Düsseldorf beschäftigt, studierte Philosophie und Germanistik und ist seit 1984 hauptberuflich als Autor, Übersetzer und Kritiker vornehmlich im Bereich der Science Fiction tätig.

1984 erschien sein erster Roman unter dem Titel Rubikon,dem 1989 Hinter den Mauern der Zeit (mit Horst Pukallus)und 2003 Am Rande des Abgrunds folgten. Seine preisgekrönte Erzählung Psyhack erweiterte er 2007 zu einem Roman.

Iwoleit ist insbesondere für seine Novellen bekannt, für die er viermal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis und zweimal mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet wurde. Auch als Herausgeber, Übersetzer und Kritiker hat er sich einen Namen gemacht: Gemeinsam mit Ronald M. Hahn gibt er seit 2002 das Science-Fiction-Magazin Nova heraus. Darüber hinaus übertrug unter anderem Romane von Iain Banks, David Wingrove und Cory Doctorow ins Deutsche.

Er war regelmäßiger Mitarbeiter des SCIENCE FICTION JAHRs im Heyne Verlag, für das er u. a. einen dreiteiligen Essay über die neue deutsche Science Fiction verfasste, und veröffentlichte eine Reihe von Kurzgeschichten in Anthologien und Zeitschriften sowie Artikel und Rezensionen im Fachblatt Science Fiction Times.

  In Gedenken an PHILIP K. DICK

1928-1982

Eine verzweifelte Suche ist in mir zurückgeblieben: ein für alle Mal zu meiner eigenen Zufriedenheit die wirkliche Natur der Realität zu bestimmen.

Philip K. Dick (1977)

»Ich bin dein Freund«, sagte der alte Mann. »Aber du musst so weitermachen, als ob es mich nicht gäbe. Verstehst du das?« Er breitete die leeren Hände aus.

»Nein«, antwortete Rick. »Das verstehe ich nicht. Ich brauche Hilfe.«

»Wie könnte ich dich retten, wenn ich mich selbst nicht retten kann?«, fragte der alte Mann lächelnd. »Siehst du das denn nicht ein. Es gibt keine Rettung!«

»Und wozu ist dann alles gut?«, fragte Rick. »Wo- für gibt es dich?«

»Um dir zu zeigen, dass du nicht allein bist«, antwortete Wilbur Mercer. »Ich bin bei dir und werde es immer sein. Geh hin und tue deine Pflicht, selbst wenn du weißt, dass es falsch ist.«

»Warum?«, fragte Rick. »Warum sollte ich das tun? Ich kündige und wandere aus.«

Der alte Mann sagte: »Du wirst das Falsche tun müssen, wo immer du auch bist. Das ist die Grund-bedingung des Lebens: dass man stets wider die eigene Natur handeln muss. jedes lebende Geschöpf sieht sich zu irgendeinem Zeitpunkt dazu gezwungen. Es ist der schwärzeste Schatten über unserem Leben, die letztliche Niederlage der Schöpfung. Hier wirkt sich der Fluch aus, der über allem Leben liegt. Überall im ganzen Universum.«

Philip K. Dick: Träumen Roboter von elektrischen Schafen?

(späterer Film-Titel: Blade Runner, 1982)

  Eins

 

Eine Arbeit von drei Jahren war zunichte gemacht worden. Tausend Stunden des Bemühens, den Vorstellungen in seinem Innern einen Ausdruck zu geben, waren umsonst gewesen. Aber niemand außer Erich Süßpfennig selbst würde es bemerken. Niemand in der Galerie begriff sein Entsetzen. Er stand vor dem Gemälde, das sein Werk hätte sein sollen, und erkannte nicht einen Pinselstrich wieder. Es war keine Kopie, keine noch so geschickte Fälschung, es war die unbegreifliche Metamorphose seiner Hände und seines Herzens Arbeit in etwas, dem jegliche Seele fehlte. Für einen Moment war ihm, als drohe diese Verwandlung auch auf ihn selbst überzugreifen, und als er sich abwandte und hilfesuchend nach einem menschlichen Augenpaar Ausschau hielt, begriff er, dass dies mit all den Androiden-haften Gestalten hier schon längst geschehen war. 

Konstantin Bohlen: DIE ZEIT IST AUS DEN FUGEN.

 

 

Ein Körper nahm Gestalt an. Ein Licht entflammte, erfasste sprödes, ausgelaugtes Gewebe und fraß sich als ein düsteres Glimmen um sich. Bald füllte es ein ovales, gebeultes Volumen aus, verjüngte sich an einer Stelle und wucherte in zahllosen Verzweigungen und Verästelungen fort, bis seine imaginären Umrisse die Silhouette eines Menschen beschrieben. Sie gewann an Schärfe und Form, und als die ersten Impulse durch das Netz zuckten, kehrte das Gefühl in diesen Körper zurück. Es entstand irgendwo im Umkreis des Herzens, flaute zuerst wie eine Stoßwelle durch die inneren Organe und bis in die Endpunkte der Extremitäten, ehe es, einem Schub frischen Bewusstseins zu vergleichen, ins Hirn aufstieg. Dort traf es auf widerstandslose Leere, auf nichts als ein Gefühl von Mattigkeit und Erschöpfung, dem alle Erinnerungen gewichen schienen. Ein trockener Mund saugte kraftlos Luft ein. Taubgelegene Muskeln gaben ihre Überreizung zu erkennen.

Das erste, was dem Mann zu Bewusstsein kam, als er wieder erwachte, war seine Körperhaltung, die zwischen der eines Embryos und dem Schlafgebaren eines Erwachsenen, der sich in fremde Realitäten hineinträumte, die Schwebe hielt. Er spürte Kopf und Schultern auf einem unangenehm kantigen Vorsprung, den restlichen Körper dagegen in weichen, körperwarmen Polstern. Seinen Schmerzen nach zu urteilen, die auf längere einseitige Belastung hindeuteten, musste er geraume Zeit regungslos so dagelegen haben.

Mit dem Körpergefühl stellten sich wenig später auch die Eindrücke seiner übrigen Sinne wieder ein. Noch vage, weil ihm die Lider bleischwer über den Augen lagen, vermittelten sie eine Atmosphäre profaner Alltäglichkeit. Ein Summen von charakteristischer Färbung ließ auf das beinahe lautlose Dahinschnellen eines Transrapid-Schnellzuges schließen. Minimale Schwankungen der Hochsicherheitsfahrkabinen auf ihren elektrodynamischen Polstern vervollständigten den Eindruck routinemäßiger Abläufe. Hinzu kam, wie alles Übrige bis an die Grenze zur Unhörbarkeit gedämpft, das Stimmengewirr des Vorbeiströmenden draußen auf dem Gang. Ein geübtes Ohr konnte aus dieser Kulisse unverkennbar das Herannahen der nächsten Zwischenstation heraushören.

Etwas ließ den Mann noch darauf warten, dass sich von allein die Lücken schließen mochten, die in seinem Gedächtnis klafften. Es war das unbestimmte Gefühl, diese Geräusche schon oft gehört zu haben, schon oft auf diese Weise aufgewacht zu sein. Es tat sich jedoch nichts. Irgendwann wurde er unruhig. So sehr er sich bemühte, in seinem Hirn fand sich nicht die Spur eines Hinweises auf seinen Namen und seine Identität. Wäre da nicht die dumpfe, selbstgefällige Versicherung gewesen, dergleichen könne ja gar nicht möglich sein, wäre er, schon bevor er die Augen aufschlug, zu der Einsicht gelangt, dass er sein Gedächtnis verloren hatte.

So riss ihn nach einer Zeitspanne, die er nicht abzuschätzen wusste, ein verhaltenes Gelächter aus seinem Dahinbrüten. Eine der Stimmen gehörte einer Frau und besaß einen seltsam monotonen Beiklang, die den Mann an irgendetwas erinnerte. Als wäre dies ein Signal gewesen, nahm ein von Übelkeit erfüllter Zopf von Innereien den Platz des grob strukturierten Torsos ein, den er nach dem Aufwachen gespürt hatte. Seine schmerzende Körperhülle füllte sich gefühlsmäßig mit Fleisch, und dringender als alles andere kam ihm dabei zu Bewusstsein, dass er sich hundeelend fühlte.

Er öffnete unter quälenden Anstrengungen die Augen und schloss sie gleich wieder, als ein Bündel greller Lichtstrahlen seine Netzhaut traf. Mit mühsam vorgehobener Hand, die er irgendwie unter seinem Leib hervorzerrte, wagte er einen zweiten Versuch und blickte durch ein bis zum Zugdach hochgewölbtes Panoramafenster auf die Baumspitzen einer sonnenbeschienenen, vor den Blicken davonrasenden Landschaft. Flüchtig erkennbar glitzerte dahinter im Widerschein von Aluminium, Stahl und Glas eine Ansammlung zerbrechlicher, fast immaterieller Pavillon- und Sommerhausarchitektur.

Der Mann wälzte sich mit steifem Nacken in eine angenehmere Haltung und sah sich im Kreis der mit ihm im selben Abteil Reisenden um. Für den ersten Moment waren seine Augen noch so schlecht an die Lichtverhältnisse gewöhnt, dass alle Farben zu verwaschenen, weichzeichnenden Tönen verschwommen. So kam ihm die junge, hochgewachsene Frau, die ihm gegenübersaß, zuerst wie ein Ausschnitt aus einem Ölgemälde vor. Einige Sekunden lang schienen ihre zarten Gesichtszüge und das schwarze, schulterlange Haar der Inspiration eines Impressionisten zu entstammen. Nur die Kulisse, in der sich etwas von zukünftigem Design und zukünftiger Lebensart andeutete, wollte nicht recht dazu passen. Dann gewann ihre Gestalt an Wirklichkeit dazu, und der Mann erkannte in ihrer dezent pastellfarben getönten Kleidung eine quasi-religiöse Einheitstracht, die sie mit ihren drei Begleitern gemeinsam hatte. Auf Höhe der flachen, sich kaum unter dem faltigen Kleid abhebenden Brust war mit silbrigen Fäden das Emblem der religiös motivierten Partei Defensor Dei gestickt, und es erfüllte den Mann mit gewisser Zuversicht, dass er zumindest diese wiedererkannte. Überhaupt waren ihm die Details in dem geräumigen Abteil wie von vielen Geschäftsreisen vertraut, die seitlichen Klapptischchen, die kunstledernen Polstersitze und das Display über der rauchgläsernen Tür zum Gang. Zudem empfand er eine vage Vertrautheit mit dem von Askese und Überforderung ausgemergelten Gesicht des Mädchens. Sie verflüchtigte sich, sobald er sich näher darauf konzentrierte, rascher als die Spuren einer ei-genwilligen Schönheit, die dieses Gesicht offenbar einmal ausgezeichnet hatte.

Der eine ihrer drei Begleiter hatte sich aufdringlich in den Sitz neben sie gedrängt und lugte vorgebeugt in das Taschenbuch, das er und sie gemeinsam hielten. Die überstehenden Ränder eines Bündels von Zeitungsausschnitten flatterten zwischen den Buchdeckeln im Luftstrom der Klimaanlage. Das Cover war bis auf den mit Bucheinbindefolie überklebten Autorennamen völlig abgegriffen und der Buchrücken von unzähligem Lesen fast durchrissen.

Neben einem gedrungen gebauten und teilnahmslos auf den Gang hinausblickenden Jungen von vielleicht siebzehn Jahren hockte ein Neohippie, dem ein süffisanter Ausdruck förmlich in die Mundwinkel gemeißelt schien, auf dem anderen Fensterplatz. Die vier verbreiteten strenge, an Rauschgifte gemahnende Düfte, die in der Hightech-Umgebung anachronistischer wirkten, als es eine Dampflok auf dem Nebengleis getan hätte. Gemeinsam war ihnen ein Blick, in dem sich unendliche Langeweile ebenso wie in Gleichgültigkeit umgeschlagene Verzweiflung widerspiegelten. Dieser Ausdruck fügte sich so nahtlos ihrem Äußeren ein, als sei er ähnlich wie die völlig aus dem Rahmen der Zeit fallende Kutte ein gemeinsames Merkmal im Erscheinungsbild aller Defensor-Dei-Schützlinge.

Während draußen zügig die Stadtgrenzen näher rückten, setzte bereits spürbar der zweiminütige Bremsprozess der über dreihundertfünfzig Stundenkilometer Reisegeschwindigkeit auf das Bahnhofstempo ein. Spätestens jetzt vermochte das spätpubertäre Quartett die Aufmerksamkeit des Mannes nicht länger zu fesseln, denn von der einen Sekunde zur anderen schienen seine Magenwände schiere Hexentänze aufzuführen. Als zentriere sich alle Schubenergie des Zuges auf seinen Leib, drohte ihm ein heftiger Druck den Mageninhalt aufzustoßen. Mit aller Kraft, die er aufzubringen vermochte, stemmte er sich auf die Beine und bugsierte seine massige Leibesfülle, die er bis dahin gar nicht wahrgenommen hatte, auf den Gang hinaus. Dort drängte er gerade Vorbeikommende so heftig an die Wände, dass sie nur noch japsten, wagte selbst aber erst in dem Moment Luft zu holen, als er vor seinem verschwommenen Blick die Toilettentür auftauchen sah. Sie glitt erst nach hektischer Fummelei an den Sensortasten zur Seite, und er schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich über das Becken zu beugen. Als die Tür sich schloss, um ihn vor peinlichen Blicken zu bewahren, stand er bereits wieder aufrecht.

Er schwankte einmal um die eigene Achse, stützte sich keuchend auf und blickte im Spiegel in ein feistes, von einem eindringlichen Augenpaar bestimmtes Gesicht, über dessen Wangen Ströme von Schweiß und Tränen perlten. Einige Sekunden beäugte er sich ratlos, kam aber zu keinem Schluß und kühlte sich den Kopf unter laufendem Wasser. Er ertastete mit einer Hand den Abspülknopf und stützte sich am Türrahmen ab, als er auf den Gang zurücktaumelte. Von draußen klang eine Lautsprecherdurchsage, die er nicht verstand.

Irgendwo außerhalb des engen Sichtkreises, den seine Augen klar zu fassen vermochten, leuchtete einladend ein signalroter Handgriff, einer von den vielen, die ihm auf seinem kurzen Weg an den Augen vorbeigehuscht waren. Er hielt sich daran fest, aber der Griff gab nach und der Mann stolperte im selben Moment nach hinten, wie ein gewaltiges Ächzen den Zug durchfuhr. Das vorher gelinde elektrische Summen crescendierte binnen Sekunden zu einem ohrenbetäubenden Kreischen über die Maßen beanspruchten Materials. Im Becken neben der offenen Klotür schwappte es, auf dem Gang polterten zu Fall gekommene Gäste im Einklang mit einem jähen, vielstimmigen Aufstöhnen. Der Mann stieß einen Fluch aus und war schneller wieder auf den Beinen, als er nachdenken konnte.

Kaum war der für seine schier unüberbietbare sicherheitstechnische Redundanz gerühmte Zug bis auf Schritttempo abgebremst, hatte der Mann sich in dem Durcheinander bereits bis zum Ausstieg vorgerempelt und blickte unbehaglich mal auf den nahen Bahnsteig, mal die beiden Quergänge hoch, in der Hoffnung, er würde sich absetzen können, ehe man ihn als Anstifter dieses Chaos entlarvte. Jedenfalls beruhigte es ihn, dass er den Zug nicht auf freier Strecke angehalten hatte.

Zweihundert Meter weiter drängten sich in sichtlicher Verblüffung Massen von Urlaubsreisenden an den Bahnsteig. Der Transrapid kroch noch einige Meter in die Bahnhofshalle hinein und hielt mit einem satten Seufzer.

Die Wiedereinkehr der - mit leichten Abweichungen - normalen Umstände brachte eine Woge von Menschen und Gepäck zur Zugspitze hin ins Rollen. Ehe er reagieren konnte, hatte ein Keil von Menschenleibern den Mann von den Beinen gehoben und auf den Bahnsteig hinausgetragen, wo er sich, die Innereien von abebbender Übelkeit noch flau, die Augen glasig, in einem Durcheinander wiederfand, das ihn zumindest in der Hoffnung bestärkte, den sicherlich fieberhaft nach dem Auslöser der Notbremse fahndenden Zugbeamten entwischt zu sein. Er raffte seine Weste an sich, die ihm in dem Gedränge fast vom Leib gerissen worden war, und schlug sich irgendwie zur nächsten Wartebank durch, um Atem zu schöpfen. Mit welcher Absicht und mit welcher Identität er seine Reise auch immer angetreten hatte, nun war es Zeit, darüber nachzudenken, wie es weitergehen sollte.

Ein Blick zur Anzeigetafel unter der Hallendecke klärte ihn darüber auf, wohin es ihn verschlagen hatte:

 

DÜSSELDORF HAUPTBAHNHOF

7. 7. 2005     16.32

Transrapid-Transit

Berlin - Aachen

 

Der Mann kramte in seinen Kleidern nach einem Taschentuch, fand aber nichts und bekleckerte stattdessen seine Hände mit dem feuchten Matsch, der an seiner Hose klebte. Unwillig grunzend stand er auf und ließ sich von der nächstbesten Rolltreppe eine Etage tiefer befördern.

In der Schalterhalle herrschte ohrenbetäubender Lärm, durch den von irgendwoher entnervende Musik drang, irgendein monotoner, von Synthesizern und stur losdreschenden Digitaldrums dominierter Nova-Wave-Popsong, dessen Interpretin sich mit den wenigen Textzeilen eher wie ein geprügelter Hund als eine professionelle Sängerin abquälte. Der Mann wusste nicht, wie oft er das Stück schon gehört hatte, aber es war kein Zweifel, dass ihm das Geschrei nicht zum ersten Mal durch Mark und Knochen ging. Während er sich nach einer Toilette umschaute, hörte er aufmerksam zu. Es mochte ein bestürzendes Déjà-vu-Erlebnis sein, aber es war immerhin ein Hinweis:

 

»The disbelievers's fall  

will strengthen His guide.

The defamers and betrayers

shall pay their last dues.

 

Cross the blood groove now.

We're hunting your soul:

No salvation without us,

the heretic's a fool.«

 

Cross the blood groove now. Er summte unwillkürlich mit, als er sich an einem Stand vorbeidrängte, an dem ein Händler Soul Food verkaufte.... the blood groove. Blutrinne? Was zum Teufel soll das bedeuten? Er reihte sich in die Schlange ein, die sich vor den Gehschranken zur Bedürfnisanstalt gebildet hatte, und bekam ungeduldige Knüffe zu spüren, wenn er übers Nachgrübeln das Weitergehen vergaß.... the blood groove... Cross the blood groove now.

An der Gehschranke verursachte er einen Stau von zwei Dutzend Notdürftigen, als er seine Taschen eine Minute nach einem Fünfziger durchwühlte und dann zu allem Übel noch warten musste, bis ihm der arg überlastete Automat ein Päckchen mit Seife, Handtuch, Hair-Styling-Creme und Anti-Aids-Kondomen in die Hände warf und den Weg freigab. Rechterhand tauchte neben ihm eine übermannshohe, neonblau beleuchtete Spiegelglaswand auf, die ihm zum ersten Mal mit erschreckender Klarheit seine mitgenommene Erscheinung offenbarte. Er war deutlich untersetzt, mochte gut fünfzig Jahre alt sein und trug eine - jedenfalls in frischgewaschenem Zustand - ansehnliche Kombination aus einer grauen Weste und einer weitgeschnittenen Hose. Das Ganze war jetzt allerdings zerknittert und verschmutzt. Das rote Satin-Hemd stand bis zum Bauchnabel offen und zeigte eine breite, behaarte Brust. Er fühlte sich widerwärtig.

Wollte er nicht nachzahlen, blieben ihm jetzt zehn Minuten Zeit, um sich in diesem für Normalbenutzer geradezu päpstlichen Abort wieder einigermaßen in Form zu bringen. Er schloss sich in eine der Kabinen ein und legte behutsam seine Oberkleidung ab. In den Hosentaschen fand er in diversen Scheinen und Münzen achtzig Mark Bargeld und einen auf den Zielort Düsseldorf ausgestellten Fahrschein, auf dem jemand den Namen des Abfahrtsorts weggekratzt hatte. Bis auf die Feststellung, dass sein Dress ziemlich kostspielig gewesen sein musste, er also zumindest kein vollends mittelloser Schlucker sein konnte, war dies der einzig greifbare Anhaltspunkt. Es war so gut wie nichts.

Mit dem feuchten Handtuch tupfte er den gröbsten Dreck von seiner Hose, seifte sich den Oberkörper ab und ließ auf dem Klosett sitzend Arme und Bierbauch hängen, um die verbleibenden drei Minuten nach bestem Vermögen in sich hineinzuhorchen. Wer bin ich? dachte er. Was habe ich hier zu schaffen?

In seinem Innern rotierte verhalten ein Strudel von Gedankenfetzen, in dem offenbar nur einem Wort eine herausragende Bedeutung zukam: the blood groove. Die Blutrinne. Er sah vor seinem geistigen Auge schmale, blaurote Lippen, die dieses Wort flüsterten, und ein von fettigen schwarzen Haaren gerahmtes Gesicht. Er erinnerte sich an das Mädchen im Zug, die Defensor-Dei- Konfektion, und dabei wurde ihm klar, dass sich einiges überstürzt hatte. Hätte er seine Ahnung im ersten Moment wichtiger genommen, wäre ihm vielleicht Gelegenheit geblieben, die junge Frau persönlich darauf anzusprechen, ob ihn etwas mit ihr verband. Und was blieb jetzt?

Da war noch etwas außer diesem unsäglichen Nova-Wave-Popsong, irgendein Detail, das in sein Unterbewusstsein gedrungen sein musste, als er vorhin die Augen aufgeschlagen hatte. Das aufdringliche Piezo-Signal am Ende der Benutzungsdauer reichte fast aus, um ihn diese Ahnung verlieren zu lassen. Aber als er auf- stand und ungelenk seine Kombination wieder anlegte, war er sich ganz sicher. Es schien sich um dieses Taschenbuch zu handeln. Er erinnerte sich an den Titel, ein Shakespeare-Zitat: DIE ZEIT IST AUS DEN FUGEN. Der Name des Autors kam ihm erst draußen in den Sinn. Konstantin Bohlen. Bohlen...?

Dankenswerterweise erfreute sich die rege Betriebsamkeit inzwischen einer zurückhaltenderen Untermalung. Durch die Rolltreppenschächte drang das Singen eintreffender Transrapids herunter. Vocodierte Lautsprecherdurchsagen, piepsende Ticketautomaten und die Sounds umherzockelnder Gepäckträgerbuggys kontrapunktierten ein atemloses Stimmengewirr. In den Selbstbedienungsrestaurants, Nova-Snack-Verzehrstuben und Automatengaststätten beiderseits war kaum ein Stehplatz frei. Modebewusste mit den bizarrsten Outfits liefen sich zu den Klängen eines gefälligen Muzak-Tonarrangements aus Streichern und Mädchenstimmen kreuz und quer über den Weg. Vor den Augen des Mannes verschwamm die Masse zu einem buntgefleckten Einerlei.

In der geräumigen Vorhalle machte die merkantil übersättigte Kulisse einer milderen Stimmung Platz. Wo das Gewimmel sich lichtete, hielt der Mann sekundenlang inne, holte tief Atem und knautschte mit beiden Händen seine Bauchfalten. Dieser Name wollte ihm nicht aus dem Sinn. Konstantin Bohlen. DIE ZEIT IST AUS DEN FUGEN. Ich muss das wissen, dachte er. Ich habe schon einmal davon gehört. Wann war das? Wo war das?

Einem ungewissen Antrieb folgend betrat er schräg gegenüber dem Haupteingang eine Buchhandlung, die sich hinter mannshohen Palmen und Hydrokulturarrangements halb verbarg. In dem auf Glastischen, in Drehständern und Regalen dargebotenem Sortiment fand er sich zunächst nur schwer zurecht. Die zu einer wahren Sintflut angewachsene Welle der New-Age-Literatur hatte nahezu alle übrigen Buchreihen in die hinteren Winkel des Ladens zurückgedrängt. Besonders verdient um eine schwärmerische Selbstdarstellung machten sich dabei die publizistischen Medien Defensor Deis. Ihr Marktanteil musste inzwischen nach einem groben Überblick geschätzt, gut sechzig Prozent ausmachen.

Er fand den dickleibigen Roman schließlich unter den Backlist-Titeln der Pulpstein-SF-Reihe in einer kommentierten Neuauflage. Das Titelbild zeigte, wie durch eine zerbrochene Glasscheibe gesehen, ein schwarzhaariges Mädchen, das sich vor einem überdimensionalen Videoschirm, auf dem ein bärtiges Männergesicht ins Leere blickte, in einer futuristischen Polsterliege räkelte. Einem Foto auf dem Backcover war zu entnehmen, dass es sich bei dem Gesicht um eine künstlerisch verfremdete Darstellung des Autors handelte. Konstantin Bohlen hatte etwas von dem bohrenden, wie besessenen Blick eines Dostojewski. Er betrachtete die Welt mit Augen, die mehr gesehen hatten, als es selbst die größte Begabung ausdrücken konnte. Auch wenn er am Objektiv vorbeiblickte, beherrschte er die Aufmerksamkeit des Betrachters mit einnehmender Intensität. Sein Haar war ergraut, und in sein Gesicht hatten sich Spuren von Erschöpfung, Verzweiflung, vielleicht sogar geistiger Verwirrung gegraben. Um die Mundwinkel war aber auch ein Anflug von Humor. Der Mann brauchte nicht lang zu überlegen, um herauszufinden, woher er dieses Gesicht kannte.

Er wog das Buch nachdenklich in der Hand, trat einen Schritt zur Seite und verglich sich im Spiegel zwischen den Regalen mit dem Konterfei Konstantin Bohlens. Der Bursche war ihm, dachte man sich den Vollbart weg, wie ein Zwillingsbruder aus dem Gesicht geschnitten. Er wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Der Situation haftete etwas Unwirkliches an. Im ersten Moment blickte er sich unwillkürlich um, als befürchte er, irgendjemand anderem hier müsse diese Ähnlichkeit längst aufgefallen sein, aber die Leute beachteten ihn nicht. Ihm klopfte das Herz bis zum Hals.

Auf dem Backcover stand in marktschreierischer Aufmachung:

 

Das Hauptwerk eines der größten deutschen Science Fiction-Autoren! 

Konstantin Bohlen ist nach Meinung vieler Experten der beste deutsche SF-Autor. Nach jahrelanger Arbeit präsentiert er nun sein Alterswerk DIE ZEIT IST AUS DEN FUGEN, vielleicht sein wichtigstes Buch, jedenfalls aber ein großer philosophischer Roman über einen Künstler, der an der Wirklichkeit des Lebens zu zweifeln beginnt und aus dem Chaos von Täuschungen und Manipulationen den einzig möglichen Weg in ein neues Leben findet. Es ist ein verzweifelter und zugleich hoffnungsvoller Schlussstrich unter ein Lebenswerk, das in der Science Fiction seinesgleichen sucht. Mit der Menschlichkeit und Wärme in diesem Buch hat sich Konstantin Bohlen selbst ein Denkmal gesetzt. 

 

»Sein Interesse galt immer den kleinen, unscheinbaren Leuten, die sich gegen die Widrigkeiten des Daseins mit Mut und Würde behaupten. Auch im Zerfall von Raum und Zeit gibt er menschliche Werte nicht preis. Unter den Science Fiction-Autoren seiner Generation hat er wie kein zweiter ein existentielles Anliegen formuliert, das ihm über alle Moden und Trends hinweg Bedeutung und Aufmerksamkeit sichern wird.« 

A. C. Sülzbachs SF-Führer 

 

Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, diese Zeilen schon einmal gelesen zu haben. Tief in seinem Innern rührte sich das flüchtige Gefühl, etwas Vertrautem begegnet zu sein, aber keine klaren Erinnerungen. Vielleicht habe ich Bohlen gekannt, überlegte er. Viel-leicht verbindet mich sonst etwas mit ihm, er sieht mir so verdammt ähnlich. Er erwog die Möglichkeit, sich von der Polizei identifizieren zu lassen, aber aus unerfindlichen Gründen bereitete dieser Gedanke ihm Unbehagen, solang er so wenig von sich wusste. Cross the blood groove now. Die Blutrinne. Was hat das zu bedeuten? Er schlug das Buch an irgendeiner Stelle auf und las:

 

... es war keine Kopie, keine noch so geschickte Fälschung, es war die unbegreifliche Metamorphose seiner Hände und seines Herzens Arbeit in etwas, dem jegliche Seele fehlte. Für einen Moment war ihm, als drohe diese Verwandlung auch auf ihn selbst überzugreifen, und als er sich abwandte und hilfesuchend nach einem menschlichen Augenpaar Ausschau hielt, begriff er, dass dies mit all den androidenhaften Gestalten hier schon längst geschehen war. Ihnen fehlte etwas, so wie dem schwarzhaarigen Mädchen auf dem Bild etwas fehlte. Ihre Scheu und Zartheit, die sie von den mechanischen Requisiten abheben sollte, war ins Gegenteil verkehrt worden. Es hatte sie den Mikrochips und Flach-bahnkabeln, den Ventilen und Rohren angeglichen. Ihre Augen glommen wie Leuchtdioden und hinter der schmächtigen Brust glaubte Erich ein mechanisches Herz pochen zu sehen... 

 

Benommen klappte er das Buch zu und war versucht, es zurückzulegen. Die Nähe zu dem, was zwischen den Zeilen mitschwang, machte seine Verwirrung komplett. Was davon ließ sich als Zufall werten, was war bloße Einbildung? Es fiel ihm schwer, seine Überlegungen nicht in haltlose Spekulationen ausufern zu lassen. Aus Angst, die Situation könne ihm vollends aus der Hand gleiten, kam er nach einigem Abwägen zu dem Schluß, dass es das Beste sei, noch mehr an Informationen über diesen Bohlen ausfindig zu machen, auch auf die Gefahr hin, dass ihm das nur eine Reihe weiterer verschwommener Hinweise einbrächte.

In einem Drehständer fand er ein Exemplar der 29. Auflage von A. C. Sülzbachs SF-Führer, kramte in seinen Taschen nach einem Fünfzigmarkschein und ging mit beiden Büchern zur Kasse.

 

... es war keine Kopie, keine noch so geschickte Fälschung, es war die unbegreifliche Metamorphose seiner Hände und seines Herzens Arbeit in etwas, dem jegliche Seele fehlte... 

 

Diese Textstelle setzte sich in ihm fest, als er sich auf dem Bahnhofsvorplatz, einer parkähnlichen Anlage zwischen Zufahrtsstraßen, Taxiständen und U-Bahn- Treppenaufgängen, einige Minuten die Füße vertrat. Er musste schon oft hier gewesen sein. Er kannte die Winkel und Nischen, wo unter Bäumen, zwischen Farn-kraut und blühenden Sträuchern vom Lärm abgeschirmte Bänke standen. Vorläufig nur hin und wieder warf er einen Blick in Sülzbachs biographischen Eintrag zu Konstantin Bohlen und ließ stattdessen die Umgebung auf sich wirken. Er war über sein reiches Aufnahmevermögen selbst erstaunt. Von den Einzelheiten der vielfältigen, durch genetische Manipulation gegen den Mief der City halbwegs resistent gemachten Bepflanzung entging ihm nichts. Die unter der heißen Nachmittagssonne üppig entfaltete Farbenfülle schoss ihm wie Dope ins Blut. Etwas ließ seine Hände zittern, als müsse er nach einem Block greifen und den sich ihm bietenden Anblick in ersten Skizzen festhalten. Ich bin Maler gewesen, dachte er bestürzt. Wie diese Romanfigur. Anders kann es gar nicht sein.

Ein Satz in Sülzbachs SF-Führer brachte ihn schlagartig auf andere Gedanken. Konstantin Bohlen lebte in Düsseldorf, stand darin zu lesen. Der Mann nahm auf einer Bank Platz und sah aufgeregt das Buch durch. Das Impressum verzeichnete den April 2004 als Erscheinungsdatum der jüngsten Auflage. Bohlens Roman DIE ZEIT IST AUS DEN FUGEN war darin noch nicht berücksichtigt. Wie sich der Ausgabe von Pulpstein entnehmen ließ, war er erst im Sommer desselben Jahres erstmalig erschienen. Die biographischen Angaben in Sülzbachs SF-Führer mochten also nicht unbedingt dem neuesten Stand entsprechen. Trotzdem, nun konnte der Mann handfest etwas unternehmen. Er würde diesem Bohlen einen Besuch abstatten oder zumindest vor Ort einige Nachforschungen anstellen.

Er suchte das Zentrum der Anlage auf, einen geräumigen Platz, auf dem sich Schautafeln mit Stadtplänen, Karten, Informationen der Verkehrsbetriebe und einige Videophone-Zellen um die elfenbeinfarbene Kuppel von Defensor Deis Pavillon der Ruhe gruppierten. In dem Verzeichnis der örtlichen Videophone-Teilnehmer fand er Konstantin Bohlen tatsächlich noch angeführt. Anhand des Stadtplans in der Zelle ließ sich feststellen, dass er unmittelbar am Stadtkern wohnte, wohl kaum zehn Minuten vom Hauptbahnhof entfernt. Dem Mann schien es angeraten, sich gleich persönlich hinzubegeben, anstatt die Lage vorab mit einem Anruf zu sondieren. Über seine Vorgehensweise war er sich allerdings noch nicht im Klaren. Während er den Bahnhofsvorplatz in Richtung Graf-Adolf-Straße verließ, beschloss er, sich in Anlehnung an den Hauptcharakter in DIE ZEIT IST AUS DEN FUGEN bis auf weiteres Erich zu nennen, um wenigstens das unangenehme Gefühl loszuwerden, zu sich selbst in einem anonymen Verhältnis zu stehen. Vielleicht konnte er sich als Reporter ausgeben oder dergleichen. Vielleicht mochte das unmittelbare persönliche Gegenüber der beiden Doppelgänger schon für alles Weitere sorgen. Wie auch immer, seine Identität war auf irgendeine Weise mit Konstantin Bohlen verknüpft. Er musste mehr darüber wissen.

 

Das von labyrinthischen Dauerumleitungen, grünen Inseln und überdachten Fußwegen nur notdürftig verkehrsberuhigte, von U-Bahn-Schächten untertunnelte Nervenzentrum der City zwischen dem Graf-Adolf- und dem Stresemann-Platz stand ganz im Zeichen des kulminierenden Landtagswahlkampfes. Kaum einer der vielen Dutzend Geschäftsinhaber verschwendete auch nur die Peripherie seiner Werbe- und Ausstellungskapazitäten für parteiunabhängige Empfehlungen. Ein beträchtlicher Teil der Gaststätten, esoterischen Buchhandlungen, Business-Clubs, Reisebüros und Sportshops hatte den Charakter von Defensor-Dei-Filialen. Zu keinem Produkt, seien es nun Herrensocken, elektrische Büchsenöffner oder piezofungische Fertigpizzas, fielen den wortgewandten Nova-Werbetextern nicht Slogans ein, die in irgendeinem Zusammenhang mit den Programmen der Partei standen. Das Sonnenemblem Defensor Deis stellte sich gegenwärtig als Leitmotiv eines hochorganisierten Werbefeldzugs dar, dem die zweitstärkste Parlamentsfraktion mit wenig mehr als verklemmter Schüchternheit begegnete. Die Gegenstrategie der Christlich-Sozialdemokratischen Solidaritätspartei CSSP beschränkte sich auf nahezu einen einzigen Wahlspruch, der in mehr ermüdender denn auffallender Häufigkeit auf Plakaten und Spruchbändern die Runde machte:

 

FÜR DEN AUSBAU DER KERNFUSION:

VERSÖHNEN STATT SPALTEN

WÄHLEN SIE

CSSP 

 

Bohlen wohnte in einem etwas ruhigeren, von gentechnisch gezogenen Kastanien gegen die vierundzwanzigstündige Rush Hour abgeschirmten Bezirk, der in Erich eine verborgene Saite seines abgedimmten Erinnerungsvermögens zum Vibrieren brachte. Die Jahn-straße bot mit ihren modernisierten Altbauten und den zahllosen kleinen Läden und Lokalen wohl den ortsansässigen Künstlern, Schriftstellern oder sonstwie unkonventionell Selbständigen ein kreatives Zentrum, in dessen Atmosphäre etwas von der ans ferne 1968 gemahnenden kritischen Geschäftigkeit fortlebte, die seit dem Zusammenbruch der Regierung 1994 und dem daraufhin von der CSSP unter dem Schlagwort »Reliberalisierung« aufs Gleis geschobenen Volksberuhigung im Erscheinungsbild der breiten Öffentlichkeit endgültig keine Rolle mehr spielte. Mit der Sorgfalt von Ikebana-Bestecken arrangierte Blumenkästen vor den Fenstern, Plastiken und kinetische Objekte hinter den Scheiben, von den Bewohnern selbst mit Kollektiv- Graffiti aufgepoppte Fassaden und liebevoll bepflanzte Fußwege hoben die Straße vom Silicon-Valley-Stil der übrigen Innenstadt ab. Erich sah in den verräucherten Kneipen und Geschäften ein auf angenehme Weise unzeitgemäßes Publikum, das sich deutlich von den nur einem Trend nacheifernden Neohippies oder Neonpunks unterschied. Manche Leute, die ihm über den Weg liefen, kamen der zwanglosen, aber vornehmen Erscheinung, die ihn selbst im Normalzustand ausgezeichnet hätte, sehr nahe.

Im Erdgeschoss des betreffenden Hauses belegte die GALERIE STRESS ein Stück unter Höhe des Gehsteiges einige Räume, die wohl einmal ein Architekturbüro oder etwas Ähnliches beherbergt hatten. Hinter den rauchgetönten Scheiben stapelte sich auf Rattan-Regalen, mattschwarz lackierten Stahlracks und Specksteinsockeln ein Durcheinander von Bildern, Plastiken, Holo-grammen, Audio-Video-Synthesizern und elektronischen Performance-Systemen bis unter die Decke. Die Räume wurden von herabgelassenen Leinwänden unterteilt. Mit einem Messingschild an der Haustür wies die Inhaberin Rachel Eigenbrodt eine Wohnung des Hauses als Privatgeschäftsstelle aus. Der Name Konstantin Bohlen war jedoch auf keinem der Klingelschilder zu lesen. Erich trat ein Stück zurück, um sich der richtigen Hausnummer zu vergewissern, und konnte sich einer aufkeimenden Enttäuschung nicht erwehren. Aber ihm fiel ein, dass ihm vielleicht Bohlens ehemalige Nachbarn etwas würden sagen können.

Dass er auf der richtigen Spur war, daran war jedenfalls kein Zweifel mehr. Ein Blick in die Richtung, wo sich der bunte Flickenteppich beiderseits der Fahrbahn bis zur Oberbilker Allee hin fortsetzte, erinnerte ihn an die wenigen Jahre, die er, unter welcher Identität auch immer, in der Begrenztheit dieses Milieus zugebracht hatte. Einzelne Gesprächsfetzen von Leuten, die an ihm vorbeispazierten, im Ohr, alltägliches Palaver, das sich so selbstverständlich um Kunst wie ums Einkäufen, Fahrradflicken und Saufen drehte, dabei in jedem Detail auf eine sehr relaxe Lebensauffassung hindeutete, die all den Individualisten hier gemeinschaftlich eigen zu sein schien. Erich krampfte es ein ums andere Mal das Herz zusammen.

Als er sich, noch unschlüssig darüber, was zu tun sei, dem Haus wieder zuwandte, trat ihm ein gut einen Kopf kleinerer Mann mit schulterlangem Haar und üppigem Rauschebart in den Weg, auf dessen in allen Farben des Spektrums holographisch imprägnierten Overall der metallische Schriftzug GALERIE STRESS glitzerte.

Er trug einen von Klinkenkabeln und Glasfaserleitungen überquellenden Lederbeutel unter dem einen und drei große Papierrollen unter dem anderen Arm, von denen ihm zwei entglitten, als er mit Erich zusammenstieß. Erich kam ihm zu Hilfe und sah in dem hinter dem Vorhang einer Alkoholfahne stier drein linsenden Augenpaar einen Funken von Irritation aufblitzen, als ihre Blicke sich trafen.

»Oh, Entschuldigung«, schnaufte der Galeriegehilfe bestürzt und verlagerte seine speckwülstige Körpermasse von einem Bein aufs andere. »Ich war wohl 'n bisschen weggetreten.« Indem er die Stirn in Falten zog, damit das Schweißband ihm nicht über die Augen rutschte, wies er mit dem Kinn auf die tiefliegenden Ausstellungsfenster der GALERIE STRESS. »Dieser Laden«, versicherte er eindringlich, »hat seinen Namen wirklich verdient, das können Sie mir glauben. Meine Chefin hat auf den letzten Multi-Media-Vernissagen schon drei Mitarbeiter verschlissen, und wenn das so weitergeht, wird mich auch noch der Schlag treffen. Wie diesen Typ im dritten Stock.«

»Rachel Eigenbrodt?«, fragte Erich, während er dem Mann einige herunter getoddelte Kabel in den Beutel zurückstopfte. »Ist das Ihre Chefin?«

»Allerdings, das ist sie«, erwiderte sein Gegenüber schmachtvoll. »Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass eine Frau mich dermaßen in den Suff getrieben hat. Irgendwann bringt sie mich noch ins Grab, davon bin ich fest überzeugt. Irgendwann werde ich mich aufhängen, vor einen Rasenmäher werfen oder Rheinwasser schlucken. Aber ich genieße es. Es ist eine Lust, für sie zu arbeiten. Man kann ihr einfach nichts abschlagen.« Er verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Neu hier?«

»Mehr oder weniger«, wich Erich aus.

»Dann kann ich davon ausgehen, dass Sie noch kein Besucher der GALERIE STRESS sind?« Er quittierte Erichs Nicken mit einem verschlagenen Lächeln. »In dem Fall bin ich der richtige Mann für Sie. Wollen Sie morgen Abend dabei sein, wenn unsere Performance steigt? Rachel hat einen Haufen fabelhafter Artresses für ihre Session engagiert, die Sache wird Sie umwerfen. Sie nennt das Ganze eine kosmopolite Lokalaktion. Von Neu-Psychedeli bis Bolschewaikiki oder so ähnlich - da zergeht einem schon der Titel auf der Zunge. Ich besorge Ihnen eine persönliche Einladung, wenn Sie wollen.«

»Wenn ich's einrichten kann.«

»Seien Sie nicht skeptisch, Mann. Wenn einem in diesem versnobten Millionenkaff etwas geboten wird, muss man zugreifen. Was wollen Sie Besseres unternehmen? Allerdings, wenn ich ehrlich bin...« In einem Anflug von geheimbündlerischer Vertrautheit beugte er sich vor. »Wir stehen unter keinem guten Stern«, murmelte er ahnungsvoll. »Das ist unser Problem, davon bin ich überzeugt. Ich habe Rachel immer gewarnt, aber sie nimmt mich einfach nicht ernst.« Mit einem freien Finger wies er unter umständlichen Verrenkungen auf eine bunt bepinselte Fenstergruft im dritten Stock, von der aus filigran mutiertes Efeu die Fassade hinaufrankte. »In dieser Wohnung hat schon einmal jemand dran glauben müssen. Der war genauso besessen von seiner Arbeit wie Rachel, und als er endlich fertig war, hat's ihn vom einen zum andern Tag erwischt. Vier Jahre lang hat er nur zum Einkaufen mal den Kopf an die frische Luft gesteckt, bis das Buch fertig war. Und wie das bei solchen Leuten oft passiert, ist in dem Moment alles vorbei...«

Erich vermochte dem Gerede kaum einen vernünftigen Sinn abzugewinnen, aber unterschwellig ahnte er Unangenehmes. »Wer war das?«

»Was?«

»Ich meine, wie hieß dieser Bursche?«

»Ach, der Konstantin Bohlen. Er war sogar ein ziemlich bekannter Science Fiction-Autor. Vielleicht haben Sie schon einmal von ihm gehört.«

»Kann schon sein«, sagte Erich und war dabei bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. Von tief unten drängte ein unbestimmbarer Schmerz in ihm hoch, der in keinem erkennbaren Zusammenhang mit seinem augenblicklichen Befinden stand. »Und was ist mit ihm passiert?«

»Er ist an einem zweiten Schlaganfall gestorben. Im April, glaube ich, nur ein paar Monate, nachdem der Roman, an dem er getüftelt hat, rausgekommen ist, haben die Nachbarn mitten in der Nacht den Notarztwagen holen müssen. Soviel ich gehört habe, ist er danach noch mal zur Besinnung gekommen, aber den zweiten Anfall hatte er noch in der Intensivstation.« Er hielt wie aufgrund eines jähen Gedankenblitzes inne und schielte auf seine Armbanduhr. »Oh, verdammt«, murmelte er verstört. »Es ist gleich fünf. Wie konnte ich nur so viel Zeit vertrödeln? Rachel haut mich in Stücke. Würde es Ihnen was ausmachen, wenn Sie mir für ein paar Meter ein bisschen von dem Plunder abnehmen? Meine Arme fühlen sich an wie zwei Stücke Tofu.«