Hinter fremden Fahnen - Werner Rosenberger - E-Book

Hinter fremden Fahnen E-Book

Werner Rosenberger

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Beschreibung

Wien und die Welt Hinter verschlossenen Türen in Botschaften und Residenzen: Wo heute Diplomaten im Einsatz sind, waren früher Persönlichkeiten zu Hause, die Österreich politisch, wirtschaftlich und kulturell geprägt haben. Ihre Wiener Palais und Prachtbauten erinnern bis heute an eine Zeit, als Fürsten wie Rasumofsky und Metternich, schillernde Frauengestalten wie die »letzte Bonaparte«, Opernstars wie Selma Kurz, schwerreiche Bankiers wie Alfons Thorsch, Architekten wie Otto Wagner oder ein internationaler Drogenhändler und wohltätige Gräfinnen ihr privilegiertes Dasein genossen. So lange, bis Vertreter aller Herren Länder, von China bis Marokko, von Norwegen bis Korea, deren repräsentatives Ambiente übernahmen. Ein spannender und überraschender Streifzug durch die Welt von gestern. Mit Karte und zahlreichen Abbildungen

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Seitenzahl: 308

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Werner Rosenberger

Hinter fremden Fahnen

Geschichten aus Botschaften und Residenzen

Mit 51 Abbildungen

Der Umwelt zuliebe #ohnefolie

Besuchen Sie uns im Internet unter: amalthea.at

© 2022 by Amalthea Signum Verlag GmbH, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Johanna Uhrmann

Umschlagmotiv: Französische Botschaft in Wien © Archiv Amalthea Verlag

Lektorat: Martin Bruny

Herstellung und Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten

Gesetzt aus der 11,5/14,15 pt Minion Pro

Designed in Austria, printed in the EU

ISBN 978-3-99050-236-5

eISBN 978-3-903441-06-4

Inhalt

Die Welt der Diplomaten

Vorwort

1 Ein schockverliebter Beuteösterreicher aus Amerika

Residenz des Gesandten von Amerika 1922–1930

1., Krugerstraße 10

2 Die Erben des alten Mesopotamien

Botschaft der Republik Irak und Konsulat

1., Johannesgasse 26/Lothringerstraße 13

3 Eine Herberge der Künstler und der Kunst

Botschaft des Fürstentums Liechtenstein

1., Löwelstraße 8/7

4 Aufstieg und Fall der alten Philine

Botschaft der Bundesrepublik Deutschland

3., Metternichgasse 3

5 Alfons Thorsch, eine Geschichte von Raub, Flucht und Enteignung

Botschaft der Volksrepublik China

3., Metternichgasse 4

6 Mahler und eine »Wohltäterin für Alles«

Ehemalige polnische Gesandtschaft und Konsulat

3., Rennweg 1

7 Ein Diplomat und Drug Dealer aus Peru

Botschaft der Republik Kroatien

3., Rennweg 3

8 Von der Kunst, konstruktiv aneinander vorbeizureden

Botschaft der Italienischen Republik

3., Rennweg 27

Konsularabteilung und italienisches Kulturinstitut

1., Ungargasse 43

9 »Mitzies and Resies« im Generaltanzstreik

Botschaft des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland/Residenz

3., Jaurèsgasse 12/Metternichgasse 6

10 »Chic Parisien« unter goldenen Weltkugeln

Botschaft der Republiken Litauen und Moldau (Konsularabteilung)

3., Löwengasse 47/4 und 10

11 Hausbesuch beim russischen Fürsten

Ehemalige Residenz des Botschafters von Russland

3., Rasumofskygasse 23–25

12 Sascha, der Filmgraf, und ein Rothschild

Residenz der Botschaft von Brasilien in Wien

4., Prinz-Eugen-Straße 26

13 Vom Schandfleck zum Baujuwel

Französische Botschaft

4., Technikerstraße 2

14 »Freuds Prinzessin«, die »letzte Bonaparte«

Botschaft der Hellenischen Republik Griechenland

4., Wien, Argentinierstraße 14

15 Spitzen von fürstlicher Eleganz und königlicher Pracht

Botschaft des Königreichs Spanien, Residenz

4., Argentinierstraße 34/Theresianumgasse 21

16 Die Türken im Wechselbad der Emotionen

Botschaft der Republik Türkei

4., Prinz-Eugen-Straße 40

17 Der Starjournalist und Freund des Kronprinzen

Residenz der Botschaft von Schweden

9., Liechtensteinstraße 51

18 Persiens Kaiser beim Margarine-König

Botschaft der Islamischen Republik Iran

13., Lainzer Straße 28/Wenzgasse 2

19 Architekt an Botschafter: »Bitte nicht verschandeln!«

Botschaft des Großherzogtums Luxemburg

18., Sternwartestraße 81

20 Von Währing nach Wagners Bayreuth

Botschaft des Königreichs Marokko

18., Hasenauerstraße 57

21 Ein »Wunderdoktor« und »Jugendstil pur«

Botschaft der Republik Korea

18., Gregor-Mendel-Straße 25

22 Ein Prinz und notorischer Schürzenjäger

Botschaft des Staates Israel

18., Anton-Frank-Gasse 20

23 Wiener Kreative im New Yorker Exil

Residenz der Botschaft von Kanada

19., Lannerstraße 27

24 Ein Industrieller, ein Journalist und ein Nazi

Ehemalige Residenz der Botschaft von Irland

19., Hartäckerstraße 18

25 Ein Offizier und Operettentexter

Residenz der Königlich Norwegischen Botschaft

19., Peter-Jordan-Straße 43

Literatur und Quellen

Bildnachweis

Namenregister

Die Welt der Diplomaten

Vorwort

Eine Anekdote besagt: »Diplomatie ist die Kunst, jemandem mitzuteilen, dass er zur Hölle fahren möge, aber dies auf eine solche Weise, dass er sich auf die Reise richtig freut.« Als ein Grundsatz der Branche gilt, aber vielleicht ist es nur ein Bonmot: »Wenn wir die Wahrheit sagen, haben wir uns versprochen.«

Diplomaten, die Wanderer zwischen den Welten, führen das Leben von Vagabunden und sind dabei die Visitenkarte ihrer Heimat im Ausland. Ihr Tagesgeschäft ist Dinieren, Parlieren, Intrigieren. Sie sind trainiert, stets beherrscht und höflich zu sein, an den richtigen Stellen zu lächeln, kritischen Verstand, aber nie Emotion zu zeigen und sich von liebenswürdigen Reden nicht aufs Glatteis von Vertraulichkeiten locken zu lassen. Vor allem: Sie können reden, ohne viel zu sagen, und sagen, was sie nicht meinen. Sie scheuen das Direkte, kennen alle Umwege, so Winston Churchill, und sie denken lieber zweimal nach, bevor sie nichts sagen. Der britische Premier David Lloyd George hatte bereits nach dem Ersten Weltkrieg vorgeschlagen: »Diplomaten sind Zeit- und Geldverschwendung. Wir, die Politiker, können das selbst erledigen.«

Schon Machiavelli wollte die Staatsmänner und Diplomaten vom Gebot der Wahrheit ausnehmen. Der italienische Philosoph und Schriftsteller meinte, der Spion müsse doch lügen, der Liebhaber betrügen, der Spieler im Verlust noch Kaltblütigkeit und Mut heucheln und der Diplomat gleich diesen X sagen, wenn er U meint. So sagen die einen: »Wenn Sie glauben, dass Sie mich verstanden haben, dann habe ich mich falsch ausgedrückt.« Und andere sind der Meinung, Diplomatie sei die Kunst, nur die halbe Wahrheit zu sagen. Wenn die Wahrheit lieber nicht wahr ist, wird erfindungsreich getrickst.

»Sie haben sich also mit Russland verständigt«, wurde der englische Botschafter in den 1870er-Jahren von einem Journalisten gefragt. »So lese ich es in den Blättern«, war die trockene Antwort.

Und der deutsche Bundestagsabgeordnete und Diplomat Alexander Graf Lambsdorff stellte kürzlich fest: »Wir haben nicht den Luxus, uns über die Lügen der Gegenseite zu ärgern. Wir müssen vielmehr die Botschaft in den Lügen der Gegenseite dechiffrieren.«

Wo die Vertreter aller Herren Länder von China bis Marokko und von Norwegen bis Korea in Palais und anderen Prachtbauten im Einsatz sind und die Öffentlichkeit heute kaum Zutritt hat, waren früher Persönlichkeiten zu Hause, die Österreich – in der Monarchie über die Zwischenkriegszeit bis in die Gegenwart – politisch, wirtschaftlich und kulturell geprägt haben: Opernstars wie Selma Kurz, Kunstsammler wie Albert Figdor, Architekten wie Otto Wagner, Journalisten wie Moriz Szeps und neben wohltätigen Gräfinnen der Großindustrielle und Margarine-Fabrikant Carl Blaimschein.

Ob man die Prinz-Eugen-Straße oder die Reisnerstraße entlangschlendert oder durch das Währinger und Döblinger Cottage: überall Botschaften, Residenzen, Konsulate, groß, klein, mächtig, kurios. Hier arbeiten im auswärtigen Dienst Beamte, von denen schon Peter Ustinov sagte: »Heutzutage sind Diplomaten nichts weiter als Oberkellner, denen es gelegentlich erlaubt ist, sich hinzusetzen.« Und die im seltenen Extremfall ausgewiesen werden können, wenn ein unfreundlicher Akt als Reaktion auf eine schwere Verstimmung in den bilateralen Beziehungen notwendig ist.

Hinter der Fassade des Palais Rasumofsky, in dem einst der geheime Botschafter des Zaren beim Wiener Hof residierte, scheinen sich bis heute die Geheimnisse von Jahrhunderten seit dem Wiener Kongress zu verbergen. Nicht weniger geschichtsträchtig: das Gebäude am Rennweg 27 (heute Sitz der italienischen Botschaft) des während der Revolution 1848 aus Wien vertriebenen Fürsten Metternich, des österreichischen Richelieu, über den Napoleon sagte: »Metternich ist auf dem besten Weg, ein Staatsmann zu werden. Er lügt schon ganz hübsch.«

Sie sind Relikte ferner Zeiten, als die Diplomatie jahrhundertelang eine Wissenschaft der schlauen Schachzüge war, des Spionierens und des Umgarnens fremder Fürsten. Sie blühte in einer Atmosphäre der Geheimnistuerei, und die Diplomaten, ein eigener Menschenschlag, verfassten – sorgsam abgeschirmt von der gemeinen Welt – hinter tondämpfenden Wandteppichen verschlossener Paläste ihre chiffrierten Geheimakten und Verträge.

Ein solcher Diplomat der Vergangenheit fürchtete jedes laute Wort. Musste er aber in seinem verhängten Arbeitsraum höchst selten doch einen Journalisten empfangen, so eröffnete er ihm höchstens, dass das Wetter im Sommer heiß, im Winter hingegen kalt sei, und fügte, um schweren politischen Verwicklungen zuvorzukommen, eiligst hinzu, dass auch diese Äußerung keineswegs als politische Anspielung aufgefasst werden dürfe. Dieses Bild hat sich radikal geändert, aber der Beruf ist bis in die Neuzeit geheimnisumwittert. Im modernen Selbstverständnis der Brückenbauer ist Kommunikation nach außen auch über die sozialen Medien längst selbstverständlich.

»Der Wissende spricht nicht, und der Sprechende weiß nicht«, heißt es nach dem Philosophen Laotse. In dem Palais in der Metternichgasse 4, in dem sich heute die Vertretung Chinas, des mit mehr als 1,4 Milliarden Menschen einwohnerreichsten Landes der Welt, befindet, wurde die jüdische Bankiersfamilie Thorsch um ein Milliardenvermögen gebracht.

Kurios, dass just in der Gegend auf der Wieden, wo einst die Osmanen ihre Truppen zur Belagerung Wiens versammelten, die Türkei seit mehr als 100 Jahren ihre diplomatische Vertretung hat, vor der es – die Zeiten ändern sich – in der Monarchie zu Kundgebungen und lebhaften Hochrufen auf die Türkei und den Sultan kam.

Manche Begriffe wie »Herrschaft« lassen sich beim besten Willen nicht gendern – nur umschreiben. »Staatsmann«, »Krieger« … waren traditionell männliche Rollen. Auch die Diplomatie ist über Jahrhunderte eine Männerdomäne. In diesem Milieu macht der Typ des distinguierten Charmeurs und gereiften Beaus im Dienst des Vaterlandes glänzende Figur. Eine Ausnahme: Die Wienerin Agnes Fuchs ist 1927 die erste Diplomatin in ihrer Heimatstadt, zunächst Vizekonsulin, später Konsulin von Chile.

In der Architektur ist das Neue oft der Feind des konservativen Zeitgeschmacks. Als Schandfleck wurde sie empfunden, die französische Botschaft am Schwarzenbergplatz. Die einzige diplomatische Vertretung der Welt im Stil des »Art nouveau« war als eine Huldigung an die Moderne, wie der Wiener Jugendstil, geplant. Als ein Symbol für die Macht und Größe Frankreichs während der Dritten Republik und ein Zeichen der Wertschätzung der österreichisch-ungarischen Monarchie.

Beim Streifzug durch die Welt von gestern kann man auch einer extravaganten Frau begegnen, die 1938 im ehemaligen Palais Falkenstein, jetzt die Botschaft Griechenlands, übernachtete: Marie Bonaparte, die zunächst eine Patientin und Schülerin von Sigmund Freud war, dann seine wichtigste Unterstützerin und schließlich die Herausgeberin seiner Werke. Sie zählte einige berühmte Ärzte und Politiker zu ihren Liebhabern und gestand in ihren Memoiren: »Ich hatte Mörder gerne, sie kamen mir interessant vor. War mein Großvater nicht selbst einer, als er den Journalisten Victor Noir tötete? Und mein Urgroßonkel, Napoleon, was für ein monumentaler Mörder!«

Wien war immer ein begehrter Posten für Diplomaten. Hier finden wichtige multilaterale Konferenzen statt. Die Atmosphäre der Stadt, der immer noch der Glanz kaiserlicher Tage anhaftet, ist einzigartig. Die puderzuckerhafte k. u. k. Welt, zu der ein Kaiser Franz Joseph mit Backenbart gehört, war und ist in Amerika vermutlich immer noch fester Bestandteil des kollektiven Bewusstseins.

Als John F. Kennedy sich zu Gesprächen mit Nikita Chruschtschow 1961 in Wien traf, fand in der ehemals kaiserlichen Hofburg ein Empfang statt. Auf dem Weg hinaus sah der amerikanische Präsident den Industriellen Manfred Mautner Markhof, ging schnurstracks auf den damaligen Chef des österreichischen Automobilklubs zu und bedankte sich für die Gastfreundschaft. Da der einen Backenbart wie Kaiser Franz Joseph trug, war sich der Präsident sicher, es müsse sich um den Gastgeber handeln.

Internationale Beziehungen sind ohne Dolmetscher nicht denkbar. Doch die Sprachprofis, die sich ständig an der Schnittstelle von zwei Sprachen, zwei Kulturen, bewegen, sind auch nur Menschen, denen wie den Exzellenzen selbst so mancher Patzer passiert. Von Übersetzungsfehlern und anderen Hoppalas erzählt der frühere australische Chefdiplomat Richard Woolcott in seinen anekdotenreichen Memoiren Undiplomatic Activities (2008). So wollte ein Diplomat bei seiner Antrittsrede im holprigen Französisch ausdrücken, dass er sein Leben in zwei Abschnitte teilt: sein Leben vor seiner Entsendung nach Paris und danach. In seinem Wortlaut: »Wenn ich mein Hinterteil ansehe, stelle ich fest, dass es in zwei Hälften geteilt ist.« Das Lob des Botschafters auf das gute zwischenstaatliche australisch-chinesische Verhältnis wurde bei einem anderen Anlass mit den Worten wiedergegeben: »Australien und China genießen in ihrer Beziehung gleichzeitige Orgasmen.« Und als ein asiatischer Minister auf einem Bankett eine lange Anekdote erzählt und viel Applaus erntet, lobt er später seinen Dolmetscher für seine Leistung, der kleinlaut antwortet: »Um ehrlich zu sein, ich habe Ihren Witz nicht einmal verstanden. Alles, was ich dem Publikum gesagt habe, war, dass der Minister jetzt seine übliche Anekdote erzählt – und alle bitte lachen und klatschen sollen.«

In seinem Roman Gnadenfrist (2006) beschreibt der niederländische Autor Arnon Grünberg den Prototyp eines Diplomaten, einen Mann ohne Eigenschaften und Meinungen, wie er ihn immer wieder getroffen hat. Einer, der sich auch im Privatleben aus allem diplomatisch raushält und sich fühlt wie das Äffchen, das auf den Straßen von Lima Glückslose zieht. »Gemütlich und zeitlos, so fühlt es sich an, in einem Irrtum zu leben. Es kann immer so bleiben, es braucht nie aufzuhören.« Nur verliebt sich der Protagonist mit Haut und Haar. Aber Grünberg verweigert uns ein Happy End – mit einer lakonisch-witzigen Erklärung, die viel Wahrheit enthält: »Wenn man jung ist, glaubt man noch, dass es normale Leute gibt und man nur das Pech hat, sie nicht zu kennen. Später erkennt man, dass das Unsinn ist, dass es keine normalen Menschen gibt. Es gibt nur Patienten. Manche Patienten können sich auf Kosten anderer über Wasser halten, und dann nennen wir sie nicht Patienten. Dann nennen wir sie erfolgreich.«

1 Ein schockverliebter Beuteösterreicher aus Amerika

Residenz des Gesandten von Amerika 1922–1930 Ehemals Palais Erdődy (in den 1950er-Jahren abgerissen)

1., Krugerstraße 10

Die Hinrichtung der Anarchisten Ferdinando »Nicola« Sacco und Bartolomeo Vanzetti bewegt die Gemüter über den Atlantik hinweg. Das Echo von Boston ist bis Wien zu hören. Den beiden italienischen Kommunisten war ein Raubmord zur Last gelegt worden. Die Rote Fahne, das Zentralorgan der kommunistischen Partei Österreichs, kündigt im Sommer 1927 »eine Massenkundgebung gegen die amerikanische Mordjustiz« an. So wie in anderen Großstädten werden auch in Wien wegen der Proteste Wohnung und Amtssitze der amerikanischen Vertretung unter verstärkten Polizeischutz gestellt und durch starke Wachkordons Tag und Nacht gesichert: die amerikanische Gesandtschaft in der Wohllebengasse 9, das Generalkonsulat auf dem Stock-im-Eisen-Platz und vor allem das Wohngebäude des amerikanischen Gesandten in der Krugerstraße 10.

Der Beginn der diplomatischen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Österreich geht zurück bis ins Jahr 1838, als ein Geistlicher und späterer Kongressabgeordneter aus Lancaster, Pennsylvania, zum ersten US-Gesandten am Habsburgerhof ernannt wurde. Für den Kaiser war es nicht immer schön, und es hat ihn wohl nicht sehr gefreut, wenn bei Staatsbesuchen das in Wien herrschende, äußerst streng gehandhabte spanische Hofzeremoniell nicht eingehalten wurde. So darf man sich nicht wundern, dass der die Etikette streng wahrende Monarch über einen Fauxpas des amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt entsetzt war. Der hielt sich kurz nach Ende seiner Amtszeit im April 1910 einige Tage in Wien auf und kam ihm bei einer Audienz mit ausgestreckter Hand entgegen – ein Fall, der sich sicherlich noch niemals zuvor im Leben Franz Josephs ereignet hatte, und mindestens so befremdlich, als hätte in unserem Jahrhundert ein Besucher der englischen Queen anerkennend auf die Schulter geklopft. Bei der einstündigen Audienz in der Wiener Hofburg fragte Roosevelt den Kaiser, welchen Zweck sein Amt im 20. Jahrhundert habe. Er sei der »letzte Monarch der alten Schule«, antwortete Franz Joseph und erklärte seine Aufgabe: »Der Sinn meines Amtes ist es, meine Völker vor ihren Politikern zu schützen!«

Albert Henry Washburn (1866–1930), der erste US-Gesandte nach dem Ersten Weltkrieg, lebt bereits seit fünf Jahren in der Stadt, als die bevorstehende Hinrichtung der Anarchisten Sacco und Vanzetti auch hierzulande wochenlang Thema in den Medien ist, das für Proteste und Demonstrationen sorgt. Zwischen Wien und dem hier akkreditierten Diplomatischen Korps bestehen ganz besonders intime Wechselbeziehungen. Wien gilt unter den Exzellenzen beider Kontinente als »Dauerposten«. Aber nicht als ein »Pensionopolis« der Diplomatie, so das Neue Wiener Journal. Zu vielfältig sind die Verbindungen, zu stark die Interessen, die so ziemlich alle Staaten mit Österreich verknüpfen, als dass sie hier durch allein repräsentative Figuranten ohne politische Bedeutung vertreten sein könnten. Ob Österreich nun Subjekt oder Objekt der großen Politik ist, in Wien, einem Brennpunkt der europäischen Ereignisse, hat ein Gesandter keineswegs Urlaub von der Weltgeschichte. Vielleicht wird der Beobachter aus dem Ausland gerade durch die vielen Probleme, mit denen er sich hier beschäftigen muss, so sehr an Wien gefesselt. Hier muss er auf die verzwicktesten finanzpolitischen, völkerrechtlichen, nationalen und historischen Fragen Antworten parat haben.

Albert Henry Washburn (1866–1930), der erste US-Gesandte in Wien nach dem Ersten Weltkrieg

Washburn ist schockverliebt in den Nachfolgestaat der Monarchie – nicht nur Beobachter, sondern ein aufrichtiger Freund dieses selbst in seinem Unglück bezaubernden Mikrokosmos Österreich. Rasch gelingt es ihm, sich in Wien populär zu machen. Er ist einer der drei »alten Wiener« im Diplomatischen Korps. Der englische Gesandte Aretas Akers-Douglas, 2. Viscount Chilston, sein belgischer Kollege Raymond Le Ghait und Washburn kamen unmittelbar hintereinander bald nach der Wiederaufnahme der normalen Beziehungen zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern nach Wien. Es waren die 1920er-Jahre, als die amerikanischen Diplomaten zum Frack noch eine schwarze statt einer weißen Weste trugen. Dadurch unterschieden sie sich aber nicht von Kellnern in vornehmen Restaurants. Bei einem Empfang in Paris stand der amerikanische Gesandte, ein älterer Herr, allein in einer Ecke. »Sind Sie der Butler?«, fragte eine Dame. Darauf der Amerikaner: »Nein. Sind Sie das Zimmermädchen?«

Für Washburn ist die Übersiedlung ins alte Europa mehr als nur eine Ortsveränderung. Sie bedeutet für ihn Verzicht. Denn abgesehen von einer kleinen Jugendsünde, einem Ausflug in die Diplomatie, ist der kluge Gelehrtenkopf in Wirklichkeit kein Staatsbeamter und Politiker, sondern Wissenschaftler und Jurist. Noch sehr jung, mit 24 Jahren, schickt ihn das Weiße Haus 1890 nach Deutschland. In Magdeburg, der rapid aufblühenden Zuckermetropole Europas, soll ein amerikanisches Konsulat errichtet werden. Aber zum Provinzkonsul zur Wahrung der amerikanischen Zuckerinteressen in Mitteldeutschland fühlt sich Washburn nicht geboren. Die wirklich große Karriere macht er nicht im Staatsdienst, sondern als Verteidiger, Staatsanwalt und Universitätsprofessor, der sich zu einem der bedeutendsten Juristen der Neuen Welt entwickelt. Er ist zurückhaltend und leise, aber kein Leisetreter. Ohne sein Engagement hätte Österreich den Völkerbundkredit 1922 wahrscheinlich nie bekommen. Jedenfalls spricht man am Ballhausplatz den Namen Washburn damals nur mit einem dankbaren, beinahe zärtlichen Lächeln aus. Washburn und Wien war Love at first sight, und schon durch seinen Vorgänger Frederic Courtland Penfield, dem letzten Botschafter am Hof der letzten Kaiser der Habsburgermonarchie, war die amerikanische Botschaft geradezu ein schier unerschöpflicher Hilfsborn für Bedrängnis aller Art geworden.

Die Washburns wohnen in Wien nicht in einer der gartenumgrünten Straßen des Botschaftsviertels auf der Wieden oder am Rennweg. Sie beziehen in der Innenstadt, Krugerstraße 10, den ersten Stock im 1810 errichteten Stadtpalais der gräflichen Familie von Geheimrat Franz Xaver Erdődy, Mitglied des ungarischen Magnatenhauses, mit riesigen Repräsentations- und Wohnräumen, Stallungen und Remisen. Mancher mag sich in der schmalen, grauen Straße vor der schmucklosen Fassade gefragt haben: Hier wohnt wirklich der Gesandte der Vereinigten Staaten? Aber hinter einem massiven Tor geht es durch das Vestibül über eine mit Skulpturen geschmückte Treppe durch die Vorräume, als wär’s ein italienischer Adelspalast, in die damast- und brokatumhangenen Salons voll alter Kunst und antiker Möbel.

Da ist die Vorbesitzerin des Palais, Helene Gräfin Erdődy (1831–1932), geborene Gräfin Oberndorf, noch vielen lebhaft in Erinnerung, die Zeitgenossin aller großen Ereignisse zwischen 1848 und 1918 in Mitteleuropa, Gattin eines ungarischen Paladins und Kämmerers, Palastdame bei der Königskrönung von Franz Joseph und Elisabeth im Juni 1867 in der Matthiaskirche von Buda. Auf sie, die mit großer Milde die Menschen niemals verurteilt, sondern stets nur beurteilt, trifft Goethes Wort zu: »Sie hatte ein tiefes Gefühl für menschliche Zustände.« Ihre Feste, Bälle, Soireen und Redouten sind Stadtgespräch. Auch das glänzende Ballfest im Frühling 1887 bei den Erdődys im von außen so unscheinbaren Gebäude in der Krugerstraße. Auf den Stufen des »mit prachtvollen exotischen Pflanzen in reichster Fülle dekorierten Treppenhauses« machen »herrschaftliche Diener in reicher Livree und Leibhusaren Spalier«, berichtet das Wiener Salonblatt. Der mit Säulen geschmückte Tanzsaal im Mezzanin, einer der schönsten Wiens, ist in Weiß und Gold dekoriert, der Plafond reich ornamentiert. Der Raum erscheint durch drei Kristallluster mit Hunderten von Kerzen und ebensolche Armluster an den Wänden taghell erleuchtet. Eine Militärkapelle spielt Tanzmusik für die Gäste, darunter viele Mitglieder der Aristokratie und Diplomatie: Kaiserliche Hoheiten, Prinzessinnen, Erzherzöge und Herzöge, Fürsten und Botschafter, Gräfinnen und Comtessen.

Verschwundenes Alt-Wien: Palais Erdődy, erbaut 1810 bis 1812. Ansicht von der Walfischgasse 9, um 1907

»Eine legendäre Gestalt war diese uralte Frau« und zugleich »eine Dame des Geistes und des Gemütes«, schreibt die Reichspost Anfang März 1932 in einem Nachruf auf Europas älteste Aristokratin, die 100-jährig auf ihrem ungarischen Schloss in Vép gestorben war. »Dass wir Zeitgenossen des Radios und des Luftschiffes noch die Auswirkung dieses anmutigen Geistes genießen durften, gehört in den Bereich der modernen Legende.«

Ihr Buch Fast hundert Jahre Lebenserinnerungen (1929) ist eine Hauptquelle für die Geschichte der österreichischen Aristokratie in den letzten Jahrzehnten der Habsburgermonarchie. Sie sah über Jahrzehnte aus persönlicher Nähe Kaiser und Könige, Staatsmänner und Künstler. Sie war bei Krönungen und Revolutionen mit dabei. Sie tanzte auf allen großen europäischen Bällen und sah die Beerdigungszeremonien ermordeter Fürsten aus unmittelbarer Nähe. Doch hatte man stets das Gefühl, als sei die Gräfin eigentlich nur Frau und Mutter von vier Kindern, so sehr bewahrte sie allen Ereignissen und Menschen gegenüber die gleiche liebenswürdige Distanz, diesen leisen, gleichsam lächelnden Abstand, der charakteristisch ist für eine große Dame.

Aber zum Jahresausklang 1922 beklagt die Neue Freie Presse eine Zeitenwende in Wien: »Der Glanz der alten Paläste ist hin.« Im Palais Pallavicini sei eine Tanzschule eingezogen. Im Palais Harrach werden Glaswaren und Reiseutensilien verkauft. Im ovalen Marmorsaal des Palais Auersperg steht der Schreibtisch eines Amtsdieners, und in den übrigen Zimmern ist die Staatsdenkmalkommission untergebracht. Im Haus Trauttmansdorff in der Herrengasse 21 sitzt ein Antiquitätenhändler, im Palais Pálffy eine Bank. Aus dem Palais Hoyos ist das Hotel Bristol geworden. Und aus dem Palais Metternich die italienische Botschaft. Die Zeit schreite unbarmherzig und grausam voran und achte nicht auf Schönheit und Tradition. »Die Lebendigen wollen ihr Recht und ihre Zeit und ihre Wohnungen. Und aus Familienhäusern und Adelspalästen werden Museen und Zinskasernen. Es war immer so und wird immer so sein. Stirb und werde, daran ist nichts zu ändern.« Es sei nur wenigstens zu wünschen, dass man in Schönheit stirbt. Und dafür sei gesorgt bei den alten Wiener Palästen.

Auf den Einladungen ab 1922 aus dem Palais Erdődy an die Wiener Gesellschaft steht: »The American Minister and Mrs. Washburn …« Sie ist mit Überzeugung vor allem Amerikanerin, die Liebenswürdigkeit in Person. Und die auf Moll gestimmte Anmut der Stadt verträgt und versteht sich gut mit der ihren. Als geborene Lincoln gehört sie einer der ältesten und bekanntesten Familien New Englands an. Als »Lincoln« ist auch Sohn Albert Lincoln Washburn (1911–2007) bald populär in der Stadt. Er hat in Österreich das Skifahren kennen- und lieben gelernt, gewinnt am Semmering erste Preise, vertritt die USA in der Alpinen Kombination bei den Olympischen Winterspielen 1936 in Garmisch-Partenkirchen und wird als Geomorphologe Permafrost-Forscher in der kanadischen Arktis.

Anfang April 1930 melden die Zeitungen den plötzlichen Tod Albert Washburns an einer Sepsis im Wiener Rudolfinerhaus. Bundespräsident Wilhelm Miklas betont im Kondolenzschreiben an die Witwe, der Diplomat sei »ein überaus warmer Freund Österreichs und ein eifriger Förderer unserer Interessen« gewesen.

Ende 1933 ziehen die Kunst- und Antiquitätenhändler Samuel und Maximilian Glückselig in der Krugerstraße ein: Ihr Auktionshaus hat auf dem nationalen und internationalen Kunstmarkt einen hohen Stellenwert, spätestens seit der Nachlassversteigerung von Graf Johann Pálffy. Da kam als Prunkstück der berühmte Schreibtisch Napoleons aus La Malmaison, dem Landschlösschen von Joséphine, unter den Hammer und blieb nach hartem Bieterkampf mit Interessenten aus dem Ausland am Ende doch in Wien.

Die Brüder Glückselig versteigern unter anderem das Warenlager bei der Liquidation der Wiener Werkstätte, außerdem Teile der berühmten Kunstsammlungen von Albert Figdor. Zum Zug kommen sie auch bei der Zwangsversteigerung der Besitztümer des schillernden Finanzjongleurs Camillo Castiglioni, von seinem Biografen »Haifisch« genannt. Er hatte nach dem Krieg in der Hyperinflationszeit an der Abrüstung der k. u. k. Armee ein Vermögen verdient und führte ein Leben in Glanz und Luxus als Kunstsammler, Mäzen und Förderer der Salzburger Festspiele. Für Max Reinhardt finanzierte er in den 1920er-Jahren den Umbau des Theaters in der Josefstadt. Sein Absturz kam durch waghalsige Devisen- und andere Spekulationsgeschäfte. Im Mai 1935 wurde Castiglionis Wiener Palais Miller-Aichholz mitsamt der Kunstsammlung gepfändet. Bei Glückselig werden Palais und Kunstsammlung versteigert.

Palast im Empire-Stil: Ballsaal mit Marmorwänden, vergoldeten Kapitellen und kostbarem Parkett im Palais Erdődy (1956 abgerissen)

Am 13. Oktober 1935 wimmelt es von Menschen in der Krugerstraße, wo in allen Räumen und auch im Hof des Palais Erdődy die Gegenstände zur Schau gestellt sind, die an 14 Tagen unter den Hammer kommen sollen. Bekannte Kunsthändler und Liebhaber aus dem Ausland interessieren sich vor allem für die Losnummer 1595: einen Damenschreibsekretär, um 1750 datiert. Im Hof steht zum Rufpreis von 6000 Schilling das Toplos Nr. 1670, eine schwere, luxuriöse Isotta Fraschini, in den 1920er-Jahren das italienische Gegenstück zum britischen Rolls-Royce oder französischen Hispano-Suiza, ein Konkurrent von Maybach und Duesenberg. Der Traum aller Autokenner, damals einer der hochkarätigsten Klassiker der Welt und heute eine vergessene Automarke.

Und die US-Botschaft heute? Seit 1947 ist sie im Gebäude der ehemaligen k. u. k. Konsular-Akademie in der Boltzmanngasse 16 untergebracht, der ehemaligen Diplomatenschmiede der Habsburgermonarchie, und heute verbarrikadiert im historischen Prachtbau hinter Wachanlagen, Sperrgittern und Überwachungsmasten zum Selbstschutz einer Supermacht. Das ausgeklügelte Sicherheitssystem mit Kontrollposten und allerlei Hindernissen wurde nach den Anschlägen auf die US-Botschaften in Tansania und Kenia 1998 verfügt.

Kaiserin Maria Theresia hatte 1754 die k. u. k. Orientalische Akademie in Wien gegründet, um die Kultur- und Handelsbeziehungen mit dem Balkan und dem Nahen Osten zu verbessern. Zukünftige Bankiers, Handelstreibende und Diplomaten besuchten Vorlesungen mit Schwerpunkt auf orientalischen Sprachen und Wissenschaften. Nach der Eingliederung der Akademie ins Außenministerium 1901 entstand am Alsergrund in der Boltzmanngasse (damals Waisenhausgasse), finanziert von Kaiser Franz Joseph, für die Ausbildung zukünftiger Diplomaten ein Gebäude im Stil des unter Maria Theresia geschätzten klassischen Barock. Der Studienplan an der Akademie, nun Konsular-Akademie genannt, konzentrierte sich mehr auf westliche Sprachen. Der Abschluss des fünfjährigen Studiums ermöglichte Studenten aus der ganzen Welt eine Laufbahn auf allen Gebieten des auswärtigen diplomatischen Dienstes und in Handelsmissionen im Ausland.

Nach der von Instabilität geprägten Zwischenkriegszeit, starken Einschränkungen nach 1938 und der Auflage, dass die Akademie zu bestimmten Feiertagen deutlich sichtbar mit der Hakenkreuzfahne zu beflaggen ist, richtet das Außenministerium der Nationalsozialisten auch den Lehrplan stärker auf die »germanische« Kultur aus. Um 1941 funktioniert das Deutsche Reich die Akademie zum Werkzeug der Förderung seiner Kriegsziele um: Vorlesungen werden gestrichen, Professoren müssen Militärkadetten unterrichten, zahlreiche nationalsozialistische Treffen und Veranstaltungen finden im Gebäude statt, in dem schließlich ein Lazarett eingerichtet wird.

Die Bibliothek der Akademie landet in den Kaiserlichen Archiven in der Bankgasse und am Minoritenplatz sowie später während des Krieges in Räumen unter der Peterskirche. Danach steht die Boltzmanngasse 16 bis 1946 unter amerikanischer militärischer Verwaltung. Ein Jahr später kauft die US-Regierung die Immobilie um 392 139 Dollar, ein Deal der Berufsdiplomatin und Wirtschaftsexpertin Eleanor Lansing Dulles (1895–1996). Das State Department hatte die Schwester von US-Außenminister John Foster Dulles zu Kriegsende nach Wien und Westdeutschland geschickt, wo sie schon während der Wirtschaftskrise die Gefahr des Nationalsozialismus heraufziehen sah: »Ich hatte bereits Anzeichen dafür erkannt, dass die neuen Männer mit ihrer neuerworbenen Macht Amok laufen könnten.« Bis Oktober 1948 ist sie im Stab des US-Oberbefehlshabers General Mark W. Clark Beraterin für Finanzfragen und als Berlin-Verantwortliche des Außenministeriums maßgeblich am Aufbau der Stadt beteiligt. Willy Brandt nennt sie »Mutter Berlins«.

Die amerikanische Vertretung in Österreich ist von 1947 bis 1951 Gesandtschaft, hat danach den offiziellen Botschaftsstatus. Bei der Ankunft des Hochkommissars der USA Walter J. Donnelly auf dem Tullner Flugfeld am 20. Oktober 1950 wird zur Begrüßung die amerikanische Nationalhymne The Star-Spangled Banner gespielt. Dann fährt Donnelly mit seiner Familie in einer langen Wagenkolonne zum US-Hauptquartier in Wien. Dort empfängt ihn die Militärkapelle mit der heimlichen Hymne der Donaustadt, den Klängen zu Wien, du Stadt meiner Träume von Rudolf Sieczyński (1879–1952).

Postskriptum: Die Krugerstraße war schon lange, bevor die Washburns und Glückseligs dort ihr Domizil hatten, als Revier der Gunstgewerblerinnen eine verrufene Gegend wie auch andere Seitengassen der Kärntner Straße. Und wenn das Nachtleben zu turbulent wurde, rückte gelegentlich die Polizei zur Razzia ins »Austria« aus, das ursprünglich Hotel Metropol und später auch »Modern« hieß. Das 1896 erbaute neobarocke Gebäude auf Nr. 11 ist von Anfang an als Absteigequartier für Liebespaare bekannt. Schließlich kommt das ehemalige Stundenhotel, mittlerweile mit neuem Namen »Hotel zur Wiener Staatsoper« seriös geworden, als Vorbild für John Irvings Bestseller Hotel New Hampshire zu literarischen Ehren. Der Roman erzählt die Geschichte der Berrys, einer Familie von Verrückten, der sich andere Verrückte anschließen, zum Beispiel »Susie der Bär«, eine Lesbe im Bärenkostüm. Die Familie Berry betreibt nacheinander drei Hotels unter gleichem Namen – eines in New Hampshire, das zweite in Wien, das dritte in Maine – und wird bei ihrer Odyssee auf zwei Kontinenten zahlreichen Katastrophen ausgesetzt. Heute sucht man das in der literarischen Groteske zum Teil mit viel schwarzem Humor beschriebene Kuriositätenkabinett mit Susie und den Huren ebenso vergeblich wie Anarchisten mit der Absicht, die Staatsoper in die Luft zu sprengen. Oder eine »Kreisch-Annie«, jene Professionelle, über die Susie sagt: »Kreisch-Annie bringt den bestgetürkten Orgasmus der Branche.«

Es muss in den frühen 1980er-Jahren gewesen sein, als an einem Tag der Himmel seine Schleusen öffnete und André Heller auf dem Weg durch die bis auf eine Prostituierte menschenleere Krugerstraße zufällig Helmut Qualtinger und Erich Fried entgegenkamen. Die Herren begrüßten einander und Heller sagte: »Bei so einem Wetter will man auch keine Hure auf der Straße sein.« Qualtinger antwortete lakonisch: »Und bei welchem Wetter möchtest du Hure sein?«

2 Die Erben des alten Mesopotamien

Botschaft der Republik Irak und Konsulat Ehemals Palais Larisch

1., Johannesgasse 26/Lothringerstraße 13

Das Gerücht, die stille Post des Teufels, ist widerlegt. Prinzessin Julia Pauline Zichy Odescalchi (1849–1935) hatte es verbreitet. Kronprinz Rudolf hätte die junge Baronesse Mary Vetsera »bei einem Ball im Palais Larisch« kennengelernt. Bekanntlich hat Marie Louise Gräfin Larisch-Wallersee (1858–1940), Nichte, Vertraute und Palastdame der Kaiserin Elisabeth von Österreich, bei der verhängnisvollen Affäre zwischen Rudolf und seiner Geliebten Mary eine zwielichtige Rolle gespielt. Sie arrangierte und organisierte die geheimen Treffen der beiden.

Das Grand Hotel Wien am Kärntner Ring 9 war das Quartier der Gräfin Larisch, wann immer sie in Wien weilte. Eng befreundet mit dem Thronfolger, machte sie ihn mit der jungen Mary Vetsera bekannt. Der Leibkutscher des Kronprinzen holte die hübsche Baronesse nachweislich mehr als 20 Mal am Hinterausgang des Hotels ab, um sie zu geheimen Treffen mit ihrem geliebten Rudolf zu kutschieren. Im November 1888 forderte der Kaiser seinen verheirateten Sohn auf, seine Affäre mit der gerade erst 17-Jährigen zu beenden, die aber bereits im zweiten Monat schwanger war. Als Marys Mutter von der Schwangerschaft erfuhr, fasste sie den Entschluss, ihre Tochter nach England zu bringen. Daraufhin floh Mary zur Gräfin Larisch ins Grand Hotel.

Dort kam es am Sonntagmorgen des 27. Jänner 1889 zu einer Unterredung zwischen Rudolf und Larisch. Die Soiree in der Deutschen Botschaft am selben Tag zum Geburtstag des deutschen Kaisers Wilhelm II. ist zugleich der letzte öffentliche Auftritt des Kronprinzen. Er verbringt die Nacht bei seiner Langzeitmätresse Mizzi Kaspar – Berufsbezeichnung »Hausbesitzerin« – und verlässt sie laut Polizeiprotokoll gegen 3 Uhr früh. Ihr hatte Rudolf zwei Jahre davor um 60 000 Gulden ein dreistöckiges Stadthaus in der Heumühlgasse 10 gekauft und Bargeld und Schmuck im Wert von insgesamt 130 000 Gulden zukommen lassen.

Am folgenden Tag treffen Mary und Rudolf im kaiserlichen Jagdschloss Mayerling ein. »Meine liebe Hanna«, schreibt Mary am 29. Jänner an ihre drei Jahre ältere Schwester Johanna, »wenige Stunden vor meinen Tod will ich dir adieu sagen. Wir gehen beide selig in dass ungewisse Jenseits … Weine nicht um mich ich gehe fidel hinüber.« Es kommt dort zur Tragödie, die den Lauf der Monarchie ändert: Kronprinz Rudolf erschießt seine junge Geliebte und anschließend sich selbst.

Gräfin Larisch bleibt auch nach dem Drama Stammgast im Grand Hotel und bewohnt gewöhnlich die Suiten 21, 23 und 28 im ersten Stock mit Blick auf die Maximilianstraße, die heutige Mahlerstraße. Die Frage ist nur: Hat sie bewusst eine Intrige gesponnen, die gegen den Kronprinzen, gegen seine Frau Stephanie – von ihrer Schwiegermutter in herzlicher Abneigung »das hässliche Trampeltier« genannt – oder sonst jemanden gerichtet war? Oder wurde die Gräfin, wie sie selbst behauptet hat, durch einen unglücklichen Zufall und infolge ihrer Gutmütigkeit zu einer unfreiwilligen Hauptfigur im Prolog zum Trauerspiel von Mayerling, einem der größten Skandale des späten Kaiserreiches – und schlussendlich zum Sündenbock?

Marie Louise von Larisch-Wallersee war in arrangierter Ehe ab 1877 mit dem k. u. k. Kämmerer und Grafen Georg Larisch-Mönnich (1855–1928) verbunden, der zwei Kinder entstammten: Franz-Joseph (1878) und Marie Valerie (1879). Taufpaten waren Kaiser Franz Joseph und seine jüngste Tochter Erzherzogin Marie Valerie. Aus außerehelichen Beziehungen mit Heinrich Baltazzi, dem Onkel Mary Vetseras, und dem Kynologen Ernst von Otto-Kreckwitz hatte sie drei weitere Kinder.

Runder Eckturm als Blickfang: Palais Larisch in der Johannesgasse 26, bereits vor der Wienfluss-Regulierung beim Stadtpark errichtet

Kurios, dass Marie und Graf Georg Larisch-Mönnich das Palais Larisch an der Ecke Johannesgasse 26 und Lothringerstraße 13 nie bewohnt haben. Das eigenartige und vornehme Baujuwel beim Kursalon hinter der Wiener Ringstraße gehörte der entfernteren Verwandtschaft. Der Stadtpark war noch jung und der Wienfluss noch nicht verbaut, da ließ direkt gegenüber auf einem großen Eckgrundstück eine der einflussreichsten Persönlichkeiten der österreichischen Monarchie, der böhmisch-schlesische Großgrundbesitzer Johann Graf Larisch von Mönnich – Landeshauptmann von Österreich-Schlesien, drei Jahre lang österreichischer Finanzminister, schließlich Obersthofmarschall am Hof von Kaiser Franz Joseph –, das Palais 1867/1868 für seine Familie errichten. Überschattet allerdings gleich zu Beginn von einer Tragödie. Am Morgen des 4. April 1868 wurde der Architekt Eduard van der Nüll in seiner Wohnung von seiner im achten Monat schwangeren Ehefrau tot aufgefunden. Er hatte sich an einem Bilderhaken an der Wand erhängt. Das Wiener Tagblatt berichtet, er habe aufgrund des üblen Nachrufs wegen des von ihm mit seinem Partner August Sicard von Sicardsburg entworfenen Hofoperntheaters, der heutigen Staatsoper, schon kurz davor gegenüber einem Freund geäußert, er werde sich eine Kugel durch den Kopf jagen.

Van der Nüll, ein geborener Wiener, hinterließ als Monumente seines künstlerischen Schaffens unter anderem die Lerchenfelder Kirche, das Arsenal, das Carltheater, das Sophienbad, das Warenhaus Philipp Haas am Stock-im-Eisen-Platz – und das geschmähte neue Opernhaus. Die Wiener dichten Spottverse auf die Architekten: »Sicardsburg und van der Nüll, die ham beide keinen Styl. Griechisch, gotisch, Renaissance, des is denen alles ans!«

Baumeister Karl Sattler stellt das Palais Larisch – heute eines der bedeutendsten Werke des Wiener Historismus – fertig. Auffallend am vierstöckigen Bau ist die hoch liegende Beletage mit den übergiebelten Fenstern. Die aufwendig gestaltete Fassade ist der französischen Renaissance nachempfunden und vor allem gegen die Johannesgasse sehr dekorativ gestaltet. Hier werden drei Fenster der Beletage von je einem Paar korinthischer Säulen flankiert, gekrönt von einer kunstvollen Attika. Darunter befindet sich das repräsentative Portal mit reichem Schmuck und dem eingefassten Wappen der Larisch-Mönnich.

Ein Blickfang ist der runde Eckturm, der nach oben hin mit einem üppig verzierten Aufsatz und einer kleinen, blaugrüngoldverzierten Kuppel endet. Sehenswert im Inneren sind das kunstvolle ovale Treppenhaus mit einem Geländer aus bronziertem Gusseisen und das Vestibül. Das Palais Larisch-Mönnich und dessen noch vorhandene Originaleinrichtung samt Aubusson-Sitzgarnitur werden am 16. Juli 1943 als »eine der großartigsten nichtöffentlichen Bauten der letzten repräsentativen Bauperiode Wiens« unter Denkmalschutz gestellt. In der Nachkriegszeit, während der Besatzungszeit Wiens, beherbergt es die »Gesellschaft zur Pflege der kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen zur Sowjetunion«.

Aber es hat auch eine dunkle Vergangenheit. Zunächst wurden in den 1950er-Jahren das Erdgeschoss, das erste Obergeschoss und die mit opulentem Wand- und Deckenstuck verzierte und mit einem Parkettboden von Thonet ausgestattete Beletage von der irakischen Monarchie (1920–1958) angemietet. Damals residierten die Nachfahren des Grafen Larisch-Mönnich noch in den oberen Stockwerken und im Dachgeschoss. Seit den 1970er-Jahren ist die Republik Irak Eigentümer des historischen Palais. Das Land liegt auf dem Gebiet des alten Mesopotamien (heute vor allem Irak und Syrien) zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris. Die Region gilt heute für viele als Wiege der Zivilisation, wo vor mehr als 5000 Jahren – noch vor dem alten Ägypten – unter anderem mit den Sumerern eine der ersten Hochkulturen entstanden ist. Wo die Schrift, die Sprache, das Rad, die ersten Musikinstrumente und sogar das erste Malzgetränk erfunden wurden.

In der Ära von Diktator Saddam Hussein, der von 1979 bis zu seinem Sturz 2003 sein Land mit brutaler Gewalt regierte, saßen auch in Wien Diplomaten von Saddams Gnaden. In der Johannesgasse befand sich das irakische Spionage-Hauptquartier für ganz Europa: Von hier aus wurden Oppositionelle bespitzelt und vermutlich auch illegale Waffengeschäfte abgewickelt. Hier sollen Saddams Konten verwaltet worden sein. Hier dürfte von 1996 bis 2003 auch der Tatort einer abenteuerlichen Geldbeschaffungsaktion gewesen sein, eine zentrale Schwarzgeld-Sammelstelle durch ein Kickback-System für das Regime, abgezweigt unter dem Deckmantel des humanitären Hilfsprogramms »Oil for Food« der Vereinten Nationen. Ein von den UN beauftragtes unabhängiges Untersuchungskomitee (Independent Inquiry Committee, IIC) hat den Fall unter Vorsitz des früheren US-Notenbankers Paul Volcker ab April 2004 penibel untersucht und fand konkrete Hinweise auf fast 1,5 Milliarden Euro, die an Schmiergeldern von weltweit rund 2200 Firmen ans Regime Saddam Hussein im Gegenzug für lukrative Aufträge geflossen sein sollen.

2012 bis 2014 wird das Gebäude aufwendig restauriert und generalsaniert. »Überraschenderweise hatten sich fast alle Baudetails und die Ausstattung in einem perfekten alterswertigen Zustand erhalten«, stellt das Bundesdenkmalamt fest. Das Fazit nach eingehenden restauratorischen Untersuchungen der Straßenfassaden, der Wandausstattungen samt Stuck- und Stuccolustroflächen, des Metallbestandes, der Parkettböden, der Möbel, der beiden Klaviere sowie der vorhandenen Textilien: Kaum ein zweites Haus an der Ringstraße war dermaßen vollständig erhalten. Der Festsaal war bereits vor Jahrzehnten lediglich einfärbig übermalt worden – unter den Anstrichen wurde das bauzeitliche Gestaltungskonzept samt Goldapplikationen wiedergefunden. Beim Freilegen des Speisezimmers, das sich über Jahrzehnte in dezenten Weißtönen präsentierte, stellt sich heraus, dass der Raum ursprünglich schwarzglänzend gefasst, die einzelnen Felder durch Goldauflagen akzentuiert und die Deckenfelder und Kassetten polychrom und floral gestaltet waren. Ähnliches findet sich im Ecksalon des ersten Stocks, dem einstigen Arbeitszimmer des Grafen Larisch von Mönnich, und auch das Turmzimmer ist durch eine fast maurische Farb- und Formenvielfalt geprägt. Einige Details des klassischen französischen Renaissance-Stils wie die Rosette und die Rocaille im Stuck der Decken in der Beletage erinnern an Ornamente aus Mesopotamien.

Der 1849 gegründete Edeltextilerzeuger Backhausen liefert alle Vorhänge und die Wandverkleidung aus Seide und Satin, die Firma Lobmeyer restauriert die Kronleuchter. Instand gesetzt werden auch die beiden Bösendorfer-Flügel,