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Die Biografie einer Frau, die acht Jahre nach dem Ende Hitler´s behindert zur Welt kam. Neben der Aufzählung ihrer Lebensstationen kommt Christine Singh am Ende zu dem Schluss, dass der Umgang mit behinderten Menschen im Alltag in Deutschland immer noch ziemlich weit entfernt davon ist, was die UN-Behinderten-Konvention vorschreibt und zu deren Einhaltung sich Deutschland rechtlich verpflichtet hat.
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Veröffentlichungsjahr: 2013
Erinnern wir uns zurück, als neben den Juden und Zigeunern auch Behinderte in den Gaskammern verschwanden. Diese Zeit liegt lange zurück; ich war damals noch nicht geboren. Erst acht Jahre nach Kriegsende kam ich zur Welt; mit einer immer noch nicht diagnostizierten Behinderung, die sich in Bewegungsstörungen äußert. Meine Eltern schämten sich für mich. Schon als Kind habe ich oft den Satz gehört, (vorzugsweise dann, wenn ich mich nicht so verhalten hatte, wie das meine Eltern von mir erwarten hatten): "Zu Hitler´s Zeiten wärst du kurzerhand in der Gaskammer verschwunden!" Aber nicht nur von meinen Eltern hörte ich diesen Ausspruch; nein, diese Meinung war allgemein weit verbreitet. Das führte dazu, dass - Ärzte mich nicht ernst nahmen, (im günstigsten Fall) oder mich beleidigten und absichtlich quälten (im schlimmsten Fall). - die Gesellschaft mich rigoros ausgrenzte. Keine Arbeit, Ausgrenzung bei Familienfeiern, sehr eingeschränkte soziale Kontakte. Da viele Eltern in den 50er Jahren mit ihren behinderten Kindern völlig überfordert waren und es keine staatliche Hilfe gab, wurde damals die Lebenshilfe gegründet.
Die 50er Jahre. Meine ersten Erinnerungen stammen etwa aus dem Jahr 1957, als ich vier Jahre alt war. Den Kinderwagen, in dem ich bislang immer gefahren worden war und an dem ich meine ersten Gehversuche machte, indem ich mich an der Schiebestange festhielt, brauchte ich nun nicht mehr. Ganz stolz tappste ich die paar Schritte zu meiner Mutter hin und ließ mich in ihre aufgehaltenen Arme fallen. Das wiederholte sich nun ein paar Mal und bei jedem Mal wurde ich sicherer. Ich konnte frei laufen! Beim nächsten Arztbesuch allerdings wurde mir jeder Stolz über die erreichte Leistung genommen. "Spring mal!" , sagte der Arzt. Ich versuchte es verzweifelt und konnte es nicht. Hüpfen auf einem Bein klappte noch weniger und auch den Ball, den ich eigentlich hätte fangen sollen, ging daneben. Die anschließende Diskussion zwischen meinem Vater und dem Arzt bekam ich nur wegen der Lautstärke mit, mit der sie geführt wurde. Jedenfalls sah ich diesen Arzt zum letzten Mal; der nächste ließ mich Links liegen. Mir war´s recht. In den Jahren 1958 und 1959 starben meine Großeltern väterlicherseits in schneller Reihenfolge, die mit uns zusammengelebt hatten. Ich wurde in dieser Zeit zur Großmutter mütterlicherseits abgeschoben. Mir war´s recht, denn meine Oma lebte in ländlicher Umgebung mit großem Garten und vielen Tieren. Es war das Paradies für Kinder schlechthin. Im Jahr 1959 bekamen meine Eltern nach zwei Töchtern endlich den heiß ersehnten Sohn. Was sie damals noch nicht wussten; auch dieses Kind war behindert. Mit der Zeit zeigten sich bei ihm die gleichen Entwicklungsrückstände wie bei mir. Das war aber schon Anfang der 60er Jahre. Therapeuten gab´s zwar damals auch schon, aber keine in unmittelbarer Nähe. Mein Vater therapierte seine Kinder selbst. Nachdem feststand, dass ich geistig normal war, wurden mir die körperlichen Defizite kurzerhand abgesprochen. So übte er mit mir das freihändige Treppenlaufen. Treppe rauf und runter, OHNE festhalten am Geländer. Wenn ich hinfiel, gab´s einen Anschnauzer und einen Tritt in den Allerwertesten. Nach dem Tritt konnte ich fehlerfrei die Treppe runterlaufen und der "Herr" war´s zufrieden. Die gleiche Schocktherapie gab´s beim Schwimmenlernen. Nachdem er sich eine ganze Zeit mit meiner Wasserscheu herumgeschlagen hatte, schmiss er mich kurzerhand ins Becken. Nach diesem Schock lernte ich in Rekordzeit Schwimmen. Diese Sachen habe ich ihm später verziehen, weil es eine gute Vorbereitung war auf weitere Härten, die später kommen sollten und die ich sonst wohl nicht gepackt hätte.