Homo digitalis - Ralf Hanselle - E-Book

Homo digitalis E-Book

Ralf Hanselle

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Beschreibung

Wo eigentlich liegt der Cyberspace? Können wir ihn fühlen, riechen, durchschreiten – hat er ein sinnliches Korrelat in der materiellen Welt? Während der reale, weltliche Raum, der physische Boden im 21. Jahrhundert durch fortschreitende Urbanisierung, klimatische Veränderungen und Raubbau an Ressourcen knapper zu werden droht, expandiert die virtuelle Welt in rasender Geschwindigkeit. Mehr und mehr gerät der Mensch zum dissoziativen Wesen: mit dem Kopf in der Datenbrille und den Füßen im Nirgendwo. Was aber bleibt, wenn körperliche Erfahrung durch Simulationen verdrängt, erlebte Wirklichkeit zusehends im Datennirwana aufgelöst wird? Wie kann sich der scheinbar entmaterialisierte Mensch in Zukunft verorten? Ralf Hanselle entwirft in seinem Essay ein Bild der conditio humana des heraufziehenden Homo digitalis.

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RALF HANSELLE

Homo digitalis

Obdachlos im Cyberspace

Reihe zu Klampen Essay

Herausgegeben von

Anne Hamilton

Ralf Hanselle,

geboren 1972 in Detmold, studierte Germanistik und Philosophie in Bonn. Bis 2021 arbeitete er als freier Publizist für verschiedene deutsche Tages- und Wochenzeitungen. 2021 übernahm er das Ressort Kultur bei der Zeitschrift CICERO, deren stellvertretender Chefredakteur er seitdem ist.

»Werdet Vorübergehende!«

Thomas-Evangelium, Logion 42

»Die größte Gefahr in der Moderne geht nicht von der Anziehungskraft nationalistischer und rassistischer Ideologien aus, sondern von dem Verlust an Wirklichkeit. Wenn der Widerstand durch Wirklichkeit fehlt, dann wird prinzipiell alles möglich.«

Hannah Arendt

Für Maria

Inhalt

Prolog

Der kommende Gott

Der Tod der Kathedralen

Der Tod der Bibliotheken

Der Tod der Landschaft

Der dissoziierte Mensch

Literatur

Impressum

Prolog

Es gibt Entwicklungen, die einen grundlegenden Wandel unserer Lebenswelt einleiten – als werde eine Schwelle überschritten, ein point of no return erreicht. Die Digitalisierung mit all ihren Umbrüchen auf den Gebieten Kommunikation, Denken, Wahrnehmung, Handeln und Erinnern stellt eine solche Entwicklung dar. So wie die Menschen mit der beginnenden Schriftkultur vermutlich bald schon nicht mehr gewusst haben werden, wie es war, im magischen Bewusstsein der Bilder zu leben, so kommt uns in unserer gegenwärtigen Online-Kultur mehr und mehr das Gefühl für die Offline-Welt abhanden.

Gerade einmal dreißig Jahre ist es jetzt her, dass mit den sogenannten digital natives eine Generation die Bühne der Welt betrat, die erstmals keinerlei eigene Erinnerung mehr an ein nahezu vollkommen analoges Leben hatte. »You are terrified of your own children, since they are natives in a world where you will always be immigrants«, hieß es 1996 in der vom US-amerikanischen Menschenrechtler John Perry Barlow verfassten »Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace«. Fortan also zerfielen die Menschen in zwei Gruppen: die Eingeborenen und die Fremden; die mit der Zukunft vor Augen und die mit der sicherlich oft auch lähmenden Geschichte im Gepäck.

Und wer möchte schon im Sinne Barlows ein Immigrant sein – zumal in einer zunehmend virtuellen Welt, die sich selbst mehr und mehr zu verflüchtigen scheint. Man stelle sich nur einmal vor, irgendwann um das dritte Jahrtausend vor Christus als Nicht-Alphabetisierter in Mesopotamien gelebt zu haben: Während um einen herum immer mehr Menschen die Welt in Zeilen und Linien – und somit in ein chronologisches Nacheinander – zu ordnen begannen, steckte man selbst fest in einer durch Bilder generierten Gleichzeitigkeit.1 Und während für andere allmählich das historische Bewusstsein begann, blieb man selbst dem magischen Denken verhaftet. Hat man den Schritt in gänzlich neue Wahrnehmungsmuster einmal vollzogen, schwinden die einst das Dasein prägenden Erfahrungswerte. In den frühen Hochkulturen brauchte es dafür zuweilen Jahrtausende, heute vollzieht sich ein solcher Prozess in nicht einmal einer Generation.

Jeder Medienwechsel ist so gesehen vor allem ein Bewusstseinswechsel. Und es wäre wohl vermessen, wollte man dem Fortschritt ins Getriebe greifen. Doch hüten gerade auch die digital immigrants einen nicht unerheblichen Wissensschatz: Alles könnte eben auch ganz anders sein. Von dieser Erkenntnis handelt der folgende Essay. Er versteht sich nicht als nostalgische Rückrufaktion für die analoge Welt vor 1990; und er will schon gar nicht die vielen positiven Veränderungen leugnen, die die zunehmende Nutzung und Vernetzung von Computern in den letzten Jahrzehnten mit sich gebracht haben. Dieses Buch will vielmehr Wissen und Erfahrungen konservieren; Erfahrungen, die noch einmal von Bedeutung sein könnten für die Conditio humana.

Berlin, im Juni 2023

1 Zu den radikalen Veränderungen auf dem Weg von der Bildzur Schriftkultur s. Vilém Flusser: »Für eine Philosophie der Fotografie«. Göttingen 1983.

Der kommende Gott

I.

Mitten in Barcelona, geschützt von der Plaça d’Eusebi Güell und den 600 Jahre alten Klosteranlagen von Pedralbes, liegt eine alte Kapelle. Eingeklemmt von zwei schmalen Türmen erstreckt sich ihr Langhaus bis direkt vor die gläsernen Fassaden der Polytechnischen Universität. Torre Girona, Turm von Girona, heißt das eigentlich recht unspektakulär daliegende kleine Gotteshaus aus dem späten 18. Jahrhundert, das mit seinem Namen auf jene nordkatalonische Metropole verweist, in der seit dem Mittelalter die Kathedrale Santa Maria de Girona bis kurz vor den Himmel ragt. Torre Girona selbst ist wesentlich kleiner. Unter seinem roten Ziegeldach erstreckt sich das kühle, einst zu einem Kloster gehörende alte Sandsteingemäuer auf einer Grundfläche von gerade einmal 170 Quadratmetern. Zum Vergleich: Der Kölner Dom steht auf einer Fläche von fast 8000 Quadratmetern und ist somit gut 47-mal größer.

Wer sich jedoch ins Innere der gut geschützten und vor vielen Jahren bereits profanierten katalonischen Kirche hineinwagt, der wird nach wenigen Schritten von einer Art Wunder überwältigt. Kurz hinter der Apsis nämlich, dort wo das gut gekühlte Gebäude einzig noch von hohen, neoromanischen Rundbögen getragen zu sein scheint, liegt eines der letzten Heiligtümer unserer Zeit: Durchscheinend ist es wie der göttliche Geist und schier allwissend wie der Allmächtige selbst. Sein Name: »MareNostrum«, unser Meer. In der römischen Antike noch das Wort für das Tyrrhenische Meer – jener Teil des Mittelmeers also, der die nach Westen hin geöffnete Küste Italiens mit den Inseln Sizilien, Sardinien und Korsika verbindet –, hat sich seine Bedeutung seither mehrmals gewandelt. Nach den Schlachten bei Actium und bei Philippi um das Jahr 30 v. Chr. dehnte sich das riesige Gewässer, welches die Römer einst wie ihre eigene Habe »das Unsrige« nannten, hinüber bis zur Iberischen Halbinsel und im Süden bis hinunter nach Ägypten aus.