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Der perfekte Sommerroman zum Wegträumen und Verlieben von der SPIEGEL-Bestsellerautorin
Isabel, Ende 40, hat die letzten Jahre ihre Mutter gepflegt und steht nun nach deren Tod vor einem Neuanfang. Sie will endlich wieder als Fotografin voll durchstarten. Ihr erster großer Auftrag führt sie ausgerechnet nach Stockholm – dabei hatte sie sich geschworen, nie wieder schwedischen Boden zu betreten. Der Verlust ihres Verlobten Oscar, der vor 25 Jahren bei einer dummen Wette ertrank, schmerzt noch zu sehr. Doch das lukrative Projekt in einem schicken Stockholmer Hotel kann sie nicht ablehnen.
Die malerische Gamla Stan und die sommerliche Idylle der Schären verzaubern sie sofort wieder. Dass sie sich dort ausgerechnet in Hotelchef Lennart verliebt, war so nicht geplant. Isabels Gefühle für ihn sind stärker als ihr Widerstand. Doch dann erfährt sie etwas über ihn, was alles ändert und ihr neues Glück aufs Spiel stellt …
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Seitenzahl: 356
Veröffentlichungsjahr: 2025
Isabel, Ende 40, hat die letzten Jahre ihre Mutter gepflegt und steht nun nach deren Tod vor einem Neuanfang. Sie will endlich wieder als Fotografin voll durchstarten. Ihr erster großer Auftrag führt sie ausgerechnet nach Stockholm – dabei hatte sie sich geschworen, nie wieder schwedischen Boden zu betreten. Der Verlust ihres Verlobten Oscar, der vor 25 Jahren bei einer dummen Wette ertrank, schmerzt noch zu sehr. Doch das lukrative Projekt in einem schicken Stockholmer Hotel kann sie nicht ablehnen.
Die malerische Gamla Stan und die sommerliche Idylle der Schären verzaubern sie sofort wieder. Dass sie sich dort ausgerechnet in Hotelchef Lennart verliebt, war so nicht geplant. Isabels Gefühle für ihn sind stärker als ihr Widerstand. Doch dann erfährt sie etwas über ihn, was alles ändert und ihr neues Glück aufs Spiel stellt …
Gemeinsam mit ihren Freundinnen schreibt Heike Abidi ebenso witzige wie erfolgreiche Sachbücher, die eines nach dem anderen die SPIEGEL-Bestsellerliste stürmen. Doch auch mit ihren Romanen schafft sie es, ihre Leserinnen jedes Mal aufs Neue zu begeistern. Ihre Geschichten gehen ans Herz und sind die perfekte Leseauszeit vom Alltag.
Heike Abidi lebt mit ihrer Familie als freie Autorin in der Pfalz und schreibt bereits an weiteren Büchern.
Außerdem von Heike Abidi lieferbar:
Für Glück ist es nie zu spät
Freundinnen bleiben wir immer (zusammen mit Ursi Breidenbach)
Eine wahre Freundin ist wie ein BH (zusammen mit Ursi Breidenbach)
Großeltern sind wie Eltern nur mit Zuckerguss (zusammen mit Ursi Breidenbach)
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Ich dachte, zu zweit muss man nicht alles selber machen (zusammen mit Lucinde Hutzenlaub)
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Ich dachte, ich bin schon perfekt (zusammen mit Lucinde Hutzenlaub)
Ich dachte, sie ziehen nie aus (zusammen mit Lucinde Hutzenlaub)
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www.penguin-verlag.de
HEIKE ABIDI
Noch immer Zeit zu lieben
Roman
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Redaktion: Katharina Rottenbacher
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-32153-6V002
www.penguin-verlag.de
In dem Zimmer mit den Sprossenfenstern und dem Kachelofen herrscht furchtbares Chaos, und obwohl ich es selbst verursacht habe, sitze ich völlig reglos im Schneidersitz auf dem Boden. Inmitten der Pulloverstapel, der Schubladen voller Unterwäsche und der Bücherkisten bin ich in das Fotoalbum versunken, das aufgeschlagen vor mir liegt.
Fotos sind meine Leidenschaft, doch selbst wenn es nicht so wäre, würde mich diese eine Aufnahme in den Bann ziehen. Sie zeigt ein etwa fünfjähriges Mädchen mit geflochtenen Zöpfen und einem geringelten Kleidchen, das Hand in Hand mit seiner Mutter am Ufer des Neckars spazieren geht. Deren rotblonde Hochsteckfrisur, tiefgrüne Augen und zierliche Figur könnten einen glauben lassen, ich selbst sei die Frau auf dem Foto, so groß ist die Ähnlichkeit. Doch die rotstichigen Farben des Abzugs und der altmodische Kleidungsstil verraten, dass es in den Siebzigern aufgenommen wurde. Damals war ich noch ein Vorschulkind und meine Mutter in den besten Jahren. Sie war sogar deutlich jünger als ich heute, dennoch wirkt sie auf dem Bild wie meine Doppelgängerin. Es ist, als würde ich mich gleich zweifach wiedererkennen – als das Mädchen, das ich einmal war, und die Frau, zu der ich geworden bin.
Ich erinnere mich so gut an den Tag, an dem das Bild aufgenommen wurde. Es war ein Sonntag im Frühsommer, und wir kamen von einer Schiffsanlegestelle. An die Fahrt mit dem Ausflugsdampfer entsinne ich mich nur noch vage, wohl aber sehr genau an das Eis, das ich anschließend bekam. Meinen ersten Spaghettibecher. Meine Eltern tranken Eiskaffee, und ich bettelte so lange, bis ich davon probieren durfte, verzog dann aber nur angewidert das Gesicht, weil der Kaffee so bitter schmeckte.
Unfassbar, wie präsent das alles auf einmal wieder ist. Doch noch viel unwirklicher kommt es mir vor, dass ich nun nie wieder die Hand meiner Mutter halten werde. Dass sie gegangen ist, für immer. Und ich nun dabei bin, ihre Sachen auszuräumen.
»Wenn ich so weitermache, brauche ich dafür Jahre«, murmele ich, um mich selbst anzutreiben, und wische die Tränen weg, die mir schon wieder übers Gesicht laufen. Nach wie vor zieht sich mein Herz schmerzhaft zusammen, wenn mir die Endgültigkeit meines Verlustes bewusst wird. Vier Wochen sind vergangen, seit sie gestorben ist, doch mir kommt es vor wie ein Wimpernschlag. Kann man sich überhaupt jemals daran gewöhnen, dass ein geliebter Mensch nicht mehr da ist? Und will ich das überhaupt?
Ich klappe das Fotoalbum zu. Das werde ich mir irgendwann ganz in Ruhe ansehen. Jetzt gilt es erst einmal, die Schränke und Kommoden zu leeren, damit ich die Möbel abholen lassen und dann den Raum renovieren kann.
Doch das ist leichter gesagt als getan, denn jeder einzelne Gegenstand hängt voller Erinnerungen, und es gelingt mir einfach nicht, sie zu ignorieren.
Diese Handtasche zum Beispiel habe ich ihr zum fünfzigsten Geburtstag geschenkt. Sie ist aus Wildleder und hat lange Fransen. Eigentlich entsprach sie eher meinem damaligen Look und hat nie so richtig zum Kleidungsstil meiner Mutter gepasst. Trotzdem war sie jahrelang ihr täglicher Begleiter, und sogar als die Tasche ganz speckig und schäbig aussah und durch eine neue ersetzt wurde, hat sie sie aufbewahrt.
Nächstes Jahr werde ich selbst fünfzig, und außer meiner Freundin Olivia gibt es niemanden, der mir zu diesem Anlass etwas schenken wird. Und schon gar nichts, an dem mein Herz so sehr hängen wird wie das meiner Mutter an dieser Tasche. Nicht weil sie so außergewöhnlich schön war, sondern weil ich sie ausgesucht hatte.
Diese tiefe und reine Liebe, wie sie es nur zwischen Mutter und Kind gibt, die alles verzeiht und vollkommen uneigennützig ist, werde ich niemals erleben. Und auch sonst hat die Liebe mir nicht viel Glück gebracht im Leben.
Wäre Oscar noch da, ja, dann wäre gewiss alles anders gekommen. Wir hätten geheiratet, eine Familie gegründet, das ganze Programm. Wir wären glücklich miteinander geworden. Ganz zweifellos.
Aber Oscar ist tot. Und das hat alles verändert.
Überhaupt kommt mir mein ganzes Leben auf einmal vor wie eine Aneinanderreihung von Verlusten. Erst Oscar, dann mein Vater und jetzt meine Mutter.
Es sei eine Erlösung, haben sie gesagt, die Nachbarn und entfernten Verwandten, als sie mir am Grab kondolierten. Und ich habe mechanisch genickt. In den Jahren zuvor, als mir Mamas Alzheimererkrankung zuweilen den letzten Nerv raubte, habe ich mir selbst hin und wieder diesen Gedanken erlaubt. Dass der Tod eine Erlösung wäre. Für alle. Aber nun …
»Demenz ist das Allerschlimmste«, hat Mama früher immer gesagt. In einem Ton, der ihre Überzeugung kundtat, dass sie selbst davon verschont bleiben würde. Bei den vielen Büchern, die sie las, und all den Kreuzworträtseln, die sie löste, war ihr Gehirn gewiss davor gefeit.
War es nicht. Als sie krank war, kam ihr dieser Satz nie mehr über die Lippen.
Demenz ist schlimm, aber nicht das Allerschlimmste. Mit fünfundzwanzig zu ertrinken, das ist schlimm. Oder mit noch nicht einmal sechzig an einem Schlaganfall zu sterben, obwohl man doch noch so viel vorhatte. Aber sanft ins Reich des Vergessens abzutauchen und sich darin immer mehr selbst aufzulösen, bis irgendwann gar nichts mehr von einem übrig bleibt, das ist gnädig.
Ich packe den Stapel Pullover in eine Kiste für das Sozialkaufhaus. Beste Qualität, alles noch in Topzustand. Auch die drei völlig identischen dunkelblauen Feinstrickpullis, die sich meine Mutter im Abstand von zwei Wochen im Versandhaus bestellt hat. Weil sie sich nicht mehr daran erinnerte, dass sie es schon getan hatte. Damit hat es angefangen – und mit dem angebrannten Sauerkraut. Es dauerte nicht lange, bis sie sich an kein einziges ihrer Lieblingsrezepte mehr erinnerte und anfing, sich ständig zu verlaufen. Auch in der näheren Umgebung, sogar in ihrem Zuhause.
Dass sie permanent nach Wörtern suchte und, wenn sie ihr nicht einfielen, einfach welche erfand, gehörte bald zum Alltag. Ich hatte zu dem Zeitpunkt schon meine eigene Wohnung aufgegeben und war zu ihr in das kleine Häuschen am Stadtrand von Heidelberg gezogen, das meine Großeltern in den Vierzigerjahren gebaut hatten.
Die letzten Jahre waren intensiv und anstrengend. Und am Schluss habe ich es auch nicht mehr allein geschafft. Aber gemeinsam mit Agnieszka, einer tüchtigen Pflegerin, ging es.
Schade, dass der Kontakt zu Agnieszka nach der Beerdigung ganz eingeschlafen ist. Sie hat längst ihre nächste Pflegestelle angetreten.
Agnieszka weiß, wie das Leben für sie weitergeht, trotz all der Verluste, die naturgemäß zu ihrem Berufsleben gehören.
Ich weiß es eigentlich auch. Ich werde das Haus renovieren. Ein Fotostudio und ein Büro einrichten. Ich werde meine Karriere vorantreiben. Mich um spannende Aufträge kümmern und nicht mehr nur von Schule zu Schule radeln, um Klassenfotos zu knipsen, oder mit der Kamera durch die Umgebung von Heidelberg wandern, um Naturaufnahmen für Heimatkalender zu machen.
Olivia hat mir zugeredet. »Das schaffst du, Isabel. Bald kommst du ganz groß raus!«
Ich selbst bin da weniger optimistisch. Olivia will mich bloß aufmuntern. Außerdem ist sie meine Agentin, und da gehört es quasi zur Jobbeschreibung, dass sie ihre Künstlerinnen und Künstler bei Laune hält, ganz gleich, ob sie zufälligerweise auch eng mit ihr befreundet sind oder nicht.
Irgendwie fühle ich mich wie eine Hochstaplerin, wenn ich mich in Gedanken als Künstlerin bezeichne. Ich, Isabel Blum, neunundvierzig, alleinstehend, erfolglos.
Okay, vor einem Vierteljahrhundert habe ich Fotografie studiert, und ich war richtig gut. Aber dann kam das Leben dazwischen, und statt von einem spannenden Projekt zum nächsten um die Welt zu reisen, habe ich mich nach Oscars Tod in mein Schneckenhaus zurückgezogen.
Nachdem ich das Paket mit den Pullovern in die Garage verfrachtet habe, wo schon eine Reihe ähnlicher Kisten zum Abtransport bereitstehen, merke ich, wie erschöpft ich bin. Ich brauche eine Pause. Und einen Kaffee.
In der Küche sieht alles noch so aus wie in meiner Kindheit. Mein Vater hatte vor seinem Tod Modernisierungspläne geschmiedet, doch dazu ist er nicht mehr gekommen. Und so ist hier alles geblieben, wie es war. Die Küchenschränke mit Resopal-Front aus den Sechzigern stehen heute noch da, wo sie in meiner Erinnerung immer waren. Die Raufasertapete ist noch dieselbe. Nur der Herd wurde irgendwann um die Jahrtausendwende erneuert, und die Espressomaschine habe ich erst vor ein paar Jahren angeschafft.
Mit der Tasse in der Hand trete ich hinaus in das Gärtchen, auf das Mama immer so stolz war und das jetzt ziemlich verwildert ist. Wobei mir das eigentlich viel besser gefällt als Mamas akkurat angelegte Beete.
Ich setze mich auf die hölzerne Bank, die dringend einen Anstrich nötig hätte, weil die dunkelblaue Farbe immer mehr abblättert, und genieße die Nachmittagssonne. Der Juni war bisher recht kühl, heute ist der erste warme Tag. Bestimmt wird es bald so unerträglich heiß sein, dass ich mich nach dem durchwachsenen Frühsommer zurücksehnen werde. Ich vertrage die Hitze nicht sonderlich gut. Deshalb habe ich mich auch im Norden immer so wohlgefühlt, damals.
Ich gehe hinein und stelle meine Tasse in die Spüle. Dann mache ich weiter in dem Raum, der zuletzt Mamas Zimmer war. Ursprünglich war es einmal unser Esszimmer, aber dann brauchten wir ein Schlafzimmer für Agnieszka, also aßen wir von da ab in der Küche, und Mama wohnte hier, im schönsten Raum des Hauses. Sie sollte sich wohlfühlen. Und das tat sie.
Ich reiße einen großen blauen Müllsack von der Rolle und stopfe Mamas Unterwäsche hinein. Altmodische Slips, ausgeleierte BHs, häufig getragene Socken – das kann alles weg. Ein paar Nachthemden kommen auch zu dieser Kategorie, die besseren dagegen, die sie sich extra für eventuelle Krankenhausaufenthalte angeschafft hat, sind noch so gut wie neu. Ich gebe sie in eine weitere Kiste fürs Sozialkaufhaus. Dazu noch ein paar Blusen. Nicht neueste Mode, aber fast ungetragen. Mama gehörte noch zu der Generation, die Kleidung in »für jeden Tag« und »für gut« unterschied. Diese Seidenbluse beispielsweise fällt eindeutig unter die zweite Kategorie, und wenn ich mich recht erinnere, hat sie sie nur ein einziges Mal getragen, nämlich anlässlich ihres siebzigsten Geburtstags. Also vor neun Jahren. Damals stand das Wort Alzheimer noch nicht im Raum, und dass sie immer öfter ihre Brille oder ihren Schlüssel an den unmöglichsten Stellen liegen ließ, nahm weder sie noch ich ernst. Rückblickend war es vielleicht ein erstes Symptom.
Ich will die Kommodenschublade schon schließen, da entdecke ich darin die Mappe mit den Porträts, die wir im vorletzten Winter aufgenommen haben. Damals habe ich sie fotografiert und sie mich. Das war vielleicht der schönste Tag, den wir je miteinander verbracht haben. Und auch wenn ihre Fotos unscharf sind und nie mein ganzes Gesicht zeigen, sondern immer nur Ausschnitte davon, erkenne ich darin die Liebe, mit der sie mich betrachtet hat. »Du lachst so schön, Isabel!«, hat sie gesagt. Das war das letzte Mal, dass sie meinen Namen nannte, bevor sie ihn endgültig vergaß.
Ich betrachte meine eigenen Aufnahmen. Die Frau auf dem Siebzigerjahrefoto, das ich vorhin in Händen hatte, ist fast nicht wiederzuerkennen. Die Krankheit hat sie völlig verändert. Doch es ist mir gelungen, ein paar Momente einzufangen, in denen ihre Augen so schalkhaft blitzten wie früher und in denen ihr Blick so klar war, als wüsste sie haargenau, was Sache war. Und dann ist da noch mein Lieblingsfoto. Sie schmiegt sich strahlend an eine Puppe und sieht so glücklich aus wie ein kleines Mädchen an Weihnachten – irgendwie alterslos und unbeschwert. Es war eine gute Idee von Agnieszka, ihr ein paar Kinderspielsachen zu besorgen.
Bevor ich dieses letzte Bild in die Mappe zurücklege, fotografiere ich es mit dem Handy ab, damit ich diese schöne Erinnerung immer bei mir trage. Auch wenn das gar nicht nötig ist, weil sie ohnehin in meinem Herzen bleibt.
Mein Handy vibriert und reißt mich aus meinen Gedanken.
»Olivia, wie schön, dass du dich meldest. Geht’s dir gut?«
»Bestens«, erwidert meine Freundin, »und dir gleich auch. Denn – tadaaaaa: Ich habe einen Auftrag für dich! Isabel Blum, Sie wurden für eine lukrative Fotosession in einem internationalen Luxushotel gebucht. Ist das genial oder ist das genial?«
Das muss ein Scherz sein.
»Ernsthaft? Ich bin doch bloß eine Schul- und Kalenderfotografin.«
»Hallo? Im Job bin ich superseriös. Natürlich ernsthaft. Na, was sagst du? Sie waren von deiner Fotomappe mehr als begeistert. Es hat sich ausgezahlt, dass ich auf meiner Website deine besten Arbeiten präsentiert habe, nicht deine aktuellsten.«
Sie klingt ein kleines bisschen zu aufgedreht. Olivia war zwar schon immer lebhafter als ich, aber irgendetwas in ihrer Stimme sagt mir, dass da ein Haken an der Sache ist.
»Und wo steht das Luxushotel? Mitten in einem Kriegsgebiet? Oder in Saudi-Arabien, wo ich als Frau nur in Vollverschleierung arbeiten darf, wenn überhaupt? Oder in der Sahara, wo mich schon nach fünf Minuten der Hitzschlag trifft?«
»Dreimal nein«, sagt Olivia, aber ich höre ihr an, dass da noch etwas kommt. »Du darfst jetzt nicht durchdrehen, Isabel, aber das Hotel steht in Södermalm.«
Ich schlucke. »Södermalm – wie der Stadtteil von Stockholm?«
»Exakt, Stockholm. Ein echtes Nobelhotel, du wirst es lieben. Und der Auftrag ist gut bezahlt.«
Ich schweige.
»Isabel? Bist du noch dran?«
»Du musst das absagen.«
»Ich glaube, die Verbindung ist nicht in Ordnung. Ich hab glatt verstanden, du hättest gesagt, ich soll absagen.«
»Die Verbindung ist einwandfrei. Aber Stockholm kommt nicht infrage. Das weißt du doch. Ich habe geschworen, nie wieder schwedischen Boden zu betreten.«
»Ja, aber das ist ewig her. Das Land kann doch nichts dafür und die Hotelbesitzer noch weniger. Von mir ganz zu schweigen. Ich hab quasi schon zugesagt. Wie steh ich denn jetzt da?«
Ich beiße mir auf die Unterlippe. »So hab ich mir das nicht vorgestellt«, sage ich schließlich. »Solche Entscheidungen muss ich selbst treffen.«
Olivia seufzt. »Das ging nicht. Du hättest dich dagegen entschieden. Und das konnte ich nicht zulassen. Der Job ist eine Riesenchance für dich. Könnte dein Durchbruch werden. Und hey, die laden dich für drei lange Wochen in eine der schönsten Städte der Welt ein. Reisekosten, Essen, Unterkunft, alles frei. Plus dein Honorar. So was darf man einfach nicht ablehnen.«
Olivia ist meine allerbeste und im Grunde auch einzige echte Freundin. Aber gerade jetzt könnte ich ihr den Hals umdrehen.
Ich nehme das Fahrrad wie meistens in der warmen Jahreszeit – und manchmal auch in der kalten. Es ist immer noch derselbe alte Drahtesel, mit dem ich früher zur Schule geradelt bin, nachmittags zu meinen Freundinnen oder zum Ballett. Spätestens ab der Oberstufe war Olivia oft mit von der Partie. Sie war sechzehn, als ihre Eltern nach Heidelberg zogen und sie in meine Klasse kam. Nach einem eher holprigen Anfang freundeten wir uns ganz schnell an.
Ich muss grinsen, als ich mich daran erinnere, wie Olivia in ihrer knallengen Levis, den knöchelhohen Adidas Allround und dem neongrünen T-Shirt neben unserer Deutschlehrerin vor der Klasse stand und als neue Mitschülerin vorgestellt wurde. Sie wirkte kein bisschen eingeschüchtert, sondern total selbstsicher, in meinen Augen fast arrogant. Ich versetzte mich in ihre Situation und stellte mir vor, wie unangenehm es mir an ihrer Stelle wäre, von allen angestarrt und – ja, Jugendliche sind nun mal so – beurteilt zu werden. Olivia schien das nichts auszumachen.
»Am besten setzt du dich neben Isabel«, sagte die Lehrerin und deutete auf den freien Platz neben mir.
Ich lächelte Olivia entgegen und schob die Bücher und Hefte, die ich über das gesamte Pult verteilt hatte, auf meine Seite, um ihr Platz zu machen.
»Ganz vorne? Bist wohl eine Streberin«, war das Erste, was sie mir zuraunte. Ich war wie erstarrt. Wie war die denn drauf? Warum verhielt sich die Neue bloß so aggressiv? Ich hatte ihr doch gar nichts getan!
»Vorne wird man eher in Ruhe gelassen als in den hinteren Reihen«, gab ich leise zurück. Denn das entsprach meiner Erfahrung: Die meisten Lehrkräfte behielten vor allem diejenigen, die sich in die letzten Bankreihen verkrümelten, besonders im Auge. Vorne dagegen blieb man einigermaßen unter dem Radar.
»Und warum sitzt du dann allein? Hast wohl keine Freunde«, erwiderte Olivia, und das war das Letzte, was sie an diesem Tag zu mir sagte. Auch ich hielt den Mund und würdigte sie keines Blickes mehr. Ich war sauer und gekränkt. Vor allem ihre letzte Bemerkung tat weh. Denn ich hatte nicht immer allein in der Bank gesessen. Aber dann war Carla schwer krank geworden. Zum Glück konnte ihre Leukämie geheilt werden, aber nach all den Monaten im Krankenhaus hatte sie so viel Stoff verpasst, dass sie auf ein Internat wechselte, wo sie die notwendige Förderung bekam. Sie fehlte mir.
Und nun saß diese Olivia auf Carlas Platz – und attackierte mich völlig grundlos.
Auch am nächsten Tag schwiegen wir uns gegenseitig an. Doch als ich nach Schulschluss zum Fahrradständer kam, fand ich Olivia dort in Tränen aufgelöst vor. Es gelang mir nicht, das zu ignorieren, also ging ich zu ihr rüber und erkundigte mich, was los war. Nichts Schlimmes, eigentlich. Der Schlüssel zu ihrem Fahrradschloss war abgebrochen.
»Warte kurz«, sagte ich bloß und machte mich auf die Suche nach dem Hausmeister, der das Problem schnell lösen konnte.
Olivia war wahnsinnig erleichtert. »Danke. Das war nett von dir. Netter, als ich es verdient hätte.«
Damit nahm sie mir den Wind aus den Segeln. Denn Letzteres wäre eigentlich mein Text gewesen.
»Schon okay«, erwiderte ich. Und dann ging ich noch einen Schritt auf sie zu – im wahren wie im übertragenen Sinne. »Was ist eigentlich los mit dir? Hab ich dir was getan, oder warum warst du gestern so fies zu mir?«
Schon wieder traten Tränen in Olivias Augen. »Es ist nicht leicht, in einer neuen Stadt, in einer neuen Schule klarzukommen. Meine alten Freundinnen fehlen mir. Ich will eigentlich gar nicht hier sein. Das ist alles bloß wegen des neuen Jobs meiner Mutter …«
Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte. »Du warst doch so cool, als du vorgestellt wurdest!«
»Alles nur Show. Am liebsten wäre ich im Boden versunken. Manchmal bin ich eine richtige Zicke, und dann kann ich mich selbst nicht leiden. Hatte nichts mit dir zu tun. Tut mir echt leid.«
Das war der Beginn unserer Freundschaft. Bis heute ist Olivia meine Vertraute, meine Seelenverwandte – auch wenn wir nach wie vor sehr unterschiedlich ticken. Sie ist eine Macherin, meistens auffällig gestylt, immer dynamisch. Ihre laute, glucksende Lache würde ich aus Tausenden anderer erkennen. Man kann so viel Spaß mit ihr haben! Und vor allem weiß ich, dass ich mich zu einhundert Prozent auf sie verlassen kann. Damals, nach Oscars Tod, war sie diejenige, die mich auffing, rund um die Uhr für mich da war, mich zurück ins Leben führte. Auch als Mama krank wurde, war sie meine emotionale Stütze. Und nach Mamas Tod hat Olivia es sich zur Aufgabe gemacht, meinem neuen Leben Schwung zu verleihen und vor allem meine Karriere anzuschieben.
Olivia winkt mir schon entgegen, als ich auf den Biergarten zu radele, dort absteige und den Drahtesel abstelle. Mit ihrem knallroten Kleid und perfekt dazu passendem Lippenstift ist sie ohnehin nicht zu übersehen. Beides harmoniert hervorragend mit ihrem hellen Teint und ihrem dunkelbraunen, schulterlang gewellten Haaren. Ich schließe das Rad nicht ab, denn erstens habe ich es von dem Platz, den Olivia ausgewählt hat, gut im Blick, und zweitens ist das olle Ding sowieso keinen Pfifferling mehr wert. Wenn es mir geklaut wird, habe ich endlich einen Grund, mir ein moderneres zu kaufen.
Zur Begrüßung springt Olivia auf und umarmt mich so stürmisch, dass sie dabei fast das Weizenbierglas umstößt, das vor ihr steht. Ich muss lachen. Sie ist einfach nicht zu bremsen. Wobei – genau das habe ich vor. Ich muss sie dazu bringen, diesen Fotoauftrag in Schweden abzublasen, und das, obwohl sie eigentlich schon zugesagt hat.
Doch bevor ich dieses Thema in Angriff nehme, bestelle ich mir erst einmal ein Helles und dazu eine Portion Käsespätzle, denn ich habe heute noch kaum etwas zu mir genommen.
»Gute Idee, noch mal was typisch Deutsches zu essen, bevor du dich demnächst von Köttbullar, Blutwurstgrütze und Janssons Frestelse ernährst«, macht Olivia meinen Plan mit einem Satz zunichte. Okay, sie will gleich zum Thema kommen? Kann sie gerne haben.
»Köttbullar gibt’s in jedem Ikea«, erwidere ich, »Blutwurstgrütze hab ich noch nie gemocht, und Janssons Frestelse schmeckt eher im Winter.«
»Na ja, wer im Juni Käsespätzle vertilgt, kann auch Kartoffelauflauf mit geräucherten Sprotten vertragen«, kontert Olivia, die schon immer schlagfertiger war als ich.
Der junge Mann, der mein Bier bringt – sicher ein Student und noch nicht lange hier beschäftigt, seiner Ungeschicklichkeit und seinem entschuldigenden Grinsen nach zu urteilen –, verschafft mir ein bisschen Zeit für eine Antwort. Ich danke ihm, nehme direkt einen erfrischenden Schluck und stelle mein Glas ab.
»Ich verstehe deine Argumente, Olivia, aber du musst mich auch verstehen. Schließlich weiß niemand so gut wie du, was allein die Vorstellung, nach Schweden reisen zu müssen, in mir auslöst.«
Ich war damals nur für ein paar Tage in Deutschland – jedenfalls war das so geplant. Olivia war bei mir, als ich den Anruf erhielt. Und zusammenbrach. Sekunden zuvor sah ich noch einer strahlenden, glücklichen Zukunft in Schweden entgegen, mit Oscar an meiner Seite. Doch plötzlich war alles dunkel und hoffnungslos. Ich glaube nicht, dass ich ohne Olivias Unterstützung überlebt hätte.
Sie greift nach meiner Hand und drückt sie. »Ja, natürlich. Wie könnte ich das vergessen. Aber Isabel, seitdem sind fünfundzwanzig Jahre vergangen. Ich will dich wirklich nicht überreden, aber ich möchte, dass du dich ernsthaft fragst, ob du dir mit deiner Weigerung vielleicht selbst im Weg stehst.«
Ich verschränke die Arme vor meiner Brust. »Wie kommen die überhaupt auf mich? Gibt es in Schweden keine Fotografen? Es ist ja nicht so, als wäre ich berühmt.«
»Noch nicht«, erwidert Olivia. »Aber extrem gut. Deine Arbeiten, die ich auf meiner Website präsentiere, haben sie begeistert. Und dass in deinem Porträt steht, dass du fließend Englisch und Schwedisch sprichst, hat auch nicht gerade geschadet.«
»Warum hast du das überhaupt erwähnt?«
»Weil es dir internationale Aufträge einbringt, wie du siehst. Du solltest mir dankbar sein.«
Ich will sofort widersprechen, doch Olivia stoppt mich mit einer Geste. »Ich muss mal eben telefonieren, okay? Bin gleich zurück.«
Na, das hat sie sich ja fein ausgedacht. Das mit dem Telefonat ist sicher nur eine Ausrede, damit ich Zeit zum Nachdenken habe.
Wobei – okay, ich sehe Olivia auf dem Parkplatz hin- und herlaufen, während sie heftig gestikulierend spricht. Entweder ist sie eine begnadete Schauspielerin, oder sie hat mir doch nichts vorgemacht.
Ihre Worte gehen mir nicht aus dem Kopf. Stehe ich mir wirklich selbst im Weg?
Nun ja, Schweden war immer mein Traumland. Ich habe mich dort so wohl wie nirgendwo sonst gefühlt. Oscar hat manchmal gefrotzelt, ich müsse in einem früheren Leben Wikingerin gewesen sein. Auch weil es mir so leichtfiel, die Sprache zu lernen, während ich als Schülerin immer Probleme mit Englisch und vor allem Französisch gehabt hatte.
»Ich bin eben geboren, um mit dir hier zu leben«, lautete dann meine Antwort, woraufhin Oscar mich küsste. Dieser kleine Dialog war ein Ritual zwischen uns beiden, ein Running Gag, in dem doch so viel Wahrheit steckte. Und der sich dann leider als Illusion entpuppte.
Nach Oscars Tod war auch meine Zukunft in seinem Land gestorben. Ich fuhr noch ein letztes Mal nach Göteborg zur Beerdigung. Zurück in Heidelberg, schwor ich mir, nie wieder einen Fuß auf schwedischen Boden zu setzen. Und diese Entscheidung habe ich seitdem nie angezweifelt. Sie sollte auf ewig Bestand haben. Und nun stellt Olivia das alles infrage.
Zum millionsten Mal zerbreche ich mir darüber den Kopf, wie sich Oscar damals nur auf diese dumme Wette einlassen konnte, mitten in der Nacht zur Nachbarinsel zu schwimmen. War daran nur der Alkohol schuld? Oder hat ihn jemand überredet? Hätte ich ihn davon abhalten können, wenn ich dabei gewesen wäre statt auf Heimatbesuch in Deutschland? Ich werde es nie erfahren. Auf jeden Fall muss er seine Kräfte überschätzt und die Distanz falsch beurteilt haben, und als er dann auch noch von einer Strömung erwischt wurde, war es zu spät …
Bei der Vorstellung, wie er um sein Leben gekämpft hat, zieht sich auch heute noch alles in mir schmerzhaft zusammen.
Unser Essen wird serviert. Mir wird klar, dass der Student, der es bringt, kaum jünger sein kann als wir damals. Er hat sein Leben noch vor sich. Am liebsten würde ich ihm sagen, dass er jeden einzelnen Tag genießen und keine unnötigen Wagnisse eingehen soll, aber natürlich lasse ich es bleiben – er würde mich wohl im besten Fall für ein bisschen wunderlich halten.
Olivia hat ihr Telefonat beendet und kommt auf mich zu. Ich schirme meine Augen ab, um nicht von der Sonne geblendet zu werden. Das Gegenlicht hebt ihre Silhouette und die wehenden Locken hervor und umgibt sie zugleich mit einem irgendwie übernatürlichen Glanz. Schade, dass ich meine Kamera nicht dabeihabe, denn das schnelle Handyfoto gibt den Effekt nur unzureichend wieder. Doch es genügt mir als Gedächtnisstütze. Meine Erinnerung funktioniert am besten, wenn ich sie mit visuellen Details füttere. Aus irgendeinem Grund ist es mir wichtig, diesen Moment nie zu vergessen.
Auf einmal wird mir klar, dass Olivia nicht ganz unrecht hat. Schweden ist ein wunderbares Land, und es zu meiden, schadet nur mir selbst. Vor allem aber macht es Oscar nicht wieder lebendig. Natürlich würde mich eine Reise dorthin an den schlimmen Schicksalsschlag erinnern, doch den könnte ich selbst am Ende der Welt nicht vergessen. Er begleitet mich auf Schritt und Tritt.
»Guten Appetit«, sagt Olivia, als sie sich wieder an unseren Tisch setzt. »Oh, deine Käsespätzle sehen wirklich gut aus.«
»Dein Salat aber auch«, erwidere ich. »Lass ihn dir schmecken.«
Wir genießen unser Essen schweigend. Doch die Ruhe ist nur von kurzer Dauer.
»Hast du drüber nachgedacht?«, fragt Olivia nach einer Weile.
Ich habe zwar gehofft, das Gespräch bis nach dem Essen aufschieben zu können, aber ebenso gut kann ich es gleich hinter mich bringen.
»Das Land kann ja nichts dafür«, fange ich an, und mehr muss ich gar nicht sagen, denn alles Weitere wäre ohnehin in Olivias Jubelschrei untergegangen. Sie springt auf und fällt mir um den Hals. »Ich bin so froh, dass du bereit bist, über deinen Schatten zu springen.«
Ich weiß nicht, was ich denken soll. Mit meiner Entscheidung habe ich mich selbst überrascht. In mir toben widerstreitende Emotionen. Einerseits bin ich entsetzt, dass ich zugesagt habe, andererseits auch erleichtert, als fiele eine jahrzehntealte Last von mir ab – und irgendwie fühle ich mich sogar etwas aufgeregt.
»Aber es kommt so plötzlich. Ich weiß nicht, ob ich schon dazu bereit bin«, murmele ich. »Vielleicht in ein paar Monaten oder so.«
»Du willst einen Rückzieher machen? Hör auf, Isabel, du bist so weit. Worauf willst du warten – darauf, dass ein weiteres Vierteljahrhundert vergeht?«
Gegen meinen Willen muss ich lachen. Olivia schafft es immer, meine Laune aufzubessern. In ihrer Gegenwart fällt es mir leichter, die Dinge anders zu sehen. Wie vorhin im Gegenlicht. Mit schärferen Konturen und mehr Glitzer.
»Na gut«, gebe ich nach. »Es ist ja nur ein Job.« Und vielleicht tut mir ein bisschen Abstand zu Heidelberg auch gut. Zu Hause bin ich rund um die Uhr mit der Trauer um meine Mutter konfrontiert. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht mehrmals in Tränen ausbreche.
»Nur ein Job? Irrtum, meine Liebe«, widerspricht Olivia mit erhobenem Zeigefinger und strenger Lehrerinnenstimme – ich weiß genau, welche unserer einstigen Pädagoginnen sie gerade imitiert. »Es ist die Karrierechance deines Lebens.«
Manchmal neigt Olivia zu Übertreibungen. Aber damit schafft sie es, andere mitzureißen und zu begeistern. Auch bei mir gelingt ihr das.
Ich grinse. »Meinetwegen eben die Chance meines Lebens.«
»Ganz im Ernst, Isabel: Es tut dir nicht gut, dich noch länger zu verkriechen. Du bist zu einer richtigen Einsiedlerin geworden in den letzten Jahren. Ein Wunder, dass ich dich heute zu einem Biergartenbesuch überreden konnte.«
»Wenn nicht du, wer dann?«
»Dafür sind Freundinnen und Agentinnen nun mal da«, sagt sie zufrieden. »Lass uns auf deinen Neuanfang anstoßen.« Sie erhebt ihr Glas. Ich proste ihr zu.
»Ich bin sicher, dass du deine Entscheidung nicht bereuen wirst. Übrigens: In drei Tagen geht es los. Ich bringe dir morgen die Tickets und alle weiteren Infos vorbei.«
Oh, ich bereue sie ja schon jetzt …
Olivia hat mich für übergeschnappt erklärt, als ich sie bat, statt der Flugtickets welche für die Bahn zu buchen. Der Umwelt zuliebe. Und insgeheim vor allem auch, um den Moment, in dem ich erstmals wieder schwedischen Boden betrete, noch ein wenig länger hinauszuzögern. Jetzt aber gäbe ich einiges dafür, schon in Stockholm zu sein. Ich bin müde, weil ich um fünf Uhr aufgestanden bin. Dass ich mich vorhin in Hamburg so beeilen musste, hat zusätzlich Kraft gekostet. Mein ICE aus Mannheim hatte Verspätung, und so war die Viertelstunde, die ich eigentlich zum Umsteigen gehabt hätte, auf magere vier Minuten zusammengeschrumpft. Zum Glück habe ich nachher in Kopenhagen mehr Zeit.
Bei meinen früheren Reisen nach Schweden habe ich auch meistens den Zug genommen. Damals war Fliegen noch viel teurer und kam schon aus Kostengründen nicht infrage. Allerdings gab es auch noch nicht so viele schnelle Verbindungen, von der Öresundbrücke ganz zu schweigen. Eine Bahnfahrt nach Stockholm konnte da leicht über zwanzig Stunden dauern. Heute sind es bloß noch gut sechzehn. Trotzdem habe ich die Strapazen unterschätzt. Allein das Gepäck zu schleppen, ist anstrengend – einen Trekkingrucksack auf dem Rücken, meinen Laptoprucksack vorne, die Fototasche mit der Kamera und den Objektiven geschultert und den Koffer mit den Softbox-Lampen und Stativen in der Hand. Damit komme ich mir vor wie ein Lastesel. Ein nicht mehr ganz junger Lastesel, wohlgemerkt. Klar, mit zwanzig hätte ich das alles locker weggesteckt …
Schluss mit den negativen Gedanken!, rüge ich mich selbst. Ich habe mich zu dieser Reise durchgerungen, und jetzt sollte ich auch das Beste daraus machen. Und abgesehen von der Erschöpfung geht es mir ja wirklich gut. Immerhin habe ich einen gemütlichen Sitzplatz, hatte gerade einen leckeren Salat und genieße jetzt einen Cappuccino zum Dessert.
Schade bloß, dass ich meinen Krimi längst ausgelesen habe. Dank des spannenden Plots vergingen die drei Stunden seit der Abfahrt in Hamburg wie im Flug, und jetzt sind wir kurz vor Odense. Ich hätte mir noch ein Buch einpacken sollen. Vielleicht reicht der Aufenthalt in Kopenhagen ja, um mir eins zu kaufen. Ein möglichst dickes.
Noch so ein Vorteil des Reisens mit der Bahn: mehr geschenkte Lesezeit. Und überhaupt – mit dem Flieger wäre der Trip auch nicht weniger stressig gewesen. Allein schon die Wege, die ich auf dem Frankfurter Flughafen hätte zurücklegen müssen, wären vermutlich weiter gewesen als die auf allen Bahnhöfen zusammen. Meine Entscheidung war also goldrichtig. Zumal ich Zugfahrten schon immer geliebt habe. Auch ohne Lesefutter wird mir dabei nie langweilig, denn man kann so herrlich seine Gedanken schweifen lassen. Aus dem Fenster zu schauen und die idyllische, saftig grüne Landschaft Jütlands mit ihren Wiesen, Weiden und Wäldern vorbeirasen zu sehen, hat fast etwas Meditatives. Gerade weil dieser Blick das genaue Gegenteil dessen ist, wie ich als Fotografin die Welt sehe: Während ich mit der Kamera Momente einfange, festhalte und damit unvergänglich mache, verflüchtigen sich die Bilder, die ich aus dem Zugfenster wahrnehme, fast schneller, als sie mein Gehirn verarbeiten kann.
Meine Gedanken wandern zu den letzten Jahren mit meiner sterbenden Mutter zurück, die immer tiefer in ihrer Demenz versank, aber mit der ich dennoch eine größere Nähe erlebt habe als je zuvor. Auch in ihrer Gegenwart war ich mir der Vergänglichkeit des Augenblicks mehr als bewusst, obwohl ich dabei auch manchmal das Gefühl hatte, in einer Zeitschleife festzustecken. Wie oft stellte sie immer und immer wieder dieselbe Frage, weil sie sich nicht mehr daran erinnerte, dass wir das Gespräch bereits mehrfach geführt hatten, und ich beantwortete sie jedes Mal aufs Neue. Dabei die Geduld nicht zu verlieren, erforderte zuweilen enorme Selbstbeherrschung, auch wenn mir natürlich bewusst war, dass sie nichts dafürkonnte.
Manchmal allerdings habe ich meine Mutter regelrecht beneidet. Vergessen können ist ein Segen, wenn schlimme Erinnerungen einen bedrücken. So wie die an Oscars Tod. Von wegen, die Zeit heilt alle Wunden. Ich wünschte, es wäre so. Wenn ich an ihn denke, fühlt sich der Schmerz noch immer so frisch an, als wären seit der Beerdigung höchstens ein paar Monate vergangen, nicht viele Jahre. Mein halbes Leben lang trauere ich nun schon um ihn. Und obwohl ich natürlich weiß, Oscar würde nicht wollen, dass ich allein bleibe, habe ich seitdem nie wieder eine ernsthafte Beziehung geführt. Ich habe es versucht, aber es ist immer nur bei kurzen, unverbindlichen Affären geblieben. Und ehrlich gesagt bin ich der Liebe meistens ganz aus dem Weg gegangen, damit mir die Enttäuschung erspart blieb. Denn auf die musste es ja unweigerlich hinauslaufen. Ich war nicht mehr fähig, mich ganz und gar in eine Beziehung fallen zu lassen. Als wäre mit Oscar auch meine Fähigkeit, tiefe Gefühle zu empfinden, ertrunken.
Fast wie aufs Stichwort taucht just in diesem Moment das Meer vor dem Fenster auf. Schneller als erwartet haben wir die Storebæltsbroen erreicht, die Brücke über den Großen Belt, der West- von Ostdänemark trennt. Ich habe es immer geliebt, aufs Wasser zu schauen, den Tanz der Wellen zu beobachten, mich von den Lichtreflexen der sich darin spiegelnden Sonne verzaubern zu lassen. Das löste in mir ein wundervolles Gefühl innerer Ruhe aus. Ich bedauere, auch dieses Empfinden verloren zu haben. Denn heute nehme ich die Schönheit des Anblicks zwar wahr, doch die Trauer legt sich darüber wie ein Schleier, der die Magie trübt. Wenn ich das Meer sehe, stelle ich mir unwillkürlich Oscars furchtbaren Todeskampf vor, und sosehr ich auch versuche, den Gedanken fortzujagen, er stellt sich auch jetzt wieder ein. Ich wende meinen Blick ab und bin froh, als der Zug in den Tunnel einfährt – wenngleich mir die Vorstellung, unter dem Wasser zu sein, auch nicht behagt. Wenigstens bleibt mir der Anblick erspart.
Am Hauptbahnhof von Kopenhagen ist viel los. Geschäftsleute, Touristen, Studenten, Pendler, Familien, hier tummelt sich ein bunter Mix. Ich fühle mich sofort wohl. Das historische Bahnhofsgebäude mit seinen Backsteinwänden, Säulen, Kronleuchtern, verzierten Fenstern und hohen Holzbogendecken hat mich schon bei meinen früheren Reisen fasziniert. Ich steuere zuerst eine Bäckerei an, um mir ein typisch dänisches Smørrebrød mit Lachs und Ei zu kaufen, und erstehe dann nebenan in der Buchhandlung einen Roman von Maja Lunde. Die Geschichte der Bienen habe ich sehr geliebt, und Die Geschichte des Wassers wollte ich ohnehin längst lesen. Vielleicht hilft mir das Buch sogar dabei, meine Liebe zum Meer wiederzuentdecken? Ich entscheide mich für die deutsche Übersetzung, weil mein Dänisch nicht gut genug ist und weder die norwegische Originalausgabe noch die schwedische Übersetzung vorrätig sind.
Ich bezahle, dann stecke ich die Brötchentüte in meine Jackentasche, klemme das Buch unter den Arm und mache mich auf den Weg zum Bahnsteig. Der Schnellzug, der mehrmals am Tag zwischen Kopenhagen und Stockholm hin und her pendelt, steht schon bereit.
Ich drücke auf den Türöffner, und im gleichen Moment landet das Taschenbuch auf dem Boden. Mist! Bepackt, wie ich bin, wird es wohl eine echte Herausforderung, mich zu bücken … Zum Glück bleibt mir das erspart, denn ein Mitreisender ist so nett und hebt es für mich auf.
»May I help you with your luggage?«, fragt er, während er mir das Buch überreicht. Sein freundliches Lächeln wirkt irgendwie jungenhaft, doch die Silberfäden in seinen dunkelbraunen Locken und seinem Anchor-Bart verraten, dass er vermutlich in meinem Alter ist. Und sein leichter Akzent lässt eine skandinavische Herkunft erahnen. Vielleicht ein Schwede, der mit der Öresundbahn nach Hause fährt?
Das lässt sich ja leicht herausfinden: »Tack så mycket, det vore jättesnällt«, danke ich ihm. Das wäre wirklich supernett.
Tatsächlich wechselt er sofort in seine Muttersprache: »Oh, du sprichst Schwedisch? Ich dachte …« Er deutet auf das Buch.
»Ich komme aus Deutschland, aber ja, ich spreche es ein bisschen.« Das ist zwar etwas untertrieben, immerhin habe ich sogar ein paar Jahre in seinem Heimatland gelebt und wäre fast für immer dorthin ausgewandert, aber das binde ich natürlich nicht jedem Fremden auf die Nase, und sei er noch so freundlich und hilfsbereit.
»Ich nehme gern deinen Koffer und die große Tasche«, sagt er jetzt, und ich reiche ihm beides. Er geht vor und reicht mir dann die Hand, damit ich leichter einsteigen kann. Was zwar nicht unbedingt notwendig ist, sich aber gar nicht mal übel anfühlt. Dann hilft er mir, mein Gepäck zu verstauen. Zum Glück gibt es in diesem Abteil genug Stauraum. Ich schaue mich um. Das Design ist schnörkellos skandinavisch und schick. Habe ich mich auch nicht vertan und bin versehentlich in die erste Klasse geraten? Nein, tatsächlich – da ist mein reservierter Einzelsitz.
»Ich bin übrigens Lennart«, sagt er. »Ist es okay, wenn ich mich zu dir setze?«
Ohne meine Antwort abzuwarten, nimmt der Schwede mir gegenüber Platz und stellt seine Wasserflasche auf den ausklappbaren Holztisch zwischen uns.
»Klar, aber ist da nicht reserviert?«, erwidere ich ein wenig überrumpelt, aber auch erfreut über die unerwartete Gesellschaft. Und weil meine Antwort vielleicht ein wenig abweisend klingt, ergänze ich schnell: »Freut mich, dich kennenzulernen. Ich heiße Isabel.« Dass hier im Norden so selbstverständlich geduzt wird, gefällt mir. Es macht Unterhaltungen unkomplizierter – und zugleich anonymer. Der Vorname reicht.
Um Lennarts graue Augen bilden sich strahlenförmige Fältchen, wenn er lächelt, was ihm hervorragend steht. »Falls in Kastrup jemand kommt, der diesen Platz gebucht hat, tausche ich einfach meine Reservierung mit seiner«, sagt er leichthin. »Außerdem ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sowieso niemand auftaucht.«
»Wieso das?«
»Weil dort fast nur Leute einsteigen, die gerade mit dem Flugzeug gelandet sind, und wenn es am Kofferband oder am Zoll länger dauert, erwischen sie ihren Zug nicht. Kommt oft vor.«
Wenig später hält der Zug im Tunnelbahnhof des Kopenhagener Flughafens, und es zeigt sich, dass Lennart recht behält. Es steigen zwar ein paar Touristen ein, deren Koffer noch die Gepäckanhänger ihrer Fluggesellschaften tragen, doch niemand beansprucht den Platz mir gegenüber. Was mich freut, denn Lennart ist ein angenehmer Gesprächspartner. Inzwischen weiß ich, dass er aus Stockholm kommt, somit dasselbe Reiseziel hat wie ich, und geschäftlich in Kopenhagen zu tun hatte. Außerdem erzählt er, dass er gerne in Nordschweden wandert und im Sommer seine Freizeit auf einer einsamen Schäreninsel verbringt. Ich habe ihm verraten, dass ich Fotografin bin, aber das hat er an meiner Ausrüstung ohnehin schon erkannt.
Kurz nach Kastrup geht es unterirdisch weiter. »Mit einem Tunnel hätte ich hier nicht gerechnet«, sage ich. »Ich bin diese Strecke noch nie gefahren.«
»Das heißt, du kennst die Öresundbrücke nicht? Die ist spektakulär.«
»Wie weit ist es noch bis dorthin?«
»Wir sind schon so gut wie da.«
Und tatsächlich – in diesem Augenblick verlassen wir den Tunnel und scheinen über das Wasser zu fliegen.
»Die Brücke ist ein architektonisches Meisterwerk«, sagt Lennart. »Ich bin jedes Mal wieder fasziniert. Sie überwindet die Meerenge und verbindet zwei Länder, statt sie zu trennen.«
Die Ostsee liegt ruhig da und spiegelt das Azurblau des unbedeckten Sommerhimmels. Der Anblick ist tatsächlich spektakulär. In einiger Entfernung sind Offshore-Windparks zu erkennen, die es vor fünfundzwanzig Jahren sicher noch nicht gegeben hat. Nichts ist mehr so wie damals. Für einen Moment habe ich das Gefühl, die ganze Welt hat sich seitdem weiterentwickelt, nur ich bin stehen geblieben.
»Beeindruckend, oder?« Lennart hat sich vorgebeugt und genießt die Aussicht ebenso wie ich. Die Streben des Stahlgerüstes unterbrechen den Blick alle paar Sekundenbruchteile.
»Das ist ja wie bei einem …« Mist, das schwedische Wort für Daumenkino fällt mir gerade nicht ein. Das gehört zwar wirklich nicht zum alltäglichen Wortschatz, aber ich bin sicher, dass ich es im Studium gelernt habe. In irgendeinem Seminar zur Geschichte des Films kam es garantiert vor.
»Wie bei einer Camera obscura«, sagt Lennart.
Ich muss lachen. Wir hatten gerade fast dieselbe Assoziation. Es kommt selten vor, dass jemand ähnlich schräg denkt wie ich. Genauso selten ist es, dass ich aufs Meer schaue und dabei fröhlich bin. »Eigentlich ist es genau umgekehrt: Bei der Camera obscura oder dem Daumenkino« – jetzt fällt mir auch das schwedische Wort dafür, blädderbok, wieder ein – »suggeriert die schnelle Bildabfolge eine Bewegung. Und hier suggeriert die schnelle Bildunterbrechung ein ruckelndes Bild wie in einem alten Schwarz-Weiß-Film.«
»Du hast recht. Übrigens liebe ich Schwarz-Weiß-Filme. Je älter, desto besser. The Artist fand ich zwar auch klasse, und ich habe es gefeiert, dass er 2012 den Oscar gewonnen hat, aber noch lieber mag ich alte Meisterwerke wie Psycho, Wild Strawberrys, Die zwölf Geschworenen …«
»Der dritte Mann«, falle ich ihm ins Wort, »Moderne Zeiten, Metropolis!«
»Nicht zu vergessen Casablanca«, beendet er meine Aufzählung.
Verblüfft schaue ich ihn an. »Das ist mein zweitliebster Film, direkt nach Leoparden küsst man nicht.«
»Meiner auch.«
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