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HORROR 015 Buchausgabe: Lord Bannister lernt das Gruseln W. A. Hary: »Gibt es Geister mit Manieren?« Es war eine schaurige Versammlung. Sie fand in einem unterirdischen Gewölbe statt. Die Teilnehmer der Versammlung hätten wohl allein schon mit ihrem Anblick einem unvorbereiteten Beobachter einen tödlichen Schock versetzt, denn es waren die Geister von Verstorbenen - verfluchte Seelen, die nicht die ewige Ruhe fanden. Einer stand vor ihnen, von den anderen mit vorwurfsvoll glühenden Augen angestarrt. „Du bist Schuld, dass er nicht vorbereitet ist - nicht vorbereitet auf das Erbe“, heulte der schauerliche Chor. Der angeklagte Geist antwortete grollend: „Ich nehme es auf mich. Der junge Lord Bannister ist reif. Über ein Jahr lang hat er sich in die Bücher vergraben. Er hat viel gelernt, obwohl er nicht weiß, wie wichtig dieses Wissen für ihn ist. Jetzt sitzt er über dem Buch der Bücher. Es wird Zeit.“ „Du Narr“, heulte der gespenstische Chor. „Er weiß nichts um die Geheimnisse seiner Familie, und da ist die Frau, die er in letzter Zeit sehr vernachlässigt hat. Sie kann uns gemeinsam mit dem Doktor einen Strich durch die Rechnung machen.“ „Hört mich an!“ Die Erde erbebte von seiner grollenden Stimme. „Es ist zu spät, das wieder gut zu machen, was ich versäumt habe. Zögern wir nicht mehr länger - trotz allem. Lehren wir Lord Bannister das Gruseln, damit dem magischen Gesetz des Fluches Genüge getan ist!“ Ein furchtbares Pfeifen und Stöhnen erfolgte. Die schaurige Versammlung löste sich wieder auf.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Lord
Bannister lernt das
Gruseln
W. A. Hary
Alleinige Urheberrechte: Wilfried A. Hary
Copyright Realisierung und Folgekonzept aller Erscheinungsformen (einschließlich eBook, Print und Hörbuch) by www.hary-production.de
ISSN 1614-3310
Diese Fassung:
© 2016 by HARY-PRODUCTION
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Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und Vervielfältigung jedweder Art nur mit schriftlicher Genehmigung von Hary-Production.
Basierend auf dem gleichnamigen Geister-Krimi aus dem Jahr 1976-07
Coverhintergrund: Anistasius
Diesen noch ziemlich frühen Geister-Krimi sollte ursprünglich Alexander Ghost schreiben. Nur der Titel war fertig, als ich das Projekt übernahm und einen völlig eigenen Roman zu diesem Titel schrieb - innerhalb von zwei Tagen, weil der Roman bereits in der Produktion hätte sein sollen, der Autor jedoch krankheitsbedingt nicht abliefern konnte.
Euer W. A. Hary
Es war eine schaurige Versammlung. Sie fand in einem unterirdischen Gewölbe statt. Die Teilnehmer der Versammlung hätten wohl allein schon mit ihrem Anblick einem unvorbereiteten Beobachter einen tödlichen Schock versetzt, denn es waren die Geister von Verstorbenen - verfluchte Seelen, die nicht die ewige Ruhe fanden.
Einer stand vor ihnen, von den anderen mit vorwurfsvoll glühenden Augen angestarrt.
„Du bist Schuld, dass er nicht vorbereitet ist - nicht vorbereitet auf das Erbe“, heulte der schauerliche Chor.
Der angeklagte Geist antwortete grollend: „Ich nehme es auf mich. Der junge Lord Bannister ist reif. Über ein Jahr lang hat er sich in die Bücher vergraben. Er hat viel gelernt, obwohl er nicht weiß, wie wichtig dieses Wissen für ihn ist. Jetzt sitzt er über dem Buch der Bücher. Es wird Zeit.“
„Du Narr“, heulte der gespenstische Chor. „Er weiß nichts um die Geheimnisse seiner Familie, und da ist die Frau, die er in letzter Zeit sehr vernachlässigt hat. Sie kann uns gemeinsam mit dem Doktor einen Strich durch die Rechnung machen.“
„Hört mich an!“ Die Erde erbebte von seiner grollenden Stimme. „Es ist zu spät, das wieder gut zu machen, was ich versäumt habe. Zögern wir nicht mehr länger - trotz allem. Lehren wir Lord Bannister das Gruseln, damit dem magischen Gesetz des Fluches Genüge getan ist!“
Ein furchtbares Pfeifen und Stöhnen erfolgte. Die schaurige Versammlung löste sich wieder auf.
*
„Ist Ihnen nicht gut, Mylord?“
Lord Bannister hob träge den Kopf. Er war über seinem Schreibtisch in der Bibliothek zusammengesunken. Mit rotumränderten Augen schaute er sich um. In diesen Augen war ein seltsamer fiebriger Glanz. Mühsam hielt sich der Lord an der Schreibtischkante fest. Sein Blick erfasste die hagere Gestalt des alternden Dieners. James Withmore stand schon über vierzig Jahre im Dienste des Hauses. Trotzdem schien ihn der Lord nicht zu erkennen.
„Was - was wollen Sie von mir?“, stammelte er.
„Aber Mylord, ich bin es doch, Ihr Diener!“
Lord Bannister atmete heftiger. Unvermittelt barg er sein Gesicht in den Händen. Dann krallten sich seine Finger in das strähnige, zerwühlte Haar. Sein Inneres war das reinste Chaos. Er war mitten in der Lektüre des Buches erschöpft zusammengebrochen. Und jetzt war er aus einem totenähnlichen Schlaf erwacht, der durchsetzt gewesen war von schrecklichen Alpträumen.
Der Butler wusste nicht, was er tun sollte. Unschlüssig stand er da. Sein Blick fiel auf das aufgeschlagene Buch. Es handelte sich um einen dicken, handgeschriebenen Wälzer. Die ersten Buchstaben der einzelnen Kapitel waren überdimensional groß und mit seltsamen Verzierungen versehen. Die Augen des alten Mannes weiteten sich unwillkürlich. Da war ein großes B. Die beiden Bogen waren mit Warzen versehen und bekamen dadurch die Form eines dicken, weiblichen Busens. Ein kleines Teufelchen hielt sich an einer der stilisierten Brüste fest. Der Butler hatte fast den Eindruck, das Teufelchen würde leben. Deutlich erkannte er das dämonische Glühen in den winzigen Augen.
Loid Bannister riss die Arme herunter und schlug das Buch zu. Mit beiden Händen versuchte er, vor dem Butler den Titel zu verbergen. Trotzdem gelang es dem alten Mann, einen schnellen Blick darauf zu erhaschen. Wenn er richtig gesehen hatte, hieß es: „Die Kräfte des Jenseitigen und ihre Erweckung“. |
„Was gaffen Sie so?“, wurde der Butler von Seiner Lordschaft angefaucht. „Wie konnten Sie es überhaupt wagen, einfach hier hereinzukommen? Wer hat Ihnen das erlaubt?“
Der Butler murmelte verdattert: „Ich — ich bitte um Nachsicht, Mylord, aber ich war sehr in Sorge um Euch.“
„In Sorge? Was soll das?“
„Nun, Mylord, seit Tagen vergrabt Ihr Euch schon hier. Vergeblich versuchte ich, Euch etwas zu essen zu bringen. Vorhin schließlich antworteten Sie nicht einmal auf mein Klopfen, obwohl ich sehr hartnäckig war. Ich konnte nicht anders, als nach dem Rechten zu sehen, Mylord.“
„Ach was, Unsinn! Sie sehen doch, alles ist in Ordnung!“
„Sehr wohl, Mylord.“ Der Butler deutete eine knappe Verbeugung an und verließ den Raum.
Lord Bannister sah ihm nach. In seinen Augen flackerte es. Es gefiel ihm nicht, dass ihn der Butler mit dieser Lektüre erwischt hatte.
Mühsam erhob er sich, dem Buch auf dem Schreibtisch keinen Blick mehr gönnend. Seine Beine waren wie taub. In den Gedärmen rumorte es, als würden tausend unruhige Dämonen darin hausen. Lord Graham Bannister fühlte sich alles andere als wohl. Er hatte in den letzten Tagen sowohl seinen Körper als auch seinen Geist überfordert.
Plötzlich hatte er das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Erschrocken sah er sich nach allen Seiten um. Da war aber niemanden, obwohl er brennende Blicke auf sich ruhen fühlte.
Angst befiel ihn. Er schüttelte den Kopf, um den Alpdruck los zu werden. War es eine Folge der Erschöpfung?
Mein Gott, dachte er, was ist mir mir?
Er rang um seine Sebstbeherrschung, schlurfte zum Fenster und zog die schweren Gardinen auf. Helles Sonnenlicht flutete herein und stach ihm in die Augen. Er hob schützend seinen Arm hoch. Es dauerte eine Zeitlang, bis sich seine Augen an die Lichtfülle gewöhnt hatten. Dann konnte sein Blick durch die hohe, schmale Fensterscheibe hinaus in den großzügig angelegten Park gehen.
Da war es ihm, als sähe er eine Gestalt unten zwischen den Bäumen stehen. Es war eine seltsame Gestalt. Sie war in einen dunklen Umhang gekleidet. Das Gesicht lag im Schatten. Doch da waren zwei glühende Punkte in Augenhöhe.
Lord Bannister runzelte die Stirn. Begann er schon, an Halluzinationen zu leiden?
Mediziner hatten festgestellt, dass Menschen, die zu wenig Schlaf hatten, zu Tagträumen neigten, die mitunter so intensiv sein konnten, dass es den Betreffenden kaum möglich war, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden.
Ist es mit mir jetzt auch schon so weit?
Der lange dunkle Umhang des Fremden flatterte im leichten Wind. In fliegender Hast öffnete Lord Bannister die Balkontür und trat auf den Balkon hinaus. Dazu musste er über die niedrige Fensterbank klettern, was ihm aber keine Schwierigkeiten bereitete.
Die Gestalt war unbeweglich stehengeblieben. Das Glühen der Punkte in Augenhöhe hatte an Intensität zugenommen.
„He, Sie da, was suchen Sie im Park?“, rief Lord Bannister betont energisch.
Ein heiseres, schaurig anzuhörendes Lachen wehte herüber, dann war die Gestalt mit einem Schlag verschwunden.
Lord Graham Bannister wischte sich über die Augen, aber die Stelle zwischen den Bäumen blieb unwiderruflich leer.
Suchend blickte er umher. Da entdeckte er den Gärtner. Der Mann arbeitete in einem sorgfältig angelegten Blumenbeet, das mit Rosenstöcken durchsetzt war. Eine bunte Farbmischung, die den Betrachter angenehm stimulierte, aber auf den Lord im Moment keinerlei Wirkung besaß.
Der Gärtner hatte, wahrscheinlich durch das Rufen des Lords gestört, seine Arbeit unterbrochen und schaute herauf. Als er den Blick seines Herrn gewahrte, rief er zurück: „Meinten Sie mich, Mylord?“
„Nein“, antwortete Bannister unsicher. „Haben Sie denn nicht den Mann gesehen?“
Verständnislos blickte sich der Gärtner um.
„Was für einen Mann?“
„Na, der im Umhang.“
Der Gärtner runzelte die Stirn.
„Es tut mir leid, Mylord, aber hier war niemand. Jedenfalls habe ich niemanden bemerkt. Wie sollte auch jemand hereinkommen? Vielleicht über die Mauer?“
„Ist schon gut.“ Lord Bannister winkte ab, fuhr sich mit einer fahrigen Bewegung durch die Haare und wandte sich dann abrupt um. Der Gärtner machte sich wieder kopfschüttelnd ans Werk. Das Schnappen der Schere, mit der er die Rosenstöcke beschnitt, klang herauf. Es war das einzige Geräusch.
Das einzige Geräusch?
Lord Bannister lauschte unwillkürlich, bevor er in die Bibliothek zurücktrat. Da war das Rauschen und Raunen des Windes. Er fing sich oben in der Dachrinne und klang fast wie eine menschliche Stimme.
Eine Gänsehaut entstand auf dem Rücken des Lords. Er konzentrierte sich auf das Geräusch, und dann glaubte er deutlich einen Satz verstanden zu haben: „Sollen wir ihn noch warten lassen?“
Das war genug. Der Lord kehrte zurück in das Innere des Raumes und knallte die Balkontür so heftig zu, dass die Scheiben beängstigend schepperten.
In seinem Gesicht spiegelte sich das Grauen, das er empfand, als er sich in der Bibliothek umsah.
„Mein Gott, ich war ein Narr gewesen, ein verdammter Narr. Warum habe ich nicht auf das Verbot meines Vaters gehört?“, murmelte er vor sich hin.
Er wankte zum Schreibtisch und ließ sich schwer auf den Bürosessel nieder.
Unbewusst knipste er die Leselampe aus. Sein Blick fraß sich an dem dicken Wälzer fest, der vor ihm lag: „Die Kräfte des Jenseitigen und ihre Erweckung“.
Mit einer wütenden Gebärde fegte er den Wälzer vom Tisch.
Dabei geschah etwas Eigenartiges. Das Buch schien Flügel zu entwickeln. Obwohl es sehr schwer war, fiel es nicht sofort zu Boden. Die Blätter flatterten wild, als hätten sie eigenes Leben, und dann landete der Wälzer völlig geräuschlos auf dem Boden.
Der kalte Schweiß stand auf Lord Bannisters Stirn, als er sich über das Buch beugte. Es war genau die Seite wieder aufgeschlagen, die er zum letzten Mal gelesen hatte.
Das große B mit den symbolisierten Brüsten zog ihn wie mit magischer Gewalt an. Er spürte in sich den unwiderstehlichen Drang, das Buch aufzunehmen und weiterzulesen. Doch er kämpfte gewaltsam dagegen an. Sein Blick verschleierte sich. Er hatte das Gefühl, vor ihm öffne sich der Eingang zu einer anderen Welt.
Erstickte Laute drangen über seine Lippen. Seine zitternden Hände griffen nun doch, gegen seinen erklärten Willen, nach dem uralten, handgeschriebenen Wälzer. Er wusste, dass er verloren war, dass er sich gegen den Zwang nicht wehren konnte, so sehr er sich auch bemühte.
In diesem Augenblick klopfte es laut vernehmlich gegen die Tür.
Lord Bannister zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Seine Sinne kehrten zurück, verließen den bösen Alptraum, erreichten die Wirklichkeit.
Er richtete sich mühsam auf und wandte den Kopf.
„Was - was ist?“
„Mylord!“ Die Stimme des Butlers. „Entschuldigt die Störung, aber Euer Freund, Dr. Tim Bailey, wünscht Euch zu sprechen.“
Lord Bannister knirschte deutlich hörbar mit den Zähnen.
„Einen Moment noch. Ich empfange den Doktor in der Halle.“
„Sehr wohl, Sir.“
Die Schritte des alten Dieners entfernten sich.
Lord Bannister bückte sich rasch nach dem Buch, dabei bemüht, keinen Blick darauf zu werfen, und klappte es zu.
Suchend schaute er sich um. Da war die Lücke in der Bücherwand. Er brachte den Wälzer hin, wuchtete ihn hoch und stellte ihn auf seinen Platz zurück.
Nachdenklich betrachtete er die Beschriftung am Einbandrücken. „Gesammelte Werke aus der Lithurgik“ hieß es da. Irgendjemand — vielleicht auch Bannisters Vater? - hatte den falschen Rücken mit diesem Titel aufgeklebt. Warum? Schließlich hatte der Inhalt des Buches absolut nichts mit Steinkunde zu tun. Überhaupt war es ein höchst eigenartiger Titel. Vielleicht hatte der alte Lord ihn nicht zufällig gewählt? Vielleicht barg er eine Art Code?
Bannister riss sich gewaltsam von diesen Gedanken los und wandte sich zur Tür.
Bevor er hinaustrat, erinnerte er sich seines im Moment nicht gerade imponierenden Äußeren.
Rasch zog er einen Taschenspiegel zum Vorschein und korrigierte mit einem kleinen Kamm die zerzauste Frisur. Zu mehr reichte es leider im Moment nicht. Dr. Tim Bailey musste mit dem Aussehen vorliebnehmen, wie es war.
Mit festem Schritt trat Lord Bannister hinaus und strebte auf die Halle zu.
*
Tim Bailey war mehr als zehn Jahre jünger als der Lord. Bannister war gerade dreiundvierzig geworden. Während er hager war, mit einem faltigen, wettergegerbten Gesicht, dessen Oberlippe ein sorgsam gepflegtes Bärtchen zierte, hatte Tim Bailey das Antlitz eines Jungen. Die tiefen Lachgrübchen zeigten, dass er viel Humor besaß. Er hatte in Lyddwood, der Stadt, die früher einmal zum unmittelbaren Besitztum von Bannisters Vorfahren gehört hatte, eine kleine Praxis.
Dr. Tim Bailey lebte erst seit ein paar Jahren in Lyddwood. Dasselbe galt eigentlich auch für den Lord. Er war zeit seines Lebens in der Weltgeschichte herumgereist, da er sich erstens mit seinem Vater nicht besonders verstanden hatte und zweitens seine Mutter bereits im Kindbett gestorben war. Beides hatte letztlich als Hauptgründe für seine permanente Abwesenheit vom Besitztum seiner Väter gezählt.
Die beiden ungleichen Männer hatten sich vor einiger Zeit auf der Jagd kennengelernt. Ja, das war es, was sie gemeinsam hatten: die Jagd. Allerdings gab es da noch etwas, aber davon ahnte Lord Bannister zu diesem Zeitpunkt noch nichts.
Die beiden Männer eilten aufeinander zu und schüttelten sich die Hände, wie es zwischen zwei guten Freunden üblich war: kräftig und herzlich.
Tim Baileys Gesicht zeigte auf einmal einen besorgten Ausdruck.
„Du siehst sehr schlecht aus, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf.“
„Du darfst.“ Lord Bannister wich dem forschenden Blick des Freundes etwas verlegen aus.
„Was ist los? Bist du etwa krank?“
„Ach was, nicht der Rede wert.“ Bannister winkte ab. „Du darfst das nicht zu ernst nehmen. Ich habe zu wenig geschlafen, das ist alles.“
„Na ja, ich weiß nicht recht.“
„Komm“, lenkte der Lord ab. „wir setzen uns erst einmal. Was willst du trinken?“
Tim Bailey gelang schon wieder ein Grinsen.
„Whisky mit Eis und viel Soda - wie immer.“
Bannister gab seinem Butler, der abwartend abseits stand, einen Wink. Der alte James Withmore sputete sich, um den Wünschen des Gastes nachzukommen.
„Du trinkst nichts?“ wunderte sich der Doktor.
Bannister zögerte einen Moment mit der Antwort. Dann gab er sich sichtlich einen Ruck.
„Du hast recht, warum eigentlich nicht?“ Er wandte den Kopf. Der Butler, der gerade im Begriff war, die Halle zu verlassen, blieb auf seinen Zuruf hin wieder stehen.
„Bringen Sie mir dasselbe!“, trug ihm der Lord auf.
„Sehr wohl, Mylord.“ Damit verschwand der Butler endgültig nach draußen.
Tim Bailey beugte sich vor.
„Jetzt aber mal im Ernst, alter Freund, was ist wirklich geschehen?“
Lord Bannister merkte, dass er den Freund nicht mit einfachen Erklärungen abspeisen konnte. Deshalb entschloss er sich, die Wahrheit zu erzählen - wenigstens zum Teil.
Er räusperte sich vernehmlich.
„Pass auf, Tim, du weißt doch, dass ich bis zum Tode meines Vaters vor ein paar Jahren immer nur unterwegs gewesen war.“
Tim Baily grinste.
„Wem sagst du das? Du hast dein Leben genossen wie kaum ein anderer. Ich wollte, ich hätte an deiner Stelle sein können. Leider haben wir uns ja erst anschließend kennengelernt, sozusagen nachdem du sesshaft geworden warst.“
„Da hast du recht, Tim. Ich habe das Leben genossen. Was du aber nicht kennst, ist der Grund für alles dies. Weißt du, mein Vater hing sehr an seiner Frau. Er konnte es nicht verwinden, dass sie im Kindbett starb. Ich war sein einziger Sohn, doch sah er insgeheim in mir die Person, die für den Tod seiner Frau verantwortlich zeichnete. Aber es gab für meinen Vater noch einen anderen Grund, mich von hier fernzuhalten. Die ersten drei Jahre meines Lebens verbrachte ich in diesem Hause. Naturgemäß kann sich ein Mensch an diese Zeit nur sehr schlecht erinnern. Bei mir ist das anders. Es blieb mir in wacher Erinnerung, dass ein Teil des Hauses für mich absolut tabu war. Aber nicht nur ich durfte diesen Teil nicht betreten, sondern auch das Mädchen nicht, das Vater zu meiner Pflege eingestellt hatte. Zu diesem Tabuteil gehörte vor allem auch die Bibliothek im ersten Stock. Immer wieder vergrub sich mein Vater darin. Die Tür blieb abgeschlossen. Nur zu den Mahlzeiten ließ er sich blicken.“
Tim Bailey schüttelte den Kopf.
„Eine seltsame Geschichte“, bekannte er. „Was hat das alles zu bedeuten? Warum erzählst du mir erst jetzt davon?“
Der Lord rang mit sich. War er nicht schon zu weit gegangen? Warum erzählte er alles so freimütig? Was ging es den Doktor letztlich denn an? Schließlich war er ein Jagdfreund, mehr nicht.
In diesem Moment kehrte der Butler mit einem Tablett zurück. Gemessenen Schrittes kam er zum Tisch und stellte die Gläser hin. Bevor er sich zurückziehen konnte, hielt ihn Lord Bannister auf.
„Sagen Sie, James, wo ist eigentlich meine Frau?“
„Mylady ist nicht im Hause“, antwortete er näselnd.
„Das ist mir klar“, brauste Bannister auf. „Ich will wissen, wohin sie gegangen ist!“
Der Butler blieb gelassen, wie es seine Stellung von ihm verlangte.
„Mylady ging heute morgen in die Stadt, um Einkäufe zu tätigen.“
„Mein Gott“, entfuhr es dem Lord. Ihm wurde erst jetzt klar, dass er keine Ahnung hatte, welche Tageszeit war. Er warf einen Blick auf die Uhr. Es mochte gegen Abend sein. Draußen war es noch hell, aber um diese Jahreszeit war das nichts Besonderes.
„Halten Sie sich zur Verfügung“, sagte er zu seinem Diener, der sich daraufhin würdevoll verbeugte und sich zurückzog.
Tim Bailey wartete, bis der Butler gegangen war, dann konnte er sich nicht mehr länger zurückhalten.
„Sag mal, was geht denn hier vor? Was ist mit dem Diener? Hast du ihn verärgert?“
„Wie kommst du darauf?“
„Ich weiß nicht. Ich finde auch, dass du reichlich nervös bist.“
„Natürlich, ich sagte doch schon, dass ich zu wenig geschlafen habe.“
Tim Bailey winkte ab.
„Egal jetzt, wir waren unterbrochen worden.“