Ich bin so frei - Marita Vollborn - E-Book

Ich bin so frei E-Book

Marita Vollborn

4,9

Beschreibung

Dieses Buch ist entstanden, weil ich an die Grenzen der vielzitierten „Freiheit“ gestoßen bin. Ich habe festgestellt, dass die Realität, in der wir leben, nicht sehr viel mit dem zu tun hat, was gemeinhin für unser „wiedervereintes“ Land als selbstverständlich gilt: die Presse- und Meinungsfreiheit, die Chancengleichheit Ost- und Westdeutschlands, die demokratische Mitbestimmung, eine Regierung, deren Politik den Wählerwillen widerspiegelt und die sich für ein friedliches Miteinander im Land und zwischen den Völkern einsetzt. Die Idee für ein Buch über Missstände, die die behauptete „Freiheit“ ad absurdum führen, habe ich letztlich meinem Beruf zu verdanken. Es ist, als existiere vielerorts ein stilles Einvernehmen, keinen Unmut bei den Mächtigen und Einflussreichen heraufbeschwören zu wollen. Zwar finden sich nach wie vor kritische Inhalte in den Medien – aber eben nur punktuell. Keineswegs verändern sie das Gesamtbild. Das Gros speist sich aus Kommerziellem, Banalem und Bagatellen; wirklich Gesellschaftsrelevantes wie Grundsatzfragen zur Globalisierung, zur NATO-Osterweiterung, zu den wahren Ursachen der Flüchtlingskrise, Terrorismus, oder gar Kapitalismus- und Parteienkritik sind tabu. Dass sie aber auch eine Regierung gleichschalten kann, habe ich 1989, als ich mit Zehntausenden Menschen auf die Straße ging, naiver Weise nicht für möglich gehalten – ebenso wenig, dass diese Diktatur des Geldes eine Bevölkerung in den Ruin und ganz Europa an den Rand eines Krieges führen kann.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 598

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (16 Bewertungen)
14
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Vlad

Inhalt

VORWORT

EINFÜHRUNG

LÜGE 1: DAS VOLK HAT FREI ENTSCHIEDEN

DIE OUVERTÜRE: Über die Zeit zwischen gestern und morgen

MERKEL REAL: Erste Schritte zur Macht

DDR-KIRCHE: Eine Institution zwischen Beihilfe und Opposition

LÜGE 2: BLÜHENDE LANDSCHAFTEN

GEPLANTER EXODUS: Platter Osten, satter Westen

BISCHOFFERODE: Versalzene Zukunft

BANKEN UND VERSICHERUNGEN: Mega-Reibach zum Null-Tarif

DER FANTASIERTE PLEITEGEIER: Die DDR – verschuldet, aber nicht am Ende

LÜGE 3: DIE PRESSE IST FREI

DAS ENDE DER VIELFALT: Wort gegen Geld

UNTER DRUCK: Wie Existenzangst (Selbst-)Zensur erzeugt

BESTE BEZIEHUNGEN: Über das ungute Bündnis von Medien und Politik

POLITISCH KORREKT: Medienprügel für Andersdenkende

TONGEBER UND RÄDELSFÜHRER: Ohne Bertelsmann geht nichts

LÜGE 4: WER ARBEITEN WILL, DER FINDET ARBEIT

VON WEGEN MANGEL: Wo der Fachmann Däumchen dreht

ZUWANDERER: Bildungsnotstand statt Qualifikation

SCHICHT FÜR SCHICHT: Im Hartz kleben bleiben

AFFEKT STATT EFFEKTIV: Ad-hoc-Maßnahmen und Zwei-Klassen-Förderung

LAWINENGEFAHR: So viel kostet die Flüchtlingskrise

LÜGE 5: WIR HABEN KEIN PROBLEM MIT DER SICHERHEIT

BLUE SKY M: Straff organisiert in die EU

DIE IMPORTIERTE GEFAHR: IS-Tummelfeld Europa

FUNDAMENTALISMUS UND GEGENWEHR: Die Front vor der Haustür

KÖLNER SCHANDE: Was nicht sein darf, das ist auch nicht

TAHARRUSH GAMEA: Gehorche und leide

QUALEN FÜR KÖRPER UND SEELE: Was Opfer empfinden

VERRATEN UND VERKAUFT: Freiwild in Asylunterkünften

Intermezzo: Die Frau im Islam

LÜGE 6: FÜR FREIHEIT, DEMOKRATIE UND MENSCHENRECHTE

FRIEDENSPOLITIK ADÉ: Waffen für die schöne, neue Welt

SCHATTENMÄCHTE: Wie private Institutionen die Militarisierung Europas vorantreiben

AN DER KANDARE: Die EU zieht gen Russland

DIE UKRAINE ALS TÜRÖFFNER: Was die NATO im Osten will

WO ALLES SEINEN ANFANG NAHM: Fluchtursache Irak

STÖRFAKTOR SYRIEN: Auf zum nächsten Gefecht

LÜGE 7: WOHLSTAND FÜR ALLE

DIE DRIFT: Umverteilung von unten nach oben

GESTEUERTE PATRONAGE: Wer viel hat, bekommt noch mehr

VOM GEBEN UND NEHMEN: Wie Lenken durch Spenden funktioniert

DER SCHLANKE STAAT: Ausgehungert in eine heikle Zukunft

PFLASTER STATT OP: Mit Mindestlohn gegen die Prekarisierung

WILLIG, NICHT BILLIG: Das Ja zum Kapitalfehler

POLITISCHE ZESSION: Auf dem Weg in die kapitalistische Selbstverwaltung

WAS TUN?

SOZIALSTAAT

OSTDEUTSCHLAND

FLÜCHTLINGE

AUßENPOLITIK

REDLICHTKEIT SIEGT: Wahlen, ernst gemeint – Neuer Versuch

DANK

VORWORT

Dieses Buch ist entstanden, weil ich an die Grenzen der vielzitierten „Freiheit“ gestoßen bin. Ich habe festgestellt, dass die Realität, in der wir leben, nicht sehr viel mit dem zu tun hat, was gemeinhin für unser „wiedervereintes“ Land als selbstverständlich gilt: die Presse- und Meinungsfreiheit, die Chancengleichheit Ost- und Westdeutschlands, die demokratische Mitbestimmung, eine Regierung, deren Politik den Wählerwillen widerspiegelt und die sich für ein friedliches Miteinander im Land und zwischen den Völkern einsetzt.

Die Idee für ein Buch über Missstände, die die behauptete „Freiheit“ ad absurdum führen, habe ich letztlich meinem Beruf zu verdanken. Als freie Journalistin und Buchautorin muss ich meine Ideen den Redaktionen und Verlagen vorstellen. Dort fallen die Entscheidungen über das, was gedruckt wird. Viele Jahre waren kritische Themen kein Problem – im Gegenteil. Investigative, mit aufwendiger Recherche verbundene Texte galten als die Königsdisziplin des Journalismus, und auch im Buchgeschäft waren fundierte Sachbücher geachtet und anerkannt. In den vergangenen Jahren hat sich das Blatt gewendet. Der Konformismus hat eine ganze Branche in den Würgegriff genommen. Es ist, als existiere vielerorts ein stilles Einvernehmen, keinen Unmut bei den Mächtigen und Einflussreichen heraufbeschwören zu wollen. Zwar finden sich nach wie vor kritische Inhalte in den Medien – aber eben nur punktuell. Keineswegs verändern sie das Gesamtbild. Das Gros speist sich aus Kommerziellem, Banalem und Bagatellen; wirklich Gesellschaftsrelevantes wie Grundsatzfragen zur Globalisierung, zur NATO-Osterweiterung, zu den wahren Ursachen der Flüchtlingskrise oder gar Kapitalismus- und Parteienkritik sind tabu.

Aufgewachsen in der DDR, erinnert mich die geradezu stromlinienförmige Berichterstattung an die Zeit der Zentralorgane. Heute aber hält nicht eine „Arbeiter- und Bauern-Partei“ das Zepter in der Hand, sondern eine sehr viel stärkere Macht: die Plutokratie. Sie schaltet die Medien gleich, indem sie Imperien aufbaut, und sie verhindert Wettbewerb, indem sie Firmen zu Monopolen und Oligopolen zusammenrafft. Dass sie aber auch eine Regierung gleichschalten kann, habe ich 1989, als ich mit Zehntausenden Menschen auf die Straße ging, naiver Weise nicht für möglich gehalten – ebenso wenig, dass diese Diktatur des Geldes eine Bevölkerung in den Ruin und ganz Europa an den Rand eines Krieges führen kann. Wie die meisten meiner Landsleute habe ich geglaubt, dass es genügen würde, die Ärmel hochzukrempeln, ein gutes Ziel vor Augen zu haben und wählen zu gehen. Ich musste mich eines Besseren belehren lassen. Denn dies ist das Land des Kaschierens und Kollaborierens.

Zu den schlimmsten Sünden einer Regierung gehört, ihr Volk mit Lügen zu lenken, um eine Politik durchsetzen zu können, die einer bestimmten Klientel geschuldet ist. In Deutschland haben sich die Regierenden auf die Seite der Vermögenden, des Finanzkapitals und der Großkonzerne gestellt und befleißigen sich in der NATO als Erfüllungsgehilfen von USA, Frankreich und Großbritannien. Ziel ist es, die ressourcenreichen Länder dieser Welt zu re-kolonialisieren und Russland, die zum Feind stilisierte Großmacht im Osten, zu brechen. Sie scharen um sich, wer ihnen dienlich ist und wer ihre Ansichten teilt. Der Filz hat einen Staat im Staat entstehen lassen; für das Volk wird Schau-Politik betrieben.

Der deutschen Politik fehlt ein Kräftegleichgewicht oder wenigstens ein Gegenpol. Mainstream und Verdummung durch Konsum tragen ein Übriges zum Ausbluten der Demokratie bei. Mitspielen ohne zu hinterfragen, in artigen Eifer verfallen – so wünscht sich die Merkel-Regierung den deutschen Untertan. Und vielerorts bekommt sie ihn auch so. Beispiele gibt es zuhauf, gerade zu Zeiten der Massenmigration. Es ist beschämend zu sehen, wie sie Hilfsbereitschaft, Selbstlosigkeit und Fürsorge ausnutzt, um ihre Politik, die ganz anderen Zwecken dient als dem Gemeinwohl, unbehelligt fortführen zu können. Sich engagierende Bürger und Vereine tragen über weite Strecken die Konsequenzen des multiplen Staatsversagens und verhindern damit eine echte Problemlösung.

Dieses Land hört schon lange nicht mehr zu. Kritiker sind verstummt oder werden als „Wutbürger“ diffamiert. Dabei ist es legitim, in Anbetracht der zahlreichen Krisen und der vielfältigen Vertuschungs- und Verharmlosungsstrategien wütend zu sein. Wer wütend ist, ist nicht unbedingt mit Blindheit geschlagen. Er kann seinen Ärger als Antrieb nutzen, sich Klarheit verschaffen und über die Enttäuschung hinweg Ausschau nach Alternativen halten. Sich nicht mehr instrumentalisieren, disziplinieren und geistig einschränken zu lassen, kann plötzlich Wege eröffnen, die zuvor undenkbar waren. Fortschritt entsteht durch Kontroverse und Handeln, nicht durch Schweigen und Stillstand.

Dem Frieden im Land und in Europa wäre gedient, wenn die derzeitige Gefälligkeitsherrschaft abgelöst würde von einer Regierung, die tatsächlich den Mehrheitswillen des Volkes widerspiegelt und ihre Politik mit ideologischen Inhalten und moralischem Anspruch füllt. Dann würde dieses Land auch wieder dem Attribut „freiheitlich-demokratisch“ gerecht werden können.

Osterode, 28.7.2016

Marita Vollborn

EINFÜHRUNG

Niemand muss dieses Buch lesen.

Aber vielleicht gibt es doch den einen oder anderen Zweifler, der nach Sinn und Zweck der vollmundigen Versprechungen, der Durchhalte-Parolen und der neuen Feindbilder fragt. Jener Zweifler wird hier Antworten finden – zumindest einige.

Spätestens seit der „Vereinigung“ der beiden deutschen Staaten kann die Entwicklung Deutschlands nicht mehr für sich allein betrachtet werden. Mit dem Fall der Mauer brachen alle Dämme. Ausgestattet mit einem politischen Freifahrtschein machten sich Konzerne und Wohlhabende über den Osten her – zunächst nur über die Ex-DDR, dann fingerte die Plutokratie auch nach den Filetstücken in den anderen osteuropäischen Staaten. Nation um Nation ließ sich von den Heilsversprechen verführen. Freiheit und Demokratie würden die Menschen in ganz Europa zu einer friedlichen Völkergemeinschaft zusammenschweißen, hieß es unisono, Arbeitsplätze würden für materielle Sicherheit sorgen, als Lohn für die Anstrengungen und Entbehrungen der Übergangszeit winkte der Wohlstand für alle. Zum Anfüttern genügte wenig. Mit den vier „W“ (Westgeld, Westwagen, Westfernsehen, Westwaren) war es ein Leichtes, das Gros der Ostdeutschen empfänglich zu machen für die Kohlsche Politik, viele waren den Dauermangel unter der SED-Herrschaft einfach leid. Dass sie mit ihrer Begeisterung zur Währungsunion und dem Akzeptieren einer Institution wie der Treuhand mithalfen, die entscheidenden Nägel in den Sarg der eigenen Volkswirtschaft zu treiben, wurde ihnen erst nach dem Verlust ihrer Arbeitsplätze und dem Ausverkauf ganzer Industriezweige bewusst.

Ich bin so frei, den Weg Ostdeutschlands nach der Wende nachzuzeichnen, ohne die vorherrschende Meinung von der „Pleite-DDR“ und den „total maroden“ Betrieben, die nur zum Abwickeln taugten, zu bedienen. Als die Bischofferoder Kalikumpel um ihr Salz betrogen wurden, war ich vor Ort und erlebte damals das erste Mal mit, wie Wahrheiten auch in diesem „wiedervereinten“ Deutschland einfach durch Lügen ersetzt wurden, um einer Seite Vorteile zu verschaffen und die andere vom Markt zu fegen.

Heute stehen wir vor dem Scherbenhaufen einer fehlgeleiteten und unredlichen Politik, die nicht nur Ostdeutschland in den Kernschatten Westdeutschlands gedrängt und die Länder Südeuropas an den Rand des Staatsbankrotts katapultiert hat. Im Zuge der Neoliberalisierung Europas sind auch Oligarchen-Systeme entstanden, in denen die Bevölkerung den Machenschaften einer korrupten Politikerriege kaum etwas entgegen zu setzen weiß. Inzwischen hat die kosmopolitische Elite einen solchen Einfluss, dass nicht nur Politiker gelenkt, sondern auch Gesetze nach eigenem Gusto gestaltet werden. Mancherorts verklagen Konzerne sogar Staaten: Ein Milliardenbudget auf der einen Seite steht einer hohen Verschuldung auf der anderen gegenüber. Setzen sich in Deutschland TTIP und CETA durch, droht dem Land das gleiche Schicksal. Wer gewinnt, und wer verliert, ist längst keine Frage des Rechts mehr – nicht einmal, wenn es um Einzelpersonen geht. Während millionenschwere Steuerbetrüger mit milden Urteilen rechnen dürfen, trifft die „kleinen Leute“ selbst bei Bagatelldelikten die ganze Härte des Gesetzes.

Die neue Weltwirtschaftsordnung, wie sie von der EU und „Europakanzlerin“ Merkel beschworen wird, kostet Demokratie. Ohne Kontrolle und Mitbestimmung durch das Volk kollaborieren die Regierungen mit international tätigen Konzernen und jenen vom Westen mit Multimillionen gekauften politischen Vasallen. Heimlich, aber umfassend hat ein elitärer Zirkel aus Politik, Wirtschaft, Banken und Medien die Macht, die dem allgemeinen Demokratieverständnis nach vom Volk ausgehen soll, an sich gerissen. Diese global agierende Elite führt Europa an den Abgrund, während der Bevölkerung Glauben gemacht wird, durch Wahlen etwas ändern zu können. Nicht nur in Europa, auch in Deutschland sind die Auswirkungen der neoliberalen Politik gut zu erkennen: Massenarbeitslosigkeit und Hartz IV, wachsende Armut und ein massives Ungleichgewicht von Einkommen und Vermögen. In die Spur geprügelt wird die Bevölkerung mit Schlagworten wie „Freiheit“ und „Eigenverantwortung“ - ein Scheitern soll als rein persönliches Versagen verstanden werden.

Ich bin so frei, diesen verbalen Missbrauch zur Sprache zu bringen. Ein so großes, so geschichtsträchtiges und wertvolles Wort wie „Freiheit“ als Führungsvokabel einzusetzen, um eine Klientelpolitik hoffähig zu machen, halte ich für schändlich. „Freiheit“ und „Eigenverantwortung“, wie sie die Bundesregierung unter dem Postulat der Wirtschaft gut heißen, fesseln den Arbeitnehmer, statt ihn von äußeren Zwängen zu befreien: Ein expandierender Leiharbeitsmarkt und der Trend zu unverbindlichen Arbeitsverhältnissen zwingen ihn zu einem Höchstmaß an Flexibilität; immer wieder muss er mit seiner Arbeitskraft hausieren gehen, ohne im Gegenzug mit einem angemessenen Lohn, geschweige mit Sicherheiten und einer Planbarkeit seines Berufslebens rechnen zu dürfen. Wird ihm eines Tages die Anstellung versagt, rutscht er ins gesellschaftliche Abseits. Die deutsche Spitzenpolitik setzt sich vehement für den Abbau der sozialen Sicherungssysteme ein, so dass er kaum mehr mit dem Mindesten rechnen kann. Statt einer Perspektive erwarten ihn Hartz IV, Ausgrenzung und Stigmatisierung. Der Staat nimmt ihm alles, wofür er bis dahin gearbeitet und privat vorgesorgt hatte. Menge und Anzahl seiner sozialen Kontakte schwinden mit jedem Monat, die seine Arbeitslosigkeit andauert, am Ende ist sein „Fallmanager“ der häufigste Gesprächspartner. Damit er nicht zum Nachdenken kommt, wird vorgesorgt: In Funk und Fernsehen wechseln Soaps und Infotainment einander ab, und alle zwei Jahre wird er mit einem sportlichen Großereignis beglückt. Eingelullt in ein allgegenwärtiges Sommermärchenfeeling, vergisst er vielleicht, dass er längst nicht mehr zum „Wir“ gehört.

Geschönte Statistiken können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Heer der Verlierer seit Jahren wächst. Dank der merkelschen Flüchtlingspolitik wird es nun auch von Migranten gespeist, Menschen, die vor Krieg und Vertreibung flüchten oder davor, ihr Leben als Schafhirte, Busfahrer, Koch oder Näherin in einem instabilen Land fristen zu müssen. Die Mehrzahl der Flüchtlinge sind einfache Leute, manche haben nie eine Schule besucht. Über Monate hinweg wurden Spitzenpolitiker und Medien nicht müde zu behaupten, die Zuzügler wären vor allem hoch qualifiziert – Fachkräfte, die Lücken füllen, zu wirtschaftlichem Aufschwung verhelfen oder sogar den demographischen Wandel aufhalten könnten. Wer etwas auf sich hielt, der meldete sich zu Wort. Das Volk hatte die aufgesetzte Euphorie der Mächtigen und Prominenten zu teilen, findige Politstrategen ersannen einprägsame Begrifflichkeiten wie „Willkommenskultur“ oder „Generalverdacht“ - wohl wissend, dass, wer Leitworte definiert und besetzt, den Umgang mit den Dingen steuert. Jene, die einzuwenden wagen, dass der Typus des offen gewaltbereiten, sexistischen Mannes unter Arabern häufiger anzutreffen ist als unter demokratie-und emanzipationsgeprägten mitteleuropäischen Wohlstandsmännern, machen sich eines „Generalverdachts“ schuldig. Dabei hat Köln der „Willkommenskultur“ längst die Unschuld geraubt.

Auch wagt kaum jemand, öffentlich Fragen zur Massenmigration zu stellen. Wie zum Beispiel die Diskrepanz zu erklären ist, dass Zeitungsfotos und Fernsehaufnahmen stets Familien, Frauen und Kinder zeigen, tatsächlich aber mehr als zwei Drittel Männer eingereist sind. Warum derart viele, angebliche Familienväter allein flüchten, obwohl es der islamischen Lebensmaxime nach undenkbar ist, sich selbst in Sicherheit zu bringen, Frau und Kinder aber in der gefährlichen Heimat zurück zu lassen. Fraglich ist auch, wie die Menschen die hohen Kosten für die Flucht aufbringen können, da doch kaum zu erwarten ist, dass für Häuser oder Grundstücke in Kriegsgebieten irgendjemand einen angemessenen Preis zahlen würde. Ebenso wenig wird diskutiert, warum Geld plötzlich keine Rolle mehr zu spielen scheint – schließlich galt jahrelang als unbestritten, dass die kommunalen Haushalte unter der Last zu hoher Sozialausgaben zusammen zu brechen drohten und es daher an finanziellen Mittel für Schulen, Kindergärten, für Kultur, Umwelt- und Infrastrukturprojekte fehlte. Auch scheint das Thema Sicherheit für die Regierung nie wirklich eine Rolle gespielt zu haben, wurden warnende Dossiers der eigenen und internationalen Sicherheitsbehörden doch offensichtlich ignoriert. Dass eine Massenflucht, bei der mehr als eine Million Menschen binnen kurzer Zeit über Tausende von Kilometern ihr Ziel erreichen, perfekt organisiert sein muss und eben nicht über irgendwelche kleinen Schlepperbanden bewerkstelligt wird, ist offensichtlich keinen Gedanken wert. Nach dem Motto „Augen zu und durch“ boxen Merkel & Co mit starker Unterstützung der Leitmedien ihre No-Limit-Politik auch weiterhin durch.

Ich bin so frei, einige Ziele zu benennen, die hinter dieser Strategie stecken. So zeigt das heutige Szenario durchaus Parallelen zu den 1950er Jahren, der Zeit der Gastarbeiter. Damals wie heute sind die Menschen als Billigarbeiter willkommen: Sie akzeptieren schlechtere Jobs und haben keinerlei Interesse am Arbeitskampf. Die 100.000 Ein-Euro-Jobs, die Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) und Innenminister Thomas de Maiziére (CDU) für Flüchtlinge schaffen wollen, sind in Wirklichkeit nämlich nur 80-Cent-Jobs. Die Begründung, Kosten für auswärtige Verpflegung und Fahrten würden nicht anfallen, weil die Arbeit in den Gemeinschaftsunterkünften verrichtet würde, ist fadenscheinig, denn 75.000 der 100.000 Jobs sollen außerhalb solcher Unterkünfte vergeben werden. Allein dieses Beispiel macht deutlich, worum es hier wirklich geht: Leistungskürzungen für Geflüchtete dienen als Experimentierfeld für eine generelle Absenkung des Lebensstandards der arbeitenden Bevölkerung.1 Vermutlich werden die meisten Flüchtlinge nie auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen können und nur durch staatlich subventionierte Eingliederungsmaßnahmen kurzfristig ihrer Dauerarbeitslosigkeit entkommen. Ihre Jobsuche wird sich ähnlich erfolglos gestalten wie jene deutscher Langzeitarbeitsloser. Einer verschärften Konkurrenz auf dem immer enger werdenden Arbeitsmarkt ausgesetzt, werden die Arbeitssuchenden in prekäre Beschäftigungsverhältnisse drängen, was nicht nur zu Lohn- und Ausbildungsdumping führen, sondern auch den Mindestlohn massiv unter Druck setzen wird. Leidtragend ist die gesamte Bevölkerung – von der Einwanderfamilie über die Neuzuzügler bis hin zu alteingesessenen Deutschen. Nur die Vermögenden bleiben verschont.

Ich bin so frei, auch über die Ursachen der Flüchtlingskrise zu schreiben. Die zerrissene Welt, in der wir leben, haben wir dem Re-Kolonialisierungsstreben der westlichen Industrienationen zu verdanken. Was wir sehen, ist nur die Spitze des Eisbergs. Weltweit sind 60 Millionen Menschen auf der Flucht, 86 Prozent davon in afrikanischen Entwicklungsländern, die kaum in der Lage sind, ihre eigene Bevölkerung, geschweige die Vertriebenen zu versorgen. Krieg, Ausplünderung und Abhängigkeit sind die Hauptgründe der Massenmigration, die Profiteure sitzen unter anderem in den Vereinigten Staaten, in Frankreich, Großbritannien und auch in Deutschland. Im schmutzigen Geschäft um Bodenschätze, profitable Arbeitskräfte, Handelsmonopole und eine Vormachtstellung gegenüber anderen Staaten spielen „Demokratie“ und „Freiheit“ nie eine Rolle. Kriege werden um Ressourcen und politischen Einfluss geführt, nicht um Menschenrechte. Die „Gutmenschen“-Politik der Bundesregierung ist denkbar verlogen, denn die Fluchtursachen – Krieg, Landgrabbing, Ausbeutung der Bodenschätze, Vertreibung – werden nicht beseitigt, sondern dienen vielmehr dazu, Reichtum und Wohlstand im Westen zu mehren.

Was, kaum geäußert, sofort als Verschwörungstheorie gegeißelt wird, ist bittere Wahrheit. Praktisch am Reißbrett planen die Westmächte ihr Vorgehen, dann folgt die Ausarbeitung der Details. Die NATO fungiert als Handlangerin, und Erfüllungsgehilfen sind die Politiker der verbündeten Nationen. Hochrangige Militärs und staatliche Repräsentanten sprechen immer wieder offen über die geostrategischen Ziele der Vorzeige-Demokratien USA, Frankreich und Großbritannien – und darüber, wie diese mit militärischen Mitteln zu erreichen sind. Man muss ihnen nur zuhören. So berichtete der US-amerikanische Vier-Sterne-General a.D. Wesley Clark, 1999 als NATO-Oberbefehlshaber im Kosovokrieg eingesetzt, 2007 in einem Vortrag der US-Denkfabrik „Commonwealth Club of California“ über die geheimen Pläne des Pentagon aus dem Jahr 2001: Die USA planten damals, sieben Regierungen innerhalb von fünf Jahren zu stürzen: Libyen, Iran, Irak, Syrien, Libanon, Somalia und Sudan; der Irak sollte das erste Land sein.2 Roland Dumas, ehemaliger französischer Außenminister, berichtete freimütig in der Sendung „Ca vous regarde“ darüber, wie Großbritannien den Syrienkonflikt vorbereitet hatte.3 Als Verschwörungstheorie abgetan wird auch, dass die USA die Vorgänge in der Ukraine gesteuert haben. Die Hinweise aber sind erdrückend. So hatte US-Vizeaußenamtschefin Victoria Nuland auf einer Veranstaltung der „Freunde der Ukraine“ 2013 mitgeteilt, dass die USA fünf Milliarden US-Dollar in die Ukraine gepumpt hatten4, vorgeblich, um „Wohlstand, Sicherheit und Demokratie“ zu fördern. Wie die Verhältnisse tatsächlich lagen, erläuterte George Friedman von Stratfor (Strategic Forecasting Inc.), einer Denkfabrik mit besten Kontakten zur US-Administration, vor dem Chicago Council on Global Affairs. Demnach hatten die USA eine Reihe von „Farbrevolutionen“ („coulered revolutiones“) in der russischen Peripherie inszeniert, um Russland zu isolieren und das russische System zu destabilisieren.5

Wer nach der Quelle der heutigen desaströsen Entwicklung sucht, findet sie im Angriffskrieg der USA auf den Irak im Jahr 2003, dem zahlreiche weitere militärische Aktionen der Westmächte folgten. Das Vorgehen ähnelt sich. Zunächst werden Schurkenstaaten definiert oder Staatsoberhäupter als Diktatoren dargestellt, die ihr Volk unterdrücken und Menschenrechte mit Füßen treten. Auf diese Weise soll die westliche „Wertegemeinschaft“ ein militärisches Eingreifen der NATO für angemessen halten. Die UNO, ohnehin keine direkt demokratisch legitimierte Institution, spiegelt diese Politik wider, wie das Beispiel Libyen zeigt. Das arabische Land stürzte 2011 unter Führung Frankreichs. Damals hatte der UN-Sicherheitsrat Präsident Muammar al-Gaddafi schwere Menschenrechtsverletzungen unterstellt, ohne die Vorwürfe auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüft zu haben.6 Ausgestattet mit der UN-Resolution 1973, mischte sich die NATO in den Konflikt zwischen Gaddafi und den Rebellen ein. Allerdings befriedete die „Koalition der Willigen“ das Land nicht, sondern attackierte einseitig Gaddafis Truppen und ließ die Rebellen unbehelligt. Gaddafi sollte stürzen, um einen Regierungswechsel („regime change“) herbei zu führen – aus rein wirtschaftlichen Erwägungen. Nur elf Prozent der Erdöl- und Erdgaseinnahmen kamen damals der westlichen Wirtschaft zugute. Eine prowestliche Regierung würde zudem multinationalen Wasserkonzernen die Vermarktung des damals in Staatsbesitz befindlichen größten Frischwasserreservoirs der Welt, des Nubischen Aquifer, ermöglichen. Gaddafi galt darüber hinaus als Motor der afrikanischen Einigung, die auf eine ökonomische Selbstständigkeit ganz Schwarzafrikas abzielte – unabhängig vom Internationalen Währungsfond (IWF) und von Petrodollars.7 Gaddafi musste also von der politischen Bühne Afrikas verschwinden – und er verschwand. Mit ihm ging die Stabilität verloren, im zerfallenden Libyen besetzt zunehmend der „Islamische Staat“ das Machtvakuum.

Nach Libyen traf es Syrien, Jemen und Mali. Es geht um Gold, Uran, Erdöl, Steinsalz und Mangan, um Bauxit, Eisenerz, Ölschiefer, Blei und Zink, um Boden und Wasser. Multinationale Konzerne treiben die Menschen vor Ort in den Ruin. Der Westen hält sich am Reichtum Afrikas schadlos: Soja für Viehfutter und vegetarische Produkte, Gold für Geschmeide, Münzen und Barren als Geldanlage, „Bio“-Sprit aus Mais, Raps und Zuckerrohr für „umweltbewusste“ Autofahrer. In Mali beispielsweise bauen die Big Player auf riesigen Flächen industrieller Landwirtschaft Zuckerrohr für „Bio“-Sprit an, Gentech-Unternehmen und Nahrungsmittel-Multis kooperieren mit oligarchen Handelsunternehmen, mit der Öl-, Auto-, und Chemieindustrie sowie globalen Investment-Fonds, und Vermögende auch aus Deutschland beteiligen sich als Investoren an Goldminen. Der Erschließung der malischen Goldminen fielen rund 200 Dörfer zum Opfer, die meisten Einwohner wurden vertrieben. Die Bewohner verlieren ihr Land, Quecksilber vergiftet Menschen und Umwelt, Mega-Staudämme legen die alten Bewässerungssysteme lahm. Hunger und Krankheiten grassieren. Der Klimawandel verschärft die Lage noch. Viele Nomaden haben ihre Lebensgrundlage verloren und sich aufs Schmuggeln von Drogen, Autos, Zigaretten und Waffen verlegt, manche pressen schwarzafrikanischen Migranten Wegezoll ab. Kriminelle Banden, insbesondere Al- Qaida, entführen europäische Techniker, Diplomaten und Geheimdienstler, um Lösegeld zu kassieren.8 Die USA, Großbritannien und Frankreich kämpfen um eine Neuaufteilung der Welt, und die Plutokratie in der EU will sich ein möglichst großes Stück vom Kuchen sichern. Als „Kollateralschäden“ nehmen die NATO-Staaten Millionen Vertriebene in Kauf – Flüchtlinge, die flüchten müssen, weil Krieg auf Krieg folgt, Inbesitznahme auf Inbesitznahme. Die Schwere der Schuld, die sich der Westen auflädt, lässt sich nicht ermessen. Ebenso wenig wie der Hass, den er sät.

Ich bin so frei, den Bogen zu den wahren Strippenziehern zu schlagen, den Bindegliedern zwischen Konzernen, Banken, Militär und Politik: zu den Think Tanks und wirtschaftsnahen Stiftungen. Sie liefern die neuen Feindbilder und die passenden Argumente, die Medien dienen der Verbreitung. Schon die einprägsamen wie phrasenhaften Slogans auf den Wahlplakaten und im täglichen Sprachgebrauch der Politiker machen deutlich, wer die Feder geführt, wer die Worte vorformuliert hat. Nicht die Substanz, sondern das Marketing entscheidet. So ist es völlig unerheblich, ob ein Produkt, Meinung oder Politik verkauft werden soll – Hauptsache, es passt ins neoliberale Gesamtkonzept. Die Medien, durch die extremen Konzentrationsbewegungen der vergangenen Jahre längst in den Händen weniger Verlage, sind Teil des Systems. Bertelsmann ist der Big Player in diesem Business. Er macht vor, wie das Geschäft funktioniert. Zum einen besitzt der Konzern weltweit rund 120 Verlage, 45 TV-Sender und 32 Radiostationen in elf Ländern und beherrscht über seine Anteile Deutschlands bedeutendste Nachrichtenmagazine Stern und SPIEGEL. Zum anderen infiltriert seine Stiftung, die mit einem Budget von 84 Millionen Euro die reichste Deutschlands ist, Politik, Wirtschaft und Kultur.9

Inzwischen ist der Einfluss des Mohn-Imperiums derart exorbitant, dass es keinen Bereich des gesellschaftlichen Lebens gibt, in dem die Bertelsmann-Experten nicht mitbestimmen. Bertelsmann mischt in der Erziehung und Betreuung von Kindergartenkindern ebenso mit wie beim Inhalt von Schulfächern und der Ausbildung von Lehrern, der Konzern leitet Verwaltungsbeamte in der Vergabe öffentlicher Mittel und Kommunalpolitiker im Umgang mit sozial Schwachen und erarbeitet für das Gesundheitsministerien Konzepte – ohne dafür je vom Bürger durch Wahl ermächtigt worden zu sein.

Bertelsmann ist nur das augenscheinlichste Beispiel unter all den anderen. Ungebremst (und praktisch unbehelligt von den Kartellbehörden) schreitet die Konzentration voran. Mit der von der Politik forcierten Liberalisierung des Medienmarkts ist eine Meinungsmacht entstanden, die das Grundrecht auf Medienzugang beendet und die Pressefreiheit der Rendite geopfert hat. Hyperkommerzialisierung auf der einen Seite, Mainstream- und Hofberichterstattung auf der anderen sind die Folgen. Was sich in Profit nicht einbinden lässt, wird abgestoßen oder marginalisiert. Das gilt für das Medienerzeugnis ebenso wie für dessen Inhalt, für Herstellung und Vertrieb ebenso wie für die Redaktionen. Angepasste Mitarbeiter bleiben länger und schaffen es in beste Positionen – auch in dieser Branche ist man abhängig vom Brötchengeber und am „höher, schneller, weiter“, vor allem aber: „(einfluss)reicher“ interessiert. Konzerne wie Bertelsmann, ihre Think Tanks und Stiftungen bilden eine Schattenmacht, die für die Entdemokratisierung der deutschen Politik die Grundlage schafft.

Unbeirrt hält die deutsche Regierung an der vorgegebenen Marschrichtung fest, und stets präsentiert sich Kanzlerin Merkel der Öffentlichkeit als Leaderin in einer schweren Zeit. Doch das Bild täuscht. Was die Bevölkerung als Einfallsreichtum eines konsequenten, zielorientierten Staatsoberhaupts bewundern soll, sind in Wirklichkeit geistige Machwerke privatwirtschaftlich finanzierter Organisationen. In dieses Genre gehört auch der „Merkel-Plan“, ein Programm, bei dem vorgesehen ist, 500.000 registrierte syrische Flüchtlinge pro Jahr direkt aus der Türkei nach Deutschland zu transportieren. Im Gegenzug sollen alle Flüchtlinge, deren Asylantrag unzulässig ist oder die nicht in Griechenland Asyl beantragt haben, umgehend in die Türkei abgeschoben werden können. Dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tyyip Erdogan gegenüber zeigte sich die deutsche Seite großzügig: Man versprach neben sechs Milliarden Euro Hilfszahlungen auch schnellere Beitrittsverhandlungen und gegebenenfalls eine Visafreiheit für türkische Staatsbürger. Merkel habe „Führungsverantwortung übernommen“, ließ man wissen und lieferte umgehend einen markigen Slogan dazu: „Der Merkel-Plan. Kontrolle zurückgewinnen, Mitgefühl erhalten.“ Um Mitgefühl ging es dabei eher nicht, sondern um den Versuch einer Begrenzung, die nicht wie eine Begrenzung aussehen soll. Das Prinzip: Während sich Deutschland weiterhin in einer uneingeschränkten „Willkommenskultur“ sonnen kann, sollen andere Länder restriktiv eingreifen. Der „Merkel-Plan“ stammt aus der Feder des Think Tanks Europäische Stabilitätsinitiative (ESI), einer auf Migrationsfragen spezialisierten Denkfabrik, die unter anderem vom German Marshall Fund, von der Robert-Bosch-Stiftung, der schwedischen Regierung und der ERSTEN Stiftung getragen wird. ESI-Chef Gerald Knaus war es auch, der Politikern empfahl, die Zahl der Flüchtlinge in den Kontingenten weniger bedrohlich auszudrücken. Statt davon zu sprechen, dass pro Jahr weitere 500.000 nach Deutschland kommen, sollte „lieber von ein paar hundert Personen pro Tag“ die Rede sein – um die Wähler nicht zu schockieren.10

Das ist es, worum es geht: Machterhalt. Und mögen es auch nur noch eine Handvoll Menschen sein, die den Weg zur Urne finden – ihre Stimme wird missbraucht als Legitimation für eine Politik, die sich längst nicht mehr um die Belange des Volkes schert. Mitnichten „hat der Wähler entschieden“, dass

die Finanz- und Wirtschaftselite subventioniert und steuerentlastet wird, während immer weniger Menschen von ihrer Hände Arbeit leben können und die Prekarisierung unaufhaltsam fortschreitet,

dass sich die Politik von dem grundgesetzlich verankerten Sozialstaatsprinzip verabschiedet,

dass sie nicht nur die Presse- und Meinungsfreiheit, sondern auch die Bildungs- und Kulturhoheit opfert, indem sie für diese Elite die Liberalisierung auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens vorantreibt,

dass sich Deutschland an den Eroberungsfeldzügen der westlichen Führungsnationen beteiligt und die Militarisierung Europas forciert, um sich in einen Krieg gegen Russland verwickeln zu lassen,

dass mehr als 1,5 Millionen Menschen ins Land strömen, damit das bisherige Lohn- und Ausbildungsdumping ungehindert fortgeführt werden kann, und

dass die unter den größtenteils unregistrierten Grenzpassanten befindlichen fundamentalistischen, antisemitischen, sexualpathologischen und terroraffinen Muslime ungehindert Einzug in die deutsche Gesellschaft halten können.

1 Christoph Butterwegge in: Ulrich Schneider (Hrsg.): Kampf um die Armut. Von echten Nöten und neoliberalen Mythen. Westend Verlag. Frankfurt/Main, 2015

2https://www.youtube.com/watch?v=TY2DKzastu8

3https://www.youtube.com/watch?v=BMheTdclcFw

4 ZEIT ONLINE, 17.5.2015 http://www.zeit.de/2015/20/ukraine-usa-maidan-finanzierung/seite-2

5https://www.youtube.com/watch?v=QeLu_yyz3tc

6 Lühr Henken, AG Friedensforschung http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Libyen/henken2.html

7 Erklärung des Bundesausschusses Friedenratschlag vom 22.8.2011 www.ag-friedensforschung.de/regionen/Libyen/

8 Gerd Schumann: Nackt im Wind. Junge Welt Spezial, 27.12.2015, Nr. 279

9 Wolfgang Lieb, Nach Denk Seiten www.nachdenkseiten.de/?p=5228 sowie www.nachdenkseiten.de/?p=3726

10http://www.huffingtonpost.de/2016/03/17/gerald-knaus-merkel-fluechtlinge_n_9483070.html

LÜGE 1: DAS VOLK HAT FREI ENTSCHIEDEN

DIE OUVERTÜRE: Über die Zeit zwischen gestern und morgen

Ein blauendes Grau – so präsentierte sich der Morgen des 4. November 1989. Der Nieselregen, der das Berliner Pflaster in den vergangenen Tagen immer wieder mit einem Nässefilm überzogen hatte, schien mit dem Wind ein Abkommen geschlossen zu haben, diesen Tag aus der herbstlichen Schmuddelzeit auszusparen. Ich sah zum Himmel hinauf und erahnte hinter der Wolkendecke eine ungeduldige Sonne. Eine Frau mittleren Alters, das kurze Grauhaar unter einem locker gebundenen Schal fast verschwunden, folgte meinem Blick. „Det Wetter is uns jut!“, sagte sie und sprach damit aus, was mir durch den Kopf gegangen war. Dabei lächelte sie mich an, wie man nur Gleichgesinnte anlächelt: in stillem Einvernehmen, verschwörerisch. Wir kannten uns nicht, aber wir fremdelten auch nicht. Diese Vertrautheit zwischen Menschen, die sich in den Demonstrationszügen begegneten, war eine der großen Merkwürdigkeiten des Jahres 1989. Denn wir, die wir in der DDR lebten, hatten gelernt, einander zu misstrauen und unauffällig, ja unsichtbar zu werden. Zwanglose Blickkontakte gehörten nicht unbedingt zu unserem Repertoire. Jetzt aber fühlten wir uns stark und einflussreich – wohl das erste Mal in unserem Leben. Nie hätte ich für möglich gehalten, dass dieses Wir-Gefühl einmal so real sein könnte, so unorthodox, so ehrlich und natürlich.

Ich bin ein Kind dieser Deutschen Demokratischen Republik, dort geboren und aufgewachsen, und ich war geprägt von der allumfassenden kognitiven Dominanz der Sozialistischen Einheitspartie Deutschlands, der SED, ihrer Doktrin, ihrem Erziehungs- und Bildungsstil. „Sozialistische Persönlichkeiten“ sollten wir werden: Sinn und Inhalt des Lebens junger Leute in der DDR sollten darin bestehen, „alles zu tun für die Sicherung des Friedens, für das Wohl der Menschen, das Glück des Volkes, die Interessen der Arbeiterklasse und aller Werktätigen“.11 Unerbittlich gebrandmarkt und gemaßregelt wurden jene, die sich nicht fügen wollten, aber ebenso vehement wurde versucht, den Kindern mit Hilfe der immer gleichen Geschichten über siegreiche, uneigennützige oder standhafte Proletarier Empathie für die Schwachen und Unterdrückten, Hilfsbereitschaft, Mut und (Selbst-)Disziplin zu lehren. Dagegen wurde die „Freiheit“ in ihrer individualisierten Form nie diskutiert – der Begriff gehörte zu den Unworten und durfte nur dann in Gebrauch kommen, wenn vom Freiheitskampf der Arbeiter und Bauern die Rede war. Das mussten wir in der 12. Klasse am eigenen Leib erfahren, nachdem wir es gewagt hatten, während eines „Kulturprogramms“ das Volkslied „Die Gedanken sind frei“ anzustimmen. Wir erhielten von der Schulleitung einen Verweis, was eine schwere Ahndung darstellte. Noch eine derartige Verfehlung, so wurde uns vom Direktor mitgeteilt, und wir müssten die Erweiterte Oberschule verlassen. Abitur und Studium wären damit passé gewesen.

Wir lernten, dass sich die Verwirklichung persönlicher Ziele und Wünsche gänzlich im gesellschaftlichen Erfordernis aufzulösen hatte. Das Erreichte sollte dem Volk dienen, nicht dem Einzelnen. Diese Mischung aus Zwang und Idealisierung (mit dem Schwerpunkt Zwang) verwandelte die Vielfalt in Monotonie und verurteilte zum Stillhalten. Wir wurden gedrillt, die Köpfe zu senken. Das Wort „Gemeinschaft“ erhielt einen üblen Beigeschmack. Ich hatte in meiner Schulzeit oft das Gefühl, Bestandteil einer amorphen Masse zu sein, die einzig nur deshalb nicht zerfloss, weil sie in eine Grube geschaufelt worden war. Dass diese Masse auch gären konnte, war nicht nur für mich undenkbar gewesen.

Allein die Zahl der Demonstranten an diesem 4. November musste den Kadern Schauer über den Rücken jagen: Mehrere hunderttausend Menschen, die Veranstalter sprachen damals von einer Million, waren auf den Beinen, um für eine demokratische Umgestaltung der DDR auf die Straße zu gehen. Die Initiative zur Großdemo war von Ostberliner Theaterleuten und Künstlern ausgegangen, die es tatsächlich geschafft hatten, eine Genehmigung für eine Demonstration entsprechend Artikel 27 und 28 der Verfassung der DDR einzuholen – eine Ungeheuerlichkeit nahe am Wunder für einen Staat, der auf Grenzverletzer schießen ließ, Dissidenten für Jahre hinter Gitter brachte, Familienmitglieder und Freunde als Informelle Mitarbeiter anheuerte, Ausreisewillige wie Verbrecher behandelte, kritischen Zeitgenossen Lehre, Studium oder Karriere verweigerte und ein ganzes Volk hinter einer Mauer einsperrte.

Ich wusste damals nicht, dass es sich um die größte Demonstration der Nachkriegsgeschichte handelte, aber mir nahm der Anblick des Menschenmeeres den Atem. Natürlich kannte ich Aufmärsche, diese erzwungenen, verlogenen Auftritte: widerstrebend vereinte Kollektive an jedem ersten Mai, zur üblichen Kundgebung am Kampf- und Feiertag der Arbeiterklasse. Doch hier demonstrierten wir freiwillig. Mir war, als wäre jeder von uns eine Zelle, die den riesigen Organismus, den man Volk nennt, endlich zum Verstoffwechseln der Lügen antreibt. Das Wimmeln in den Straßen hatte Richtung und Ziel, ein Strom der Stolzen und Entschlossenen wälzte sich von der Mollstraße über die Karl-Liebknechts-Straße bis hin zum Marx-Engels-Platz, wo der „Palazzo Protzo“, der hässliche Klotz baugewordener SED-Machtphantasien, oder, offiziell: der „Palast der Republik“, stand. Von dort strebten wir dem Alexanderplatz zu, doch mehrere hundert Meter zuvor stockte der Zug. Zunächst befürchteten wir das Schlimmste, und ein besorgtes Raunen durchlief die Reihen. Unruhig traten wir von einem Fuß auf den anderen, versuchten einen Blick über die Köpfe der anderen hinweg zu erhaschen.

Junge Leute wurden auf Schultern gehievt und wieder herabgelassen, viele Hände stützten und hielten fest, damit niemand fiel. Mich schauderte. Was, wenn die Staatsmacht nun doch mit Waffengewalt auf diesen aufstandgleichen Massenmarsch reagierte, wenn die Genehmigung eine Farce war, die Polizei und Kampftruppen weiter vorn die Menschen schon auseinander knüppelten und von hinten die Grenztruppen mit ihren Kalaschnikows nachrückten? Schließlich hatte Honecker-Nachfolger Egon Krenz in der Aktuellen Kamera das Juni-Massaker nach den Protestkundgebungen chinesischer Studenten auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ in Peking, dem Tian' anmen-Platz, gutgeheißen, hatte die Partei- und Staatsführung am 7. Oktober, dem 40. Gründungstag der DDR, die am Rande der Jubiläumsfeierlichkeiten mit Ausrufen wie „Demokratie – jetzt oder nie“ Protestierenden mit Schlagstöcken und Fußtritten malträtiert und festgenommen. Ich selbst war zusammen mit vielen weiteren hundert Menschen einen Monat vor der großen Alex-Demo auf meinem Weg in die Gethsemanekirche12 im Bezirk Pankow an schwer bewaffneten Einsatzkräften vorübergezogen, die, ihre Maschinengewehre im Anschlag, in den Nebenstraßen postiert waren, um uns Demonstranten den Weg abschneiden und jederzeit eingreifen zu können. Obwohl wir an diesem Abend ungestört unsere Kerzen auf dem Vorplatz anzünden und den Diskussionen in der Kirche folgen konnten, blieb das ungute Gefühl, eingekesselt zu sein. Die Staatsmacht war nervös, und niemand wusste, wie sie reagieren würde.

Doch auch heute blieb alles ruhig. Ich sah weit und breit keine Uniform. Das Stocken war einfach dem Platzproblem geschuldet: Mehr Menschen passten nicht auf den Alex. Schon von hier aus hörten wir das Hallen der Lautsprecher, das darauffolgende jubelnde Gebrüll, das Klatschen von zigtausend Händen, verstanden aber kein Wort. So wühlten wir uns bis zur Tribüne vor, einem Podest, das mit einem Geländer aus Fichtenbrettern gesichert war, nagelneuen Fichtenbrettern, wie ich mit Erstaunen feststellte. (Schließlich war Baumaterial in der DDR eine Rarität.) Ich kann mich nicht mehr erinnern, welchen Redner wir als ersten zu Gesicht bekamen, aber ich weiß noch genau, wie es sich anfühlte, ihn freiheraus beurteilen, seine Ausführungen für gut oder schlecht befinden und das auch äußern zu können.

Den Stasi-Generaloberst Markus Wolf oder den Berliner SED-Chef Günter Schabowski lauthals auszubuhen, dem Schriftsteller Stefan Heym und dem Liedermacher Gerhard Schöne frenetisch zu applaudieren – das kam einem Frontalangriff auf das System gleich. Spätestens als Christa Wolf vor das Auditorium trat und „Stell dir vor, es ist Sozialismus und keiner geht weg“ ins Mikrofon rief, schien alles möglich. Plötzlich verloren die Begriffe „Gemeinsinn“, „Gemeinwohl“ und „Gemeinbesitz“ ihren parteifunktionalen Beigeschmack. Sie begannen sich mit Leben zu füllen; die Vorstellung, mit vereinter Kraft tatsächlich einen demokratischen Sozialismus erschaffen zu können, die Altkader vom Sockel zu stoßen und als Volk die Macht zu übernehmen, ergriff die Menge. Die Ziele dieser Demonstration jedenfalls gingen völlig an den politischen und wirtschaftlichen Interessen des Westens und der Kirche vorbei, wie sich noch zeigen sollte.

MERKEL REAL: Erste Schritte zur Macht

Wenn ich an den Herbst 1989 zurückdenke, kann ich mich an zahllose politische Treffen, kleinere und größere Demos, an prominente und mir unbekannte Redner und Akteure erinnern – jedoch nicht daran, je von einer Angela Merkel gehört oder gelesen zu haben. Nur zwei bekannte Gesichter sollte ich später wiedersehen: Gregor Gysi, damals Rechtsanwalt, und Lothar Bisky, zu dieser Zeit Rektor der Hochschule für Film und Fernsehen der DDR. Gysi und Bisky waren als SED-Vertreter während der Großdemonstration auf dem Alexanderplatz aufs Podium getreten und saßen im vereinten Deutschland für die PDS/Die Linke im Parlament. Wo aber war Angela Merkel, die heute von manchen Zeitgenossen als mächtigste Frau der Welt gehandelt wird? Merkel, die 1986 am Zentralinstitut für physikalische Chemie in Berlin ihre Physikpromotion absolviert hatte, konnte das Aufbegehren der Massen natürlich nicht verborgen geblieben sein. Doch sie verhielt sich auffällig still. Einem Institutskollegen soll sie auf seine Frage, warum sie nicht auf die Straße oder zu politischen Versammlungen ging, geantwortet haben: „Ach, mal gucken, was draus wird.“13 Taxieren, Taktieren, Abwarten, Aussitzen gehörten offenbar schon zum Repertoire der 35jährigen: Erst wenn andere aktiv geworden, gestürzt oder ihnen Flügel gewachsen waren, wenn ein Intermezzo zum Faktum geworden war – dann trat sie auf den Plan und fällte Entscheidungen, oft mit heftigen Nachwehen verbunden, so manche unwiderruflich.

Nicht nur deshalb ist vielen die Person Merkel bis heute rätselhaft geblieben. Wie konnte ein so unbeschriebenes Blatt, ein Mädel aus dem Osten, eine solche Blitzkarriere hinlegen? Wer Details erfahren will, wird kaum fündig. Seltsam blutleer erscheint der Mensch Angela Dorothea, geborene Kasner. Selbst im Internet, sonst ein Quell skurriler Nichtigkeiten, herrscht ein Informations- und Spekulationsvakuum. In ihrer 2004 erschienenen Interviewsammlung mit dem wenig glücklichen Titel „Mein Weg“ (ein Titel, der, ob gewollt oder nicht, an Erich Honeckers Memoiren „Mein Leben“ erinnert) antwortet sie ihrem Interviewer, dem ehemaligen Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Hugo Müller-Vogg, auf die typische Weise: distanziert, kalkuliert, das offiziell Zu-Wissende in immer neuen Worten wiederholend.14 Es ist wie es ist, und es war wie es war, könnte die Quintessenz ihrer Äußerungen lauten.

In Wirklichkeit haben Förderer wie Anhänger fleißig am Mythos Merkel gebastelt. Merkel ist ein Konstrukt, eine Projektionsfläche für verschiedene Ansichten. Keineswegs waren es Glück und Können, die sie an die Spitze des deutschen Einheitsstaates katapultierten – sie war in die richtigen Kreise hineingeboren worden. Auf ihrem Weg nach oben verstand sie es prächtig, die Gunst der Stunde zu nutzen und Widersacher aufs politische Abstellgleis zu schieben. Ihr Vater Horst Kasner, Spitzname „roter Kasner“, war nicht gerade für seine Opposition zur Staatsführung und zur Kirchenpolitik der SED bekannt. Er galt als Erfinder des Begriffs „Kirche im Sozialismus“ und hatte als Leiter des Pastoralkollegs in Templin, einer Fortbildungsstätte der evangelischen Kirche, Zugang zu einflussreichen Kreisen. Zu seinen ständigen Gesprächspartnern in punkto SED-Kirchenpolitik zählten die Rechtsanwälte Clemens de Maiziere, Vater Lothar de Maizieres und Wolfgang Schnur, späterer Vorsitzender des Demokratischen Aufbruch (DA).15 Sowohl Clemens de Maiziere als auch Wolfgang Schnur waren lange Jahre Spitzel der Staatssicherheit. Dass Kasners Tochter Angela in einem von politischen Debatten und Allianzen geprägten Umfeld aufwuchs, dürfte ihrem Aufstieg nicht hinderlich gewesen sein.

1978 übernahm sie aus freien Stücken Leitungsaufgaben in der Freien Deutschen Jugend (FDJ), der Jugendorganisation der DDR, und wurde Sekretärin für Agitation und Propaganda am Zentralinstitut für Physikalische Chemie der Akademie der Wissenschaften, einer Einrichtung, die immerhin rund 600 Mitarbeiter zählte. In ihrem offiziellen Lebenslauf wird dieses Amt als „Kulturfunktionärin“ bezeichnet. Ich selbst habe ebenfalls ein Hochschulstudium in Berlin absolviert, allerdings an der Humboldt Universität, kann mich aber nicht erinnern, dass die FDJ in unseren Seminargruppen oder im Institut einen Kulturbeauftragten bestimmt hätte. Dagegen war es sehr wohl üblich, „Agitation und Propaganda“ in die Hände eines Studenten oder Mitarbeiters zu legen. „Agitation und Propaganda“ war die unbeliebteste aller Funktionen und wegen der von der Partei- und Staatsführung erwünschten Phrasendrescherei am meisten verpönt. Ziel war es, die Verzagten - die es offiziell in der DDR selbstverständlich nicht gab - auf Linie zu trimmen, die anderen auf dem Weg, zur sozialistischen Persönlichkeit heran zu reifen, zu unterstützen und den gemeinsamen Kampf gegen den imperialistischen Klassenfeind im Westen ideologisch zu untermauern. Vom Agit-Prop- Verantwortlichen wurde unter anderem verlangt, regelmäßige Zeitungsschauen mit Artikeln aus den SED-und FDJ-Organen „Neues Deutschland“ und „Junge Welt“, die die außenpolitische Lage aus Sicht der kommunistischen Weltanschauung und die Überlegenheit des Sozialismus zum Inhalt hatten, zu veranstalten sowie entsprechende Vorträge zu Jahrestagen, Appellen, Feierlichkeiten oder sonstigen Anlässen zu organisieren. Ein ideologisch klarer und aus Sicht der SED „eineindeutiger“ Standpunkt waren Grundvoraussetzung. Ich habe nie erlebt, dass jemand gezwungen wurde, diesen Posten zu übernehmen. Allerdings: Wer es leichter haben wollte in Studium und Beruf, für den war außerordentliches politisches Engagement im Sinne der Partei- und Staatsführung durchaus hilfreich.

Sowohl in meiner Abiturklasse als auch später in unserer Seminargruppe war meist ein SED-Mitglied oder ein Mitglied der Blockparteien für Agitation und Propaganda zuständig – zwingend notwendig war das aber keineswegs. Ohnehin habe ich während meiner Schul- und Studienzeit, die ich ebenso wie Angela Merkel in der DDR absolviert habe, die Erfahrung gemacht, dass der direkte politische Druck auf den Einzelnen im Laufe der Jahre sogar nachließ. In der Schule bestimmte häufig noch der Lehrer anhand der Zensuren und der Mitarbeit, wer leitende Positionen in der Pionier- oder FDJ-Gruppe auszuüben hatte; die Mitschüler hoben dann schnell die Hand, weil jeder froh war, diese Aufgabe nicht selbst übernehmen zu müssen. Im Studium ließ dann der Zwang, trotz zahlreicher Versuche subtiler oder direkter Einflussnahme, etwas nach. Umso fragwürdiger erscheint mir, dass Angela Merkel ihre Tätigkeit als Sekretärin für Agitation und Propaganda in der Akademie der Wissenschaften mit dem Begriff „Kulturfunktionärin“ verbrämt, noch dazu, da sie zu diesem Zeitpunkt bereits ein abgeschlossenes Hochschulstudium vorweisen konnte und daher weder um die Gunst linientreuer, Zensuren vergebender Dozenten buhlen noch ihre Loyalität anderweitig unter Beweis stellen musste.

Im Winter 1989 schloss sie sich dem Demokratischen Aufbruch an. Schon vor dem Gründungsparteitag war im DA ein heftiger Streit um die Wirtschafts-, Sozial- und Deutschlandpolitik entbrannt, in dem die Vertreter des linken Flügels von ihren Mitstreitern als „rote Faschisten“, „rote Säue“ und „Stasi-Spitzel“ beschimpft wurden. Gewinner des anhaltenden Richtungsstreits waren die konservativen Kräfte um Wolfgang Schnur. Im Februar 1990 stellte der DA sein Wirtschaftsprogramm vor, das eine umfassende Reform und die Einführung der D-Mark vorsah, und im gleichen Monat wurde Angela Merkel Pressesprecherin. Zur Volkskammerwahl trat der DA zusammen mit der DDR-Blockpartei CDU und der Deutschen Sozialen Union (DSU) unter dem Namen „Allianz für Deutschland“ an, initiiert von der West-CDU und ihrem Vorsitzenden Helmut Kohl. Überraschend ging die Block-CDU als Siegerin aus der Volkskammerwahl hervor, der DA kam gerade einmal auf 0,92 Prozent der Stimmen. Die vier DA-Vertreter in der Volkskammer schlossen sich bald darauf der CDU an. Bei dem Desaster dürfte nicht unerheblich gewesen sein, dass Schnur kurz zuvor als Stasi-Spitzel enttarnt worden war. Warum und durch wen die Stasi-Vergangenheit Schnurs ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt ans Tageslicht kam – darüber kann nur spekuliert werden.

Auf jeden Fall dürfte der bodenlose Fall des DA-Vorsitzenden die Sympathie der Wähler für die Block-CDU beachtlich forciert haben. Gleichzeitig überschlugen sich die bundesdeutschen Fernseh- und Rundfunksendungen in ihren Beiträgen über die unglaublichen Verheißungen des westdeutschen Systems. Helmut Kohls (CDU) versprach, der Ost-CDU bei ihrer „Erneuerung“ unter die Arme zu greifen, die Freiheit des Einzelnen und die Freiheit der Märkte durchzusetzen. „Freiheit“ - da war es, das große Wort, auf das viele gewartet hatten. Frei zu sein von der Bevormundung des Staates, der ungeliebten Partei der Arbeiter- und Bauernklasse, den Parteisekretären, den Informellen Mitarbeitern. Selbst entscheiden zu können, das Leben in die eigenen Hände nehmen zu können, zu sagen und zu denken, zu tun oder zu lassen, was man wollte – ein Traum schien sich zu erfüllen. Plötzlich bekam die kommunistische Parole „jeder nach seinen Leistungen, jedem nach seinen Bedürfnissen“ einen ganz neuen Sinn. Dass der Begriff der Freiheit auch durchaus der Volksverführung dienen und gesellschaftliche Fehlentwicklungen verschleiern kann, war damals den wenigsten klar.

Die ungute Mischung aus Zukunftsangst, Glauben an die hehren Absichten westlicher Spitzenpolitiker und Medien, Stasiverachtung, Konsumlust, Demut und Minderwertigkeitskomplexen bescherte der Ost-CDU tatsächlich einen grandiosen Sieg und sicherte ihr 163 Mandate – einer Partei, die von „Blockflöten“, die sich dem engstirnigen Parteienapparat der DDR über 40 Jahre angedient hatten, nur so wimmelte. Viele DDR-Bürger waren der Ansicht, dass nur Kohls CDU in der Lage wäre, die vermeintlich enormen wirtschaftlichen Probleme in der DDR zu bewältigen. „Die CDU hat das Geld“, hieß es auch in meinem Verwandten- und Bekanntenkreis.

Im September 1990 löste sich der Demokratische Aufbruch schließlich komplett in der CDU auf. Das Wahlergebnis bescherte dem Rechtsanwalt Lothar de Maiziere, Sohn des Stasi-Spitzels Clemens de Maiziere und später selbst als MfS-Zuträger „Czerni“ enttarnt, einen unerwarteten Karrierschub. Als jahrelang unbekanntes Mitglied wurde er überraschend Chef der Blockpartei CDU und schließlich sogar der erste frei gewählte Ministerpräsident der DDR – sicher nicht zuletzt deshalb, weil er mit dem Wahlslogan „Wir sind ein Volk“ angetreten war – derselbe, mit dem die West-CDU in der Wendezeit hunderttausendfach Reklamematerial bedrucken und Kampagnen ausrichten ließ. Parteinahe Journalisten leisteten ihren Beitrag im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und legten in ihren Talkrunden, Beiträgen und Kommentaren den Grundstein für den Volksglauben an einen desillusionierten, maroden Osten, der allein durch einen Kraftakt der Kohl-Regierung vor dem Komplettzerfall bewahrt werden konnte.

Merkel folgte ihrem Gespür und wechselte noch in der Wahlnacht die Fronten. Als Pressesprecherin des gescheiterten Demokratischen Aufbruchs (DA) verließ sie die sicher nicht besonders vergnügliche After-Wahl-“Party“ ihrer Partei und mischte sich unters feiernde CDU-Volk. Dort wendete sie sich an Thomas de Maiziere, Cousin und Berater von Lothar de Maiziere und heutiger Bundesinnenminister mit der Bitte, „bei der kommenden Regierungspolitik ja nicht den Beitrag des DA zu vergessen“. (Angela Merkel: Mein Weg. Ein Gespräch mit Hugo Müller-Vogg. Hoffmann und Campe, Hamburg, 2005) Das tat de Maiziere auch nicht, obwohl er in seinem Buch behauptet, diese Bitte hätte nichts mit dem zu tun, was darauffolgte.16 Auf seinen Vorschlag hin wurde Angela Merkel stellvertretende Regierungssprecherin in der neu gewählten CDU-Regierung in der DDR unter Lothar de Maiziere.

Der Ost-Cousin des heutigen Bundesinnenministers hielt, solange er sich im Rampenlicht der Republik bewegte, weiterhin zu seiner ehemaligen Frontfrau. Beharrlich verteidigte er das Bild der Pfarrerstochter, die in der DDR auf Grund ihrer Herkunft mit Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt hätte. „Angela Merkel hat viele ihrer Eigenschaften im Kontra gegen die SED-Herrschaft entwickelt“, insistierte er 2009 während eines Podiumsgesprächs im Ludwig-Windthorst-Haus (LWH) in Osnabrück.17 Im Hinblick auf ihre Zweckmäßigkeit dürfte diese äußerst phantasievolle Ausschmückung des merkelschen Werdeganges sicher gut geeignet gewesen sein, den Mythos der Senkrechtstarterin aus eigener Kraft zu füttern.

In den wenigen Monaten ihrer Tätigkeit war es Merkel gelungen, die richtigen Kontakte zu knüpfen. Günther Krause war einer von ihnen. Krause fungierte in der Zeit zwischen Volkskammerwahl und deutscher Vereinigung als Vorsitzender der CDU/DA-Fraktion. Er war einer der vehementesten Kämpfer für einen schnellen Beitritt der DDR zur BRD und handelte als Parlamentarischer Staatssekretär die Währungs- und Wirtschaftsunion mit der Bundesrepublik aus, eine Union, die für den Ausverkauf auf ostdeutschem Boden sorgte. (Wegen diverser Skandale unter der Kohl-Regierung musste Krause später seinen Hut nehmen.) Krause hielt für Merkel ein passendes Karrieresprungbrett bereit: Als CDU-Landesvorsitzender in Mecklenburg-Vorpommern vermittelte er Merkel für die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl einen Wahlkreis; sie erhielt ein Direktmandat und einen Listenplatz – der Beginn einer einmaligen Karriere.

DDR-KIRCHE: Eine Institution zwischen Beihilfe und Opposition

Während sich in den meisten Köpfen festgesetzt hat, dass der Sturz des DDR-Regimes einzig ein Volksaufstand der Unzufriedenen war, sah die Realität etwas anders aus. Im Hintergrund zog vor allem eine Institution die Fäden: die Kirche. Sie war nicht nur die einzige Einrichtung, die den Oppositionellen Raum und eine geistige Heimat bot. Sie lenkte auch die politische Entwicklung Ostdeutschlands ganz im Sinne der westdeutschen Christdemokraten und ihrer konservativ- wirtschaftsliberalen Auffassung einer modernen Gesellschaft – und verriet damit die Ideale der „friedlichen Revolution“ von 1989.

Dabei hatte sich die ostdeutsche Kirche über 40 Jahre recht gut mit der SED-Regierung arrangiert. Seit der Regierungszeit Walter Ulbrichts hatten sich Kirche und Staat angenähert, insbesondere die evangelische Kirche über den „Weißenseer Arbeitskreis“, in dem auch Merkels Vater mitwirkte. Unter dem Dach beider Kirchen tolerierte der Staat den Aufbau von Ökogruppen und einer autonomen Friedensbewegung; im Gegenzug fungierten die Kirchen als Ventil der Unzufriedenheit und hatte damit eine stabilisierende Funktion für den Unrechtsstaat DDR. Kirchenreferate in allen Bezirksverwaltungen, die direkt dem Ministerium für Staatssicherheit in Ost-Berlin (MfS) unterstellt waren, bemühten sich um Einfluss auf das kirchliche Leben, um Disziplinierung und Kontrolle. Hunderte von Inoffiziellen Mitarbeitern wurden erfolgreich angeworben – und zwar bis in die höchsten Kirchenämter hinein. Werbungen durch das MfS erfolgten nicht nur auf der Basis politischer Überzeugungen. Die Stasi bediente sich auch kompromittierenden Materials, z.B. die Kenntnis moralischer Verfehlungen aller Art bis hin zur Verwendung von Informationen aus den Nazi-Archiven. Um die Ressentiments der potentiellen Informellen Mitarbeiter auszuräumen, verzichtete die Stasi sogar auf das übliche Prozedere, schriftliche Verpflichtungserklärungen abzuverlangen, sofern sie sich besonders wertvolle und regelmäßige Berichte versprach. Besonders interessante IM wurden als solche überhaupt nicht registriert. Das MfS ging noch einen Schritt weiter und führte die betreffenden Personen zum Schutz vor Verrat aus den eigenen Reihen als „Operative Vorgänge“, heute besser bekannt unter der Bezeichnung „Opferakten“.18

Die Zusammenarbeit mit den Kirchen sollte verhindern helfen, dass sich Andersdenkende in den Kirchen zu einer schlagkräftigen Opposition organisieren können. In Thüringen beispielsweise warb die Stasi den stellvertretenden Leiter des Landeskirchenamtes, Oberkirchenrat Martin Kirchner (Deckname „Küster“ und „Andreas“) als IM an. Nach der Wende war Kirchner zeitweise als Generalsekretär der CDU aktiv.19 Erst Jahre nach der Vereinigung Deutschlands bröckelte allmählich das Wissen um die besonderen Beziehungen zwischen SED-Diktatur und Kirche von der Leinwand: Das Bild von den hehren Absichten der Kirche, an dem Kirchenvertreter und Gläubige gleichermaßen lange Zeit fleißig gemalt hatten, war rissig geworden.

In diesem Zusammenhang erlebte ich meine erste nachhaltige Enttäuschung, als meine beste Freundin an die Grenzen der sozialistischen Toleranz rührte und einen Ausreiseantrag stellte. Ihr Personalausweis wurde eingezogen und durch den „PM 12“ ersetzt, einen Ersatzausweis, den „Asoziale“, Renitente und „nicht Gesellschaftsfähige“ wie Dissidenten erhielten und der ihr verbot, die Stadt zu verlassen oder ins Ausland zu reisen. Sie musste der Erweiterten Oberschule den Rücken kehren, durfte also weder ihre Schule beenden noch ihr Abitur machen, und sich regelmäßig sowohl auf dem Revier der Volkspolizei melden als auch in der Kreisdienststelle des MfS einfinden, um Rede und Antwort zu stehen. Seite an Seite saßen dort verschiedene Funktionäre – und der Superintendent, der uns, als er noch Pfarrer in unserer Gemeinde war, auf die Konfirmation vorbereitet hatte – ein äußerst freundlicher, eloquenter, erstaunlich moderner Mensch, den wir sehr gemocht und bewundert hatten. Dass er stets ein offenes Ohr für unsere Sorgen und Nöte gehabt hatte, erschien nun in einem ganz anderen Licht.

Die Kirche spielte eine entscheidende Rolle dabei, die Proteste der Bürger zu kanalisieren und zu steuern. Sie nutzte den Aufruhr, um sowohl die Re-Kapitalisierung des Landes als auch die Angliederung der DDR an die alten Bundesländer voran zu treiben. Wie stark der Einfluss des Westens auf die weitere Entwicklung in der DDR bereits zum damaligen Zeitpunkt war, entdeckte ich, als ich am 4. November einem Aufruf des potsdamer Neuen Forum folgte. Bis dahin war ich nur in Ostberlin marschiert, nun war ich neugierig auf die Aktivitäten in der Havelstadt. Ich beschloss, bei dieser Gelegenheit die Glienicker Brücke anzuschauen – ich hatte das von Agentengeschichten umrankte, stählerne Bauwerk noch nie gesehen. Obwohl der Umweg bis zum Platz der Nationen sehr lang sein würde, nahm ich ihn in Kauf. Zunächst begegnete ich nur wenigen kleinen Gruppen, die vereinzelt Transparente und Plakate trugen, doch je näher ich der Brücke kam, desto mehr verdichtete sich der Zug, und desto lauter und unruhiger wurde es. Rechts und links standen die Trabbis und Wartburgs eng aneinander geparkt, so dass ich Slalom laufen musste, um Menschen und Autos ausweichen zu können und auf die andere Straßenseite zu gelangen.

Bald fiel mir der erste Aufkleber auf. Am Heck eines graublauen Trabant Kombi prangte eine schwarz-rot-goldene Flagge mit der Aufschrift „Wir sind ein Volk“, ein perfekter Hochglanzdruck. Verdutzt blieb ich stehen. Ich kannte den Demonstrationsruf „Wir sind das Volk“, hatte hunderte Male selbst eingestimmt. Die bundesdeutsche Flagge mit der offensichtlichen Forderung aber war mir neu. Ich war irritiert, entdeckte weitere Autos mit den gleichen Aufklebern, traute meinen Augen kaum. Aufkleber dieser Couleur waren für die DDR so typisch wie ein Mercedes in einer Plattenbau-Garage oder wie Tchibo-Kaffee im Konsum: praktisch unmöglich. Wenig später sah ich auch schwarz-rot-goldene Fahnen ohne Ährenkranz, Stoff und Halterung von hoher Qualität, nichts Selbstgemachtes. Sie schwenkten im Gleichklag der Sprechchöre und Gesänge über den Köpfen. „Wir sind ein Volk“, skandierten einige junge Männer, und ringsum fielen die Leute ein, brüllten „Deutschland einig Vaterland!“

Ich bin ehrlich: Mich packte das Entsetzen. Natürlich war mir die Diskussion um die Zukunft der DDR nicht neu. In den Beiträgen von ARD und ZDF war immer öfter die Rede von der großen Chance, die sich den Ostdeutschen mit der Öffnung der Märkte böte, immer häufiger beschworen die Kommentatoren die Gemeinsamkeiten der geteilten Nation. In den Diskussionen mit Verwandten, Bekannten, Freunden und Studienkollegen fiel mir auf, dass es vor allem die ältere Generation war, die dem Glauben an die starke Währung verfallen war und mit dem Wohlstand West liebäugelte, während die Jungen, allen voran viele Studenten, einen autonomen Weg der DDR als souveräner, offener Staat für realisierbar hielten. Mein Bauchgefühl von damals sollte mich nicht täuschen, dass wir, die wir diese „friedliche Revolution“ von Beginn an unterstützt hatten, indem wir uns beinahe täglich in die Demonstrationszüge einreihten, unseren Traum begraben werden müssen.

Wie betäubt setzte ich meinen Weg bis zur Glienicker Brücke fort. Ich blieb außerhalb des Pulks, beobachtete die Menge, betrachtete die Wortführer: Männer zwischen 20 und 30, mit Levis und Kurzjacken bekleidet, die es bei uns, wenn überhaupt, höchstens im Exquisit oder im Intershop zu kaufen gab. Besonders die Schuhe stachen mir ins Auge: Addidas-Turnschuhe und Lederschuhe, geradezu strahlend in ihrer Jungfräulichkeit. Schuhe gehörten bei uns zur typischen Mangelware, und jeder DDR-Bürger erkannte Westdeutsche sofort am Schuhwerk. Wir trugen unsere Kleidung auf, wie es so schön heißt, und insbesondere den Schuhen sah man an, wie lange sie getragen waren. Was also wurde hier gespielt? Kürzlich las ich, dass die Parole „Wir sind EIN Volk“ erst am 13. November 1989 in Leipzig aufgekommen sein und von dort ausgehend die gesamte Republik erfasst haben sollte, die CDU erst daraufhin Autoaufkleber, Handzettel und Plakate in Hunderttausender Auflage gedruckt haben soll.20 Ich habe es anders erlebt.

Von Beginn an bestand eine enge Verbindung der West-CDU zu den DDR-Kirchenkreisen, eine Verbindung, die letztlich das Schicksal der DDR und ihrer Bevölkerung besiegelte. In der Zeit des Umbruchs und danach nutzte die DDR-Kirche ihren Einfluss, und ich war naiv genug zu glauben, dass es stets ein selbstloser, unvoreingenommener, volksnaher und allein der christlichen Lehre verpflichteter Einsatz war. Auf allen Demonstrationen und Veranstaltungen, die ich besuchte, riefen die Kirchenvertreter stets zur Friedfertigkeit auf – „Keine Gewalt“ stand auf vielen Plakaten und wurde von der Menge skandiert. Tatsächlich wollte niemand die „chinesische Lösung“ riskieren; zu tief saß auch die Erinnerung an die blutige Zerschlagung des Aufstandes am 17. Juni 1953 durch Volkspolizisten und sowjetische Soldaten.21

Dass Blutvergießen keine Option ist, bin ich bis heute überzeugt, doch haben wir nicht erkannt, dass uns die Kirche das Zepter aus der Hand genommen und es an die politische und wirtschaftliche Führung des Westens weitergereicht hatte. Indem sie die Andersdenkenden in die genehmen Bahnen des friedlichen Massenprotestes zu lenken und einen offenen Aufstand zu verhindern gewusst hatte, unterband die Kirche eine aktive Beteiligung vor allem der Arbeiterschaft an der weiteren Entwicklung: Im Wesentlichen war es die Kirche, die den „Runden Tisch“ eingerichtet hatte, und es waren kirchliche „Moderatoren“, die als Mittler zwischen den verschiedenen Gruppierungen und den Regierungsvertretern am „Runden Tisch“ auftraten.22 Auf diese Weise wurde letztlich die Möglichkeit vertan, kirchenunabhängige Interessenvertretungen zu schaffen, die es auch anderen Teilen der Bevölkerung ermöglicht hätten, sich an der politischen Umwälzung zu beteiligen. Überdies waren die 1989 neu entstandenen Parteien in der DDR zum größten Teil von Kirchenvertretern oder der Kirche nahestehenden Persönlichkeiten gegründet worden; gleiches galt im Zuge der „Erneuerung“ bei der Neubesetzung von Positionen innerhalb der staatlichen Blockparteien.23

Zahlreiche ehemalige DDR-Bürgerrechtler sind später den bundesdeutschen Parteien beigetreten und haben mehr oder weniger Karriere gemacht. Allein in der CDU gab es acht Jahre nach der Vereinigung 64 frühere DDR-Bürgerrechtler. Zu den erfolgreichsten zählen sicher Arnold Vaatz und Günter Nooke. Der als massiver Gegner der Energiewende geltende Vaatz begann seine Karriere bereits unter Lothar de Maizière, wo er als stellvertretender Regierungsbevollmächtigter des Bezirkes Dresden tätig war. 1990 wurde er Staatsminister in der Sächsischen Staatskanzlei und 1998 Sächsischer Staatsminister für Umwelt und Landesentwicklung. 2002 wählten ihn die Abgeordneten zum Stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für die Bereiche Aufbau Ost, Menschenrechte und wirtschaftliche Entwicklung.24 Günter Nooke, der als Physiker zunächst nur die Fachrichtung mit Merkel gemein hatte, war bis 1990 Bündnis 90-Mitglied, um schließlich zusammen mit sechs anderen ehemaligen Bürgerrechtlern 1996 der CDU beizutreten.25 Nookes Beitrag zur hohen Politik, zumindest was die Entwicklungspolitik betrifft, dürfte nicht unerheblich sein: Nachdem er vier Jahre lang bis 2010 Beauftragter für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe der Bundesregierung war, ist er derzeit Afrikabeauftragter der Bundeskanzlerin im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Stand 2016). Sowohl Vaatz als auch Nooke sind Träger des Bundesverdienstkreuzes.

Es waren die wertkonservativen, kirchennahen Kreise, die es bis in die vordersten Reihen der alten Bundesrepublik, der sich die Ex-DDR bedingungslos unterworfen hatte, geschafft haben – einen Querschnitt der demonstrierenden Bevölkerung bilden sie nicht ab. Ihre Gemeinsamkeit beschränkt sich nicht nur auf ihre Religiosität und ihre traumatischen Lebenserfahrungen während der SED-Diktatur, sondern auch auf ihre USA-Treue und die geradezu phobische Angst vor allem, was sich links der Mitte bewegt. Während der Landtagswahl in Thüringen 2014 beispielsweise zeigten sich 40 ehemalige Bürgerrechtler der DDR höchst alarmiert, dass eine „Steigbügelhalter-SPD“ der Linken an die Macht verhelfen könnte.26 Mag die Kritik am Linke-Landtagsabgeordneten Frank Kuschel mit seiner einstigen Arbeit für das MfS auch berechtigt gewesen sein – sie blendete aus, dass sich weder CDU noch SPD davon freisprechen können, ehemalige „Blockflöten“ und sogar Stasi-Mitarbeiter in ihren Reihen zu tolerieren. Eine korrekte und vor allem detaillierte Aufarbeitung der Vergangenheit ihrer Neuzugänge aus der Ex-DDR sind die Parteien nämlich bis heute schuldig geblieben.

Mit ihrer vehementen Verteidigung des Ist-Zustandes in Politik und Wirtschaft teilen und stützen die einstigen Wendehelden die Politik des sozialen Kahlschlags, der stufenweisen Aushöhlung demokratischer Grundrechte und helfen, den Stillstand in Deutschland zu betonieren. Was sie am einstigen System kritisierten wie Anpassung, Bevormundung, Linientreue, Unterdrückung der freien Meinungsäußerung, Kompromittieren der Kritiker und Gleichschaltung der Medien, tolerieren sie in diesem und heißen es teilweise sogar gut. Dass der freiheitlichdemokratischen Anstrich bröckelt, wollen oder können sie nicht sehen. Ihr mutiges Aufbegehren und ihr Organisationstalent vor und während des Umbruchs in der DDR dürfen ihnen weder eine Absolution für ihre spätere Laufbahn erteilen noch sie von der Verantwortung für das Jetzt freisprechen. Einst hatte ihnen das Schlachtschiff Kohl eine politische Heimat geschenkt – heute opfern sie den ruhigen Fahrwassern einer Großen Koalition (und der Sicherheit eines Bundestagsmandates) ihre Beobachtungsgabe und ihren Realitätssinn.

11 Präambel des Gesetzes über die Teilnahme der Jugend an der Gestaltung er entwickelten sozialistischen Gesellschaft und über ihre allseitige Förderung in der Deutschen Demokratischen Republik vom 28.1.1974 – Jugendgesetz, GBl. I Nr. 5

12 Anmerkung: Die Gethsemanekirche war eines der Zentren der DDR-Opposition und der Friedensbewegung, dort wurden seit Anfang Oktober Mahnwachen und Diskussionsveranstaltungen abgehalten.

13 Lena Sokoll: Die Karriere der Angela Merkel, Teil 1: DDR – Jugend und Einstieg in die Politik, 23.6.2005 https://www.wsws.org/de/articles/2005/06/mer1-j23html

14 Angela Merkel: Mein Weg. Ein Gespräch mit Hugo Müller-Vogg. Hoffmann und Campe, Hamburg, 2005

15 Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Horst_Kaser

16 Thomas de Maiziere: Damit der Staat den Menschen dient. Über Macht und Regieren. Im Gespräch mit Stefan Braun. Siedler Verlag, München, 2013

17 Neue Osnabrücker Zeitung, 10.9.2009 www.noz.de/archiv/vermischtes/artikel/89430/-die-wendezeit-in-der-ddr-und-der-weg-von-angela-merkel

18 Das politische Wirken der Kirchen in der DDR und die Reaktionen des MfS. Deutschland-Archiv Nr. 4/94 www.mfs-insider.de/Abhandlungen/Kirche.htm

19 DER SPIEGEL 6/1992

20 Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Wir_sind_ein_Volk

21Anmerkung: Belegt sind 55 Tote und Hunderte von Deportationen zu Zwangsarbeit in Sibirien

22Anmerkung: Der „Runde Tisch“ ging auf eine Inititative von „Demokratie jetzt“ zurück und tagte erstmals im Gottesdienstraum der Herrnhuter Bürgergemeinde, Bonhoefferhaus, Berlin-Mitte. „Demokratie Jetzt“ wurde 1989 von einem Arbeitskreis der Bartholomäusgemeinde Berlin gegründet und fusionierte zwei Jahre später mit Teilen des „Neuen Forum“ und der Initiative für Frieden und Menschenrechte, Bündnis 90

23 Lena Sokoll: Die Karriere der Angela Merkel, Teil 1: DDR – Jugend und Einstieg in die Politik, 23.6.2005 https://www.wsws.org/de/articles/2005/06/mer2-j24html

24 Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Arnold_Vaatz

25 Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Günter_Nooke

26 Der Aufruf zur Landtagswahl 2014 in Thüringen www.welt.de/bin/Aufruf-131916737.pdf

LÜGE 2: BLÜHENDE LANDSCHAFTEN

GEPLANTER EXODUS: Platter Osten, satter Westen

„Am Ende hat die Ökonomie entschieden, wohin der Weg führen würde, nichts anderes“, sagt Angela Merkel in ihrem Buch „Mein Weg“. Bis heute ist die Kanzlerin überzeugt, dass alles richtig und rechtens gewesen ist, was seit 1989 dem Land und seiner Bevölkerung zugemutet wurde. Doch war es keineswegs diese von Merkel beschworene abstrakte „Ökonomie“, die zum kompletten Ausbluten Ostdeutschlands geführt hatte, sondern ganz Greifbares wie Raffgier und Skrupellosigkeit, der wirtschaftspolitische Wahnsinn und die Machtbesessenheit von Treuhand, Unternehmern und Politikern.