"Ich habe getötet, aber ein Mörder bin ich nicht" - Birgit Kofler-Bettschart - E-Book

"Ich habe getötet, aber ein Mörder bin ich nicht" E-Book

Birgit Kofler-Bettschart

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Beschreibung

Quer durch Europa und in den Kaukasus, von Paris über Genf nach Berlin, von Istanbul über Wien nach Rom und Tiflis führt die Spur der Geheimoperation Nemesis. Nach dem Genozid an 1,5 Millionen Armenierinnen und Armeniern ab 1915 wollte sich eine Gruppe junger Männer nicht mit der Opferrolle abfinden. Sie verübten Attentate auf die Hauptverantwortlichen des Völkermords, die sich der Justiz durch Flucht entzogen hatten. So erschoss 1921 ein junger Armenier den früheren osmanischen Innenminister Talat Pascha in Berlin auf offener Straße. Es folgte eine Serie von weiteren Attentaten, zum Beispiel auf den ehemaligen Großwesir Said Halim, den früheren osmanischen Marineminister Cemal und den Ex-Innenminister von Aserbaidschan Behbud Javanshir. Birgit Kofler-Bettschart erzählt die dramatische und faszinierende Geschichte der Geheimoperation Nemesis (Vergeltung) und ihrer Akteure vor internationaler Kulisse und einem historischen und politischen Hintergrund, der bis heute nachwirkt.

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ÜBER DAS BUCH

Von Paris über Genf nach Berlin, von Istanbul über Wien nach Rom und Tiflis führt die Spur der Geheimoperation Nemesis. Nach dem Genozid an 1,5 Millionen Armenierinnen und Armeniern ab 1915 wollte sich eine Gruppe junger Männer nicht mit der Opferrolle abfinden. Sie verübten Attentate auf die Hauptverantwortlichen des Völkermords, die sich der Justiz durch Flucht entzogen hatten. So erschoss 1921 ein junger Armenier den früheren osmanischen Innenminister Talat Pascha in Berlin auf offener Straße, eine Serie von weiteren Attentaten folgte.

„Schon Franz Werfels ‚Die 40 Tage des Musa Dagh‘ hat die Welt wegen der Tragödie des Völkermords an den Armeniern aufgerüttelt, dieses Buch leistet einen weiteren Beitrag dazu.“

- Herbert Lackner -

Anmerkung zu Schreibweise von Namen und Orten

Für jeden der Eigennamen, die in diesem Buch vorkommen, gibt es die unterschiedlichsten Schreibweisen – je nachdem, wie sie aus dem Armenischen transkribiert sind, und ob sie aus dem West- oder Ostarmenischen übernommen wurden. In diesem Buch kommen Menschen aus Ost- und Westarmenien vor und Diaspora-Armenier. Ich habe im Interesse einer möglichst großen Einheitlichkeit weitgehend die Transliteration phonetisch am Ostarmenischen orientiert und nach deutscher Rechtschreibung übertragen. In manchen Fällen wird bei Personen aus Armenien die Transliteration verwendet, die die jeweilige Person selbst im internationalen Kontakt benutzt.

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

Prolog

Anführer auf der Flucht, eine Regierung vor Gericht

Der Genozid: Meds Jerern – der „Große Frevel“

Im Visier: die Liste der Massenmörder

Die Geheimoperation nimmt Formen an

Kommandos in Konstantinopel und Tiflis

Europas Metropolen im Fadenkreuz

Hürden auf der Jagd nach Enver

Auf der Spur von Nummer 1

Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig

Kein Entkommen am Bosporus

In der ewigen Stadt

Treffpunkt Wien und ein neuer Auftrag

Nochmals auf Berliner Boden

Ein letzter Anschlag in Georgien

Das Ende der Geheimoperation

Was aus den Rächern wurde

Was nachher geschah

Statt eines Nachworts: Interview mit der Armenien- und Genozid-Spezialistin Tessa Hofmann

Danksagungen

Die Attentate im Überblick

Quellen und Literatur

„Das Jammerbild verstümmelter und verhungerter Flüchtlingskinder, die in einer Teppichfabrik arbeiteten, gab den entscheidenden Anstoß, das Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich alles Geschehenen zu entreißen.“

Franz Werfel | „Die vierzig Tage des Musa Dagh“

EINLEITUNG

Am 24. April 2023, dem jährlichen Gedenktag des Genozids am armenischen Volk, wurde im Ringpark der armenischen Hauptstadt Jerewan, gegenüber dem markanten Rundfunkgebäude, unter Beteiligung von Stadtpolitik, Aktivistinnen und Aktivisten und vielen Interessierten ein neues Denkmal eingeweiht. An sich keine große Sensation für eine Stadt, in der es Hunderte Monumente und Standbilder gibt, viele von ihnen weitaus größer und pompöser als diese schlichte Ansammlung von beschrifteten Stäben und Platten aus Stein, die über einem kleinen Brunnen angeordnet sind.

Und doch war die Aufregung groß, jedenfalls außerhalb Armeniens. Wenige Tage nach der Eröffnungsveranstaltung, am 3. Mai 2023, sperrte die Türkei ihren Luftraum für Flugzeuge aus Armenien. Das Denkmal sei „beschämend und die Verherrlichung einer blutigen Terrorbewegung“, erklärte das türkische Außenministerium und der damalige Ressortchef drohte gar mit „weiteren Schritten“, sollte das Denkmal nicht entfernt werden. Aserbaidschanische Diplomaten sprachen wegen des Monuments gar von „Terrorpolitik des armenischen Staates“.

Warum ruft das vom Architekten Tigran Barseghyan entworfene Mahnmal, auf dessen Sockel „1919–1922: Den Helden der nationalen Ehre“ zu lesen ist und auf dem 16 Namen eingraviert sind, derartige Empörung hervor? In erster Linie wohl deshalb, weil es alle beteiligten Nationen an mehr als hundert Jahre zurückliegende Ereignisse erinnert, an die Zeit vor dem, während des und nach dem Ersten Weltkrieg. Wir erinnern uns: Das Osmanische Reich, der Vorgängerstaat der heutigen Türkei, trat ebenso wie Bulgarien an der Seite der Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn in den Ersten Weltkrieg ein. Diesem Bündnis stand die Entente gegenüber, die ursprünglich aus Großbritannien, Frankreich und Russland bestand und später von zahlreichen anderen Staaten unterstützt wurde. Im Kaukasus, wo heute die unabhängige Republik Armenien liegt, verlief eine heftig umkämpfte Front. Armenien und Aserbaidschan existierten zu Kriegsbeginn nicht als eigenständige Staaten, sondern erst ab 1918. Und dies nur für kurze Zeit, bevor sie Teil der Sowjetunion wurden und bis zu deren Zerfall blieben.

Die traditionellen armenischen Siedlungsgebiete befinden sich vorwiegend zwischen dem Hochland Ostanatoliens und dem Südkaukasus. Dort war das armenische Volk seit rund 3.500 Jahren ansässig, in manchen Perioden bestanden unabhängige armenische Königreiche und Fürstentümer in diesem Raum, in anderen war das armenische Hochland Teil unterschiedlicher Großreiche. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten Armenierinnen und Armenier, wenn sie nicht bereits aufgrund der Diskriminierung und wiederholter Pogrome ausgewandert waren, vorwiegend in Westarmenien, so die historische Bezeichnung des westlichen Teils des Hochlands, der zum Osmanischen Reich gehörte, und in Ostarmenien, dem östlichen Teil des Hochlands, der zu diesem Zeitpunkt zum Russischen Reich gehörte. Angesichts der wechselvollen territorialen Schicksale bezog das armenische Volk seine Identität über viele Jahrhunderte weniger über einen gemeinsamen Staat als über die gemeinsame Kultur und Tradition, die eigene Sprache und auch die religiöse Zugehörigkeit. Die Armenier wurden bereits um 300 christianisiert und sind bis heute stolz darauf, der erste christliche Staat der Welt gewesen zu sein.

Eine emotionale und politische Referenz, die das in mehr als 120 Staaten der Welt lebende armenische Volk vereint, ist der Genozid, dessen Opfer es im Schatten des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich und auf dem Gebiet des heutigen Aserbaidschan wurde. Allein zwischen 1915 und 1918 wurden etwa eineinhalb Millionen armenischer Kinder, Frauen und Männer ermordet, insgesamt starben bis 1923 an die zwei Millionen Armenierinnen und Armenier im Zug von Massakern und Massengewalt. Vor allem ging es den Initiatoren des Völkermords darum, aus dem multikulturellen Osmanischen Reich einen ethnisch und religiös homogenen muslimisch-türkischen Staat zu machen, nichttürkische, nichtmuslimische Völker sollten deshalb aus Kleinasien verschwinden. Opfer dieser „Eliminierungspolitik“ wurden auch aramäischsyrische und chaldäische Christen sowie Pontosgriechen.

Genau mit diesem Völkermord hat nun die neue Skulptur in Jerewan, auf die Armeniens Nachbarstaaten so gereizt reagierten, zu tun. Sie ist der armenischen Geheimoperation Nemesis gewidmet. Die Strategen und Organisatoren, Agenten und Aufklärer, Attentäter und Unterstützer, die zu Beginn der 1920er-Jahre an dieser Operation teilnahmen, sind für viele Menschen in Armenien Nationalhelden. Ihre Aufgabe war es, jene Politiker und Entscheidungsträger aufzuspüren, die die Hauptverantwortung für den Genozid an den Armenierinnen und Armeniern trugen und sich nach der Kapitulation des Osmanischen Reichs zu einem Großteil ins Ausland abgesetzt hatten. Die Aktivitäten der Operation Nemesis fallen in eine Zeit, in der es in der heutigen Türkei alles andere als übersichtlich zuging. Mit der Kapitulation wurde das Kriegskabinett in Konstantinopel vom Sultan durch eine neue Regierung ersetzt, die mit den Alliierten kooperieren und Friedensbedingungen aushandeln sollte. Die nationalistische Bewegung unter dem populären General Mustafa Kemal, dem späteren Atatürk, bildete in Ankara eine Gegenregierung, die sich gegen die Alliierten auflehnte und für eine territoriale Integrität um jeden Preis eintrat. Die Nationalisten setzten sich letztlich durch, 1922 und 1923 wurden zunächst das Sultanat, dann das Kalifat abgeschafft und die Republik Türkei ausgerufen, die sich bei aller Distanzierung vom Osmanischen Reich allerdings nicht von deren Gräueltaten distanzierte. Davon, den Genozid an den Armeniern als solchen zu benennen, die Verantwortung dafür zu übernehmen oder sich gar zu entschuldigen, ist die Türkei – ebenso wie Aserbaidschan – bis heute weit entfernt.

„Eine so starke Reaktion haben wir nicht erwartet. Dieses Denkmal steht nicht für Rache“, sagte mir anlässlich der Einweihung des Denkmals einer der Initiatoren des Nemesis-Monuments, der armenische Fernsehjournalist Artem Yerkanyan. Der Name seines Großonkels Aram ist auf dem Monument verewigt. „Dieses Mahnmal steht vielmehr für Ehre, Gerechtigkeit und Sühne.“ Die Operation Nemesis habe nach der Vernichtung der osmanischen Armenier die Ehre des armenischen Volkes wiederhergestellt, indem die Beteiligten aus der Opferrolle herausgetreten und aktiv geworden seien. Gerechtigkeit wurde hergestellt, so Artem Yerkanyan, weil „die Haupttäter des Genozids von osmanischen Gerichten verurteilt worden sind, sich aber der Bestrafung entzogen haben. Und noch heute ist die Botschaft wichtig, dass Verantwortliche für Völkermord nicht einfach davonkommen dürfen.“

Auch Armen Gevorgyan gehörte zu den Initiatoren des Denkmals, ein Nachkomme von Artasches Geworgjan, ebenfalls ein Mitglied der Geheimoperation. „Wir haben lange für dieses Denkmal gekämpft“, sagte mir Armen. „Es ist wichtig, dass alle die Geschichte von Nemesis und die Wahrheit über die Menschen kennen, die dabei waren.“

Ihre Geschichte erzählt dieses Buch. Es beschäftigt sich mit den Ereignissen nach dem Genozid am armenischen Volk, mit dem Unrecht nach dem Unrecht, mit der fehlenden internationalen Gerichtsbarkeit gegen die für den Völkermord verantwortlichen politischen und militärischen Führer und mit der verweigerten Anerkennung der Schuld und Wiedergutmachung. Den Prozessen vor osmanischen Militärgerichten entzogen sich die meisten Haupttäter durch Flucht – abgesehen davon, dass deren Urteile nach 1922 durch Regierung und Parlament der neuen kemalistischen türkischen Republik ohnehin fast umgehend wieder aufgehoben wurden.

In diesem Buch wird die Spur der Geheimoperation Nemesis nachgezeichnet, von Boston über Paris und Genf nach Berlin, von Jerewan und Istanbul über Wien und Rom bis nach Tiflis. Die Vorgeschichte von Nemesis, die Vorbereitung und Durchführung der Attentate und ihr politischer Kontext werden geschildert und immer auch in Beziehung gesetzt zu den politischen Entwicklungen, die zeitgleich die Region prägten, und zum Prozess der Verhandlungen um die Friedensverträge und eine Nachkriegsordnung. Es wird auch gezeigt, wie im Zuge dieser Entwicklungen die anfänglichen Versprechungen, die der Westen den Armeniern nach Kriegsende gemacht hatte, immer mehr von der politischen Agenda verschwanden und das verfolgte Volk im Stich gelassen wurde.

Dieses Buch beschreibt die Lebenswege der Beteiligten an der armenischen geheimen Kommandoaktion, die später unter dem Namen „Operation Nemesis“ bekannt werden sollte: der Organisatoren, Financiers, Logistiker, Informationsbeschaffer, Unterstützer und Attentäter. Und es erzählt, was aus den Hauptakteuren nach dem Ende der Geheimoperation wurde. Vor allem die Schicksale jener Nemesis-Attentäter, die in der Sowjetunion blieben und mit wenigen Ausnahmen in stalinistischen Gulags verschwanden oder ermordet wurden, werden hier erstmals ausführlich dargestellt.

In dieser Geschichte geht es um Grausamkeit und Gerechtigkeit, Schuld und Rache, den Ruf nach Anerkennung des Unrechts und die Verleugnung des Verbrechens, Straflosigkeit und Selbstjustiz. Sie zeigt auch ein ethisches, moralisches und rechtliches Dilemma auf. Was, wenn nationale und internationale rechtsstaatliche Verfahren bei einem Verbrechen so unvorstellbarer Dimension wie einem Völkermord nicht vorhanden sind oder versagen? „Die Ermordung eines Individuums ist ein Verbrechen. Ist es dagegen kein Verbrechen, mehr als eine Million Menschen zu töten?“, schreibt der Initiator und Hauptautor der Genozid-Konvention der Vereinten Nationen Raphael Lemkin im Rückblick über den Prozess gegen Soghomon Tehlirjan. Wie lässt sich sicherstellen, auch heute, dass internationale Mechanismen zur Bestrafung solcher Verbrechen tatsächlich greifen?

Auf die vielen Belege und Quellen, die den Armenozid beweisen und systematisch dokumentieren, verweise ich hier, wiederhole sie aber nicht im Detail. Diese Arbeit ist unzählige Male durch großartige Autorinnen und Autoren geleistet worden. Ebenso wie die Existenz und das singuläre, mit keinem anderen Ereignis vergleichbare Ausmaß der Schoah unumstrittene historische Fakten sind, so sind es auch die Tatsache und die Dimension des Genozids am armenischen Volk. Dass es da wie dort hartnäckige Leugner belegter Tatsachen gibt, tut dem keinen Abbruch.

PROLOG

„Proteste beim Völkerbund gegen die Sanktionen“, „Kursänderung in der russischen Politik“, „Erfolge der Nationaltürken in London“: Das sind die Schlagzeilen, die am 15. März 1921 die Titelseiten der Berliner Morgenblätter dominieren. Den 24-jährigen armenischen Studenten, der mit einer Tasse Tee am Fenster seines möblierten Zimmers in der Hardenbergstraße in Berlin-Charlottenburg sitzt, beschäftigen an diesem Morgen ganz andere Dinge. Er hat sein Deutschbuch zur Hand, doch statt auf seine Lektionen starrt er nervös auf die Straße.

Als aus dem Haus gegenüber ein großer, untersetzter Mittvierziger in eleganter Kleidung und mit Gehstock auf die Straße tritt, springt er entschlossen auf, verlässt hastig die Wohnung, stürzt aus dem Haus. Er folgt dem dunkelhaarigen Schnurrbartträger, spricht ihn von hinten an, zieht einen Revolver. Sekunden später liegt der ältere Mann tot auf dem Gehsteig. Laut den Visitenkarten, die er bei sich trägt, handelt es sich um Ali Salih Bey, einen Geschäftsmann aus Konstantinopel, dem heutigen Istanbul. Doch das ist nicht sein richtiger Name. In Wirklichkeit heißt der Tote Mehmet Talat, er ist der frühere Innenminister und Großwesir, also Regierungschef, des Osmanischen Reiches, der nach dessen Kapitulation am Ende des Ersten Weltkriegs mit Wissen und Billigung der deutschen Regierung in Deutschland untergetaucht ist.

Der junge Mann, der auf Talat geschossen hat und der unmittelbar nach der Tat verhaftet wird, trägt in Paris ausgestellte persische Papiere auf den Namen Soghomon Tehlirjan bei sich und soll ein Technik-Student sein. In Wahrheit ist Soghomon Tehlirjan kein Perser, sondern im Osmanischen Reich geborener Armenier und er ist auch nicht zum Studium nach Berlin gekommen. Sein Aufenthalt in der deutschen Hauptstadt dient einem einzigen Zweck: den untergetauchten ehemaligen Anführer der jungtürkischen Bewegung aufzuspüren und zu erschießen.

Drei Monate später folgt ein Prozess gegen den armenischen Attentäter, den der deutsche Journalist, Autor und Nahostkenner Armin T. Wegner mit dem geflügelten Satz zusammenfasst: „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig.“ Das Verfahren wird zur Anklage gegen das Regime Talats und den Völkermord an den osmanischen Armenierinnen und Armeniern. Nach zwei Tagen der Anhörungen, der Beschuldigten-, Zeugen- und Expertenbefragungen und der Plädoyers sprechen die Geschworenen Soghomon Tehlirjan am 3. Juni 1921 vom Vorwurf des vorsätzlichen Mordes frei.

Sechs Monate später, am 6. Dezember 1921, schwingt sich ein junger Mann mit einem breitkrempigen schwarzen Hut und einem weiten Mantel auf das seitliche Trittbrett der Droschke, die den früheren Diplomaten und Großwesir des Osmanischen Reiches, Mehmet Said Halim, in den Abendstunden zu seiner Villa in der Via Bartholomeo Eustacchio im römischen Nomentano-Viertel chauffiert. Den Prinzen, der unter falschem Namen in der italienischen Hauptstadt lebt, trifft eine tödliche Kugel in die Stirn. Obwohl Said Halim von einem Leibwächter begleitet wird, gelingt es dem Unbekannten, im anschließenden Tumult zu fliehen. Er wird nie gefasst. Augenzeugen wollen gesehen haben, dass seit Tagen düstere Gestalten den osmanischen Exil-Politiker ausspioniert und verfolgt haben. Rasch verbreiten sich Gerüchte, beim Geflüchteten könnte es sich um einen Armenier handeln, doch er bleibt unauffindbar. Razzien und Verhaftungen in den armenischen Kreisen Roms führen zu keinem Ergebnis.

Es ist kein Zufall, dass es sich bei beiden Anschlagsopfern um ehemals führende Politiker des „Komitees für Einheit und Fortschritt“ handelt, des „Ittihat ve Terakki Cemiyeti“. Diese politische Gruppierung war die wichtigste unter den sogenannten jungtürkischen Parteien und die treibende Kraft hinter der konstitutionellen Revolution im Osmanischen Reich von 1908, die sich gegen die absolutistische Herrschaft des Sultans wendete und den Anspruch hatte, das Reich zu liberalisieren und modernisieren. Die Ittihatisten waren mit einer kurzen Unterbrechung von 1908 bis zum Waffenstillstand von Moudros 1918 an der Macht, nach einem Putsch 1913 regierten sie diktatorisch. Die Partei und ihre Anführer tragen die Verantwortung für die systematische Ausrottung der Armenierinnen und Armenier ab 1915, wie vielfach belegt ist.

Soghomon Tehlirjan präsentiert sich in seinem Prozess in Berlin durchaus glaubwürdig als Einzeltäter. Der Attentäter von Rom wird niemals gefasst. Jahrzehnte später enthüllt Arschawir Schirakjan, ein aus Istanbul stammender Armenier, der inzwischen in den USA lebt, seine Beteiligung am Anschlag. Was beide Männer gemeinsam haben: Sie sind Teil der armenischen Geheimoperation „Vergeltung“ oder „Nemesis“, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die ungestraft gebliebenen Hauptverantwortlichen für die Vertreibungen, Verschleppungen und Massaker am armenischen Volk ab 1915, die nach völkerrechtlichen Kriterien als Genozid zu klassifizieren sind, aufzuspüren und zu töten.

Quer durch Europa und in den Kaukasus – von Paris über Genf nach Berlin, von Konstantinopel über Wien nach Rom und Tiflis und sogar an die amerikanische Ostküste, nach Boston – führt die Spur der Operation Nemesis. Zwischen 1920 und 1922 wurden neben Mehmet Talat und Said Halim auch eine Reihe anderer hochrangiger osmanischer und aserbaidschanischer Expolitiker getötet. Nach den Vorstellungen ihrer Initiatoren sollte diese Untergrundaktion mehr sein als Rache an den Haupttätern des Völkermords oder ein Ersatz für die Justiz, vor der sie geflohen waren. Sie sollte auch der Welt vor Augen führen, wie systematisch und mit welcher Brutalität im Schatten des Ersten Weltkriegs eine ganze ethnische Gruppe weitgehend ausgelöscht wurde und wie wenig Unterstützung die Überlebenden erhielten. Und sie sollte die Botschaft aussenden, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht ungestraft bleiben dürfen.

ANFÜHRER AUF DER FLUCHT, EINE REGIERUNG VOR GERICHT

Am 4. November 1918 findet in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, Großwesir Ahmet Izzet Pascha drei Briefe auf seinem Schreibtisch vor. Sie stammen von den drei wichtigsten Anführern des Komitees für Einheit und Fortschritt – von Mehmet Talat, dem ehemaligen Innenminister, späteren Großwesir und bis vor wenigen Tagen einflussreichsten Politiker des Landes, von Ahmet Cemal, im Kabinett Talats Marineminister und Generalgouverneur der osmanischen Provinz Syrien, und von Ismail Enver, über viele Jahre Kriegsminister und Armeekommandant und ebenso eine politische Schlüsselfigur des Ittihatistischen Regimes.

Das Kabinett Talats hat am 8. Oktober abgedankt. Weniger belastete Politiker sollten einen Waffenstillstand zwischen dem Osmanischen Reich und den Alliierten aushandeln. Seit dieser am 30. Oktober im Hafen von Moudros auf der griechischen Insel Limnos unterzeichnet worden ist, gehen viele Gerüchte um in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul. Eines hält sich hartnäckig, nämlich, dass das berüchtigte „Triumvirat der Paschas“, also Talat, Enver und Cemal, das Land längst verlassen habe.

Die Briefe bringen die Bestätigung. Er fürchte sich, „von den Stiefeln des Pöbels zertreten zu werden“, zitiert die Neue Zürcher Zeitung aus Cemals Brief. Vor allem werde er „wegen des armenischen Gemetzels Rechenschaft geben müssen“, und das sei ihm „bei dem zur Zeit auf der Regierung lastenden inneren und äußeren Druck so gut wie unmöglich“. Enver hält sich in seinem Schreiben bedeckter. Der militärische Zusammenbruch in Mazedonien mache seine weiteren Dienste für das Vaterland unmöglich. Er werde sich auf eine kurze Reise in den Kaukasus begeben und zurückkehren, „wenn seine Stunde gekommen“ sei. Talat erklärt knapp, er werde sich für geraume Zeit aus der Hauptstadt entfernen, sei aber durchaus bereit, der Regierung für sein Tun „Rechenschaft abzulegen“. Tatsächlich hat der Ex-Großwesir aber ganz andere Pläne.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Dass die drei ehemals mächtigen Männer besorgt sind, für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen zu werden, hat gute Gründe. Die drei Entente-Mächte Frankreich, Großbritannien und Russland hatten in einer gemeinsamen Erklärung bereits im Mai 1915 scharf protestiert, als immer mehr Beweise für brutale Deportationen und Grausamkeiten gegenüber der armenischen Bevölkerung bekannt wurden. Obwohl zu diesem Zeitpunkt das Ausmaß der systematischen Ausrottung eines ganzen Volkes noch nicht absehbar war, lässt die alles andere als diplomatisch formulierte Note nichts an Eindeutigkeit zu wünschen: „Angesichts dieser neuen Verbrechen der Türkei gegen die Menschlichkeit und die Zivilisation erklären die Regierungen der Alliierten öffentlich gegenüber der Hohen Pforte, dass sie für die genannten Verbrechen alle Mitglieder der osmanischen Regierung persönlich zur Verantwortung ziehen werden, und ebenso jene ihrer Beauftragten, die in solche Massaker verwickelt sind.“ Funktionierende internationale Mechanismen zur Sanktionierung derartiger Verbrechen gibt es zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht.

Mit deutscher Hilfe auf der Flucht

Talat, Cemal und Enver wollen das Risiko einer Auslieferung an die Alliierten oder eines Gerichtsverfahrens im eigenen Land nicht eingehen. Deutsche Geheimdienstinformationen, die ihnen zugetragen werden, sprechen von unmittelbar bevorstehenden Verhaftungen der früheren Regierungsmitglieder und möglichen Exekutionen durch die alliierten Truppen.

Trotz der politischen Turbulenzen, die Berlin in diesem Oktober 1918 erfassen, finden die früheren Ittihatistischen Anführer immer noch zuverlässige Unterstützer in Deutschland. Ein Evakuierungsplan für Talat und seine Vertrauten wird geschmiedet, unterstützt von der Deutschen Botschaft. Auf osmanischer Seite ist an den geheimen Vorbereitungen der neue Innenminister beteiligt, Fethi Bey, ein Vertrauter Envers – mit Wissen und Billigung anderer Regierungsmitglieder, wie türkische Medien in diesen Tagen vermuten. Umgesetzt wird der sorgfältig vorbereitete Fluchtplan in der Nacht vom 1. auf den 2. November 1918.

Eine Reihe von Ittihatistischen Spitzenfunktionären gehen in Konstantinopel an Bord der SMS Loreley, die nach Täuschungsmanövern Kurs auf die Krim nimmt. Das Dampfschiff der deutschen Marine, das schon 1909 den gestürzten Sultan Abdülhamit II. in seine Gefangenschaft nach Saloniki befördert hat, ist just an diesem Tag – wohl kaum zufällig – außer Dienst gestellt und an einen privaten türkischen Betreiber übergeben worden, der für die Überfahrt angeheuert wird. Von der Krim reisen die meisten der Flüchtigen nach Deutschland weiter, wo sie mit Tarnnamen untertauchen. Talat und einige seiner Vertrauten treffen am 10. November 1918 in Berlin ein, einen Tag, nachdem die Abdankung von Kaiser Wilhelm II. verkündet worden ist, und einen Tag vor der Unterzeichnung des Waffenstillstands zwischen Deutschland und den Westmächten. Enver reist zu seinem Halbbruder Nuri und seinem Onkel Halil in den Kaukasus, wo diese eine „Islamische Armee“ aufbauen.

Zahlreiche Hauptverantwortliche für die Vernichtung der Armenier sind in diesen ersten Novembertagen auf der Flucht. Mehr als 50 sollen es laut zeitgenössischen Medienberichten sein, die außer Landes gegangen sind oder in der Türkei untertauchen. Auf der Loreley setzen sich gemeinsam mit Talat, Enver und Cemal auch Bahaddin Şakir und Mehmet Nazim ab, ebenso Osman Bedri und Cemal Azmi. Letzterer ist auch bekannt als der „Schlächter von Trabzon“. Als früherer Gouverneur dieser Provinz gilt er als der Hauptverantwortliche für den Genozid in der Region und steht im Ruf, gegen Frauen und Kinder besonders grausam vorgegangen zu sein. Die Mediziner Bahaddin Şakir und Mehmet Nazim waren langjährige Mitglieder des Zentralkomitees der Partei und für Teşkilat-i Mahsusa zuständig, die „Sonderorganisation“. Diese spielte bei der Durchführung des Genozids, der im Osmanischen Reich verharmlosend als „Deportationen“ oder „Aussiedelungen“ umschrieben wurde, eine zentrale Rolle und zeichnete sich durch eine besondere Brutalität aus. Bedri ist ein erfahrener Mann der Sicherheitskräfte, als Polizeichef von Konstantinopel hatte er unter anderem die schikanösen Perlustrierungen und Hausdurchsuchungen in den armenischen Vierteln sowie willkürliche Verhaftungen und Deportationen von Armeniern der Hauptstadt zu verantworten.

In Konstantinopel, wie Istanbul bis 1930 heißt, leiten die Behörden die Fahndung nach den flüchtigen Ex-Regierungsmitgliedern ein. Die Zeitung Zhamanak zitiert am 4. November 1918 Innenminister Fethi, wonach die Regierung „diese Individuen“ suche, allerdings nicht wisse, wo sie sich befänden. „Wir sind sicher, dass sie in Deutschland oder Österreich keine Zuflucht finden, wir konnten uns hier bei den Regierungen rückversichern.“ Wie viel diese Versicherung wert ist, zeigt eine vertrauliche Depesche des deutschen Gesandten, abgesendet unmittelbar nach der erfolgreichen Flucht der Paschas. „Pforte bat mich wiederholt um Festnahme und Auslieferung der Flüchtlinge.“ Da deren Rückkehr in die Türkei nicht in deutschem Interesse liege, bittet er das Auswärtige Amt in Berlin, „mich umgehend zur Erklärung zu ermächtigen, dass wir Nachforschungen nach dem Verbleib der erwähnten Persönlichkeiten anstellen werden. Bitte Militär- und Marinebehörden in Krim und Ukraine rechtzeitig anweisen, dass Auslieferung hierher keinesfalls erfolgen soll.“

Von der liberalen Hoffnung zum Totalitarismus

Die Männer, die jetzt von ihrer eigenen Regierung offiziell gesucht werden, waren einmal Hoffnungsträger für Reformen in einem Land, das auch als der „kranken Mann am Bosporus“ bezeichnetet wurde. Die „jungtürkische Revolution“ von 1908 hat den absolut regierenden „roten“ Sultan Abdülhamit II – „rot“ wegen der blutigen Massaker, die er an Bulgaren und Armeniern angeordnet hat – zur Wiederherstellung der Verfassung und seine Regierung zum Rücktritt gezwungen.

Mit ihrer anfangs aufklärerischen, von den Werten der Französischen Revolution und der Freimaurerei beeinflussten Positionierung und dem erklärten Ziel einer Liberalisierung und Modernisierung des Staates genossen die Jungtürken die Sympathien progressiver Kräfte in ganz Europa. Ihr Erfolg galt als ein Sieg über den Absolutismus und als Beginn einer neuen Ära. Innerhalb des Osmanischen Reichs unterstützen unterschiedlichste gesellschaftliche und ethnische Gruppen die Bewegung, auch einflussreiche Organisationen der Armenier wie die zugleich sozialistisch und nationalistisch orientierte Daschnakzutjun, auch Armenische Revolutionäre Föderation, oder die eher sozialdemokratisch ausgerichtete Hntschak-Partei. Sie alle hoffen, dass die allgemeine Liberalisierung auch den nichtmuslimischen Bevölkerungsgruppen mehr Rechte bringen wird. Das ist zunächst auch der Fall.

Die Begeisterung schlägt allerdings in Ernüchterung um, als es wieder zu Massakern an Armeniern und anderen Christen kommt. Ein besonders blutiges Beispiel sind die organisierten gewalttätigen Übergriffe gegen die Armenier in der Provinz Adana im Jahr 1909 mit bis zu 30.000 Todesopfern. Die Ittihatisten entwickeln sich zunehmend von Befreiern zu Despoten. Ab Jänner 1913 reißt das „Triumvirat der Paschas“ in einem Staatsstreich die Macht ganz an sich. Das Berliner Tagblatt schreibt über die Partei „Komitee für Einheit und Fortschritt“: „Regierung und Parlament waren mehr oder weniger nur Attrappe und ausführende Organe des Komitees.“

Im Zug der Balkankriege 1912 und 1913 verliert das Osmanische Reich so gut wie alle europäischen Territorien. Das und weitere interne und externe Krisen befördern die Radikalisierung des Regimes weiter. Der „Panturkismus“ etabliert sich zunehmend, zugleich werden nichtmuslimische Bevölkerungsgruppen zu inneren „Feinden“ erklärt. „Diese verschiedenen Blöcke im türkischen Reich haben immer gegen die Türkei konspiriert“, sagt Talat zum amerikanischen Botschafter im Osmanischen Reich, Henry Morgenthau, über die christlichen Bevölkerungsgruppen. Wolle die Türkei überleben, müsse sie „diese fremden Völker loswerden“. Das tut sie mit grausamer Konsequenz. Im August 1915 erklärt Talat dem deutschen Diplomaten Fürst Hohenlohe-Langenburg: „Die Armenierfrage? Die existiert nicht mehr, sie ist erledigt.“ Zu diesem Zeitpunkt sind bereits Hunderttausende Armenier vertrieben und ermordet.

Täterlisten und Verhaftungen

Am 14. Oktober 1918 wird der von den Ittihatisten 1914 abgesetzte Regierungschef Ahmet Izzet wieder Großwesir und mit der Bildung einer Koalitionsregierung beauftragt. Diese soll die Kooperation mit den Alliierten sicherstellen und die Friedensverhandlungen für die Türkei führen. Von einer Aufarbeitung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist zunächst aber keine Rede. Im Gegenteil, Izzet sorgt dafür, dass für das Kabinett Talat belastende Dokumente verschwinden und viele Täter flüchten können.

Allzu hartnäckig verfolgen allerdings auch die Alliierten ihre Ankündigung von 1915 nicht weiter, die Verantwortlichen für den Völkermord, für die Vertreibungen und Verschleppungen, Morde und Folterungen, Plünderungen und Enteignungen persönlich zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Versuche, zu diesem Zweck ein internationales Tribunal zu installieren, scheitern ebenso wie Bemühungen, die Bestrafung dieser Verbrechen im Rahmen der Pariser Friedensverhandlungen zu behandeln. Immerhin bestehen die Briten und Franzosen darauf, dass die osmanischen Sicherheitskräfte möglichst viele Tatverdächtige verhaften. Zu diesem Zweck übergeben sie entsprechende Listen mit den Namen Hunderter Genozid-Täter. Diese Listen haben die britische und französische Botschaft in Konstantinopel nicht alleine erstellt, sie haben dabei insbesondere auf das Wissen und die Expertise griechischer und armenischer Organisationen gebaut.

„Gegen die Köpfe der Banditen vorgehen“

Im Osmanischen Reich beginnt eine lebhafte öffentliche Debatte. Die Flucht der Ittihatistischen Spitzenpolitiker erbost viele Menschen. Nach dem Ende der Kriegszensur thematisieren Medien nun umso mehr Schuld und Verantwortung der abgetretenen Führung. „Lasst uns beweisen, dass wir genügend nationale Energie besitzen, um mit der Kraft des Gesetzes gegen die Köpfe dieser Banditen vorzugehen, die die Gerechtigkeit mit Füßen getreten und unsere Ehre und unser nationales Leben in den Schmutz gezogen haben“, kommentiert die Zeitung Alemdar im Jänner 1919.

Nach und nach kommt es, vor allem auf Druck der Alliierten, aber auch der Opposition und des Sultans, zu einer Reihe von Initiativen, die auf eine juristische Aufarbeitung der Kriegsverbrechen und des Völkermords abzielen. Untersuchungen gegen die Verantwortlichen für den Genozid werden auf verschiedenen Ebenen und von verschiedenen Gremien durchgeführt – wenn auch immer wieder behindert durch Anhänger der Ittihatisten, von denen die Administration nach wie vor durchsetzt ist. Eine wichtige Rolle für die Beweissicherung spielt etwa die sogenannte Mazhar-Kommission, benannt nach ihrem Vorsitzenden, dem früheren Gouverneur von Bitlis, Hasan Mazhar. Er gehörte zu jenen Gouverneuren, die sich 1915 dem Befehl, die armenische Bevölkerung ihrer Provinz zu deportieren, widersetzt haben.

„Abrechnung für die ungeheuerlichen Armeniervernichtungen“

Ab Jänner 1919 kommt es zu systematischeren Verhaftungen. Vor allem vier Gruppen stehen im Visier der Behörden: Angehörige des Zentralkomitees der Einheits- und Fortschrittspartei, die wenigen noch nicht untergetauchten Mitglieder der Talat-Regierung, eine Reihe von Provinzgouverneuren sowie hochrangige Militärs. Zugleich beginnt die Regierung, spezielle Kriegsgerichtshöfe einzurichten. Rund 60 Verfahren werden hier gegen ehemalige Regierungsmitglieder eingeleitet, gegen das Komitee für Einheit und Fortschritt, seine führenden Funktionäre und Parteisekretäre, gegen Verantwortliche der „Sonderorganisation“ Teşkilat-i Mahsusa und gegen regional Verantwortliche für die Deportationen und Massaker in den Provinzen. „Die Prozessprotokolle und Dokumente belegen, dass der Völkermord eine zentral geplante, bürokratisch organisierte und durchgeführte Tat war, bei der staatliche Organe und Teile der regierenden Partei Ittihat ve Terakki zusammengearbeitet haben“, konstatiert Taner Akçam, der sich in zahlreichen Publikationen mit der Arbeit dieser Gerichte beschäftigt.

Im ersten Verfahren von Februar bis April 1919 ist der Statthalter von Yozgat, Mehmet Kemal, Hauptangeklagter. Es sei nötig, „die Urheber der Massaker zu bestrafen, die die ganze Welt mit Grauen erfüllen“, zitiert die New York Times aus dem Eröffnungsplädoyer des Anklagevertreters. Von den mehr als 33.000 Armenierinnen und Armeniern in dem zentralanatolischen Bezirk sind mehr als 31.000 aus ihrer Heimat verschleppt worden. Am 8. April verurteilt das Gericht Kemal wegen Massakern und Plünderungen zum Tod, am 10. April wird das Urteil vollstreckt. „Damit hat die Abrechnung für die ungeheuerlichen Armeniervernichtungen in der Türkei begonnen“, schreibt die sozialdemokratische Tageszeitung Vorwärts in Berlin. Kemals Beerdigung, die am Tag nach der Hinrichtung mit viel Pomp stattfindet, zeigt allerdings, dass nicht alle im damaligen Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, mit der Linie der neuen Regierung gegenüber den alten Eliten einverstanden sind. „Dem unschuldigen Opfer der Nation“ ist auf Kränzen zu lesen, aufgebrachte Demonstranten rebellieren gegen die Regierung.

Eine Reihe von Verfahren gegen regionale Genozid-Verantwortliche endet mit Todesurteilen, darunter auch gegen die flüchtigen Cemal Azmi und Bahaddin Şakir. Am 28. April 1919 beginnt in Konstantinopel das Hauptverfahren, in dem vorwiegend ehemalige Minister und ein ehemaliger Senatspräsident angeklagt sind, acht von ihnen in Abwesenheit – darunter Talat, Cemal, Enver und Nazim.

Verurteilungen in Abwesenheit

Die Anklageschrift listet detailliert die Verbrechen auf, die zur Verhandlung stehen. Dabei geht es um Straftatbestände wie die Verletzung der internationalen Abkommen über Kriegsführung, die Übergriffe gegen Armenier und Angehörige anderer Volksgruppen sowie Raub, Plünderung und Zerstörung von Eigentum. Von Massakern ist die Rede, von Brandstiftung, von Vergewaltigungen und Folter. Die Verbrechen seien in organisierter Weise und vielfach begangen worden, so die Ankläger. 13 Verhandlungstage braucht das Gericht, um die trotz aller Vertuschungsversuche erhebliche Fülle von Beweisen aufzuarbeiten. Am 5. Juli werden Talat, Enver, Cemal und Nazim in Abwesenheit zum Tod verurteilt, weitere Angeklagte erhalten Gefängnisstrafen. Die meisten Urteile des Hauptverfahrens können niemals vollstreckt werden. „Talat, Enver, Halim und ihre Komplicen sind neulich in Konstantinopel zum Tode verurteilt worden – vorläufig in contunaciam, da sie sämtlich flüchtig sind“, schreibt das Berliner Tageblatt. „Sollte das Schicksal oder der Gendarm sie eines Tages erreichen, so hätte man keinen Anlass, diesen Tag als Trauertag zu begehen.“ Weder das Schicksal noch der Gendarm sind es allerdings, die sie in den kommenden Jahren verfolgen, sondern eine klandestine Organisation.

DER GENOZID: MEDS JERERN – DER „GROSSE FREVEL“

Was in den Verfahren vor den Militärgerichtshöfen in Konstantinopel verhandelt wird, nennt Franz Werfel in seinem 1933 erschienenen Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ „eine der furchtbarsten Tragödien, die je zu einer geschichtlichen Zeit über ein irdisches Volk hereingebrochen ist“. Armenierinnen und Armenier bezeichnen das Verbrechen gegen ihr Volk auch als „Meds Jerern“, „Großer Frevel“. Die Rede ist von der zentral geplanten und durchgeführten systematischen Zwangsumsiedlung, Ausplünderung und Ermordung der Armenierinnen und Armenier im Osmanischen Reich ab März 1915, die heute von der Mehrheit der Historiker und Völkerrechtler als Genozid gewertet wird. Wie dies typisch für Genozide ist, lag eine Vielfalt von Motiven der brutalen Gewalteskalation zugrunde, nicht zuletzt ökonomische. Vorwiegend ging es darum, aus dem multikulturellen Osmanischen Reich einen ethnisch und religiös homogenen muslimisch-türkischen Staat zu machen, nichttürkische, nichtmuslimische Völker sollten deshalb aus Kleinasien verschwinden.

Dieser Vernichtungsaktion sind schon vor 1915 im multiethnischen Osmanischen Reich immer wieder Übergriffe und Massaker an der armenischen Bevölkerung mit Hunderttausenden Opfern vorangegangen, auch andere nichtmuslimische Ethnien waren immer wieder Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt. Im Zuge der brutalen organisierten Exzesse und Plünderungen gegen die armenische Bevölkerung 1894 und 1896 etwa, die als „Hamidische Massaker“ in die Geschichte eingegangen sind, wurden bis zu 300.000 armenische Männer, Frauen und Kinder ermordet, weitere Episoden der Massengewalt folgen. All dies ist aber erst der Auftakt zur eigentlichen Katastrophe, die mit dem Eintritt des Osmanischen Reichs in den Ersten Weltkrieg beginnt.

Der osmanische Kaukasus-Feldzug gegen Russland gleich nach Kriegseintritt unter dem Kommando von Ismail Enver endet mit enormen Verlusten und einer desaströsen Niederlage. „Gerade die armenischen Soldaten haben aber mit bewundernswürdiger Tapferkeit an der Seite ihrer ottomanischen Waffenbrüder gekämpft und Enver Pascha, dem im Feld von armenischen Soldaten das Leben gerettet wurde, anerkennt deren treue Pflichterfüllung“, berichtet die katholisch-konservative österreichische Tageszeitung Reichspost. Lange hält diese Dankbarkeit allerdings nicht, im Gegenteil: Bald werden Gerüchte gestreut, die Armenier hätten die Kaukasus-Niederlage zu verantworten. Im Schatten der Kaukasus-Offensive der osmanischen Armee ist es bereits zu massiver Gewalt gegen die armenische Zivilbevölkerung dies- und jenseits der Grenze zwischen Russischem und Osmanischem Reich gekommen. Das Zentralkomitee der Ittihatistischen Partei konkretisiert Pläne zur Vertreibung und Vernichtung der armenischen Bevölkerung. Unter anderem wird die „Sonderorganisation“ Teşkilat-i Mahsusa neu aufgestellt. Zusätzlich zur gleichnamigen Organisation, die schon länger im Kriegsministerium besteht, unterstehen die neu gegründeten Einheiten direkt dem Zentralkomitee der Ittihatistischen Partei und spielen in der Vernichtungsmaschine eine zentrale Rolle. Geleitet von zuverlässigen Parteifunktionären rekrutieren sie unter anderem gezielt Mitglieder kurdischer Stämme und begnadigte Strafgefangene sowie ethnische Türken, die im Zuge der Balkankriege in die Türkei geflohen sind.

Die Vernichtung der Armenier wird in mehreren Phasen umgesetzt. Ab Ende Februar 1915 entwaffnet die Armeeführung Zehntausende armenische Soldaten, die sich freiwillig gemeldet haben oder im Zug der Generalmobilmachung eingezogen worden sind, unter dem Vorwand des angeblichen Landesverrats und steckt sie in sogenannte Arbeitsbataillone, wo sie unbewaffnet als Lastenträger, zum Wegebau oder für andere Zwangsarbeiten eingesetzt werden. Viele gehen schon an den brutalen Bedingungen zugrunde, Überlebende solcher Bataillone werden später systematisch ermordet.

Am 24. April 1915 – an diesem Datum wird alljährlich das Gedenken an den Genozid begangen – verhaften die Sicherheitskräfte in Konstantinopel und in den größeren Städten in den Provinzen zahlreiche armenische Intellektuelle, Geistliche und Politiker. Sie werden in Internierungslager in den Provinzen Ankara und Kastamonu oder weiter zu anderen Destinationen verschleppt, wenn sie nicht gleich nach der Verhaftung auf dem Weg ermordet oder zur Abschreckung an öffentlichen Orten hingerichtet werden.

„Das Verschickungsziel ist das Nichts“

Die nächste Phase sind die groß angelegten Vertreibungen und Verschleppungen der verbliebenen Armenierinnen und Armenier aus ihren westarmenischen und kilikischen Heimatprovinzen im heutigen Anatolien. Die traditionellen armenischen Siedlungsgebiete befinden sich vorwiegend zwischen dem Hochland Ostanatoliens und dem Südkaukasus. Dort war das armenische Volk schon 3.500 Jahre ansässig, in manchen Perioden bestanden unabhängige armenische Königreiche und Fürstentümer in diesem Raum, in anderen war das armenische Hochland Teil unterschiedlicher Großreiche. Das armenische Patriarchat bezifferte die Anzahl der armenischen Untertanen des Sultans vor dem Ersten Weltkrieg mit rund 2,1 Millionen Menschen. Schätzungen gehen davon aus, dass die armenische Bevölkerung etwa zehn Prozent der Bewohner Anatoliens ausmachte, das wären in dieser Region etwa 1,8 Millionen Menschen.

Nachdem die Deportationen der armenischen Bevölkerung bereits im März 1915 begonnen haben, erlässt am 27. Mai 1915 die Regierung ohne parlamentarisches Verfahren nachträglich ein „Deportationsgesetz“, das dem Vorgehen einen Anschein von Legalität geben soll.