Cécile Vogt - Birgit Kofler-Bettschart - E-Book

Cécile Vogt E-Book

Birgit Kofler-Bettschart

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Beschreibung

Die Neurowissenschaftlerin Cécile Vogt (1875–1962) gehört – wie Marie Curie oder Liese Meitner – zu den wichtigen Wegbereiterinnen für Frauenkarrieren in der Naturwissenschaft. Verehrt und geschätzt von Kolleginnen und Kollegen aus der Hirnforschung, von den Nationalsozialisten vertrieben aus dem von ihr gemeinsam mit ihrem Mann Oskar aufgebauten Kaiser Wilhelm (das heutige Max-Planck-)-Institut für Hirnforschung in Berlin, ist sie nach ihrem Tod zu Unrecht in Vergessenheit geraten. Dieses Buch holt die geniale Wissenschaftlerin, unkonventionelle Kämpferin, loyale Partnerin und Mutter Töchter vor den Vorhang und skizziert die vielfältigen Facetten einer ungewöhnlichen Frau.

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INHALT

Die Neurowissenschaftlerin Cécile Vogt (1875–1962) gehört – wie Marie Curie oder Liese Meitner – zu den wichtigen Wegbereiterinnen für Frauenkarrieren in der Naturwissenschaft. Verehrt und geschätzt von Kolleginnen und Kollegen aus der Hirnforschung, von den Nationalsozialisten vertrieben aus dem von ihr gemeinsam mit ihrem Mann Oskar aufgebauten Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin, ist sie nach ihrem Tod zu Unrecht in Vergessenheit geraten.

Cecile und Oskar Vogts Hirnschnittsammlung, eine der größten der Welt, befindet sich heute an der Universität Düsseldorf. Dieses Buch holt die geniale Wissenschaftlerin, unkonventionelle Kämpferin, loyale Partnerin und Mutter vor den Vorhang und skizziert die vielfältigen Facetten einer ungewöhnlichen Frau.

AUTORIN

Birgit Kofler-Bettschart, geboren 1965 in Tirol, lebt und arbeitet als Autorin in Wien und Triest. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften arbeitete sie bei der UNESCO in Paris und im diplomatischen Dienst. Anschließend war sie Kabinettchefin im österreichischen Gesundheitsministerium, bevor sie sich als Journalistin, Beraterin und Zeitschriftenverlegerin selbständig machte.

Birgit Kofler-Bettschart

Cécile Vogt

Pionierin der Hirnforschung

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1. Auflage 2022

© Carl Ueberreuter Verlag, Wien 2022

ISBN 978-3-8000-7786-1

ISBN 978-3-8000-8219-3 (e-book)

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie das öffentliche Zugänglichmachen z. B. über das Internet.

Gestaltung & Grafik: Saskia Beck, s-stern.com

Umschlagfoto: c Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem

Umschlagillustration: Shutterstock

Lektorat: Marina Hofinger

Konvertierung: bookwire.de, Frankfurt/Main

www.ueberreuter.at

INHALT

Vorwort

Hartnäckiges Mädchen, unabhängiger Geist: Kindheit und Jugend in Annecy

Unbeirrbar, unkonventionell, selbstbewusst: Karrierestart in Paris

Eine Französin in Berlin: Beschwerlicher Start, erfolgreicher Aufbau

Forscherpaare: Genialität im Doppelpack

Erfolgreiche Expansion: Vom Labor zum Kaiser-Wilhelm-Institut

„Ach, meine Mutter“: Drei tüchtige Töchter

Auf dem Höhepunkt des Erfolgs: Das neue Hirnforschungsinstitut in Berlin-Buch

Vom „besseren Menschen“ in einer besseren Welt

Vertreibung aus dem Paradies: Die Demontage der Vogts

„Gehirnschloss“ im Schwarzwald: Neubeginn in der Provinz

Nachkriegsperspektiven: Abrechnung, Enttäuschung, Anerkennung

Abschied von der Welt: Die letzten Jahre

Das Lebenswerk: Was von Cécile bleibt

Danksagungen

Quellen und Literatur

VORWORT

„Cécile Vogt war die erste Frau, die auf dem Gebiet der Hirnforschung Weltruhm erlangt hat.“ Mit diesem Satz endet ein Nachruf, der vor 60 Jahren, im Mai 1962, in einer Zeitung erschienen ist.

Er scheint mir keineswegs übertrieben: Zu Recht kann man Cécile Vogt, was ihre wissenschaftliche Bedeutung und ihre besondere Rolle als Pionierin und Vorbild für Generationen von Medizinerinnen und Naturwissenschaftlerinnen betrifft, in einem Atemzug mit großen Forscherinnen wie Marie Curie oder Lise Meitner nennen, beide Zeitgenossinnen von Cécile.

Die 1875 in Frankreich geborene und ab 1900 in Berlin beruflich aktive internationale Gehirnforscherin ist eine brillante und mutige Frau mit einem unkonventionellen Leben.

Cécile ist für viele ihrer Zeitgenossen eine provokant moderne Frau, so wie sie lebt, ihre Beziehung führt, ihre Arbeit ernst nimmt. Und doch ist Cécile Vogt um vieles weniger bekannt als etwa die Forscherinnen Marie Curie oder Lise Meitner. Auch mir sagte ihr Name nichts, als ich ihn bei einem Europäischen Neurologie-Kongress zum ersten Mal hörte. Der Neurologe Daniel Kondziella präsentierte dort eine Arbeit über Eponyme – also die Benennung neurologischer Erkrankungen nach den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sie entdeckt bzw. erstmals beschrieben haben. Der Experte nahm Erkrankungen unter die Lupe, deren Namensgeber zur Zeit des Nationalsozialismus lebten und arbeiteten, und teilte sie in Täter, Mitläufer, Widerstand Leistende und Opfer ein. In Daniel Kondziellas Aufzählung fehlte natürlich das Vogt-Syndrom nicht, eine spezielle Form der Bewegungsstörung, von der noch die Rede sein wird, und auch nicht deren Namensgeberin Cécile Vogt sowie deren Ehemann Oskar.

 „Sehr wenige Neurowissenschaftler protestierten gegen das nationalsozialistische Regime“, schreibt Daniel Kondziella in einem Aufsatz 2009. „Zu diesen gehören Jules Tinel sowie Oskar und Cécile Vogt.“

Mein Interesse für das spannende, unkonventionelle und auch tragische Leben dieser hochbegabten, durchsetzungsfähigen Frau war geweckt. Schon bei den ersten Recherchen fiel mir auf: Eine ganze Reihe von Publikationen – ob zeitgenössische Medienberichte, Würdigungen in medizinischen Fachzeitschriften, Nachrufe, wissenschaftshistorische Abhandlungen und sogar ein Roman – beschäftigen sich mit Oskar Vogt und reduzieren Cécile auf eine Nebenrolle, einige wenige behandeln das Ehepaar gewissermaßen als „Einheit“. Céciles eigenständige Beiträge zur Hirnforschung und die Bedeutung ihrer Arbeit für die gemeinsamen Erfolge mit Oskar scheinen mir in der veröffentlichten Darstellung des Ausnahme-Forscherpaares häufig ebenso zu kurz zu kommen wie ihre facettenreiche Persönlichkeit, ihre politische Haltung oder ihre Anstrengungen, Familie und Beruf zu vereinbaren.

In diesem Buch soll Cécile Vogt im Mittelpunkt stehen: als fortschrittliche Frau, als Pionierin und innovative Forscherin, als Wegbereiterin von Frauenkarrieren in der Neurowissenschaft, als politischer Kopf und unabhängige Denkerin, als tolerante, selbstbewusste und loyale Partnerin und als mehrfache Mutter, als Organisatorin von Haushalten und wissenschaftlichen Instituten.

Für meine Recherchen konnte ich nicht nur auf die Originalpublikationen der Forscherin und Sekundärliteratur über die Vogts zurückgreifen, sondern insbesondere auch auf interessantes Archivmaterial in Berlin (Archiv der Max-Planck-Gesellschaft und Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften) und Düsseldorf (Cécile und Oskar Vogt-Archiv) und auf die wertvolle Expertise von Neurowissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern sowie Wissenschaftshistorikerinnen und -historikern, die für Interviews zur Verfügung standen. Besonders die Möglichkeit, Cécile Vogts Korrespondenz und ihre wenigen Tagebuchnotizen – sie schreibt auch nach ihrer Übersiedelung nach Deutschland fast immer auf Französisch – zu sichten, hat ihre Persönlichkeit deutlicher und verständlicher werden lassen und interessante neue und bisher unveröffentlichte Informationen zutage gefördert.

HARTNÄCKIGES MÄDCHEN, UNABHÄNGIGER GEIST: KINDHEIT UND JUGEND IN ANNECY

Es ist ein Ostersonntag, der 28. März 1875, als der 65-jährige Pierre- Louis Mugnier auf das Standesamt der Stadt Annecy im Osten Frankreichs kommt, um vorschriftsgemäß eine Geburt anzuzeigen. Am 27. März 1875 um 23 Uhr 30 wird dem in den Archivakten als ehemaliger Offizier, Grundbesitzer, Rechtsanwaltsgehilfe oder auch pensionierter Gerichtsbeamter geführten Mann und seiner 35-jährigen Ehefrau Marthe, genannt Mathilde, von Beruf Schneiderin und Weißnäherin, in ihrem Haus in der Rue Sainte Claire 18, die Maison Bagnorèa, die Tochter Augustine Marie Cécile geboren.

Die Details der Geburt von Augustine Marie Cécile, die später Cécile gerufen werden wird, sind im état civil festgehalten, dem zentralen französischen Personenstandsregister. Demnach wird ihre Mutter Marthe 1840 als Tochter von Claudine Buret und einem unbekannten Vater geboren. Céciles Vater ist Sohn des Professors Antoine-Marie Mugnier und seiner Frau Jeanne Josephte Pignarre. Er wird die beeindruckende Karriere seiner Tochter nicht einmal ansatzweise miterleben, denn Pierre-Louis stirbt bereits 1877 im Alter von 67 Jahren.

Vaterlos und gut behütet

Es sind keine unkomfortablen ökonomischen Verhältnisse, in die die kleine Cécile hineingeboren wird. Doch einfach wird es für ihre Mutter, die mit nur 18 Jahren den damals bereits 49-jährigen Pierre-Louis geheiratet hat, in den kommenden Jahren trotzdem nicht, die drei Kinder allein großzuziehen. Cécile ist eine Nachzüglerin: Ihre beiden Brüder Claude Auguste und Marie Aimé Romains Fortunat, beide ebenfalls in Annecy geboren, sind zum Zeitpunkt ihrer Geburt bereits 16 und 13 Jahre alt.

Vielleicht ist es die Tatsache, dass Cécile einen großen Teil ihrer Kindheit und Jugend ohne Vater aufwachsen muss, die einige Autorinnen und Autoren zur Vermutung geführt hat, sie sei als uneheliches Kind geboren. Vielleicht liegt aber auch eine Verwechslung mit Céciles Mutter vor, die ihrerseits laut Personenstandsregister tatsächlich eine fille naturelle – also eine uneheliche Tochter – ist. Cécile jedenfalls entstammt einer Ehe, die mehr als 17 Jahre dauert. Wie sich Céciles Kindheit gestaltet, wie man sich den Alltag in ihrem Elternhaus vorstellen muss und was aus Céciles Brüdern später wurde – zu all dem wissen wir aus Céciles Nachlass und anderen Archivmaterialien leider nichts.

Ihre Mutter Mathilde, berichten einige Autorinnen und Autoren, habe völlig mit der Kirche gebrochen und nicht einmal an Céciles Firmung teilgenommen. Belegen lässt sich dies nicht, ich würde es eher bezweifeln. Schließlich ist sie ab etwa ihrem 60. Lebensjahr – wohl auch aus gesundheitlichen Gründen – in einer religiösen Einrichtung untergebracht. „Wir waren in Chambéry und haben Maman besucht“, notiert Cécile nach einer Frankreich-Reise im Juni 1901. „Es geht ihr gut, die religiösen Schwestern sind sehr nett zu ihr, und ich bin jetzt beruhigt zu wissen, dass sie nicht allein ist.“

Cécile hängt an ihrer Mutter, auch wenn sie sie nicht oft sieht. Der Abschied sei, schreibt sie über den Besuch, „so traurig und ergreifend“ gewesen, dass „ich es nicht fertigbrachte, meine Tränen vor ihr zu verbergen. Sie begann auch zu weinen, dann versuchte sie mich zu trösten, die arme Frau!“ Während eines anderen Frankreich-Aufenthalts schreibt Cécile an Oskar: „Ich war sehr bewegt vom Brief Mamans. Ist es nicht so, dass man ihre behutsame Zuneigung spürt? Sie war auch immer, wenn es ihr gut ging, sehr berührend.“ Mathilde stirbt am 16. Juli 1915 mit 74 Jahren in Bassens bei Chambéry in Savoyen.

Als junge Frau hat Céciles Mutter selbst nur eine rudimentäre schulische Bildung genossen, bevor sie eine Ausbildung zur Näherin gemacht hat. Umso beeindruckender ist es, dass es für diese Frau, entgegen dem Zeitgeist und ihrer eigenen Erfahrung, eine ausgemachte Sache war, dass auch ein Mädchen jedes Recht haben soll, zu lernen. Céciles Wunsch, eine höhere Schule zu besuchen und das Baccalauréat – die Abschlussprüfung des Gymnasiums, die den Zugang zur Universität eröffnet – zu absolvieren, unterstützt sie nach Kräften.

Mit Konsequenz zum Baccalauréat

Selbstverständlich ist das alles nicht und auch nicht einfach. Gymnasien gibt es nur für Buben und so muss Cécile zunächst einmal den konventionellen Weg gehen: Sie absolviert eine Höhere Töchterschule, was für junge Damen als schicklich und angemessen gilt. Im Sommer 1891 wird ihr in Chambéry das Brevet supérieur pour l’enseignement primaire verliehen, der höchstmögliche Abschluss in diesem Schultyp.

Danach schlägt die begabte und wissbegierige Cécile nicht die Karriere einer Gouvernante oder Hauslehrerin ein, wie es nach dieser Ausbildung naheliegend wäre, sondern lernt weiter. Mit Unterstützung von Privatlehrern eignet sie sich den Stoff für die Reifeprüfung an, die sie nur als Externistin an einem Knaben-Lycée absolvieren darf. Bravourös besteht sie die zentral in Chambéry abgehaltenen Prüfungen: am 18. September 1893 das Baccalauréat ès sciences mit einem naturwissenschaftlichen Schwerpunkt und am 4. Oktober 1893 das Baccalauréat ès lettres mit humanistischer Ausrichtung.

Mit 18 Jahren steht Cécile nun der Weg offen, von dem sie schon als junges Mädchen geträumt hat: Sie kann ein Medizinstudium beginnen. Dass einer jungen Frau wie ihr, die gegen den Strom schwimmt, die Erfolge nicht in den Schoß fallen, dass sie besonders hart arbeiten muss und dass es viel Beharrlichkeit braucht, um Ziele zu erreichen – auf diese frühe Erfahrung wird Cécile im Laufe der kommenden Jahre noch oft zurückgreifen können und müssen.

In mehreren Publikationen wird eine zutiefst religiöse, reiche Erbtante väterlicherseits erwähnt, die Cécile enterbt haben soll, als diese sich für das Studium und gegen den Eintritt in ein Kloster entschied. Ob nun die Geschichte von der Enterbung der widerspenstigen Cécile durch die fromme Tante stimmt oder nicht, ohne wirtschaftliche Absicherung dürfte sie jedenfalls nicht ins Erwachsenenleben gestartet sein. Immerhin verfügt sie über ausreichende Mittel, um zum Medizinstudium nach Paris zu gehen und sich, ohne arbeiten zu müssen, auf das Studium konzentrieren zu können. Von welchem Teil der Familie auch immer, wahrscheinlich vom Vater, hat Cécile offenkundig auch Grund und Boden geerbt – Vermögen, das sie allerdings später, möglicherweise durch Enteignung, verliert, wie Korrespondenz aus den 1920er-Jahren zeigt.

UNBEIRRBAR, UNKONVENTIONELL, SELBSTBEWUSST: KARRIERESTART IN PARIS

An der Pariser Medizinischen Fakultät herrscht in den 1890er-Jahren Aufbruchsstimmung. Paris ist eines der unbestrittenen Zentren der Neurowissenschaften in Europa. In den Vorlesungen und Seminaren, Laboren und Arbeitsgruppen von Jean-Martin Charcot, Charles Jacques Bouchard, Joseph Babinski, Pierre Marie oder Jules Joseph Déjerine und Augusta Déjerine-Klumpke wird engagiert über Hysterie und Aphasie, über neurologische Folgen der Syphilis und Gefäßverschlüsse im Gehirn, über die Architektonik des Gehirns und das Leib-Seele-Problem diskutiert.

In diesem inspirierenden Umfeld beginnt Cécile 1893 mit dem Medizinstudium. Sie bezieht in der Rue Croix des Petits Champs 5, einer nicht uneleganten Lage im ersten Arrondissement in der Nähe des Palais du Louvre und des Palais Royal, ihren neuen Wohnsitz und stürzt sich mit Eifer in die akademische Ausbildung. Viele Kommilitoninnen hat sie nicht: Auch wenn in Frankreich, anders als in Deutschland oder Österreich, bereits 1867 und 1868 erstmals Frauen zum Medizinstudium zugelassen worden sind, ist deren Anteil unter den Studierenden zur Zeit von Céciles Immatrikulation noch sehr niedrig. 1900 – in dem Jahr, in dem Cécile promoviert – sind gerade einmal fünf Prozent der Medizin-Absolventen Frauen. Heute sind rund 60 Prozent der Medizinstudierenden in Frankreich weiblich.

Lehrjahre bei Pierre Marie

Die Psychologie, das Wesen des Menschen, das sind Themen, die Cécile schon als junges Mädchen fasziniert haben. Jetzt verfolgt und lernt sie mit Begeisterung, was die moderne Hirnforschung an neuen Erkenntnissen zutage fördert. Und einer ihrer Vertreter, der berühmte Pierre Marie, wird auf die engagierte, hochintelligente Studentin aufmerksam und ermöglicht ihr die ersten wissenschaftlichen Erfahrungen. In ihrem dritten Studienjahr, 1896, wird Cécile externe des hôpitaux de Paris in Pierre Maries Team an der Klinik Bicêtre. Externes heißen Medizinstudierende in der Phase ihres Studiums, in der sie bereits in die praktische klinische Arbeit eingebunden werden. In der Regel kooperieren sie an der jeweiligen Klinik eng mit den internes des hôpitaux, den Assistenzärztinnen und -ärzten, die ihre Ausbildung zur Fachärztin oder zum Facharzt absolvieren. Cécile erlernt am Bicêtre die aktuellen klinischen Untersuchungsmethoden, das Erheben von familiären Krankheits-Vorgeschichten sowie Hirnanatomie und erstmals Konzepte der sogenannten Lokalisation, also der Zuordnung bestimmter Funktionen oder Defizite zu bestimmten abgrenzbaren Arealen des Gehirns – Themen also, die ihr Forscherinnenleben prägen und sie noch viele Jahre beschäftigen werden.

Céciles Lehrer Pierre Marie war Schüler des Chirurgen, Anatomen, Pathologen und Anthropologen Pierre Paul Broca und von Jean-Marie Charcot, der als einer der Begründer der modernen Neurologie gilt. Nach seinem Karrierestart an der berühmten Pariser Klinik Salpêtrière wechselt Pierre Marie an das Krankenhaus Bicêtre, wo er die neurologische Klinik leitete. An der Fakultät wird er 1907 auf den Lehrstuhl für pathologische Anatomie berufen und zehn Jahre später auf jenen für Nervenerkrankungen. 1918 kehrt Pierre Marie an die Klinik Salpêtrière zurück, wo er bis zu seiner Emeritierung tätig ist. Diese Karriere zeigt, wie wenig damals in diesem jungen Fachgebiet klare Abgrenzungen zwischen den verschiedenen heute bekannten Spezialisierungen gezogen werden. Sprachstörungen aufgrund von Hirnverletzungen und durch Hirnschädigungen verursachte Bewegungsstörungen gehören zu seinen wissenschaftlichen Schwerpunkten. Die Entschlüsselung der Ursache von motorischen Störungen im Gehirn wird später auch Cécile beschäftigen und berühmt machen.

Mit ihrem Lehrer und Vorbild Pierre Marie bleibt Cécile auch lange, nachdem sie Paris verlassen hat und auch nachdem er längst emeritiert ist, in Kontakt und korrespondiert mit ihm häufig über wissenschaftliche ebenso wie über familiäre Fragen. Eine große Arbeit aus dem Jahr 1920 über bestimmte Bewegungsstörungen widmet Cécile ihrem Lehrer.

Ein Kind und kein Karriereknick

Als ob das Leben in Paris und ihre ersten klinischen und wissenschaftlichen Erfahrungen für Cécile nicht schon aufregend genug wären, gibt es im Spätherbst 1897 eine neue, unerwartete Wendung im Leben der aufstrebenden Jungmedizinerin: Cécile stellt fest, dass sie schwanger ist. Wie es ihr nach dieser aufwühlenden Entdeckung geht, wie sie sich vor und nach der Geburt dieses sicherlich ungeplanten Kindes fühlt, können wir nur anhand späterer Tagebuchnotizen erahnen, in denen sie rückblickend die Pariser Jahre vor ihrer Begegnung mit Oskar als „eine Zeit, an die ich gar nicht mehr denken möchte“ beschreibt. „Ich war das Glück schon gar nicht mehr gewohnt.“ Ein uneheliches Kind ist, wenn auch keineswegs selten, so doch ein Makel, der einer jungen Frau das Leben nicht gerade einfacher macht.

Wie es in der Personenstandsdokumentation ausgewiesen ist, bringt die ledige Augustine Marie Cécile Mugnier – laut Akten sans profession, also ohne Beruf – am 1. Juni 1898 in ihrer Wohnung eine Tochter zur Welt. Zwei Tage später erscheint der 29-jährige Arzt Hippolyte Morestin auf dem Standesamt des ersten Arrondissements, um die Geburt des neugeborenen Mädchens „mit unbekanntem Vater“ anzuzeigen. Er selbst habe, so gibt Dr. Morestin dem Standesbeamten gegenüber an, die Geburt medizinisch betreut.

Das Neugeborene bekommt den Namen Claire. Vielleicht hat Cécile die Rue St. Claire in Annecy vor Augen, in der sie selbst geboren wurde, als sie den Namen für ihre Tochter aussucht. Oder sie tut es der Comtesse Marie d’Agoult gleich, die ebenfalls eine Tochter auf diesen Namen tauft, denn das Leben und die Persönlichkeit dieser deutsch-französischen Schriftstellerin faszinieren Cécile, selbst im fortgeschrittenen Alter liest sie noch alle neuen Publikationen, die sie über die „rebellische Comtesse“ und Geliebte des Komponisten Franz Liszt finden kann.

Céciles Karriere wird durch Claires Geburt vorerst einmal nicht wesentlich beeinflusst, sie arbeitet und studiert weiter. Dies ist wohl vor allem deshalb möglich, weil sie das Kind nicht bei sich behält. Vermutlich gleich nach der Geburt gibt Cécile ihre Tochter in Pflege – in Noisy-le-Grand, in der Nähe von Paris. Dort besucht sie die kleine Claire auch später, als sie bereits in Berlin lebt, regelmäßig.

Rätsel um den Kindsvater

Die Konstellation und die Details der Geburt werfen nicht nur eine Reihe von Fragen auf, sondern eröffnen auch Raum für Spekulationen. Unter anderem deshalb, weil es zu dieser Zeit doch ungewöhnlich ist, dass ein Arzt und nicht eine Hebamme eine Geburt betreut. Ist Hippolyte Morestin vielleicht mehr als Céciles Arzt? Ist er ein enger Freund, der eine junge Frau in dieser komplizierten Situation unterstützt? Oder ist er ihr Liebhaber und Vater des Kindes? Und wenn ja, warum steht er nicht dazu? „Das alles lässt sich aus den verfügbaren Unterlagen nicht beantworten“, sagt mir in einem Interview Prof. Jacques Poirier, ein inzwischen emeritierter Pariser Neurologe und Medizinhistoriker. Gemeinsam mit seiner Tochter Patricia Poirier hat er 2020 erstmals einen biografischen Aufsatz zu Céciles Tochter Claire Popp-Vogt veröffentlicht. „Seine Vaterschaft ist nur eine Hypothese, wir haben – jedenfalls bisher – keinen Beleg dafür gefunden.“

Einen Hinweis auf eine mögliche engere Beziehung mit Hippolyte Morestin habe ich in Céciles Tagebuchnotizen gefunden – wobei für die Zeit vor 1900, also der Periode ihrer möglichen Beziehung und Schwangerschaft, keine Aufzeichnungen verfügbar sind. Anlässlich eines Besuchs in Paris im Juni 1901 unterhält sich Cécile mit ihrer Freundin Madame Leclerc, die auch bei Claires Betreuung mitwirkt und erzählt, dass „der Neger sehr verärgert“ gewesen sei über Céciles Entschluss, nach Deutschland zu gehen. „Er hat gesagt, ich sei eine Verrückte, eine Närrin, ich würde sicher zurückkommen!!!“, notiert Cécile. „Ich habe auch noch einige weitere Unehrlichkeiten gehört, die der Neger in letzter Zeit zu verantworten hatte.“ Es ist gut möglich, dass sie mit dem Begriff nègre, wie sie im französischen Original schreibt, auf Hippolyte Morestin anspielt. Es ist bekannt, dass in Paris über seine möglichen schwarzen Vorfahren spekuliert wurde. Kommilitonen und Kollegen, schreibt Hippolyte Morestins Biograf Blair Rogers, hätten über ihn als „Neger“ oder „Achtelneger“ gesprochen, was nicht zuletzt dazu geführt habe, dass er trotz all seiner Leistungen und Verdienste aus bestimmten bürgerlichen Pariser Kreisen ausgeschlossen blieb.

Welche Rolle er auch immer in Céciles Leben gespielt haben mag, in jedem Fall ist Hippolyte Morestin nicht irgendein Mediziner, er ist eine interessante, schillernde Persönlichkeit, die einen genaueren Blick lohnt. 1869 auf der Insel Martinique geboren, wächst er als Sohn von Dr. Charles Amédée Morestin auf, einem dort höchst angesehenen Arzt. 1902 – zu einem Zeitpunkt also, als Hippolyte und sein Bruder Amédée, der ebenfalls Mediziner wird, längst in Paris leben – sterben der Vater und 20 weitere Familienmitglieder beim Ausbruch eines Vulkans, alles Hab und Gut der Familie auf der Insel geht verloren, wie David Tolhurst, Neurowissenschaftler aus Cambridge, und Blair Rogers, plastischer Chirurg in New York, in ihren biografischen Publikationen berichten. „Er war ein Mann von Prinzipien, der sich nie vor seiner Pflicht drückte, ein Mann von Moral und Mut, der im Angesicht von Ungerechtigkeit rasch in Zorn geraten konnte“, schreibt Blair Rogers. Gut vorstellbar, dass ein solcher Charakter auf die ihrerseits pflichtbewusste, durchsetzungsfähige und mit viel Gerechtigkeitssinn ausgestattete Cécile großen Eindruck gemacht hat.

Die Karriere des als sehr introvertiert, hochsensibel, aber auch unverblümt und unausgeglichen, als voller Energie und Leidenschaft und als „seiner Zeit voraus“ beschriebenen Mediziners ist beachtlich: Vom Prosekturgehilfen steigt er auf zum Anatomieprofessor und international führenden Chirurgen, der weltweit als einer der Pioniere der Mund-Kiefer-Chirurgie und der plastischen Chirurgie gilt. Bewundert wird Hippolyte Morestin unter anderem für seine großen chirurgischen Leistungen, die er bei verletzten Soldaten erbringt. Darauf wird auch Eleanor Roosevelt, die Ehefrau des US-Präsidenten, aufmerksam, die während des Ersten Weltkrieges über einen Besuch im Val-de-Grace Hospital berichtet, wo Hippolyte ebenso wie im Hôptial Rothschild und im Hôptial St. Louis tätig ist: „Hier operiert Morestin und er ist sehr erfolgreich bei schrecklichen Gesichtswunden.“

Bis zu seinem frühen Tod im Zuge der Influenza-Pandemie 1919 mit noch nicht einmal 50 Jahren – angesteckt hat er sich höchstwahrscheinlich bei seiner Arbeit mit unzähligen Kriegsversehrten – veröffentlicht Hippolyte Morestin mehr als 600 wissenschaftliche Arbeiten. Über sein Privatleben ist kaum etwas bekannt, verheiratet war er nie.

Ein deutscher Nervenarzt macht Eindruck: Begegnung mit Oskar

1898 ist nicht nur das Jahr, in dem Cécile Vogt zum ersten Mal Mutter wird, es bringt auch die Begegnung mit einem deutschen Gastforscher an der Salpêtrière – und damit eine entscheidende Wendung in ihrem Leben. Der 28-jährige deutsche Neurologe und Hypnosespezialist Oskar Vogt hält sich gerade in Paris auf, um bei Joseph Jules Déjerine und dessen Frau Augusta Déjerine-Klumpke deren Ansätze und Verständnis der klinischen Neurologie kennenzulernen und sich auf neuroanatomischem Gebiet fortzubilden. Einquartiert hat er sich in der Rue Bonaparte 3, nahe dem Seine-Ufer beim Pont des Arts.

Der in Husum in Schleswig geborene Sohn einer deutsch-dänischen evangelischen Pastorenfamilie verfügt trotz seines jungen Alters bereits über beträchtliche Erfahrungen. Ab 1888 studiert Oskar Vogt zunächst Psychologie, dann Medizin in Kiel und Jena und macht als Assistent am Institut für Anatomie unter Max Fürbringer erstmals Erfahrungen mit anatomischen Hirnstudien und der histologischen Präparation von Gehirnen. Fortschrittliche politische Ansichten, wie sie Oskar schon früh zeigt, und die Mitgliedschaft in einer schlagenden akademischen Burschenschaft sind zu dieser Zeit nichts Ungewöhnliches – man denke an die sozialistischen Denker und Politiker Karl Marx, Victor Adler oder Ferdinand Lasalle. Jedenfalls gehört Oskar in Jena der Burschenschaft Teutonia an und ficht Mensuren. 1893 schließt er das Studium ab und erhält seine Approbation als Mediziner, 1894 promoviert er mit einer hirnanatomischen Arbeit „Über Fasersysteme in den mittleren und caudalen Balkenabschnitten“ – also jenem Bereich, der dem Informationsaustausch und der Koordination der beiden Hirnhälften dient.

Sein Interesse an psychischen Erkrankungen kann Oskar nach dem Studium als Assistent bei Otto Binswanger an der Landesheilanstalt und psychiatrischen Universitätsklinik in Jena und bei dessen Bruder Robert Binswanger im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen vertiefen. Otto Binswanger vertritt die Ansicht, dass psychische Erkrankungen eine anatomische Grundlage haben müssten – ein Ansatz, der in der gemeinsamen wissenschaftlichen Arbeit von Cécile und Oskar später noch eine große Rolle spielen wird.

Danach geht Oskar 1894 zu Auguste Forel an das berühmte „Burghölzli“, die heutige psychiatrische Universitätsklinik Zürich. Hier sammelte er wichtige Erfahrungen, unter anderem mit therapeutischer Hypnose, einem Verfahren, mit dem er später große Erfolge bei seinen zum Teil prominenten Patientinnen und Patienten erzielt. Die enge Freundschaft, die Oskar mit dem Schweizer Psychiater Auguste Forel entwickelt, schließt später auch Cécile ein.

Durch seine systematische empirische Erfassung der Hypnose-Sitzungen und -Phänomene hilft Oskar, so beschreibt es der Neuropathologe und Vogt-Schüler Rolf Hassler in der Enzyklopädie Große Nervenärzte, „die Hypnose aus dem Dickicht des Okkultismus herauszulösen und ihr andererseits – entgegen allen Anfeindungen und Voreingenommenheiten von Seiten der allgemeinen Medizin – als ‚partielles Wachsein‘ einen festen Platz in der medizinischen Psychologie und Psychiatrie zu sichern.“

„Es ist schon interessant“, sagt der österreichische Neurologe Wolfgang Grisold, Präsident der Weltföderation für Neurologie, im Interview, „wie breit aufgestellt viele neurowissenschaftliche Spezialisten dieser Zeit waren, die Grenzen zwischen Psychotherapie, Psychiatrie, Neurologie waren fließend. Oskar Vogt kommt von der Psychotherapie zur Neuroanatomie und -pathologie, umgekehrt war Sigmund Freud zunächst Neuropathologe und kommt von dort zur Psychoanalyse.“

Von Zürich geht Oskar nach Leipzig, um bei Paul Flechsig an der neurologisch-psychiatrischen Universitätsklinik zu arbeiten – eine professionelle Beziehung, die nur kurz dauert und unharmonisch zu Ende geht. Zwischendurch verdingt sich Oskar 1896 als Therapeut in einem damals angesagten Kurort im Fichtelgebirge, dem heutigen Bad Alexandersbad. Mit den attraktiven Einkünften, die mit dieser Tätigkeit verbunden sind, will er sich einen geplanten Studienaufenthalt in Frankreich finanzieren.

Ob er zu dem Zeitpunkt auch schon den Hintergedanken hegt, unter den noblen Kurgästen auch interessante Patientinnen und Patienten für eine künftige Privatpraxis zu rekrutieren, wie es Igor Klatzo in seiner Doppelbiografie von Cécile und Oskar Vogt vermutet, wissen wir nicht. Jedenfalls hat er in Alexandersbad Begegnungen, die sein und Céciles Leben auf unterschiedliche Weise entscheidend prägen werden. Zum einen trifft er im Fichtelgebirge erstmals Margarethe Krupp, geborene Freiin von Ende, und ihren Mann Friedrich Alfred Krupp aus der Eigentümerfamilie des deutschen Schwerindustrie- und Rüstungskonzerns und wird zu einem der Vertrauensärzte der Familie. Auch den Nervenarzt Korbinian Brodmann lernt Oskar im noblen Kurort kennen – eine Freundschaft, die später zur kreativen und produktiven Arbeitsbeziehung wird.

Der vielfältig interessierte deutsche Mediziner, dem Cécile 1898 erstmals begegnet, übt eine Faszination auf die junge Medizinstudentin aus, auch wenn sie nach der Heirat in ihr Tagebuch notiert: „Unsere Beziehung hat nicht mit großer Leidenschaft begonnen, aber Schritt für Schritt formt sich eine immer tiefere Verbindung. Und er liebt auch Claire, das ist zusätzlich ein positiver Punkt.“ Cécile ist rasch sicher, dass Oskar der Richtige ist, rückblickend wird sie in ihrem Tagebuch schreiben, „dass ich fühle, genau den Lebensgefährten gefunden zu haben, den ich brauche. Das Leben, das wir gemeinsam führen, so vereint, in einer solchen Gemeinschaft des Herzens, der Gedanken, der Arbeit ist wirklich genau das, was ich immer angestrebt habe, seit meinen ersten Träumen als junges Mädchen.“

Schon nach wenigen Monaten beschließen Cécile und Oskar, ihr wissenschaftliches und privates Leben zu teilen. Auf den ersten Blick sind die ruhige, bedachte Französin, die den jungen deutschen Nervenarzt um mehr als einen Kopf überragt, und der extrovertierte Oskar nicht unbedingt das ideale Paar. Doch sie haben viele Gemeinsamkeiten: von der Kindheit, in der beide früh einen vergleichsweise alten Vater verloren haben, bis hin zum unangepassten und durchsetzungsfähigen Geist und der Bereitschaft zu einem unkonventionellen Lebensstil, mit dem sie noch oft anecken sollten.

Es formt sich zunehmend der Plan, den Oskar auch ausführlich mit Cécile bespricht, nämlich in Berlin ein privates Hirnforschungsinstitut zu gründen, wofür er auch die Krupps als Finanziers begeistern kann. Oskar kehrt 1898 nach Berlin zurück, um die Vorbereitungen für die Eröffnung der Neurologischen Centralstation zu treffen.

Der in Litauen geborene und ausgebildete und in Kanada als Neuroanatom tätig gewesene Igor Klatzo, der mit den Vogts in ihrem letzten Institut in Neustadt im Schwarzwald zusammengearbeitet hat, vermutet in seiner Doppelbiografie über das Forscherpaar, dass es Cécile trotz aller Liebe und trotz ihrer Begeisterung für die wissenschaftlichen Möglichkeiten, die sich ihr bieten würden, nicht leichtgefallen ist, nach Deutschland zu gehen. Sie mag Frankreich und sie ist – ganz ohne dabei nationalistisch zu sein – stolz auf ihre Herkunftsregion, wie sie im hohen Alter noch sagen wird.

Madame le docteur

„Ouf! Es ist geschafft, keine Prüfungen mehr“, schreibt Cécile erleichtert an Oskar, nachdem sie das letzte Staatsexamen in Medizin bravourös absolviert hat. „Ich hatte eine charmante Jury, mit Déjerine und Bouchard, sie sind wirklich gute Gutachter.“ Sie habe zwei Patienten beurteilen müssen, berichtet Cécile, einen mit einer geschädigten Herzklappe und „einen alten Alkoholiker“, der klinische Teil sei sehr gut gelaufen.

Nach dem erfolgreichen Abschluss und ihrer Approbation folgt Cécile, während sie an ihrer Dissertation zu einem neuroanatomischen Thema arbeitet, Oskar Anfang 1899 nach Berlin. Auch wenn Cécile bald fließend – wenn auch nie akzentfrei – Deutsch spricht, bleibt Französisch die Alltagssprache des Paares.

Promoviert wird Cécile 1900 in Paris, im April wird ihr das Diplôme de Docteur en Médicine verliehen. In ihrer Doktorarbeit kommt auch Oskar zu Ehren: „Ich widme meine Dissertation meinem Mann, der mich gelehrt hat, wissenschaftlich zu arbeiten.“ Die Doktorarbeit „Étude sur la myelinisation des hémisphères cérébraux“ thematisiert die sogenannte Myelinisierung der Gehirnhälften. Die Myelinscheide, eine Art Isolierschicht um Nervenfasern, kann unter anderem die Weiterleitung von Erregungsimpulsen durch die Nervenfasern beschleunigen.

EINE FRANZÖSIN IN BERLIN: BESCHWERLICHER START, ERFOLGREICHER AUFBAU

Am 23. Februar 1899 feiern Cécile und Oskar in Berlin ihre Verlobung, die Ringe hat Oskar beim renommierten Hofgoldschmied Hugo Schaper bestellt. Und noch ein edles Verlobungsgeschenk hat er für Cécile besorgt: eine elegante Goldbrosche.

Es sind hektische Tage: Nicht nur muss die bevorstehende Hochzeit vorbereitet werden, es sind auch die verschiedenen Bereiche in der Magdeburger Straße fertig einzurichten – Labor, Privatordination und Wohnung. Tischler, Einrichtungshäuser, Tapezierer und Küchenspezialisten liefern ihre hochwertige Ware an, wie sorgfältig gesammelte Rechnungen zeigen.

Die standesamtliche Trauung findet am 21. März 1899 auf dem Standesamt Berlin III in Tiergarten statt. Cécile trägt einen Hut mit Federn, eine weiße Bluse und ein helles Kostüm, Oskar, mit seinem sauber gezogenen Mittelscheitel und dunklem Bart, zeigt sich im dunklen Anzug, weißen Hemd mit Stehkragen und breiter Krawatte. In dieser eleganten Aufmachung lassen sie sich für das Hochzeitsfoto ablichten. So weit, so normal. Was Cécile und Oskar aber von anderen Jungvermählten unterscheidet, ist das Motiv, das mit auf das Bild muss: Abgelichtet ist das junge Paar mit einem jener Geräte, mit denen sie Gehirne in dünne Scheiben schneiden.

Obwohl sich die Religiosität des jungen Paares in engen Grenzen hält, besiegeln sie den Bund dennoch – vielleicht der religiösen Verwandtschaft zuliebe – auch in einer kirchlichen Zeremonie. Die evangelische Berliner 12-Apostel-Kirche verrechnet dem Paar Vogt-Mugnier für die Trauung 40 Mark. 27 Gäste bewirten Cécile und Oskar im Anschluss an die Trauung bei sich zu Hause, der Feinkosthändler Hermann aus der Schützenstraße richtet das Buffet aus und ein Tafel-Verleih bringt die Ausstattung für den festlichen Tisch.

Die Hochzeitsreise – oder zumindest die erste gemeinsame Reise als Ehepaar – führt Cécile und Oskar im Juli 1899 nach Frankreich, wo sie unter anderem Céciles Mutter in Annecy aufsuchen. Doch eine lange Abwesenheit aus Berlin ist zu diesem Zeitpunkt nicht opportun, schließlich gilt es, sich ganz dem Auf- und Ausbau der neuen Neurologischen Centralstation zu widmen. „Diese Gründung ging von folgenden Ideen aus“, schreiben die Vogts später rückblickend in einer Presseinformation. „Die Vertiefung der Anatomie und Physiologie des Gehirns sei eine der wichtigsten Aufgaben des neuen Jahrhunderts. Sie sei aber so schwierig, dass sie neben einer besonderen technischen Organisation die ganze Kraft einer Reihe von Forschern in Anspruch nehmen müsse. Sie könne deshalb nicht im Rahmen der bestehenden Universitätsinstitute durchgeführt werden, sondern erfordere besondere Forschungsinstitute.“ Genau das wird hier in Berlin-Tiergarten geschaffen.

Cécile ist glücklich in Berlin, bei Oskar, am Forschungsinstitut, wie wir aus einem ihrer seltenen erhaltenen Tagebucheinträge wissen. Am 30. November 1900 notiert sie unter anderem, dass „ich wieder ich geworden bin, dass ich fühle, den Gefährten gefunden zu haben, den ich brauchte“.

Neurologische Centralstation und Neuro-Biologisches Institut

Zum Auf- und Ausbau des neuen Forschungsinstituts und seiner umfangreichen Hirnsammlung leistet Cécile zentrale Beiträge. Und dies nicht nur konzeptiv und durch ihre anatomischen Untersuchungen, sondern auch bei der Entwicklung einer speziellen Methode, Hirnschnitte herzustellen. Mangels bildgebender Verfahren ist die postmortale Untersuchung von Gehirnen zu dieser Zeit die einzige Möglichkeit, Erkenntnisse zu gewinnen. Und um dies möglichst effektiv tun zu können, müssen die Gehirne präpariert und in Schnitte zerlegt werden.

Es ist vor allem Cécile, die medizinisch-technische Assistentinnen darin ausbildet, die Gehirne für Forschungszwecke auf das Sorgfältigste zu präparieren: Zunächst müssen sie in Formol gehärtet und in Paraffin eingebettet werden, dann mithilfe einer speziellen Apparatur in Tausende mikrometerdünne Schichten zerschnitten, auf Glasträger montiert und eingefärbt werden, damit sie konservierbar und für anatomische Studien verwendbar werden. Ursprünglich werden die Präparate dann auch noch abgezeichnet, um sie zu dokumentieren, später dann zunehmend fotografiert. Diese Art, Hirnschnitte herzustellen, wird nicht nur zum Markenzeichen der Centralstation, sondern auch, wie die Wissenschaftshistorikerin Helga Satzinger 1996 schreibt, „zum Qualitätsmerkmal der Vogt’schen Forschungseinrichtungen und beispielweise 1904 auf der Versammlung der Anatomischen Gesellschaft mit Bravorufen bedacht“.

Das Konzept erweist sich als erfolgreich und das Institut expandiert rasch. Im Juli 1901 notiert Cécile, gerade aus Frankreich zurückgekommen, dass die Umbauarbeiten erledigt sind: Die Wohnung ist nun, um mehr Platz für die Arbeit zu schaffen, vom Labor getrennt und im 1. Stock untergebracht. Sie ist begeistert, endlich ein richtiges Arbeitszimmer zu haben und „nicht nur die kleine Ecke des Esstischs, die bisher mein Arbeitsplatz war“. Erinnert das nicht ein wenig an Virginia Woolfs Ein eigenes Zimmer als Befreiungsschlag für die kreative Frau?

Zunächst besteht die Neurologische Centralstation aus drei Forschenden – Oskar selbst, Cécile und ab 1901 Korbinian Brodmann, den Oskar einige Jahre zuvor in Alexandersbad kennengelernt hat. Wie der kanadische Biochemiker Régis Olry in einer Kurzbiografie berichtet, hat sich Brodmann nach einer überstandenen Diphterie-Infektion dazu entschlossen, zunächst einmal eine Saisonstelle in dem Kurort anzunehmen. Eine Entscheidung mit schwerwiegenden Folgen, denn in Alexandersbad entdeckt Brodmann nicht nur sein Interesse für die Neurologie, sondern lernt eben auch Oskar Vogt kennen. Er entscheidet sich, seine neuroanatomischen und neuropathologischen Kenntnisse an der Universität Leipzig und sein psychiatrisches Wissen in Jena zu verfeinern, um dann ab 1901 bei den Vogts in Berlin tätig zu sein. In diese Zeit fallen seine bahnbrechenden Publikationen zur Anordnung und dem Aufbau der Nervenzellen in der Gehirnrinde von Säugetieren und Menschen („Zytoarchitektur“). „Mehr als ein Jahrhundert nach der Erstpublikation seines Buches“, schreibt Régis Olry 2010, „bleibt Korbinian Brodmann die ultimative Referenz in Bezug auf die kortikale Zytoarchitektur.“

Das Privatinstitut entwickelt sich rasch weiter. Schon vier Jahre nach seiner Gründung gelingt Cécile und Oskar ein wichtiger Schritt in Richtung Expansion und Institutionalisierung. Die Neurologische Centralstation wird zum Neuro-Biologischen Institut, das weiterhin den Charakter einer reinen Forschungseinrichtung behalten soll, aber – und hier kommen erstmals auch öffentliche Mittel zur Unterstützung ins Spiel – organisatorisch in das Physiologische Institut der Universität integriert wird. Räumlich bleibt es aber weiterhin am bisherigen Standort in der Magdeburger Straße 16.

Ganz ohne Widerstände und Probleme geht diese Anbindung der Centralstation an die Universität nicht über die Bühne, schließlich geht es hier auch um den Wettbewerb um begrenzte staatliche Ressourcen für die Forschung. Schon dass ein privates Institut einen so fulminanten Start hinlegt und trotz begrenzter Mittel höchst produktiv ist, erweckt bei manchen etablierten akademischen Einrichtungen und deren Proponenten wenig Begeisterung. Als dann noch Friedrich Alfred Krupp, zuverlässiger Mäzen und Unterstützer der Vogtschen Forschungstätigkeit, seine guten Kontakte in die kaiserlichen Ministerien und zum Hof nützt und auch eine finanzielle Unterstützung in Aussicht stellt, um die universitäre Integration zu befördern, gibt es durchaus Widerstand aus der etablierten akademischen Medizin.

Zahlreiche Gutachten werden eingeholt, um die Zweckmäßigkeit des Projekts zu erheben. Zu den Gegnern gehörten unter anderem der Anatomie-Vorstand an der Berliner Universität Wilhelm von Waldeyer-Hartz, der Psychiatrie-Ordinarius in Breslau und später in Halle Carl Wernicke und der Neuroanatom und Psychiatrieprofessor in Leipzig Paul Flechsig, den fachliche ebenso wie persönliche Differenzen mit den Vogts umtreiben. Schließlich hat Cécile schon in ihrer Dissertation Teile der Thesen des bereits renommierten Flechsig über die Assoziationszentren im Gehirn infrage gestellt – nicht untypisch für die junge Forscherin, der Autoritäten nicht per se Respekt einflößen. „Es sieht ganz so aus, als ob der Leipziger ein mystischer Theosoph etc etc wäre“, macht sie sich in einem Brief an Oskar im September 1901 über dessen ehemaligen Lehrer lustig.

Dazu kommen alte Auseinandersetzungen aus der Zeit, als Oskar für kurze Zeit bei Flechsigs Assistent war und mit ihm in einen Urheberrechtstreit geriet: Wie der Neuropathologe und Thalamus-Spezialist Rolf Hassler schreibt, soll Flechsig unveröffentlichte Teile von Oskars Dissertation als seine eigene Arbeit ausgegeben und umgekehrt Oskar später des Plagiats in seiner Dissertation bezichtigt haben. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung über die Assoziationszentren setzt sich weiter fort. In ihrer großen gemeinsamen Arbeit zur Markreifung des Kindergehirns 1904 schreiben Cécile und Oskar: „Dass jeder Leser gleichzeitig einfach auf Grund unserer Abbildungen sich ein eigenes Urtheil über Flechsig’s Associationscentrentheorie bilden