Ich muss darüber sprechen - Pauline Harmange - E-Book

Ich muss darüber sprechen E-Book

Pauline Harmange

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Beschreibung

Seit Sommer 2022 ist der Paragraf 219 a zum «Werbeverbot für Abtreibungen» in Deutschland abgeschafft worden, das Thema wird jedoch weiterhin viel diskutiert, sowohl in Deutschland als auch in den USA, Polen, und Frankreich. In der Tradition von Annie Ernaux' Das Ereignis beschreibt Pauline Harmange nahbar, verletzlich und ehrlich, welche inneren und äußeren Konflikte ihren eigenen Schwangerschaftsabbruch begleiteten. Da Abtreibungen in der öffentlichen Diskussion immer noch mit Scham, Egoismus und Schuld konnotiert sind, fühlen sich auch die Betroffenen oft schmutzig, schuldig und egoistisch. Harmange plädoyiert leidenschaftlich für das Selbstbestimmungrecht von Frauen und reflektiert dabei auch andere Fragen rund um das Thema Weiblichkeit: Warum werden Frauen ohne Kinder immer noch als «halbe» Frauen wahrgenommen? Warum greifen nach wie vor Konzepte wie «Rabenmutter», wenn eine Mutter berufstätig sein will? Und warum ist Verhütung immer noch so häufig Frauensache?

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Seitenzahl: 92

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Pauline Harmange

Ich muss darüber sprechen

Die Geschichte meines Schwangerschaftsabbruchs

 

 

Aus dem Französischen von Nicola Denis

 

Über dieses Buch

Seit Sommer 2022 ist der Paragraf 219a zum «Werbeverbot für Abtreibungen» in Deutschland abgeschafft worden, das Thema wird jedoch weiterhin viel diskutiert, sowohl in Deutschland als auch in den USA, Polen und Frankreich. In der Tradition von Annie Ernaux’ Das Ereignis beschreibt Pauline Harmange nahbar, verletzlich und ehrlich, welche inneren und äußeren Konflikte ihren eigenen Schwangerschaftsabbruch begleiteten. Da Abtreibungen in der öffentlichen Diskussion immer noch mit Scham, Egoismus und Schuld konnotiert sind, fühlen sich auch die Betroffenen oft schmutzig, schuldig und egoistisch. Harmange plädiert leidenschaftlich für das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und reflektiert dabei auch andere Fragen rund um das Thema Weiblichkeit: Warum werden Frauen ohne Kinder immer noch als «halbe» Frauen wahrgenommen? Warum greifen nach wie vor Konzepte wie «Rabenmutter», wenn eine Mutter berufstätig sein will? Und warum ist Verhütung immer noch so häufig Frauensache?

Vita

Pauline Harmange ist Autorin, Schauspielerin und Feministin. Nach der Publikation ihres Essays Ich hasse Männer (Rowohlt, 2020), der international für Aufsehen sorgte, schrieb sie ihren ersten Roman Bis zum Frühling (Rowohlt, 2022).

 

Nicola Denis wurde mit einer Arbeit zur Übersetzungsgeschichte promoviert. Im niedersächsischen Celle geboren, lebt sie seit über zwanzig Jahren im Westen Frankreichs. Dort übersetzt sie neben Klassikern wie Alexandre Dumas oder Honoré de Balzac französische Gegenwartsautoren wie Sylvain Tesson, Olivier Guez, Philippe Lançon oder Éric Vuillard.

Impressum

Die französische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel «Avortée. Une histoire intime de l’IVG» bei Éditions Daronnes, Villejuif.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Avortée. Une histoire intime de l’IVG» Copyright © 2022 by Éditions Daronnes

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung zero-media.net, München

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01614-9

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Inhaltsübersicht

Widmung

Vorwort

Einleitung

Schmerz und Neid

Wo sind die, die abgetrieben haben?

Das Undenkbare

Bruchstückhafter, subjektiver Blick auf das Abtreibungsrecht

Zu spät

Egoismen

Die Scham

Trauerarbeit

Heilen

Dank

Ausgewählte Literatur

Für Soriya,

mit der ich ein erstes,

heilsames Flüstern

tauschen durfte.

 

Und für meine Schwester,

die mir im Dunkeln,

Hand in Hand,

immer wieder sagte:

«Du und ich, in zwei Jahren lachen wir

beide darüber.»

(Palladium – Brigitte)

Vorwort

Vielleicht ist es eine Art Berufskrankheit: Als ich abgetrieben habe, wusste ich schnell, dass ich den Wunsch und das Bedürfnis haben würde, über alles, was passiert war, zu schreiben. Und über alles, was noch immer passierte. Ich brauchte ein wenig Zeit, um zu verstehen, was ich tun konnte – einen persönlichen, reflektierten Erlebnisbericht schreiben – und was ich nicht tun durfte – ein Buch mit einem Tagebuch verwechseln. Das war keine leichte Aufgabe, denn die Abtreibung bewegte sich für mich auf ebenjenem schmalen Grat. Sie war ungeheuer intim und emotional besetzt und zugleich hochpolitisch.

Eine weitere Berufskrankheit meinerseits: Ich frage mich häufig, was man erzählt, und vor allem, warum.

 

Als ich, nur wenige Monate nach meinem Schwangerschaftsabbruch, mit der Arbeit an diesem Text begann, war ich wütend. Wütend, so unglücklich und einsam zu sein. Ich dachte, dass meine Einsamkeit das Ergebnis meiner spezifischen Situation sei. Dass niemand außer mir erlebt hatte, was ich erlebte – und dass es keinen Platz für mein Erleben gab. Der Diskurs über die Abtreibung erschien mir viel zu undifferenziert. Mein Magen revoltierte, wenn ich die Anti-Choice-Kampagnen sah, mein Herz krampfte sich zusammen, wenn ich an die Erfahrungsberichte dachte, die von den Feministinnen als Gegenargumente aufgeboten wurden. Nichts von alldem stimmte, sagte ich mir, eingehüllt in meinen Schmerz.

Ich wollte, dass ehrlicher über Abtreibungen gesprochen wird, aber eine lähmende Einsamkeit, die von mir Besitz ergriffen hatte, brachte mich von meinem Weg ab. Ein paar Monate später begriff ich, dass man, um offener sprechen zu können, zuerst wieder lauter sprechen muss.

Noch immer will niemand von Frauen hören, die abgetrieben haben. Was in unseren Bäuchen und Köpfen vorgeht, wenn wir uns entscheiden, nicht mehr schwanger zu sein, ist immer noch zu schmutzig, düster und beschämend. Am besten sollten wir bis in alle Ewigkeit schweigen. Es ist allerdings nicht mehr in Mode, Frauen den Mund zu verbieten, wenn wir ihn also schon aufmachen, dann bitte schön unter Einhaltung folgender Auflagen: leise sprechen, den Blick zu Boden gesenkt, und bloß keine Einzelheiten.

 

Ich war Feministin, bevor ich abgetrieben habe. Ich habe lange gebraucht, um mir darüber klar zu werden, was passierte, als ich mich von dem Schmerz meiner Abtreibung nicht erholte und das Gefühl hatte, sagen zu müssen: «Danke, es geht mir gut.» Es ging mir nicht gut, aber, um Himmels willen, das sagt man doch nicht. In einer Welt, in der so viele Frauen immer noch nicht frei abtreiben können, in der uns dieses Recht in jedem Augenblick wieder entzogen werden kann, sagt man nicht, dass man selbst abgetrieben hat und dass diese Erfahrung – nun ja – eine ist, die man freiwillig nie wieder machen würde.

Ich verwechselte meine Loyalität mit dem Feminismus, der mir so viel gegeben hatte und mich plötzlich einengte, mit dem eigentlichen Problem: dem Schweigen, das Frauen auferlegt wird, die tun, was sie tun wollen. Wenn ich sagte «Danke, es geht mir gut», obwohl ich innerlich hätte weinen wollen, wurde ich nicht von meinem Feminismus in Stich gelassen: eher vom Gesetz des Schweigens mit seinem alles beherrschenden Tabu. Ich wollte den Böswilligen kein gefundenes Fressen bieten, wollte mich dieses hart erkämpften, immer wieder gefährdeten Rechts als würdig erweisen. Ich brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass mich nicht der Feminismus zu diesem Verhalten trieb. Das Gebot lautete nicht, dass es uns gut zu gehen hatte, sondern – nach guter alter patriarchalischer Manier –, dass wir nur ja nicht aus dem Rahmen fallen durften. Für Abtreibung gilt wie für so viele andere Themen, die unterdrückte Minderheiten betreffen: Es gibt keinen Platz für unsere Vielheit.

 

Wie könnte man den Frauen, die für das Recht auf Abtreibung gekämpft haben und anderswo auf der Welt noch immer dafür kämpfen, den Frauen, die unter ihrer Illegalität gelitten haben, und denen, die nach wie vor unter ihrer Beschränkung leiden, besser helfen, als indem man darüber spricht? Ich bin Feministin, musste aber selbst nie für das Recht auf Abtreibung kämpfen. Dementsprechend bin ich mit der naiven Vorstellung aufgewachsen, dass die Abtreibung zumindest hierzulande praktisch kein Thema mehr ist. Ein Recht wie ein anderes, ein banaler Eingriff. Tatsächlich ist genau das Gegenteil der Fall. Es ist immer noch ein Thema, das Unverständnis, Hass und Einsamkeit heraufbeschwört.

Ich schreibe meine Geschichte auf, um diese Einsamkeit zu bekämpfen, um mich in den Chor der verschiedenen Stimmen zum Thema Abtreibung einzureihen. Ich schreibe für die junge Frau, die ich selbst war, als ich «Erfahrungsbericht Schwangerschaftsabbruch» in eine Suchmaschine eingab, und für eine Unbekannte, die heute das Gleiche macht. Für alle, die auch zuerst auf eine gefakte Anti-Choice-Propagandaseite stoßen, bevor sie objektive, medizinisch korrekte und authentische Informationen finden.

Ich habe lange gebraucht, um erhobenen Hauptes und mit anderen Frauen über meine Abtreibung zu sprechen und mich denen verbunden zu fühlen, die diese Lebenserfahrung mit mir teilen. Ich schreibe, um loszuwerden, was ich aufgrund des erdrückenden Tabus lange nicht verstanden habe und was meinen Heilungsprozess herausgezögert hat. Für ein bisschen mehr Licht.

Einleitung

Es ist ein schöner Dezembertag, wir kommen nach einem Wochenende bei Freund:innen nach Hause zurück. In der Post erwartet uns eine Schwangerschaftsankündigung. Die Absender:innen dieser großen Neuigkeit sind Menschen, die ich sehr mag, obwohl ich sie nicht oft sehe. Wir teilen Gemeinsamkeiten, die mir das Herz aufgehen lassen: Auch sie haben geheiratet, ohne sich weiter um die Traditionen zu scheren, auch sie mögen Stephen King, Lego und die Arctic Monkeys – wir sind eine Familie. Es ist das erste Mal, dass ich eine solche Ankündigung bekomme, jetzt ist es so weit, allmählich beschäftigen sich meine Altersgenoss:innen mit dem Kinderkriegen. Wir wissen also Bescheid: In sieben Monaten wird es ein neues Baby auf dem Planeten geben.

Mein Bauch rechnet noch vor meinem Kopf. Mir bleibt die Luft weg, ich habe das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Das hätte genauso gut auch ich sein können, mein Bauch und mein Baby. Aber ich bin es nicht, weil ich vor über einem Monat abgetrieben habe[*].

In einem unbeobachteten Moment werfe ich die Schwangerschaftsankündigung wütend und neiderfüllt in den Müll. Ein paar Monate später fragt mein Mann mich, wo eigentlich diese Karte mit der frohen Botschaft abgeblieben sei. Ich schaue ihm fest in die Augen und erwidere mit Unschuldsmiene: «Ich weiß nicht, vielleicht haben wir sie verlegt oder aus Versehen weggeschmissen, das passiert ja schon mal.» Lieber lüge ich ihn an, als zu meiner grausamen und kindischen Geste zu stehen, ein Stückchen Glück, wie peinlich, in den Müll geschmissen zu haben.

 

Die Zeit vergeht, und ich weiche aus, werde zu einer Meisterin der Vermeidungsstrategien. Ich umgehe Treffen mit schwangeren Frauen aus meinem Umfeld und stelle dabei fest, dass es nur so von ihnen wimmelt. Ich hatte schon einmal ein Treffen mit einer Freundin von der Uni abgesagt, die ein Kind erwartete, aber das war damals nur verständlich, weil ich nach meinem Schwangerschaftsabbruch noch unter Blutungen litt. Monate später, als die glücklichen zukünftigen Eltern (die von der heimlich entsorgten Schwangerschaftsankündigung) in unsere Gegend kommen, weiche ich noch immer aus. Wie hätte ich mein Zuhause, wo ich, von einer noch namenlosen Erschöpfung niedergestreckt, auf dem Sofa geschlafen, während meiner Abtreibung vor Schmerzen gestöhnt und mich von dem Blut dieser Abtreibung reingewaschen hatte, mit einer Schwangeren teilen können? Mit ihrem runden Bauch, ihrem glänzenden Haar, ja, natürlich auch mit ihrer Müdigkeit. Mit ihrem vollen und meinem leeren Körper. Mit zugeschnürter Kehle stahl ich mich davon.

 

Ich suche nach Worten für diese hässliche Gefühlsgemengelage. Warum diese erdrückende Traurigkeit? Hatte ich mich nicht nach bestem Wissen und Gewissen entschieden? Ich forsche in meinem Inneren nach den ersten erschreckenden Anzeichen von Reue. Mein Schmerz scheint mir zwingend zu beweisen, dass ich es, und sei es unbewusst, bitter bereue, abgetrieben zu haben. Dass ich eine andere Wahl treffen würde, wenn ich mich noch einmal entscheiden müsste. Heute weiß ich, dass es wichtig war, es auszuhalten, diese merkwürdige Trauer, gepaart mit der unabänderlichen Gewissheit, die bestmögliche Entscheidung getroffen zu haben.