Ich war nie bei dir - Leena Lehtolainen - E-Book

Ich war nie bei dir E-Book

Leena Lehtolainen

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Beschreibung

Nach Rikus Verschwinden macht Jaana sich schwere Vorwürfe. Denn nur kurz zuvor hatte sie die Entdeckung gemacht, dass das Lesebändchen ihres Tagebuchs nicht mehr an der Stelle war, an der es vorher lag. Wenn Riku darin gelesen haben sollte, hat er gewusst, wie ambivalent Jaana ihm gegenüberstand. Dass sie sich manchmal wünschte, ohne ihn und nur mit ihren Kindern zusammenzuleben. Mit der Zeit verblassen diese Gedanken jedoch, und sie beginnt, sich innerlich von Riku zu entfernen. Da passiert etwas Unerwartetes ...

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Leena Lehtolainen

Ich war nie bei dir

Roman

Deutsch von Gabriele Schrey-Vasara

Prolog

Manchmal werde ich gebeten, über ein bestimmtes Motiv oder Thema zu schreiben. Gelegentlich sprechen mich auch Menschen an, die mich als Autorin für ihre Biographie gewinnen möchten. Solche Angebote lehne ich höflich dankend ab. Es kommt für mich nicht in Frage, lebende Personen als Vorbilder für meine Romanfiguren oder wahre Begebenheiten als direkte Grundlage meiner Bücher zu verwenden. Manchmal glimmt ein Thema, das man mir vorschlägt, in meinem Unterbewusstsein weiter, bevor es sich schließlich in Fiktion verwandelt, aber dabei verändert es sich durch und durch.

Bei einer Lesung in der Schule von Eestinkallio sprach mich eine Lehrerin namens Jaana Järvelä-Rämesuo an. Sie sagte, wir seien Studienkolleginnen gewesen. Ich konnte mich nicht an sie erinnern, aber das war kein Wunder, denn in den Vorlesungen über finnische Literatur hatte es von Lehramtsstudentinnen gewimmelt, eine schüchterner und farbloser als die andere. Später, als ich mich bereits dafür entschieden hatte, Jaanas Geschichte zu schreiben, entdeckte ich in meinem Archiv tatsächlich eine Proseminararbeit von ihr über die Rolle der Phantasie in Anni Swans Jugendbüchern.

Etwa zwei Wochen nach der Lesung rief Jaana mich an, um mir ihre Tagebücher und die ihres Mannes Riku als Material für einen Roman anzubieten. Bei dem Auftritt in der Schule hatte ich erwähnt, wie wichtig mir schon als Kind mein Tagebuch gewesen war, und daraus hatte Jaana offenbar geschlossen, dass ich die Richtige sei, ihre Tagebücher in ein literarisches Werk zu verwandeln. Ich lehnte zunächst rundweg ab. Eine überraschende Wende, die nach unserer Begegnung eintrat, veranlasste mich jedoch, meinen Entschluss zu ändern. So ist dieses Buch entstanden.

Ich behaupte nicht, dass ich die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit niedergeschrieben habe, ohne etwas zu verändern oder auszulassen. Dies ist die Geschichte von Jaana und Riku, so wie ich sie sehe.

Caën, den 24.4.200X

Die Autorin

Eins

Der Anfang

Einen Tag vor ihrem einundvierzigsten Geburtstag merkte Jaana Järvelä-Rämesuo, dass ihr Mann Riku heimlich in ihrem Tagebuch las. Riku war immer eifersüchtig auf das Buch gewesen, dem Jaana all das anvertraute, worüber sie mit ihrem Mann nicht sprechen wollte, beispielsweise über seine Potenzschwäche oder über ihre Gefühle für Ilkka. Allerdings kam Ilkka im aktuellen Tagebuch nicht vor, denn dieser Rausch war bereits vor einigen Jahren verflogen, es ging um all die anderen Dinge, über die sie seit langem nicht mehr mit Riku sprechen konnte: um Träume, Befürchtungen, Anlässe zur Freude, aber auch um die Frustration, mit der sie verfolgte, wie Riku immer depressiver wurde.

Es waren zwei Kleinigkeiten, die Jaana stutzig machten. Erstens hatte ihr aktuelles Tagebuch ein Lesebändchen, das es ihr erleichterte, die zuletzt beschriebene Seite aufzuschlagen. Doch diesmal lag das Bändchen hinter der ersten Seite. Jaana schöpfte sofort Verdacht. Das zweite Indiz wog noch schwerer: Ein paar Tage zuvor hatte sie geschrieben, dass sie Rikus lautes Schmatzen beim Frühstück unerträglich fand. Am Donnerstagmorgen, einen Tag vor ihrem Geburtstag, saßen sie wie immer gemeinsam am Tisch. Lotta und Lauri, die beiden Kinder, hatten ihr Frühstück bereits heruntergeschlungen, doch Jaana und Riku ließen sich Zeit und lasen beim Essen Zeitung. Jaanas Unterricht begann erst um zehn Uhr, Riku wollte zur gleichen Zeit aufbrechen und abends länger arbeiten.

Jaana hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, während Riku gedankenverloren frühstückte. Dann hielt er plötzlich inne, sah Jaana an und wurde rot. In dem Moment war sie sich sicher. Sie stand auf, ohne ihren Kaffee auszutrinken. Sie hatte Angst, etwas Falsches zu sagen.

Vielleicht war sie Riku gegenüber ungerecht. Sie wusste ja, wie erschöpft er war, und die Drohungen der Tierversuchsgegner, die er in letzter Zeit erhalten hatte, sorgten für zusätzlichen Stress. Jaana schämte sich, weil sie auch noch Anforderungen an ihn stellte. Eine Frau musste ihrem Mann den Rücken stärken. Aber wie sollte sie das tun, wenn er sich immer mehr abkapselte und schwieg?

Plötzlich fühlte Jaana Panik in sich aufsteigen. Seit mehr als dreißig Jahren führte sie Tagebuch. Wie sollte sie ohne auskommen? Zwar hatte es bisweilen längere Unterbrechungen gegeben, doch wenn sie besonders glücklich oder besonders traurig gewesen war, hatte sie immer wieder zu ihrem Tagebuch gegriffen. Die längsten Schreibpausen fielen in Zeiten, in denen ihr alles gleichgültig war.

Jaana wählte ihre Tagebücher sorgfältig aus, es kam durchaus nicht jedes beliebige Heft in Frage. In der Schulzeit hatte sie meist kleine, mit buntem Marimekko-Stoff bezogene Büchlein verwendet, die in die Handtasche passten, aber allzu schnell vollgeschrieben waren. Dann ging sie zu dekorativen Büchern aus dem China-Basar über, mit eng linierten Seiten. Später, als Erwachsene, kaufte sie handgemachte Unikate und suchte auf Reisen nach außergewöhnlichen Exemplaren. Alles in allem hatte sie über sechzig Tagebücher. Wie lange las Riku bereits darin? Von der Küchentür aus warf sie ihm einen Blick zu. Er sah aus wie immer. Hatte er die ganze Zeit vorgegeben, nicht zu wissen, was in ihrem Kopf vorging, oder hatte er erst kürzlich mit dem Spionieren angefangen?

Im Auto redete Jaana ununterbrochen, aber nicht, weil sie Riku so viel zu sagen gehabt hätte, sondern im Gegenteil, weil es nichts zu sagen gab. Sie plapperte über die Zugvögel, die sie sehnsüchtig erwartete, und über die eisverkrusteten Bäume am Straßenrand.

Es war Mitte März, noch herrschte ideales Skiwetter, und Riku, Jaana und Lauri liefen an den Wochenenden gemeinsam Ski. Die fünfzehnjährige Lotta dagegen war nicht mehr auf die Loipe zu bekommen, obwohl Riku sie mit dem Hinweis zu ködern versuchte, für Mädchen, die auf ihr Gewicht achteten, sei Skilanglauf der ideale Sport. Lotta hatte im Herbst aufgehört, Fleisch zu essen, und entwickelte nun auch eine Abneigung gegen Milchprodukte. Um sie davon abzubringen, versuchte Jaana ihr wider besseres Wissen einzureden, dass sie noch wachsen würde.

Jaana setzte Riku am Labor ab und fuhr weiter in Richtung Espoo. Als sie auf der Finnoontie an einer Ampel halten musste, atmete sie tief durch und versuchte sich zu entkrampfen. Was sollte sie tun? Einen verschließbaren Schrank für ihre Tagebücher kaufen? Nein, damit hätte sie Riku klar zu verstehen gegeben, dass sie wusste, was er getan hatte. Verstecken war auch keine Alternative, denn es gab im ganzen Haus keinen Raum, zu dem nur sie allein Zutritt hatte. Bisher hatte sie sich darauf verlassen, dass niemand die Tagebücher aus dem Regal in der Kleiderkammer nahm, in der auch ihr Schreibtisch stand.

Ein großer Teil von Jaanas Aufzeichnungen betraf die Kinder. In ihren ersten Lebensjahren hatte sie jedes neue Wort und jeden Entwicklungsschritt gewissenhaft notiert. Diese Tagebücher hätte sie jedem zeigen können. Ich versuchte, in den Aufzeichnungen wiederkehrende Muster zu finden, Jaanas Kern, etwas, das erklären würde, weshalb die Dinge sich so und nicht anders entwickelt hatten. In einer späteren Arbeitsphase waren mir auch Rikus einigermaßen wortkarge Tagebücher hilfreich, von denen Jaana mir Kopien zustellte, da sie die Originale der Polizei aushändigen musste.

Jaana war beim Zurücksetzen auf dem Lehrerparkplatz so in Gedanken, dass sie beinahe den Physiklehrer überfahren hätte, der zum Glück in letzter Sekunde zur Seite sprang. Da sie an sich eine aufmerksame und rücksichtsvolle Fahrerin war, erschrak sie heftig und schnappte noch nach Luft, als sie die Schultür öffnete. Auf dem Flur kam ihr Kukka entgegen und grüßte freundlich. Sie war eine ihrer liebsten Kolleginnen. Allerdings verspürte Jaana in ihrer Gegenwart oft vage Gewissensbisse, was eigentlich idiotisch war, denn letzten Endes war zwischen Jaana und Kukkas Mann Ilkka ja gar nichts vorgefallen. Kukka hatte tulpenrote Wangen und trug mit Vorliebe selbstgenähte, wehende geblümte Kleider. Sie unterrichtete textiles Gestalten, ein Wahlfach, das an der Eestinkallio-Schule ungewöhnlich beliebt war.

Jaana überlegte, ob sie Kukka erzählen sollte, dass Riku in ihrem Tagebuch gelesen hatte, doch wegen der Geschichte mit Ilkka verwarf sie den Gedanken. Aber mit irgendwem musste sie sprechen und sich Rat holen. Ohne ihr Tagebuch konnte sie nicht leben, denn das Schreiben war der einzige Weg, Distanz zu den Ereignissen zu gewinnen und stürmische Gefühle zu zügeln.

Im Lehrerzimmer schaltete Pirjo, die Geschichtslehrerin, gerade ihren Laptop aus. Jaana setzte sich neben sie an den mittleren Tisch, wo sie ihren Stammplatz hatte. Die Lehrer der naturwissenschaftlichen Fächer nannten den Tisch Humanisticum, weil sich um ihn auch die Sprach- und Kunstlehrer sowie Kukka versammelten.

«Puh, der Test ist endlich fertig!» Pirjo zog den Speicherstick aus der Buchse und steckte ihn ein. Da merkte Jaana plötzlich, dass sie eine Lösung gefunden hatte, die zwar nicht optimal, aber praktikabel war. Von nun an würde sie ihr Tagebuch am Laptop schreiben und auf einem USB-Stick speichern, den sie immer bei sich tragen oder notfalls in ihrer Schmuckschatulle einschließen konnte.

Doch ihre anfängliche Begeisterung über diesen Einfall legte sich bald. Es würde ihr nicht leichtfallen, im Vorortzug oder im Bus den Computer zu benutzen. Schon wenn sie in der Öffentlichkeit ihr Lektüreheft vervollständigte oder Texte für den Unterricht schrieb, hatte sie oft das Gefühl, dass die Mitreisenden ihr über die Schulter guckten. Der Text auf dem Bildschirm war wesentlich leichter mitzulesen als ihre verschlungene Handschrift.

Aber vermutlich gab es keine andere Möglichkeit. Jaana seufzte. Sie war es gewöhnt, Tagebuch zu schreiben, wann immer ihr danach war. Selbst guten Freunden mochte sie nicht ständig mit Klagen kommen, und über ihr Liebesleben hätte sie erst recht nicht mit anderen sprechen können. Sie wurde rot, als ihr einfiel, was sie über ihre letzte Liebesnacht geschrieben hatte. Ob Riku auch das gelesen hatte? Dabei war er ohnehin schon deprimiert genug.

Natürlich würde Riku sich wundern, wenn Jaana plötzlich nichts mehr in ihr Tagebuch schrieb. Also musste sie parallel auch das alte weiterführen. Sie nahm sich vor, es mit unverfänglichen Eintragungen zu füllen, die Riku gefallen würden. Sie wollte ihm die Jaana präsentieren, in die er sich vor zwanzig Jahren verguckt und bald darauf verliebt hatte.

Es klingelte. Die Schüler der 9 C präsentierten ihre Referate über literarische Werke, doch Jaana hörte nur mit einem Ohr zu. Auf dem Heimweg würde sie einen Speicherstick kaufen. Einen schönen, falls es so etwas gab.

17.3.200X

Jetzt fange ich also dieses neue Tagebuch an. Es fällt mir schwer, intime Gedanken in dieser Form niederzuschreiben, denn bisher war der Computer für mich immer nur ein Arbeitsgerät. Ich bin wütend auf Riku, weil er mich zu diesem Ausweg zwingt. Zum Glück ist er noch nicht zu Hause. Es kommt mir vor, als hätte er mich in ein Eisloch gestoßen und die Leiter weggenommen. Vor Wut bin ich innerlich wie erstarrt.

Ilkka liest bestimmt nicht in Kukkas Tagebüchern. Aber was hätte sie auch zu verbergen? Ihr Leben ist wunderbar, mit Ilkka läuft es bestens, die Kinder sind goldig, die eigenen wie auch die in der Schule. Kukkas Leben scheint perfekt zu sein, sie schafft es sogar, Marmelade zu kochen, zu nähen und Nordic Walking zu treiben. Trotzdem ist sie weder langweilig noch aufgesetzt munter. Wenn sie doch eins von beiden wäre! Dann hätte ich mich vielleicht nicht gescheut, eine Affäre mit Ilkka anzufangen. Aber ich war schon mit Kukka befreundet, als ich ihn kennenlernte. Warum komme ich jetzt auf diese alte Geschichte zurück? Ist sie das größte Geheimnis, das ich vor Riku verbergen will?

Ich habe doch gar keine Geheimnisse. Mein Leben ist transparent, man könnte es in einem Schaufenster ausstellen. Oder besteht das wahre Geheimnis in der Tatsache, dass ich Rikus Abwesenheit oft als Erleichterung empfinde, mich freier fühle, wenn ich mit den Kindern allein bin? Als würde Riku mich beobachten, meine Gespräche belauschen – was er ja auch wirklich tut. Jetzt ist er in mein Tagebuch eingedrungen und zwingt mich, die vertrauten weichen Seiten Papier aufzugeben und meine Geheimnisse einem starren Speicherstick anzuvertrauen. Das Tagebuch mit dem Mona-Lisa-Einband, das ich in Paris gekauft habe, bleibt unvollendet, das heißt, ich führe es zwar weiter, aber es ist kein intimer Bericht mehr, sondern etwas, das Riku durchblättern und untersuchen kann. Er wird sich einbilden, mich hinter diesen Worten zu finden, dabei werden sie nur eine Maske sein, die er mir aufgezwungen hat.

17.3.200X

Der Schultag war ganz okay, Milla Laaksonen hat ein gutes Referat über die Gedichte von Saima Harmaja gehalten, hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Die Jungen haben natürlich gegähnt, und ich fürchte, meine Lotta würde sich auch nichts aus der Dichterin machen. Riku arbeitet heute länger, und ich mache mir Sorgen, weil er nichts von sich hören lässt. Wenn die Morddrohungen womöglich doch ernst gemeint sind? Ich fände es klüger, auf Tierversuche zu verzichten, aber Riku sagt, ohne neue und immer wieder neue Experimente könne er seine Untersuchung nicht zu Ende führen und die Entwicklung von Antidepressiva sei sinnvoll. Sinnvoll ist ein blödes Wort. Natürlich drückt es das Gegenteil von sinnlos aus, aber ich habe eine Abneigung gegen diese Wörter auf -voll. Sie sind irgendwie gewaltsam gebildet. Die Menschen suchen niveauvolle Partner oder ebensolche Autos, aber welches Niveau hat das Niveauvolle eigentlich?

Ist meine Arbeit sinnvoll? Wer braucht schon Grammatik, wo doch der Computer ein Korrekturprogramm hat? Das bekomme ich von meinen Schülern immer wieder zu hören. Und wozu soll’n wir überhaupt Finnisch lernen, das versteht doch sowieso kein Arsch. Alle reden bloß English, hey teacher. Ich muss versuchen, von ihren Ausgangspunkten her an sie heranzukommen. Also schildere ich ihnen die Sieben Brüder aus einem über hundert Jahre alten Roman als Anarchisten und Rebellen ihrer Epoche, als Außenseiter, vergleichbar mit den heutigen Skatern, Graffitimalern und militanten Tierschützern. Manche spricht das an, aber dafür wird es umso schwieriger, das Ende des Romans zu erklären. Auch ihr werdet zwangsläufig ehrbare Bürger, wie die Sieben Brüder. Aus dem Kalevala, dem alten Nationalepos, mache ich eine Art Abenteuerspiel, ich reduziere die Handlung auf einen Plot, in dem man von einer Ebene zur nächsten vordringen kann wie bei den unendlichen Burglabyrinthen auf Lauris Computerbildschirm. Die Mädchen stellen Väinämöinens Heldencharakter in Frage, wenn wir zu der Szene kommen, wo er Aino verführen will: Was bildet der alte Knacker sich ein? Fast in jeder Klasse gibt es mindestens ein Mädchen, das Aino heißt und prompt rot wird.

Aber wenn man die Sprache des Kalevala vereinfacht, büßt es etwas Wesentliches ein: den Stabreim und die reichhaltigen, vom Versmaß erzwungenen Ausdrucksformen. Ich versuche meinen Schülern zu erklären, dass das Kalevala zu seiner Zeit etwas Ähnliches war wie heute der Rap, dass jeder, der wollte, Verse reimen und singen und durch seine Lieder einen gewissen sozialen Status erringen konnte, genau wie die heutigen Idole. Weil es damals keine Straßen, sondern nur Wälder gab, brauchten die Sänger wood credibility, füge ich hinzu und ernte dafür ab und zu einen höflichen Lacher. Manchmal frage ich mich, warum ich mir überhaupt die Mühe mache. Wahrscheinlich, weil ich diese Klassiker der finnischen Literatur so mag und meinen Genuss mit anderen teilen will.

Jaana legte das Lesebändchen ein und schlug das im Louvre gekaufte Tagebuch zu. Diese Eintragung konnte Riku getrost lesen. Sie hatte nicht gelogen, sie war tatsächlich immer unruhig, wenn er länger als gewöhnlich ausblieb. Achselzuckend ging sie in die Küche und schaltete den Wasserkocher ein. Gleich darauf sah sie Rikus hochgewachsene, magere Gestalt über die Schneehäufchen auf dem Weg zum Haus springen. Vielleicht wollte Riku auch einen Tee?

«Hallo, du bist aber spät dran.» Jaana gab sich Mühe, den Satz nicht vorwurfsvoll klingen zu lassen.

«Ich musste länger bleiben, um Da Silva zu erreichen. Die Brasilianer haben andere Arbeitszeiten als wir.» Riku sah die Post durch. Jaana wusste bereits, dass nichts Schlimmes dabei war, kein Drohbrief militanter Tierschützer, die Rikus Privatanschrift längst ausfindig gemacht hatten. Sie sah, dass sich seine Muskeln allmählich lockerten. Entwarnung.

«War’s ansonsten ruhig bei der Arbeit?», fragte sie und gab vorsichtig Teeblätter in die Kanne. Grüner Tee wurde schnell bitter.

«Heute ja.» Riku setzte sich an den Esstisch. Er hatte sich am Morgen nicht rasiert, und im schräg einfallenden Frühlingslicht schimmerten seine Bartstoppeln silbrig, nicht mehr goldblond wie früher. Er war im Lauf des Winters deutlich gealtert.

«Die Drohungen richten sich nur gegen das, was du tust», sagte Jaana und versuchte aufmunternd zu lächeln. Rikus Gesicht verfinsterte sich.

«Ich bin, was ich tue. Ich kann mich nicht in einen Arbeits-Riku und einen Privat-Riku aufspalten. Warum sollte ich auch?»

Darauf hatte Jaana keine Antwort parat. Eigentlich versuchte man ja ständig, andere Menschen aufgrund ihrer Eigenschaften in eine Schublade zu stecken. Du bist, was du isst. Sag mir, wer deine Freunde sind, und ich sage dir, wer du bist. Gib Auskunft über deinen Beruf, dein Einkommen und deine sexuellen Vorlieben, damit wir dich abstempeln und archivieren können. Jaana wusste, dass sie sich genauso verhielt, wenn sie unter ihren Schülern bestimmte Typen ausmachte: Streber, Störenfriede, Außenseiter, Kinder aus Problemfamilien. Das erleichterte die Arbeit, man brauchte nicht tiefer zu schauen.

Am nächsten Tag, einem Freitag, hatte Jaana Geburtstag. Einundvierzig war keine runde Zahl, aber sie hoffte dennoch, dass Riku die Familie zum Essen einladen würde. Dann fiel ihr plötzlich ein, was sie vor zwei Tagen in ihr Tagebuch geschrieben hatte, als sie noch nicht wusste, dass Riku darin las.

15.3.200X

Mitte März, in den Ortschaften färbt sich der Schnee allmählich schwarz. Morgens trägt er noch, Riku ist gestern schon früh um sechs zum Skilaufen gegangen. Nachmittags ist der Schnee grobkörnig und spröde, er pappt nicht mehr und schmilzt, wenn man einen Schneeball machen will. Die Schneewehen sind so hart, dass es wehtut, und gleichzeitig nass, man kann einfach nicht anders, als verzweifelt strampelnde Siebtklässler reinzuschubsen, zumindest, wenn man Joni Rautiainen heißt. Schneehaufen sind überhaupt nur dazu da, dass der Schultyrann Rautiainen aus der 9B Siebtklässler hineinstoßen kann.

Natürlich musste ich eingreifen. Eigentlich sollte man Rautiainen in die Sonderschule schicken, damit er die anderen nicht dauernd terrorisiert. Er kommt aus einer dieser «Unser-Kind-doch-nicht»-Familien, gegen die kein Kraut gewachsen ist. Der Vater bespricht am Handy Dienstliches, während er sich lustlos mit dem Klassenlehrer unterhält, die Mutter erscheint gar nicht erst. Wenn ich solche Leute erlebe, glaube ich für eine Weile, dass Riku und ich doch ganz passable Eltern sind.

Am Freitag habe ich Geburtstag. Abends muss ich zum Yoga, aber das ist schon um halb acht zu Ende. Danach könnten wir feiern, vielleicht alle zusammen in Helsinki lecker essen gehen. Oder wenigstens in Espoo. Aber wahrscheinlich müsste ich das selbst organisieren, Riku kommt einfach nicht auf so was. Einmal hat er meinen Geburtstag sogar komplett vergessen. Zum Glück erinnert Lotta ihn neuerdings an derartige Termine. Warum muss das in unserer Familie immer Frauensache sein?

Wenn Riku sie nun tatsächlich zum Essen ausführen würde, lag es nur an dem Tagebucheintrag, dachte Jaana. Meiner Meinung nach war das typisch weibliche Logik. Wir Frauen wünschen uns, dass die Männer unsere Gedanken lesen können, so wie wir oft fähig sind, die Wünsche anderer zu erahnen. Zumindest behaupten wir das. Vielleicht entspringt diese Behauptung nur dem Wunsch, einen anderen Menschen zu beherrschen, indem wir in sein Innerstes schauen. Woher wollen wir überhaupt wissen, wie richtig oder falsch unsere Vorstellung von den Wünschen der anderen letzten Endes ist? Was ein Baby will, ist nach der ersten Gewöhnungsphase leicht zu erraten, aber wenn das Kind allmählich Eigenständigkeit entwickelt, wird alles komplizierter. Erwarten wir Frauen, dass die Männer unsere Bedürfnisse erraten wie eine Mutter die ihres Babys, weil wir potenzielle Mütter sind oder weil Frauen eine engere Bindung an Kinder haben als Männer?

Wieso rede ich überhaupt kollektiv von allen Frauen, wo wir doch so verschieden sind? Außerdem geht es hier allein um Jaana. Sie goss Tee in zwei Tassen, rührte Honig in ihre. Riku schmierte sich ein Brot. Ein heimeliger Donnerstagabend, Frühling lag in der Luft, alles war in Ordnung. Oder war es der letzte Abend vor der Katastrophe?

19.3.200X

Heute Morgen stand Riku auf, bevor der Wecker geklingelt hatte. Ich fragte mich, ob eine Absicht dahintersteckte, und beschloss, im Bett zu bleiben und mich schlafend zu stellen. Ich hörte, wie er die Kinder weckte, psst, steht auf, wir wollen Mutti ein Ständchen bringen. Zum Geburtstag viel Glück, Riku sang falsch wie immer, es war eine Qual, aber in so einer Situation kann man sich schließlich nicht die Ohren zuhalten. Ich bekam Geschenke: von Lauri einen selbstgehäkelten Schmuckbeutel, rührend mit all den knotigen Maschen. Lotta kicherte mit der Arroganz der großen Schwester über die Handarbeit, verstummte aber, als ich sagte, genau so einen Beutel hätte ich mir immer gewünscht. Sie hatte mir im Bioladen ein Duschgel mit Rosenduft gekauft, auch ein wunderschönes Geschenk. Riku überreichte mir eine Halskette, die zur selben Serie gehört wie die Ohrringe, die er mir zu Weihnachten gekauft hat. Nach und nach bekomme ich offenbar das komplette Sortiment. Um ihm eine Freude zu machen, habe ich die Kette gleich umgelegt.

Anschließend haben wir ganz normal in der Küche gefrühstückt, werktags geht es nicht anders. Lotta fragte, was für einen Kuchen ich wolle, und bat um Geld für die Zutaten. Ich packte den Toscakuchen, den ich schon am Wochenende gebacken hatte, fürs Lehrerzimmer ein und hoffte, dass er für alle reichen würde. Ich hasse die Geburtstags- und Namenstagskaffees im Kollegenkreis, aber sie sind nun mal ein Muss.

Meine Eltern haben mir das Buch geschickt, das ich mir gewünscht hatte. Ich mache ihnen das Schenken leicht. Warum müssen erwachsene Leute an diesem albernen Ritual festhalten? Die letzte Stunde in der 9B war sozusagen ein negatives Geburtstagsgeschenk, die Jungen hatten nichts anderes im Kopf als das Bier, das sie nach der Schule kaufen wollten, sie waren kaum zu halten. Am liebsten hätte ich gesagt, verpisst euch, ihr kleinen Pinscher.

Nach der Schule herrschte zu Hause Chaos in der Küche, denn Lauri war auf die Idee gekommen, einen Avocado-Hühnersalat für mich zuzubereiten. Er hatte Riku eingeweiht, der die Zutaten besorgt hatte. Eigentlich hätte ich erst nach dem Yoga davon erfahren sollen; Lauri war ziemlich geknickt, weil ich ihm die Überraschung verdorben hatte. Um ihn zu trösten, erklärte ich ihm, ich würde mich beim Yoga gar nicht richtig konzentrieren können, weil ich an die Leckerbissen denken müsste, die mich zu Hause erwarten.

Zum Glück gelang es mir doch, das Konzentrieren. Die Chinmudra war ein Genuss, der Kreislauf kam in Gang, beim Schulterstand wurde mein Kopf ganz klar. Bei der Entspannungsübung am Schluss hatte ich das Gefühl, in warmem Wasser zu schweben. War das eine Rückkehr in vorgeburtliche Zeiten? Oder lag ich in den heißen Quellen auf Island, bei der letzten glücklichen Reise mit Riku? Damals sind wir gierig übereinander hergefallen, sobald wir irgendwo allein waren. Nach dem Wassererlebnis fühlte ich mich ruhig und ausgeglichen, ein Gefühl, das ich festzuhalten versuchte, während ich nach Hause fuhr. Meine drei hatten den Tisch so schön gedeckt, wie sie konnten; die Servietten passten farblich überhaupt nicht, aber ich gab mir Mühe, mich nicht darüber zu ärgern. Riku hatte Wein gekauft, das war sein Anteil am Festmahl.

Die Kulisse ist perfekt, aber Lauri ist der Einzige, der seine Rolle unbefangen spielt. Für Lotta ist diese Zeit vorbei, sie beobachtet Riku und mich, meidet Themen, über die wir uns streiten könnten. Wenn gefeiert wird, benimmt man sich. So war es auch in meinem Elternhaus. Warum erspare ich meinen Kindern dieses steife Getue nicht? Meine Mutter hat immer behauptet, es sei eine Frage der Höflichkeit, der Zivilisation, bei Festen müsse man sich eben richtig zu benehmen wissen. Wie lehrerhaft, wie konventionell.

Vielleicht bieten Konventionen auch Schutz. Keine überraschenden Ereignisse, alles läuft wie gehabt. Kinder lieben Rituale und Vorhersehbarkeit, Lauri will jeden Samstag in die Sauna, obwohl wir sie genauso gut an anderen Tagen heizen könnten. Lotta möchte unnahbar sein, um sich herum Mauern errichten, aber Lauri genießt die Geborgenheit in der Familie noch. Ich erinnere mich an den Untergang der Estonia, Lotta war drei und Lauri ein Jahr alt, und ich behielt die beiden damals tagelang im Auge, konnte kaum schlafen, hätte Riku am liebsten nicht zur Arbeit gehen lassen, wollte ihn sehen, um zu wissen, dass er da war, bei mir, am Leben. Bücher oder Filme, in denen Teenagern etwas Grauenvolles zustößt, finde ich unerträglich. Wenn irgendwer meine Kinder bedrohen würde, wäre ich fähig zu töten. Deshalb wünsche ich mir, dass Riku die Tierversuche aufgibt. Wer garantiert mir denn, dass die Drohungen sich nicht auch gegen meine Kinder richten?

Zwei

Jaana lernt Riku kennen

Jaana und Riku lernten sich auf einer Studentenfete kennen. Sie waren beide zu jung, um schon verzweifelt einen Partner zu suchen. Jaana studierte im fünften Semester, Riku im siebten, nachdem er seinen Militärdienst abgeleistet hatte. Später, als sie sich heftig verliebt hatten, versicherten sie sich gegenseitig, dass sie sich auf jeden Fall irgendwo begegnet wären, weil sie füreinander bestimmt waren. Damals glaubten beide noch daran, dass es für jeden Menschen den einen, einzig richtigen Partner gibt.

22.9.198X

Gestern Fete im Studentenclub. Ich bin bloß hingegangen, weil Merja mich bekniet hat und weil ich nach dem vielen Büffeln Lust auf ein Bier hatte. Warum musste ich mich auch gleich zur ersten Klausur anmelden! Zum Glück lief es ganz gut, für eine Zwei plus wird es wohl reichen.

An unserem Tisch saßen zwei Biologiestudenten. Der eine, kleinere, war ziemlich angetüdelt, aber der größere war ganz in Ordnung. Allerdings kommt er aus Kuopio und spricht einen furchtbar breiten Dialekt.

Ich weiß nicht so richtig, was ich von ihm halten soll. Er heißt Riku und macht einen ganz intelligenten Eindruck, aber seine Klamotten! Er zieht sich an wie ein Opa aus den siebziger Jahren: kariertes Hemd, braune Cordhose und potthässliche Schuhe. Die Brille hat er wahrscheinlich seit dem Abitur nicht mehr gewechselt. Aber irgendwie ist er trotzdem sympathisch. Groß und hager, blonde Locken und eine unglaublich glatte Haut, als hätte er nie Akne gehabt. Gut riechen tut er auch, obwohl er bestimmt kein Rasierwasser verwendet. Dafür, dass er so groß ist, tanzt er erstaunlich gut.

Er hat Merja und mich zum Bus gebracht, mehr nicht. Aber es war schon klar, dass er sich eher für mich interessiert als für Merja. Er hat nach meiner Telefonnummer gefragt, und ich habe sie ihm gegeben. Mal sehen, ob er sich meldet. Ich hab schon seit einer Ewigkeit nichts mehr erlebt. Würde mir vielleicht guttun.

Jaana hätte Riku wahrscheinlich als Computerfreak bezeichnet, wenn es den Begriff in den achtziger Jahren schon gegeben hätte. Wie war Jaana damals? Ich durchforstete mein Gedächtnis und erinnerte mich schließlich, sie in einem literaturwissenschaftlichen Proseminar gesehen zu haben. Sie war Lehramtsstudentin mit Finnisch als Hauptfach, doch sie gab sich alle Mühe, sich im Aussehen uns Literaturstudentinnen anzupassen. Als sie ihr Referat hielt, trug sie eine schwarze Jeans und ein gestreiftes Baumwollshirt. An ihren Ohren baumelten große grüne Vögel von Aarikka, die kurzen Haare hatte sie hennarot gefärbt. Im Übrigen war sie wohl ziemlich still. Ich hatte mir oft gewünscht, der Seminarleiter würde alle Teilnehmenden zwingen, wenigstens einmal etwas zu sagen.

Ich hielt mich damals von den Finnischstudentinnen fern, weil mir nicht einleuchtete, wie jemand auf die Idee kommen konnte, Finnischlehrerin werden zu wollen. Ich versuchte gar nicht erst, sie näher kennenzulernen, und es ist eine Ironie des Schicksals, dass ich jetzt, zwanzig Jahre später, über eine von ihnen schreiben muss. Damals war ich davon überzeugt, mein Leben würde kein langweiliger Einheitsbrei werden, ich würde mich nicht damit zufriedengeben, auf die Ferien und die Pensionierung zu warten, sondern mein Dasein so gestalten, wie ich es wollte. Aber das glaubte Jaana auch, wie aus ihren alten Tagebüchern hervorgeht.

24. 9., 14.15Uhr

Heute früh hat er angerufen, dieser Riku. Mit Nachnamen heißt er Rämesuo. Komischer Name. Ich habe mich für drei Uhr zum Kaffee mit ihm verabredet. Irgendwie hat er wohl doch Eindruck auf mich gemacht, ich habe nämlich plötzlich überlegt, was ich anziehen soll. Dann ist mir aufgegangen, dass ich nicht übertreiben darf. Das grüne Kleid vom Flohmarkt ist gut genug, dazu die schwarze Jeansjacke. Blöd, dass ich keine Zeit mehr habe, mir die Haare zu waschen. Ich bin ein bisschen nervös, weiß der Himmel, warum. Es ist ein sonniger, klarer Tag, man könnte noch draußen sitzen. An Tagen wie diesem sollte man frisch gepflückte, säuerliche Äpfel essen. Wie komme ich jetzt darauf? Ist Riku vielleicht eine verbotene Frucht?

22.00Uhr. Ich bin gerade erst nach Hause gekommen, wir waren spazieren, dann im Kino und zum Schluss noch auf ein Bier. Riku riecht immer noch gut, und er hat Zukunftsträume, genau wie ich. Zuerst hat er Biologie studiert, sich aber jetzt auf Pharmakologie spezialisiert. Er will etwas für die Menschheit tun, ein Medikament gegen Krebs entwickeln oder gegen diese neue Schwulenkrankheit, Aids, über die in letzter Zeit überall hysterisch diskutiert wird. Man kann sich gut mit ihm unterhalten. Obwohl er Naturwissenschaftler ist, interessiert er sich für dasselbe wie ich, für Bücher, Musik und Filme. Und er küsst ziemlich gut, das hat er bewiesen, als wir auf den Bus gewartet haben. Sein Dialekt klingt allerdings fürchterlich. Ich habe ihm noch nicht erzählt, dass ich in derselben Gegend geboren bin wie er. Bei jedem Umzug habe ich den Dialekt gewechselt, aber als Finnischlehrerin darf ich natürlich keinen Dialekt sprechen.

Jaana war eigentlich nirgends ganz zu Hause, denn ihre Familie war immer wieder umgezogen, weil der Vater versetzt wurde. Sie war in Mikkeli geboren, hatte dann in Jyväskylä gewohnt, wo sie eingeschult worden war. Zwei Jahre später war Familie Järvelä nach Nokia gezogen, von dort nach Turku. Die beiden letzten Schuljahre hatte Jaana in Kouvola absolviert. Ihre Mutter war Bauzeichnerin, fand aber nicht an jedem neuen Wohnort eine Stelle und übernahm alle möglichen Aushilfsjobs, obwohl ihr Mann, Einkaufsleiter eines internationalen Stahlkonzerns, gern prahlte, er könne seine Familie auch allein ernähren.

Schon als junges Mädchen hatte Jaana beschlossen, sich nie von einem Mann abhängig zu machen; sie träumte von einem Leben als Single. Allerdings war sie als Schülerin immer wieder unglücklich verliebt gewesen, mal in diesen, mal in jenen, besonders heftig und anhaltend in ihren sechs Jahre älteren Vetter Henkka, der Gedichte schrieb und Cello spielte. In Jaanas Elternhaus hielt man sich an die alten Geschlechterrollen. Ihr kleiner Bruder brauchte nie im Haushalt zu helfen, Hausarbeit war Weiberkram. Meiner Ansicht nach kann gar kein Zweifel daran bestehen, dass Jaana in Riku einen Gegenpol ihres Vaters suchte, einen liebevollen, zu einer gleichberechtigten Beziehung fähigen Mann.

Jaana schämte sich für die Tagebücher aus ihrer Teenagerzeit und wollte sie mir anfangs nicht zu lesen geben, aber ich erklärte ihr, dass ich ihr ganzes Leben kennen müsse, wenn ich über sie schreiben solle, denn sonst könne ich kein vollständiges, glaubhaftes Bild von ihr zeichnen. Nachdem ich alle Tagebücher gelesen hatte, trafen wir uns ein paarmal. Ich besuchte Jaana in ihrem Haus in Kirkkonummi, und einmal, als ich zu einer Lesung nach Turku fuhr, sah ich mir dort das Haus an, in dem sie als Schülerin gewohnt hatte. In Kouvola war ich während des Schreibprozesses nicht, aber ich kannte die Stadt von Verwandtenbesuchen und Lesereisen.

Als Teenager hatte Jaana ähnlichen Blödsinn getrieben wie ich. Vor der Entdeckung des HI-Virus bestand das Risiko von ungeschütztem Sex hauptsächlich darin, schwanger zu werden, von Geschlechtskrankheiten sprach kaum jemand. Wir wussten zwar, wie man sich schützen konnte, aber die wenigsten Mädchen waren mutig genug, Kondome zu kaufen, und die Pille bekam man nur, wenn man behauptete, einen festen Freund zu haben. Obwohl Jaana in den letzten Jahren vor dem Abitur in einer größeren Stadt wohnte als ich, war es die gleiche Kleinstadtmentalität, die sie prägte.

27.7.198X

Wir haben alle drei Mist gebaut, Anne, Taru und ich. Jede von uns kann schwanger sein, weil wir uns nicht getraut haben, nach Parisern zu fragen, und nach ein paar Gläsern Apfelwein waren wir eben bereit, mit den Jungs mitzugehen, weil es zufällig genauso viele waren wie wir. Irgendwelche Landeier aus Kuusankoski, auch das noch. Wir haben uns überlegt, was wir unseren Eltern vorschwindeln, falls eine von uns tatsächlich schwanger ist und abtreiben muss. Wenn es nur eine erwischt hat, kommen wir klar. Aber wenn wir alle drei Pech gehabt haben, wird’s schwierig.

Ich mag gar nicht daran denken, was eine Abtreibung bedeutet. Es gibt ja keine Alternative. Kann man so was heil überstehen?

30.7.198X

Ich hab meine Tage gekriegt. Bei Anne haben sie schon gestern angefangen, jetzt bibbern wir noch zwei Wochen wegen Taru. Ich will diesen Eppu nie mehr sehen. Zum Glück habe ich ihm eine erfundene Telefonnummer gegeben, und wie ich mit Nachnamen heiße, weiß er nicht. Jedenfalls werde ich nie mehr im Suff so einen Quatsch machen. Der Sex war auch gar nicht so toll. Ich musste an die Skiausflüge als Kind denken, wenn die Skier nicht richtig gleiten wollten und ich mit Gewalt versucht habe, voranzukommen. Eppu hat nach Pfefferminz gerochen. Ich trinke nie wieder Pfefferminztee.

In den Büchern heißt es immer, Sex ist toll, phantastisch. Wahrscheinlich muss man es aus Liebe machen und nicht bloß, um es mal auszuprobieren. Aber es kann doch wohl nicht sein, dass die bigotten Frömmler recht haben und man warten muss, bis der eine Einzige kommt?

15.8.198X

Taru hat ihre Tage immer noch nicht, und morgen fängt die Schule wieder an. Verdammter Mist! Taru wird erst im November achtzehn. Werden die Eltern informiert, wenn eine Minderjährige in die Klinik kommt? Braucht man ihre Erlaubnis für eine Abtreibung? Taru ist total hysterisch. Anna geht jetzt fest mit ihrem Typ, Markku heißt er. Als ich gestern Eppu vor der Bücherei gesehen habe, bin ich weggerannt. Er schien allerdings auch keine Lust zu haben, mich wiederzusehen. Stimmt es wirklich, dass Jungs immer nur das Eine wollen? Anne sagt, sie lässt sich jetzt die Pille verschreiben. Scheint was Ernstes zu werden mit diesem Markku. Taru und ich haben ihm gesagt, er soll seinen Freunden ausrichten, dass wir kein Interesse mehr haben.

Werden Abtreibungen auch am Wochenende gemacht? Dann könnte Taru behaupten, sie wäre bei mir gewesen. Unsere Eltern kennen sich zum Glück nicht. Taru heult, Abtreibung wäre Mord. Ich habe ihr im Biologiebuch ein paar Fakten rausgesucht. Der Embryo fühlt noch nichts. Aber Taru schon.

Anfang September stand fest, dass Taru schwanger war. Sie entschied sich für eine Abtreibung, obwohl sie entsetzliche Angst davor hatte. Auf keinen Fall wollte sie ihren Eltern erzählen, was passiert war. Anfang der achtziger Jahre war es undenkbar, dass Jugendliche mit ihren Eltern über sexuelle Erlebnisse sprachen. Dieses Thema war immer noch tabu.

«Wenn ich Mutters Unterschrift in meinem Abwesenheitsheft fälsche, kann ich das ganze Jahr nicht mehr in der Schule fehlen!», beklagte sich Taru bei Jaana, die dieses Problem für ziemlich nebensächlich hielt. Taru würde zwar nur eine Nacht in der Klinik verbringen müssen, aber zwei Schultage versäumen.

«Dann sagst du eben, du warst bei mir und bist krank geworden. Das prüft doch keiner nach.»

Taru spielte ihre Rolle, so gut sie konnte, aber die Sache ging dennoch schief. In der Klinik wurde sie unfreundlich behandelt und bekam zu wenig Schmerzmittel. Offenbar wurde auch der Eingriff selbst nicht sorgfältig ausgeführt.

12.9.198X

Es ist ganz furchtbar. Taru blutet immer noch, und jetzt soll sie übers Wochenende zu ihrer Oma fahren und bei der Kartoffelernte helfen. In ihrem Zustand kann sie doch keine schwere Arbeit tun! Ich habe ihr geraten zu sagen, sie hätte fürchterliche Menstruationsbeschwerden, damit wäre auch die Blutung erklärt, aber sie meint, das wäre ihr zu peinlich. Mutti hat mich vorhin gefragt, warum ich so nervös bin. Ich habe gesagt, wegen der Schule, die Lehrer machen uns verrückt mit ihren Schauergeschichten von der Abiturprüfung. Jetzt ruft sie mich ans Telefon…

Zehn Minuten später. Es war Taru. Sie hat geheult und geschrien. Sie ist jetzt bei ihrer Oma und blutet und blutet, hat keine Binden mehr, und der Bauch tut ihr furchtbar weh. Sie will, dass ich unseren Wagen nehme und ihr Binden bringe. Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, aber was soll ich zu Hause sagen? Gibt Vati mir das Auto überhaupt? Wie schaffe ich es, allein da hinzufahren? Mir tut der Bauch weh, als wäre da jemand drin und wollte raus. Schlecht ist mir auch.

13.9.198X

Die Katastrophe. Taru ist wieder im Krankenhaus, sie hat irrsinnig viel Blut verloren. Bei der Abtreibung muss irgendwas total falsch gelaufen sein. Taru war ohnmächtig geworden, ihre Oma hat sie in einer Blutlache gefunden und den Krankenwagen gerufen, bevor ich ankam. Ich musste dann ihren Eltern erklären, was passiert war. Tarus Vater sah aus, als wollte er mit den Fäusten auf mich losgehen. «Taru hat doch gar keinen Freund. Wer war das?», hat er gefragt. Bei uns zu Hause hat Mutti gesagt, wenn ein Mädchen sich nicht schämt, mit einem Jungen ins Bett zu gehen, darf es sich auch nicht genieren zu verlangen, dass er verhütet. Es war total peinlich, zum Glück weiß sie nicht, dass ich mit diesem blöden Eppu geschlafen habe.

Als ich von Tarus Oma nach Hause gefahren bin, musste ich nach fünfhundert Metern anhalten und mich übergeben. Das war so eklig, dass ich gleich nochmal kotzen musste. Später musste ich dann noch einmal rechts ranfahren, weil ich an Taru gedacht habe und vor lauter Tränen nichts mehr sehen konnte. Taru wird es überleben, aber sie wird vielleicht nie mehr Kinder kriegen können. Ein furchtbarer Preis für einen einzigen Fick. Erst siebzehn und schon das ganze Leben verpfuscht.

Auch wenn Jaana selbst in ihren Tagebüchern keine Verbindung zwischen Tarus Abtreibung und ihrer eigenen Furcht vor sexuellen Beziehungen herstellt, war Tarus Schicksal meiner festen Überzeugung nach einer der Gründe, weshalb Jaanas spätere Beziehungen auf der Schmusestufe stehenblieben und warum sie jedes Mal die Flucht ergriff, wenn ein Freund mehr forderte. Riku war der Erste, mit dem sie es ernst meinte. Er versuchte keineswegs beim ersten Date, sie ins Bett zu kriegen, auch beim fünften noch nicht. Jaana fand das einerseits angenehm, andererseits irritierend. War sie ihm nicht gut genug? Sie teilte sich mit einigen anderen Mädchen eine Studentenwohnung, aber das wäre kein Hindernis gewesen, denn ihre Mitbewohnerinnen hatten auch Besuch von ihren Freunden. Riku wiederum hatte ein kleines Zimmer in einem Studentenwohnheim. Und dort, in Rikus schmalem Bett, schliefen sie Ende November zum ersten Mal miteinander. Danach klangen Jaanas Tagebucheintragungen euphorisch. Endlich war Sex für sie so schön, wie er in Büchern beschrieben wurde.

3.12.198X

Ich finde keine Worte. Früher habe ich über die überschwänglichen Vergleiche mit Feuerwerk oder Wirbelsturm gelacht. Ich fühle mich, als läge ich in warmem, weichem Wasser. Eigentlich müsste ich ja fähig sein, meine Empfindungen zu beschreiben, immerhin soll ich bald Schüler zu exaktem Sprachgebrauch anhalten. Aber es geht hier nicht um Worte, auch nicht um die Gehirntätigkeit, sondern um den Körper, um die Haut, um das Verschmelzen mit einem anderen Menschen. Komm in mich, sei überall in mir, mach mit mir, was du willst. Ich bin deine Puppe, du kannst mich in jede Stellung biegen, die dir gefällt, du darfst mich überall berühren. Wenn du mich nur berührst, so oft wie möglich.

Riku und Jaana gingen nicht nur zusammen ins Bett, sie redeten auch viel miteinander. Sie wollten sich kennenlernen, alles erfahren, was der andere bisher erlebt hatte. Sie unterhielten sich im Studentencafé, in der Universität, in Jaanas Bude, in Kneipen, am Telefon, oft stundenlang und mehrmals am Tag. Auch Riku konnte gesprächig sein, wenn ihm jemand kritiklos zuhörte. Es gab jedoch einige Themen, über die Jaana nicht zu sprechen wagte.

28.12.198X

Warum in aller Welt habe ich Riku gefragt, ob wir uns im Zugklo lieben sollen? Wahnsinnige Lust hatte ich schon. Aber denkt er jetzt, ich wäre sexbesessen? Wir leben immerhin in den Achtzigern, da darf doch wohl auch mal die Frau die Initiative ergreifen? Madonna oder Hure, das Frauenbild ist doch Schrott. Aber trotzdem – was hat mich plötzlich so verändert? Oder bedeutet Verliebtheit einfach nur, dass man ständig Sex haben will? Riku hat ja auch andere gute Seiten, man kann wirklich mit ihm reden. Er ist der einzige Mann, außer Henkka natürlich, der akzeptiert, dass auch ich ein funktionierendes Gehirn habe. Vater hat immer seine alte Leier heruntergebetet, Mädchen verstünden nichts von Mathematik und Frauen würden nie richtig Auto fahren lernen. Wahrscheinlich hat er mich den Führerschein nur machen lassen, damit ich ihn chauffieren kann, wenn er getrunken hat. Ist ihm ganz recht geschehen, dass ich gleich danach aus Kouvola weggezogen bin.

Riku hat mich verstanden, als ich ihm erklärt habe, dass ich Finnisch studiere, um unter all den Schichten, die sich aus den verschiedenen Dialekten angesammelt haben, meine eigene Sprache zu finden. Selbst Henkka hätte das nicht besser verstehen können. Ich habe immer Angst, Fehler zu machen, jede Äußerung soll perfekt sein. Man muss nach Perfektion streben und zugleich akzeptieren, dass man sie nie erreicht, hat Riku darauf geantwortet.

Ich brauche also nicht perfekt zu sein. Vielleicht sollte ich Riku offen fragen, ob es ihn stört, wenn ich die Initiative ergreife. Werde ich es wagen?

14.5.200X

Wir sind heute seit langem wieder einmal zusammen zur Arbeit gefahren. Solche Momente, in denen wir zu zweit sind, gibt es nur selten, gerade als würden wir sie bewusst vermeiden. Wir benutzen die Kinder als Airbags, die sich aufblasen, wenn wir uns auf die Nerven gehen.

Unterwegs haben wir kaum geredet. Das einzige Gesprächsthema war Lauris neues Fahrrad. Riku will am Wochenende mit dem Jungen losziehen und es kaufen.

Ansonsten schiere Stummheit, die mich so traurig machte, dass ich am liebsten geschrien hätte. Wo ist die reißende Wortflut geblieben, mit der wir uns überschüttet haben? Die Worte werden nicht einmal von irgendeinem Damm zurückgehalten, der ganze Fluss ist ausgetrocknet, nur ein paar Steine reiben sich noch auf dem Grund. Und ich will es gar nicht anders. Ich möchte nicht, dass Riku mir das Ausmaß seiner Niedergeschlagenheit zeigt. Auch ich selbst will die Gleichgültige spielen. In mein Pseudotagebuch schreibe ich irgendwas in dieser Art.

14.5.200X

Man behauptet, nur Menschen, die sich voll und ganz vertrauen, könnten über längere Zeit unbefangen miteinander schweigen. So ist es wohl bei Riku und mir. Wir kennen uns auch ohne Worte, wir wissen, was der andere denkt. Heute war zum Beispiel klar, dass ich beim Kauf von Lauris neuem Fahrrad nicht gebraucht werde, das ist eine Sache zwischen Vater und Sohn.

Endspurt in der Schule, nur noch ein paar Klassenarbeiten stehen an. Wenn die Ferien anfangen, will ich wie eine faule Katze in der Sonne liegen und alle Bücher lesen, die sich im Lauf des Winters angesammelt haben.

11.1.198X

Ich bin ganz beklommen, fühle mich irgendwie defekt. Bin ich frigide? Aber so nennt man doch nur Frauen, die überhaupt keinen Sex wollen? Ich aber will mit Riku schlafen, sogar viel öfter als er mit mir, und das ist mir peinlich, bloß komme ich immer nur dann, wenn er es mir mit dem Mund oder den Fingern macht, nicht beim normalen Koitus. Vielleicht stört ihn das, vielleicht macht er deshalb bald Schluss mit mir.

Riku hat nicht viele Sachen in seiner Bude, aber er hat mir ein paar Fotos von seiner Familie gezeigt, die in Kuopio wohnt. Seine Mutter hätte es gern gesehen, wenn er dort geblieben wäre und Medizin studiert hätte, aber Riku wollte möglichst weit weg von zu Hause, und er meint, zum Arzt taugt er nicht. In dem Beruf hat man viel mit Menschen zu tun, und Riku ist ein bisschen schüchtern. Er meint, ich würde eine gute Lehrerin werden, weil ich so lebhaft bin und mit allen Leuten auskomme. Er ist ziemlich wortkarg, wenn Fremde dabei sind, aber unter Bekannten quasselt er so viel wie jeder andere. Nur gut, dass er nicht permanent im Mittelpunkt stehen will wie mein Vater.

Auf ein paar Fotos war auch ein Mädchen, Anu. Riku wurde ganz verlegen, als er ihren Namen nannte. Sie sieht total anders aus als ich, sehr mager, kurze blonde Haare. Ich hätte gern mehr über sie erfahren, aber ich habe mich geniert, nachzubohren. Vielleicht frage ich Pasi, Rikus Freund. Er feiert am Samstag sein Examen, wir gehen zusammen hin. Die erste Party als Pärchen.

Auf dem Weg zu der Party erzählte Riku Jaana von Anu, bevor ihm jemand zuvorkommen konnte. Anu sei seine Freundin gewesen, sagte er, aber nach einer Weile habe er sich von ihr getrennt. Sie habe allerdings heftig geklammert, sodass er ziemlich barsch werden musste, um ihr klarzumachen, dass er sie nicht mehr liebte. Als Riku davon erzählte, flackerte etwas in ihm auf, das Jaana in ihrem Tagebuch mit den Worten beschrieb: «eine seltsame, kalte Entschlossenheit, von der ich hoffe, dass sie sich nie gegen mich richtet». Auf der Party begegneten Rikus Freunde Jaana mit Neugier und Eifersucht. Riku gehörte zu ihnen, und Jaana stellte eine Bedrohung dar, denn sie würde ihnen Riku womöglich wegnehmen.

14.1.198X

Die Party war ganz okay, wenn man bedenkt, dass ich außer Riku keinen kannte. Ich bekam immer wieder zu hören, was für ein toller Kerl Riku ist, immer bereit zu verrückten Sachen. Pasi hatte Hasengulasch gekocht, angeblich aus den Versuchskaninchen des Pharmakologischen Instituts. Ich weiß nicht recht, ob ich ihm das abnehmen soll, und auch bei den diversen Streichen, die er mit Riku ausgeheckt haben will, bin ich skeptisch. Angeblich sind sie einmal sogar verhaftet worden, weil sie versucht haben, den Wachposten vor dem Präsidentenpalais zum Lachen zu bringen, und ein anderes Mal haben sie an der Fahnenstange vor Pasis Haus eine Piratenflagge gehisst, die sie in irgendeiner Kneipe geklaut hatten. Vielleicht wollte Pasi nur testen, ob ich Spaß verstehe. Bei einigen seiner Witze wusste ich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Außerdem begreife ich nicht, warum er mit so einem fürchterlichen Siebziger-Jahre-Schnurrbart rumläuft. Aber ansonsten ist Pasi nett, er glaubt, dass Riku eines Tages ganz groß herauskommt. «Der Nobelpreis ist das Mindeste.» Riku hat tatsächlich etwas von einem versponnenen Wissenchaftler, aber er ist auch witzig. Das ist wohl jetzt die Liebe, die echte. Kein Henkka und auch sonst kein Phantom. Jedenfalls habe ich die ganze Zeit Lust, und außerdem kann man mit Riku über alles reden.

Riku war ein Naturfreund, beobachtete Vögel und Pflanzen und wanderte gern stundenlang durch den Wald. Gemeinsam nahmen er und Jaana an den letzten Friedensmärschen teil. Sie interessierten sich beide nicht für Parteipolitik, doch vermutlich gehörten sie zu denjenigen, die von Anfang an die Grünen wählten – und das, obwohl Riku bei seiner Arbeit Tierversuche machte. Der Gedanke daran war Jaana anfangs unheimlich, doch sie verließ sich darauf, dass Riku wusste, was er tat. Er erklärte ihr glaubhaft, man könne nicht jedes Heilmittel ohne Tierversuche erforschen, aber er achte darauf, die Tiere nicht unnötig leiden zu lassen.

Zu Beginn ihrer Beziehung konnte Jaana natürlich nicht ahnen, dass Rikus Arbeit einmal der ganzen Familie Probleme bereiten und dass sie schließlich sogar um das Leben ihrer Kinder bangen würde. Jaana genoss die langen philosophischen Gespräche mit Riku. Damals konnten sie noch miteinander reden, ohne zu streiten, obwohl beide auch da schon Angst vor Meinungsverschiedenheiten hatten. Jaana gab meist als Erste nach. Ihre Lieblingsschriftsteller, denen Riku oft nicht viel abgewinnen konnte, verteidigte sie allerdings vehement.

Etwa zwei Jahre nach ihrer ersten Begegnung beschlossen Jaana und Riku, zu heiraten. Über den Heiratsantrag war aus Jaanas Tagebuch nichts zu erfahren. Die Trauung fand in der Paulskirche in Helsinki statt, gefeiert wurde in einem nahegelegenen Restaurant. Damals war es nicht üblich, pompöse Hochzeiten zu feiern, die jahrelange Planung voraussetzten. Jaana legte keinen Wert darauf, die Prinzessin zu spielen, wichtig war ihr nur, dass Riku ihr gehörte. Beide glaubten fest daran, dass sie einen Bund fürs Leben schlossen. Sie wussten nicht, dass ihre Ehe in einer Tragödie enden würde, deren wahres Wesen auch ich erst nach und nach erkannte, nachdem ich zur Mitakteurin in einem unerwartet grausamen Spiel geworden war.

Drei

Die Tierschützer

Da ich anfangs an Jaanas Ehrlichkeit zweifelte, beschloss ich, bei den Vorarbeiten zu meinem Buch außer ihren und Rikus Tagebüchern weitere Quellen zu verwenden. Rikus Arbeitgeber, der multinationale Pharmakonzern Heine & Carlsbad, hatte wesentlichen Anteil an dem, was Riku widerfuhr.

In den ersten Jahren des 21.Jahrhunderts begann Heine & Carlsbad mit der Entwicklung eines neuen Antidepressivums. Für die Grundlagenforschung wurden Ratten verwendet, bei denen man in einem Wasserbecken Depressionszustände auslöste. Riku beschrieb das Experiment so:

20.8.200X

Heute haben wir die Rattenversuche mit dem Porsolt-Schwimmtest eingeleitet. Diesen Test könnte man sogar Kindern vorführen, zumindest den Anfang. Man setzt die Ratten in ein mit fünfundzwanzig Grad warmem Wasser gefülltes kleines Becken, aus dem sie nicht herausklettern können. Eine normale Ratte schwimmt, eine deprimierte dagegen rührt sich nicht mehr. Wir messen die Zeit, die vergeht, bis die Depression einsetzt. Die Ratten gehen nicht unter, es passiert ihnen nichts.

In der zweiten Phase des Experiments gewöhnen wir die Tiere daran, dass es unter Wasser eine erhöhte Fläche gibt, auf der sie sich ausruhen können. Die Ratten sehen das Podest nicht, aber sie lernen schnell, wo es sich befindet. Wenn sie es dann nicht wiederfinden, weil es entfernt oder an einer anderen Stelle angebracht wurde, werden sie depressiv.

Solche Schwimmtests haben Pasi und ich zuletzt während des Studiums durchgeführt. Der härteste Bursche war eine Ratte, die wir Ilmari getauft haben. Sie schwamm und schwamm. Pasi hat ein wenig Ähnlichkeit mit Ilmari. Er braucht kein Podest.

Rikus Tagebucheintragungen waren knapp, und Jaana kannte bei weitem nicht alle Einzelheiten, die mit der Arbeit ihres Mannes zusammenhingen. Um weitere Informationen zu erhalten, bat ich Jarmo Roivas, Rikus unmittelbaren Vorgesetzten, um ein Gespräch. Es war schwierig, ihn zu erreichen, doch schließlich erklärte er sich bereit, mich zu empfangen. Er kam eine Dreiviertelstunde zu spät, und während ich auf ihn wartete, sprach ich mit Rikus ehemaligen Kollegen, denen ich weismachte, Roivas habe die Befragung autorisiert. Natürlich äußerten sich alle erschüttert über Rikus Entscheidung, aber darüber hinaus sagten sie nicht viel. Immerhin erfuhr ich, dass Riku sich bereits vor mehreren Jahren in sich verkrochen hatte, nicht mit den Kollegen ausgegangen war und außerhalb der Dienstzeit keinen Umgang mit ihnen gehabt hatte. Der ehemalige Witzbold und Naturfreund war still und verschlossen geworden.

«Ich habe ihn im letzten Frühjahr eingeladen, mit mir und ein paar anderen Freunden in Kopparnäs einen Vogelturm zu bauen», erzählte einer der Laborgehilfen. «Als unsere Kinder klein waren, haben wir oft zusammen Ausflüge gemacht und Vögel beobachtet. Einfach nur, um mal aus dem Haus zu kommen.» Er grinste, wurde aber gleich wieder ernst, als wäre ihm plötzlich der Gedanke gekommen, ich als Frau würde seine Bemerkung vielleicht missbilligen. «Aber dazu hat er sich schon lange nicht mehr aufgerafft. Ob die Hobbys der Kinder seine Zeit aufgefressen haben oder ob er unter dem Pantoffel stand, wer weiß? Riku hat kaum noch gesprochen, und wenn, dann nur über berufliche Dinge. Aber dass er so etwas tut, hätte ich trotzdem nicht geglaubt. Es war doch alles in Ordnung in seinem Leben, oder?» Der Mann schüttelte ratlos den Kopf und fragte dann, ob die Ermittlungen Fortschritte machten. Offenbar hielt er mich für eine Kriminalbeamtin. Im selben Moment kam Roivas’ Sekretärin und teilte mir mit, der Direktor erwarte mich. Roivas entschuldigte sich mit einigen belanglosen Worten für die Verspätung. Er erklärte gleich zu Beginn unseres Gesprächs, Rikus Schicksal habe ihn nicht überrascht.

«Rämesuo war ein guter Wissenschaftler, aber in den letzten Jahren hat er zunehmend an der Bedeutung seiner Tätigkeit gezweifelt. An sich ist Zweifeln in unserem Beruf natürlich gut und richtig, Neues entsteht nur, wenn man das Alte in Frage stellt. Ich glaube, der Auslöser war die Antidepressivaforschung, über die sich diese Tierschützer so aufgeregt haben.» Roivas unterbrach sich und sah mich scharf an.

«Sie wollen ein Buch über den Fall schreiben? Eine Dokumentation? Bisher haben Sie doch nur Belletristik geschrieben, erfundene Geschichten, nicht wahr? Für so etwas habe ich keine Zeit, ich lese nur Bücher über Fakten.» Roivas überlegte kurz, bevor er fortfuhr: «Unsere Firma wird in Ihrem Buch namentlich erwähnt, nehme ich an. Deshalb bestehe ich darauf, Ihren Text zu überprüfen, bevor er in Druck geht. Wir können nicht zulassen, dass irgendwelche Informationen über unsere Produktentwicklung vorzeitig publik werden.»

«Ich interessiere mich nicht für Ihre Firma als solche, sondern für Riku Rämesuo. Die militante Tierschutzorganisation ‹Stoppt die Tierversuche e.V.› hat vor einigen Jahren begonnen, ihn unter Druck zu setzen, so viel weiß ich bereits, aber mir ist nicht klar, warum man gerade auf ihn verfallen ist. In unserem Land werden jährlich zigtausend Tierversuche durchgeführt. Waren Rämesuos Experimente besonders unethisch?»

«Keinesfalls! Depression ist eine Volkskrankheit. Als Schriftstellerin haben Sie doch sicher beobachtet, wie weit verbreitet psychische Probleme sind? Rämesuos Arbeitsgruppe hat zu Forschungszwecken versucht, bei Ratten Stress und Depressionen auszulösen, aber bei uns wird genauestens darauf geachtet, dass die Versuchstiere unter anständigen Bedingungen leben, das ist ja auch gesetzlich vorgeschrieben.»

«Und was bedeutet ‹unter anständigen Bedingungen›?»

«Geräumiger Käfig, Auslauf, regelmäßige Fütterung.» Roivas sah mich wieder misstrauisch an. «Was hat das überhaupt mit Rikus Verschwinden zu tun? Nach den Erkundigungen, die ich über Sie eingeholt habe, sind Sie eine Art feministische Autorin. Leute wie Sie lehnen häufig auch Tierversuche ab. Worauf sind Sie eigentlich aus?»

«Ich möchte die Geschichte von Jaana Järvelä-Rämesuo und Riku Rämesuo erzählen, und zwar so wahrheitsgetreu wie möglich. Es ist keineswegs meine Absicht, Heine & Carlsbad zu attackieren», erwiderte ich lächelnd, denn lächelnde Frauen gelten als nett und kontrollierbar. Ich versuchte, möglichst vertrauenswürdig zu wirken und einen guten Eindruck auf Jarmo Roivas zu machen. Auf dem Gesicht des durchtrainiert wirkenden Mannes perlte der Schweiß. Offenbar war sein dunkelblauer Anzug zu warm.

«Sie haben also absolut nichts mit dem Verein ‹Stoppt die Tierversuche› zu tun?»

Ich stritt jede Verbindung ab, obwohl ich einige Aufrufe gegen Pelztierzucht unterzeichnet hatte. Meine persönliche Meinung war unerheblich, es ging um Rikus Geschichte.

Roivas gab sich einen Ruck. «Vor gut zwei Jahren hatten wir eine neue Tierpflegerin hier. Nennen wir sie meinetwegen Maija. Es wäre wohl eine Verletzung ihrer Privatsphäre, wenn ich Ihnen ihren richtigen Namen sagen würde. Diese Maija arbeitete unter Rikus Aufsicht. Aber sie hatte keineswegs gute Absichten. Offenbar hatte sie die Ausbildung zur Tierpflegerin nur gemacht, um Forschungsprojekte sabotieren und ausspionieren zu können. Leider haben wir sie vor der Einstellung nicht sorgfältig genug überprüft. Es stellte sich bald heraus, dass sie interne Informationen weitergab, nicht etwa an unsere Konkurrenten, sondern an die radikalen Tierschützer. Eines Morgens Anfang September standen die dann vor dem Labor und demonstrierten.»

«Was haben die Demonstranten getan?», fragte ich, obwohl ich die Zeitungsartikel über den Zwischenfall gelesen hatte. Roivas’ Darstellung deckte sich mit den Presseberichten. Zu der Kundgebung hatten sich etwa zwanzig Mitglieder des Vereins «Stoppt die Tierversuche» eingefunden, vorwiegend junge Frauen und Männer, aber auch zwei längst pensionierte Omas, wie Roivas sich ausdrückte. Die Demonstranten hatten lediglich vor dem Tor zum Firmengelände gestanden und niemanden daran gehindert, das Labor zu betreten, doch Roivas hatte ihr Verhalten als bedrohlich empfunden.

«Ihr Hass richtete sich speziell gegen Riku. Er fuhr ja meist mit dem Zug zur Arbeit, aber an diesem Morgen kam er im Auto. Vielleicht hat das die Demonstranten noch zusätzlich gereizt. Diese Maija hatte der Gruppe offenbar ein Bild von Riku gegeben, denn er wurde sofort identifiziert. Wir anderen hatten ungestört ins Haus gehen können, aber Riku wurde mit Schmährufen bedacht, als Folterknecht und Tierquäler beschimpft. Idiotischerweise fing er an, auf die Demonstranten einzureden. Als ob man mit diesen Leuten vernünftig diskutieren könnte!»

Auch in Rikus Tagebuch hatte ich eine Schilderung dieses Tages gelesen. Er hatte gerade um diese Zeit begonnen, regelmäßiger Tagebuch zu führen, während er zuvor meist nur Reiseeindrücke notiert hatte.

9.9.200X

Mir ist seltsam zumute, ich bin ganz verwirrt. Ich hätte nie erwartet, dass man mich angreift, obwohl ich von einigen Kollegen gehört habe, denen Ähnliches passiert ist. Heute bin ich ausnahmsweise mit dem Auto zur Arbeit gefahren, weil man auf dem Marktplatz in Kirkkonummi Sondermüll abgeben konnte und ich einen Haufen gebrauchte Batterien und unsere alte Mikrowelle loswerden wollte. Normalerweise kümmert sich Jaana um diese Dinge, aber sie hatte heute schon um acht eine Sitzung mit der Schulpsychologin.

Als ich dann bei HC ankam, stand eine Menschentraube vor dem Labor. Zuerst begriff ich gar nicht, was los war. Eine Demonstration. Warum ausgerechnet jetzt, habe ich überlegt. Da brüllten sie mich plötzlich an. Ich habe gefragt, was sie eigentlich von mir wollten. Daraufhin haben sie gerufen, sie wüssten, dass ich Ratten quäle, indem ich sie in Depressionen treibe. Am liebsten hätte ich geantwortet, nur Pferden gibt man den Gnadenschuss, aber das hätten sie wohl nicht kapiert. Also habe ich gesagt, genau dasselbe tut man die ganze Zeit mit Menschen, und ebendas will ich ändern. Da flog der erste Salatkopf. Er war nicht direkt auf mich gezielt, aber ich habe mich doch ein bisschen erschrocken.