Idiocracy - Zoran Terzić - E-Book

Idiocracy E-Book

Zoran Terzić

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Beschreibung

Jenseits der universellen Geschichte menschlichen Unvermögens gibt es heute eine neue Qualität des Idiotentums. Während der alte Idiot aus der Isolation ein Wissen bezog, verweigert sich der neue Idiot jeglichem Weltverständnis. Er erscheint ­nurmehr als die Figur einer systemischen Inkompetenz, die bis in die letzten Ver­zweigungen des politischen und medialen Lebens ihre Wirkung entfaltet und dabei neue, meist völlig absurde Kompetenzen ausbildet.
Die heutigen Debatten über »Fake News« oder »postfaktische Gesellschaft« können in dieser Perspektive auch als Anzeichen einer umfassenden Transformation von Formen der Selbstpolitik gelesen werden, in der das Absurde das Bild der Realität neu definiert. Denn während viel von globalem Bewusstsein und Gemeinschaft die Rede ist, scheint der Solipsismus des idiotischen Subjekts unterschwellig eine umso wirksamere Rolle zu spielen. Als isoliertes Selbst der Vielen bildet es das leere Zentrum eines planetarischen, sich um sich selbst drehenden Idiotismus.
Zoran Terzićs ebenso weit gespannter wie detailscharfer Essay nimmt die kulturhistorische Gestalt des Idioten auf und verfolgt deren Figurationen entlang seiner zahlreichen Auftritte in der Geistesgeschichte, um jenseits einer hypertrophen Gegenwart Idiotie als Kunst in den Blick zu nehmen.

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Idiocracy

Zoran TerzicIdiocracyDenken und Handeln

im Zeitalter des Idioten

DIAPHANES

Inhalt

1

Entspiegeltes Selbst

Null-Ausdruck 13

Tour d’idiot – Zur Geschichte des besonderen Menschen 21

Idiotypen 43

Zwei Horizonte des Idioten 59

Niederste Zusammenfügung 93

Entspiegeltes Selbst: Das Sein vor dem Sein 129

2

Idiokratie

Null-Ausdruck der Gesellschaft 151

Idiotie als politisches Paradigma 161

Der Wille zum Absurden 183

Transzendentaler Trump 189

Ineffekte – Zur Dialektik der Inkompetenz 203

Die Denkpolitik des Idioten 231

Das frenetische Subjekt 243

Ménage à un – Die privaten Leben des Idioten 257

Der Einzige 271

Wendys Welt – Überlegungen zum planetarischen Idiotismus 291

Phänomenologie der Vielen 309

Idiopraxis 327

Literatur 341

●○

„Es gibt zu viele Idioten auf dieser Welt“, schrieb einmal Frantz Fanon und fügte sofort hinzu, dass er einen Beweis schuldig sei. Denn die Kriterien dafür, warum man jemanden für einen Idioten hält, variieren stark. Aus der Ferne sehen alle Idioten gleich aus. Nähert man sich, entdeckt man Überraschendes: sich selbst. Der Idiot, ob als ‚hirnloser‘ Naivling, Anti-Held, „großer Blonder mit dem schwarzen Schuh“ oder als kultischer Untergänger eines konsumgetränkten Alltags, interpretiert die Welt nicht erst, bevor er sie verändert. Er ist ein besinnungsloser Sinnträger und daher auch ein Zeichen seiner Zeit. Botho Strauß sieht ihn als „Inbild“ unseres Jahrhunderts aufblitzen. Der Idiot ist der fiktive Symptomträger der Wirklichkeit, und er ist die reale Manifestation einer auf Fiktionen fußenden Ökonomie – sowohl ein Symptom für die Massen­blindheit gegenüber den Herrschaftsverhältnissen als auch deren ­Saboteur. Was sagt uns seine Existenz über die Gegenwart?

‚Idiot‘ war in der Antike noch ein politischer Begriff und wurde erst im Laufe der Zeit zum Ausdruck eines mentalen Defizits. Die vorliegende Untersuchung kehrt an die politischen Ursprünge der Idiotie zurück und schafft eine Klammer zur heutigen politischen Befindlichkeit. Sie untersucht das Beziehungsgeflecht von Individuum, Konformität und Widerspruch anhand der Denkfigur des Idioten: einerseits als Einzelnen (erster Abschnitt), andererseits als ‚Vielen‘ (zweiter Abschnitt).

Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit literarischen, künstlerischen, ontologischen Rollen der Idiotenfigur. Die existenzielle Vereinsamung, die stumme Frage nach dem Sinn, nach der Welt, nach den ­anderen, die taube Gestalt und die autonome Seinsweise, das hemmungslose Vorgehen und der stoische Trotz gegenüber den Dingen – das alles sind Themen, wie sie die Kulturgeschichte des Idioten bestimmen. Hier tummeln sich messianische Figuren mit Fragezeichen – Genies, Wahnsinnige, Mächtige, Aussätzige… Was verraten uns diese Figurationen des Idioten über die Konstitutionen unseres Selbst?

Im zweiten Abschnitt diskutiere ich Idiotisierungsmechanismen der ‚durchökonomisierten‘ Gegenwart. Ich frage nach dem Aufstieg des „neuen Idioten“ (Deleuze & Guattari), der Begriffsperson einer Befindlichkeit, die heute im Rahmen der Singularisierung, des Narzissmus, der Infantilisierung, des Postfordismus usw. diskutiert wird. Die These lautet hier, dass es eine neue Qualität des Idiotentums gibt, die sich am politisch Absurden festmacht. Die gegenwärtigen Hasardeure der Weltpolitik sind dabei nicht die Ursache, sondern nur Symptome der politischen Idiotie. Félix Guattari schrieb in den 1980er Jahren von einem „neuen ethisch-ästhetischen Paradigma“ und bezeichnete damit die schizophrene Verästelung des Wertgesetzes in den Adern hochindustrialisierter Gesellschaften, deren Subjekte sich heute im Informations-, Überwachungs- oder Kulturkapitalismus an der Speerspitze von Geist und Finanz sehen. In dieser Entwicklung zeichnet sich eine spätmoderne Verfasstheit ab, die ich unter dem Begriff der Idiokratie zusammenfasse.

Jede Gesellschaftskritik sieht sich mit einem Dilemma konfrontiert, dem sich schon Herbert Marcuse in den 1960er Jahren ausgesetzt sah: „Der Eindimensionale Mensch wird durchweg zwischen zwei einander ­widersprechenden Hypothesen schwanken: 1. Daß die fortgeschrittene Industriegesellschaft imstande ist, eine qualitative Änderung für die absehbare Zukunft zu unterbinden; 2. Daß Kräfte und Tendenzen vorhanden sind, die diese Eindämmung durchbrechen und die Gesellschaft sprengen können. Ich glaube nicht, daß eine klare Antwort gegeben werden kann.“ Je mehr Belege man für einen Zustand sammelt, desto unüberwindbarer scheint er (das Problem jeder strukturellen Betrachtung). Und je ‚flexibler‘ eine Zeitdiagnose ist, desto unbrauchbarer ist sie (das Problem jeder poststrukturellen Betrachtung). Eine ‚dynamische Ausweg­losigkeit‘ besteht darin, das Dilemma selbst als Teil der Diagnose zu sehen. Die Idiokratie reproduziert Klarheiten im Modus der Unklarheit, und sie schafft Konfusionen durch ein Überangebot an Lösungen. Es kommt dabei einer Krisenindustrie gleich, dass die „reflexive Moderne“ (Ulrich Beck) so viele Anleitungen für ihre Überwindung produziert, bis man sich im Spiegelkabinett der Spätmoderne verliert und dann gar nichts mehr reflektiert. Je mehr Ablenkungen und Blindheiten erzeugt werden, desto unwahrscheinlicher wird das Aktivierungspotenzial der „postfordistischen Multitude“ (Paolo Virno) und desto paradoxer wird der Blick aufs große Ganze. Die unauflösbare Gleichzeitigkeit von Eigenheit und Konformität, Gefährlichkeit und Ungefährlichkeit, Klarheit und Unklarheit, Ideologie und Utopie, Stagnation und Akzeleration lenkt dann alle Energien der Aufmerksamkeitsökonomie auf die Person des Einzelnen. Der Einzelne scheint heute verführbarer als der Einzelne in den 1930er Jahren, wenn man sich allein die Follower-Dynamiken im Internet zu Gemüte führt, doch wird er nach allen Richtungen hin verführt, so dass seine Totalitarismus-Anfälligkeit nicht augenscheinlich wird. Da der Einzelne in seiner Einzigartigkeit unvorhersehbar, unkontrollierbar und in gewissem Sinne auch ‚unmöglich‘ ist, sind die daraus entstehenden Soziodynamiken ebenso regressiv wie kreativ. Andauernd wird etwas begonnen und zerstört, Start-up, Pop-up, Blow-up. Der rechte Denialist will keine Green Economy und will zugleich mit ihr Geschäfte machen. Der Geschäftemacher wird seinen Konkurrenten in der zukünftigen Krise eliminieren, und zugleich benötigt er ihn, um diese Krise abzuwenden. Der Konkurrenzkampf ist brutal, heißt es, aber im tiefsten Inneren ist er paradox und wird ontologisch geführt, als apokalyptische Vorwegnahme des „Einzigen und seines Eigentums“ (Max Stirner). Auch wenn heute viel von globalem Bewusstsein und von Gemeinschaft, dem Gemeinen und der Gemeinsamkeit die Rede ist, spielt im idiotischen Ganzen der Solipsismus des isolierten Subjekts eine immer gewichtigere Rolle, ist stets Teil der Aushandlung über die „herausgeforderte Gemeinschaft“ (Jean-Luc Nancy), die als überforderte weiter funktioniert. Das isolierte Selbst der Vielen ist das neue Zentrum der Welt – einer unmöglichen Welt, in der wir uns dennoch gemäß unseren Möglichkeiten einrichten müssen.

Weil es heutzutage ‚jeder Idiot‘ vermag, überall ‚irgendwelche Idioten‘ auszumachen, ist es schwer, die Idiokratie analytisch zum Ausdruck zu bringen, da deren Wirkungsmacht auch die Analyse selbst betrifft. Wer die fragmentierte Vernunft des Idioten im planetarischen Maßstab ausruft, impliziert, dass er über sie erhaben ist. „Wenn es jedoch keine Vernunft gibt, die ihren eigenen Kontext übersteigen kann, wird auch der Philosoph, der dieses Bild vorschlägt, keine Perspektive für sich in Anspruch nehmen können, die ihm einen solchen Überblick erlaubt“ ­(Jürgen Habermas). Angesichts dieses Dilemmas bleibt nur die perspektivistische Vernunft und das wiederholte Anlaufen gegen das Phänomen. Wir beackern und bearbeiten so lange ein amorphes Stück, bis es auch von anderen um- und begriffen werden kann. Autoren sind keine unbewegten Beweger. Sie reißen mit jedem Anlauf einen Teil der Gewissheit mit sich und fügen ihn an anderer Stelle hinzu, bis am Ende eine Denkskulptur entsteht, die ein devotes Publikum findet oder nicht. Wenn Saint-Just einmal behauptete, dass niemand, der regiere, unschuldig sei, dann gilt auch, dass niemand, der einigermaßen versteht, was heute passiert, sich davon distanzieren kann. Im Grunde sind wir alle Handlanger eines abstrakten, politisch-ökonomischen Bedeutungsgebers – dem heiligen Geist des ­Kapitals –, dessen globale Präsenz ebenso überdeutlich wie unscheinbar ist, da seine Zeichen in alle Gesellschaftsbereiche vordringen und dabei zeitlich und räumlich mutieren. Sofern wir uns dieser Zeichen bewusst sind, sind wir zugleich auch Bestandteil ihres Wirkungsspektrums, und sofern sie uns nicht bewusst sind, stehen wir unter ihrem Bann. Dieser Versuch über den Idioten ist somit auch ein Versuch über die Bedingungen der Möglichkeit, sich außerhalb dieses Spektrums zu platzieren, ohne die üblichen Gesten von Kritik oder Widerstand zu ­reproduzieren, die zeitgleich mit ihrem Erscheinen verwertet werden. Das Idiotische ist zuletzt dasjenige, das nur verwertet werden kann, oder dasjenige, das sich der Verwertung grundsätzlich entzieht.

1Entspiegeltes Selbst

Null-Ausdruck

Being an idiot is no box of chocolates.

Forrest Gump

Wer nicht denkt, ist nicht dumm – Überzeitliche Konturen des Idioten ­ziehen sich nicht nur durch die alte Literatur, deren Helden gegen Windmühlen kämpfen. Auch späteres Schreiben zehrt von der Einfältigkeit. Man stelle sich ein Amalgam aus William Faulkners Benjy und Theodore Sturgeons Lone vor, füge Dostojewskis Myschkin und ­Flannery ­O’Connors Enoch Emery hinzu und ergänze das Ganze mit Gerhart Hauptmanns Emanuel Quint und Winston Grooms Forrest Gump. Es zeichnet sich eine Figur ab, die roh, zurückgeblieben und naiv, aber zugleich auf merkwürdige Art selbstbestimmt ist: „Emanuel stand da mit herabhängenden Armen und einem unbeweglichen Ausdruck seines blutlosen Gesichtes, der weder herausfordernd noch eingeschüchtert war“ (Hauptmann). Der Null-Ausdruck des Idioten entfaltet intellektuellen Reiz. Flaubert schreibt im Vorübergehen, dass das Gesicht eines Blödsinnigen zu Tiefsinn anrege. Der Idiot ist eine Null, aber keine passive Null. Botho Strauß sieht in ihm „das Bruchstück einer tiefen, mächtigen Typik“ aufscheinen. Da ist also etwas. Der Idiot ist mit einem Auftrag beseelt, dessen Vorgaben nur ihm klar sind. Er fragt sich wie Sturgeons Lone nie, warum etwas geschieht, und wie Faulkners Benjy drängen sich ihm Vergangenes und Gegenwärtiges unterschiedslos ins Bewusstsein. In seiner grundsätzlichen Anmutung bisweilen ‚hirnlos‘ erscheinend, entstehen dem Idioten im Untergrund neue Denkorgane, entwickeln sich, drängeln nach vorne. Enoch Emery hat „weises Blut“. Er benötigt keine emotionalen Anleitungen oder intellektuelle Ableitungen, denn das Wissen darüber, wie er sein Leben führen soll, ist ihm ­angeboren. Er muss keine Schlüsse ziehen, weil alle Schlüsse bereits gezogen sind. Wahr ist das, was da ist. Was nicht da ist, ist nicht wahr. Der Simpleton lebt in der einfachsten aller Welten. Anders als Voltaires Candide, der sich am Ende der Gartenkultivierung widmet, macht sich Emery in einem gestohlenen Gorillakostüm davon. Wenn man mit sich selbst im Reinen ist, ersetzt jegliche Tat den Zweifel, wird zur reinen Tat: dubito ergo dubito, cogito ergo cogito. Ich zweifle, also zweifle ich, ich denke, also denke ich. Das ergo sum ist hier gar nicht das höchste aller Gefühle. Und die Sachlage, und mit ihr zugleich alle anderen Sachlagen sind so klar wie die Klarheit selbst. – Hier endet also mein Buch.

Tauber Blick – Die Motivation des Idioten ist und bleibt indes ein Rätsel: Ist es die geistige Behinderung, die ihn zur Aktion drängt, oder macht umgekehrt der blinde Handlungswille den Idioten? Worin besteht sein pathologischer Kern? Die Behinderung des Idioten ist in der Literatur ein Vehikel, um ihn als transzendentalen Beobachter in der Welt zu verankern. Als prima persona blickt er frisch in seine Umgebung und entlarvt dabei die üblichen Idiotien der ganz normalen Menschen. Die ihm beigemessene Demenz erspart uns die Erklärung, was der Idiot wirklich ist und wie sein Denken als Denken zustande kommt, bzw. was ein Denken, das nicht denken kann, an Einsicht vermittelt. So setzt Faulkner Benjy als geistig behinderten Erzähler an den Anfang seines Romans, der in Benjys stammelnder Schilderung die Frakturen eines Familiendramas vorwegnimmt. Benjys Inselbegabung, tiefgreifende Ereignisse auch über weite Entfernungen hinweg riechen zu können, lässt sein Denkorgan mit dem Südstaatenzauber verwachsen. Am Ende der Geschichte verbleibt der taube Blick des Idioten, der sich über Land und Landschaft legt. Wie einmal Woyzecks Doktor diagnostiziert: „Gesichtsmuskeln starr, gespannt, zuweilen hüpfend. Haltung aufgeregt, gespannt.“

Johann Caspar Lavater, Porträt eines „Idioten“ (Ausschnitt), 1792.

Binnenleben – Was den Null-Ausdruck des Idioten angeht, so ist er, übersetzt zum Gesichtsausdruck, mit dem Bildschirmstarren verwandt. Der Idiot „glotzt“. Bei Georg Büchner liest man von „Viehsionomik“, und in der Sprache des Meme-Universums hat der Idiot ein „derp face“, ein Gesicht, das jedem Gesicht spottet. Sein Null-Ausdruck ist nicht ausdruckslos, sondern durch Vagheit bestimmt. Er zeigt sich ähnlich auch bei Belastungen des Nervenapparates oder Momenten der Trunkenheit. Der amerikanische Neuroendokrinologe Robert Sapolsky hat die verschiedenen Ausdrucksqualitäten körperlicher Zustände mit einem stark klopfenden Herzen verglichen: Physiologisch lässt sich daran nicht unterscheiden, ob jemand einen Orgasmus hat oder dabei ist, einen Mord zu begehen. So ist es auch mit den Figurationen des idiotischen Ausdrucks: Es lässt sich nicht immer feststellen, ob eine Pathologie oder eine radikale Eigenschaft zutage tritt oder beides zugleich, Terror und Liebe. Derlei Ambiguität zeigt sich bei Savants, deren Zustandsbeschreibungen historisch zwischen „idiot savant“ (John Langdon Down) und „islands of genius“ (Darold A. Treffert) schwanken. Die Werke künstlerisch begabter Savants kursieren zwischen Galerien und medizinischen Fachzeitschriften, weil niemand weiß, was das ist, was im Zusammenhang mit dem Autismus-Spektrum als Ausdrucksform auftritt. Der ­Begründer des Autismusbegriffes, der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler, sprach schön von „Binnenleben“. Offensichtlich geht es seither in der psychopathologischen Debatte um die Verhandlung von Bewusstseinszuständen und deren Kopplung mit der sozialen Außenwelt. Aber Kopplung ist ein unzulänglicher Ausdruck. Hier wird nichts gesteuert und nichts vermittelt. Die sich in diesen Zuständen zeigende Grenzerfahrung macht die literarische bzw. künstlerische Faszination durch die Idiotenfigur aus. „Was liegt daran, daß dies Krankheit ist“, sagt sich Myschkin, „wenn das Resultat, der Augenblick dieser Empfindung, demjenigen, der […] es überdenkt, als die höchste Stufe der Harmonie und Schönheit erscheint und ihm ein bisher ungeahntes Gefühl der Fülle, des Ebenmaßes, der Versöhnung und des entzückten, gebetsartigen Zusammenfließens mit der höchsten Synthese des Lebens verleiht?“ Es geht beim Null-Ausdruck des Idioten nicht um Bewusstlosigkeit, sondern – wie beim Pilotentraining – um die Schwelle zwischen Bewusstlosigkeit und Bewusstsein, permanent Anläufe unternehmend, ‚da‘ zu sein. Den Idioten kann man sich auf dieser Schwelle vorstellen: Besinnungslosigkeit als Bewusstseinsform, Bewusstlosigkeit als Daseinsform. Und da will auch die Kunst hin. Aber da will auch die Ökonomie hin, alle wollen da hin, alle wollen Idiot sein, der homo ex animo als Wahrheit des homo oeconomicus.

Menschenähnlich – Der Null-Ausdruck taktet sich mit seinen körperlichen Impulsen. Idioten sind von einer Handlung Getriebene, die sie selbst bestimmt haben. Deshalb wird der Idiot in der Literatur zur janusköpfigen Figur. Er ist entweder ein bloßes Stück willenloser Natur – „Tiere in Menschenform“, wie Julien de La Mettrie Idioten nannte – oder ein willensbeseelter Vernunftmensch, der aus dieser Natur weiter heraussteht als andere. Schriftsteller mit Sinn fürs Idiotische nutzen die Psychopathologie zugleich klinisch wie metaphorisch, um im Idioten den Willen gegen seine Willenlosigkeit auszuspielen. Konrad Bayer bezeichnet seine Figuren im Bühnenstück idiot (1960) als „menschenähnliche Wesen“. Sie machen mit allem, was sich ihnen in den Weg stellt, kurzen Prozess: idiot a tötet andere Wesen, fährt mit einem Rasenmäher über deren Leichen, sammelt die Überreste in einer Tüte, nimmt diese mit, lässt sie aber ­wieder fallen. Dann: „ | plötzlich zeigt sich am rande ein menschenähnliches wesen | obwohl a anscheinend nichts beachtet, stürzt er auf und tritt den kerl mit ungeheurer behendigkeit und vollkommen ausdruckslos aus der bühne |“ (Bayer). Dem Idioten tritt ­einmal ein Mensch entgegen: „bruder!“, sagt der Mensch hoffnungsfroh, | a schlägt den Menschen aber sofort nieder und reißt ihm die Arme aus. Es stellt sich heraus, dass der Mensch mit seinem „scheißdreck“ (Kultur, Kunst, Gefühle, Geschichte, Idealismus, Vernunft, Staat usw.) ein Teil von a ist. Der Idiot kann mit Echtmenschen nichts anfangen, weil sie ein äußerer Teil seines Wesens sind, und sein inneres Wesen ist reine Tat. Es gibt keinen Grund für irgendetwas. Sobald Grund auftaucht, wird er nieder­gehauen.

Außer Konkurrenz – Nicht alle Idioten, die ihren Null-Ausdruck zu einer Null-Tat perfektionieren, sind so gewalttätig wie der Idiot-klein-a ­Bayers. Dostojewskis Myschkin ist ein durch und durch guter Mensch, und das kann er nur sein, weil er psychisch krank ist, weil er nicht die Standardgesundheit aller anderen hat. Wer außer Konkurrenz lebt, erspürt das Spektakel der conditio humana aus nächster Nähe und nicht wie alle anderen aus abstrakter Distanz. „Die Erforschung der Idiotie ist die Erforschung einer bestimmten Form des Exils“ (Patrick McDonagh). Diese Konfiguration zieht sich kreuz und quer durch die Kulturgeschichte. Im Blockbuster Guardians of the Galaxy (2014) erscheint das menschenähnliche Baumwesen Groot, das wiederum dem Baumwesen im Minervagemälde Triumph der Tugenden (1502) Andrea Mantegnas ähnelt. Groot ist im Marvel-Universum ein wegen seiner Gutmütigkeit aus seiner Welt Ausgestoßener. Mantegnas Baumwesen beschützt den Tempel der Tugend. Um das Universum zu retten, tut sich Groot mit anderen Freaks zusammen, die ebenfalls besondere Fähigkeiten haben. Ähnlich wie die Idioten bei Sturgeon und bei Mantegna werden sie zu Beschützern der Menschheit. Das Hollywood-Universum kodiert gleich dem Tafelbild Mantegnas einen Moralkodex, der zur Matrix des christlichen Kreuzzugs des Guten gegen das Böse wird. Groot ist nun der Gute unter den Guten, er besitzt einzigartige Kräfte, die ihm die Rolle des heroischen ­Einfältigen zusprechen. Mantegnas Wesen umhüllt eine Schriftrolle mit Pseudoskript, die ein und denselben Satz in verschiedenen Sprachen wiederholt. Und Groot drückt sich dadurch aus, dass er ausschließlich mit der Phrase „I am Groot“ kommuniziert. Am Ende wird der Einsatzige zum Retter des Universums.

Erste und letzte Gründe – Der Idiot legt durch seinen Einsatz eine gewisse ontologische Gelassenheit an den Tag, die etwas anderes bedeutet als das, was Martin Heidegger „die freie Luft des hohen Himmels“ nannte. Der Null-Ausdruck des Idioten zeigt sich in der untiefen Akzeptanz der Negativität, sie scheut nicht das Nichts und sein Noch-Weniger, sie wagt mehr Stagnation, wenn alles schon stagniert. „Keine Sehnsucht. Keine Gewissheit. Eher eine Blumenexistenz: einfache Öffnung zum Licht. Ohne Erwartung auf das Ende. Vom Unabsehbaren gewärmt“ (Strauß). Im Nachtgesang Blödigkeit dichtet Hölderlin dem Idioten ins Stammbuch: „tritt nur | Bar ins Leben, und sorge nicht!“ Ähnliches empfindet Myschkin in Momenten vor dem epileptischen Anfall: „Verstand und Herz waren von einem ungewöhnlichen Licht durchleuchtet, all seine Aufregungen, all seine Zweifel, all seine Beunruhigungen mit einem Schlag besänftigt, in eine höhere Ruhe voll klarer, harmonischer Freude und Hoffnung, voll Verstand und Einsicht in die letzten Gründe der Dinge aufgelöst.“ Der Null-Ausdruck enthält ein Spektrum von ­Emphasen, er reflektiert das Licht des Gewöhnlichen wie durch ein Prisma.

Vorgesicht – Eine Entsprechung des Null-Ausdrucks findet sich in ­Pascal Claudes Preface von 1954 in einem Katalog zu einer Bildserie Yves Kleins. Das Vorwort zeigt leere Zeilen:

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Die Zeilen sind aber nicht wirklich leer, sondern stehen als poetisches Null-Statement ‚voll‘ da. Sie bilden eine Art Vorgesichtder Kommunikation, sind kein Inter-Face, sondern ein Pre-Face der Aussage. „Die poetische Sprache, die dem Idioten vorschwebt, […] weiß nämlich dass auch das Vorsprachliche von der Sprache mit hervorgebracht wird“ (Monika Rinck). Was beim Dichter transzendentale Textähnlichkeit, ist beim Idioten transzendentale Menschenähnlichkeit. Ausdruckslos ist das aus der Sprache herausstarrende Vorgesicht nur in der Hinsicht, dass kein Ausdruck der Gravität der realen Erfahrung – in diesem Fall: der Kunst – gerecht werden kann. Der Null-Ausdruck ist so gesehen eine Präkonfiguration, ein Gesicht-vor-sich. Die vielen Gesichter der Welt auf ein einziges Gesicht zurückzuverfolgen: Das erzeugt die Regung des Idioten.

Rätsel – Die Menschenähnlichen wissen, ohne ihr Wissen zu spüren, und sie spüren es, ohne es zu wissen. In ihrer Rohheit erreichen die Idioten eine Erhabenheit, die der Intellekt nie erreichen kann und sich daher bisweilen, wie etwa in Fanny Hill, der lakonischen „Rhetorik des Penisses“ (Mark Blackwell) beugen muss. Der imbezile Dick in Fanny Hill hat nämlich so ein tolles erigiertes Glied, dass er die Prostituierte Louise aus der Fassung bringt und sie deshalb ihren Beruf aufgeben muss. Und auch Charles Bukowskis Henry (in The Last Night of the Earth), der sich mit 11 Jahren entscheidet, Idiot zu werden, glaubt, die schönste Erektion von Los Angeles zu besitzen. Dass männliche Phantasien eng ans Idiotentum geknüpft sind, ist an dieser Stelle schwerlich zu leugnen, aber wie soll man all die anderen Zentrifugalkräfte des Idioten fassen? Botho Strauß schreibt: „Der Idiot gibt uns ein Rätsel auf. Das heißt, er hat seinen Anteil am Rätselhaften einbehalten, das die übrige Welt, die reich davon die längste Zeit war, an den Eifer beflissener Rätsellöser verlor. Er kann aber auch gelten als Wahrzeichen für das prinzipielle ­Unterverstehen von Welt, zu dem die menschliche Art verurteilt ist.“

Tour d’idiot – Zur Geschichtedes besonderen Menschen

„Solche Wesen werden Individuen [atoma] genannt,da ein jedes aus Eigentümlichkeiten [idiotes] besteht, derenZusammensetzung bei keinem anderen jemals dieselbe wird.“

Poryphryos

Idion – Die Idiotie bezeichnete einmal die Einzigartigkeit der Dinge und Wesen. Idion ist das Besondere, das Eigene. Ein Idiot ist jemand, der besondere Eigenschaften hat, die sich von den üblichen Eigenschaften unterscheiden. Lars von Triers Protagonisten im Film Idioten (1998) berufen sich z.B. darauf, wenn sie davon sprechen, „den eigenen Idioten hervorzuholen“. Man soll ein eigener Idiot und nicht der Idiot der anderen sein, ein unnützer Idiot und kein nützlicher Idiot. Die Einzigartigkeit soll nicht aufoktroyiert sein, sie soll von innen kommen, vom „inneren Idioten“, der manchmal auch in Form des „inneren Schweinehundes“ auftritt. Wo und was ist dieses Innere? Welche ‚Tierart‘ besetzt seinen symptomatischen Raum? Eine innere Kulturgeschichte baut sich ­parallel zur äußeren auf, so wie sich Menschengeschichte auch als metazoologisches Narrativ fassen lässt, von der „Bestie Mensch“ (Jean Renoir) bis zum „anderen Tier“ Nietzsches, d.h. dieses Andere, Innere, Unfassbare, Menschenähnliche des Menschen, das auch dann noch rätselhaft bleibt, wenn es längst naturwissenschaftlich erklärt ist. Der unerklärte Amoklauf folgt stets dem erklärten. In jeder Erklärung steckt gerade einmal noch so viel Verklärung, dass das Rätsel bestehen bleibt. Genetik oder Hirnforschung werfen heute alte neue Fragen nach Willens­freiheit auf, die zu alten neuen Feststellungen führen, die wiederum neue alte Fragen aufwerfen. Feststeller können nicht anders, als andauernd ­philosophische Sprengsätze zu produzieren, die sie selbst nicht entschärfen können. Es geht immer weiter, kein Ende des Rätsels. Der erklärte Mensch wäre ohnehin kein Mensch mehr, sondern ein homo stans, etwas, das vom Ding nicht zu unterscheiden wäre. Von Trier verfährt daher profan, er stellt nichts fest und erklärt nichts, lässt das mensch in Ruhe, da er auf der Ebene des Films taktiert: Er schildert eine Gruppe von Aussteigern, die in einem gemeinsamen Haus leben und in der Öffentlichkeit geistig Behinderte spielen. Nachbarn und Passanten werden in die Rolle von Pflegehelfern oder Ärzten gedrängt, nehmen an der Redefinition der Welt teil. Die Kommune zeigt auf, dass nicht mehr der Idealist oder Revolutionär, sondern offenbar nur noch der Idiot in der Lage ist, sich aller Konventionen zu entledigen – oder wie es Möbius in Dürrenmatts Physikern ausdrückt: „Nur im Irrenhaus sind wir noch frei. Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken“ Dabei ist es unerheblich, ob man wirklich ein Idiot ist oder nur einen Idioten spielt, denn idiotisch ist, es trotzdem zu sein. Wir spielen uns bis zur Besinnungslosigkeit, wir rationalisieren uns in Rage.Es geht beim Anspruch, „den eigenen Idioten hervorzuholen“, nicht um Dumm-, sondern um Freiheit, d.h. um das Streben nach einem einzigartigen Leben, das auch jenseits von liberalem Hedonismus oder bürgerlicher Identität Sinn macht. Freies Tier, unfreie Bestie. Mit dem Idiotenthema wird die Geschichte der mentalen Aussätzigkeit ebenso angesprochen wie die Geschichte der Künstlerkollektive. Insofern sind die Kommunarden von Triers Nachfahren Myschkins. Das Spiel der Freiheit, in der „die Vernunft wie von selbst in den Wahnsinn zu stürzen droht“ (Michel Foucault), lässt aber mit der Absonderung des Idioten auch den Idiotismus der Gesellschaft zutage treten, deren untiefes Abbild er ist. Denn allerorten werden Idioten „hervorgeholt“, nur sind die Konsequenzen des Hervorholens nicht immer befreiend, sondern im Gegenteil: Die moderne Technokratie reproduziert unentwegt die „Idiotie der Masse“ (Gustave Flaubert), die im Spielbetrieb ökonomischer Prozeduren aufgegangen ist. Deshalb suchen die Kommunarden die idiotische Konfrontation, ähnlich dem Dadaisten, „der als Wahnsinniger mit dem Wahnsinn der Gesellschaft spielt“ (von Barloewen). Dass „Freiheit und Gleichheit nur in dem Taumel des Wahnsinns genossen werden ­können“, dachte sich schon Goethe, als ein Karnevalsumzug einmal ­lärmend an seinem Fenster vorbeizog. Es scheint heute, als ob sich dieses Geräusch verselbständigt hat und zum kosmischen Hintergrundrauschen hoch­industrialisierter Gesellschaften geworden ist.

Narren – Kulturgeschichtlich zeigt sich der Idiot oft in der Rolle einer im Machtzentrum stolzierenden Randfigur. Diese liegt Kynikern, Trickstern, Jestern, Schelmen, Ingenues oder Narren dort zugrunde, wo ihr Besonderes, Eigenes, Inneres usw. Wirkung entfalten kann. Was viele dieser Figuren eint, ist die Eigenschaft, sich ein Verhalten zu erlauben, das anderswo geächtet wäre. Und „anderswo“ meint einen Raum, den diese Charaktere noch nicht definiert haben. Dieser subversive Spielraum wird vor allem im Verhältnis zur monarchischen Macht deutlich. Hofnarren sind keine buchstäblichen „Idioten“, gleichwohl schützt sie die Sphäre ihrer Besonderheit davor, dem Hof zur ernsthaften Konkurrenz zu werden. Es geht bei diesen Subjekten – vom körperlich versehrten Freak bis zum scharfsinnigen Philosophen – um geistreiche oder geistlose Körper, die durch ihren Einsatz die Ironie der Macht als Macht bestätigen. Da tummelt sich viel Heutiges im Vergangenen. Polit-Trolle, Skandal-Promis, Comedians, öffentliche Intellektuelle oder It-Girls besetzen heutzutage diese archaischen Positionen, die immer wieder etwas von der Macht spiegeln, annehmen oder weitergeben. Der „innere Idiot“ des universellen Narrentums lebt sich mit der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeit aus und benötigt keinen Anlass, keinen Auftrag, um etwas zu tun, auch wenn ihm der Klamauk verordnet wurde. Was er dann aber tut, tut er einfach, ohne sich der libidinösen, epistemologischen oder ökonomischen Ordnung auszusetzen: „Als der Hofnarr Morot, während der Regen heftig niederging, dicht an der Seite des Königs unter dem Schirm spazierte, und Seine Majestät geringschätzig zu verstehen gab, sie ertrüge keine Narren an ihrer Seite, entgegnete Morot flink: ‚Ich schon!‘“ (Constantin von Barloewen)

Denk im Glück – Die Koketterie mit dem Unvermögen, das man zum Vermögen macht, hat ihre eigene Geschichte. Nikolaus Cusanus ­versetzt sich in seinen späten Dialogen in einen philosophischen Laien, den er Idiota nennt, um über den theologischen Mainstream zu lästern. Dabei erfährt die sokratische Methode des ironielastigen Nichtwissens als docta ignorantia ihre neuzeitliche Formulierung. Wissen ist Macht, Nichtwissen eine Kunst: Der unbelesene Naivling ist weiser als Philosophen von Rang, da er frei von den üblichen Formalismen des Denkens ist. „Niemandes Autorität leitet mich, auch wenn sie versucht, mich zu beeinflussen“, verkündet Idiota. Also denkt sich dieser fröhliche Wissenschaftler, was er sich eben so denkt, und kann es dabei mühelos mit den umständlichen Lehren der Scholastiker aufnehmen. „Indem der Verstand auf seine Einfachheit blickt, erkennt er alle Dinge in ihrer Einfachheit, unabhängig von ihrer Zusammensetzung“, verkündet Idiota und zieht damit gegen die universelle „Dummheit der Gescheiten“ (Theodor W. Adorno) ins Feld. Es zeichnet Cusanus aus, dass er die Performanz des Wissens als Macht­geste durchschaut, wenn er seinen Denkpopulistenentwirft. Idiota stellt zum Lebensunterhalt Holzlöffel her und leitet seine Einsichten allein aus der handwerklichen Praxis ab. Er ist das mathematische Gegenteil eines Universalgelehrten, und doch äußert der anwesende Philosoph seine Bewunderung darüber, dass Idiota Erkenntnisse der aristotelischen und platonischen Schule wiedergebe. Ja mehr noch: Alle Philosophen hätten sich immer schon gewünscht, so wie Idiota zu philosophieren. Hat dessen Schnitzen von Holzlöffeln etwas vom messerscharfen Schlussfolgern, das die Skulptur des Denkens zutage treten lässt? Ein Gedanke ist, sofern er diesen Namen verdient, etwas Wohlgeformtes. Cusanus stellt das, was man im alten Rom prudentia nannte, gegen die scientia: Weisheit gegen Wissen, Synthese gegen Sachverhalt, Wissensereignis gegen Ereigniswissen. Sein Idiota ist die Figur, die unterhalb der Dummheit ansetzt. Er besitzt etwas, das schon der Trickster und Götterbote Hermes besessen haben soll: das „innere Wissen der Dinge“ (Lewis Hyde).Der Geist ist für Idiota nicht etwas, das sich entfaltet, sondern im Gegenteil das „Bild der ewigen Einfaltung“ (Cusanus), ohne bildlich oder begrifflich fassbar zu sein. Die Sprache des Laien hat keinen Anspruch auf Transzendenz und fühlt sich auch keinem Milieu verpflichtet. Cusanus bemüht das biblische Bild von der „Weisheit der Straße“ und lässt die Gelehrten ­darüber staunen, dass die Pilgerkommune, die vor ihren Augen vorbeizieht, unabgestimmt aber bestimmt ihr Ziel erreicht. Idiota ist ein Einzelner, ein Zufälliger, vom Licht Beschienener. Descartes wird später vom „natürlichen Licht“ sprechen und weist Eudoxos die Rolle Idiotas zu. Deleuze und Guattari beziehen sich ebenfalls auf diese Figur, wenn sie den Idioten als „Begriffsperson“ definieren, als fiktive Person, in der die realen Gedanken der Philosophen leben. Sie reaktivieren damit den antiken Begriff im spätmodernen Denken: „Der Idiot“, schreiben sie, „das ist der Privatdenker im Gegensatz zum öffentlichen Professor (dem Scholastiker) […] Ein höchst sonderbarer Typ von Person, der da denken will und aus sich selbst denkt, durch das ‚natürliche Licht‘.“ Das Licht und die Leuchte, Erleuchtung, Aufklärung, Aufleuchten: Das sind Metaphern einer Erkenntnis, die sich aus den primitivsten Energiequellen speist, Bio-Energie: einfach so erkennen, ohne Kraftwerk und Endlager einfach so aus der Erde heraus denken – wie eben Angelus Silesius’ Rose blüht: „ohn warum“, selbstgenügsam, mühelos und nichts beanspruchend, was einem nicht zukommt. Wie Sturgeons Idiot Lone nichts erwarten und nichts fordern, nicht einmal die Umwertung aller Werte – Null-Maß, Null-Ethik. Bei Angelus ­Silesius ist das ein gottgleicher Zustand, der ohne ontologische ­Differenz auskommt. Ohne Sorge, ohne Angst, ohne Freude, ohne Gleichmut, ohne Langeweile, ohne Spannung, ohne Leere, ohne Trauer und – weitergehend als Sokrates – ohne ‚Vernunft‘. Idiota ist nicht privilegiert, und doch hat er die Fähigkeit, die Welt ohne intellektuelle Verrenkungen oder Fachjargon erklären zu können – idiota doctus, gelehrter Depp, ­Accatone. Aber wie ist das überhaupt möglich? Entspringt sein Wissen einer ­bloßen Laune, und hat er jedes Mal zufällig recht damit? Das ist eine Vermutung, die vielleicht später einmal Sinn machen wird, jetzt noch nicht. Das Zufällige des Idioten spiegelt die tägliche Evidenzerfahrung wider: Sie soll etwas sein, das einem nicht die Person des Denkers ‚aufzwingt‘, sondern etwas, das sich quasi von selbst ergibt – ebenso zufällig wie notwendig. Cusanus’ Experten sind fassungslos darüber, dass ein Beliebiger ihre ­Erkenntnisse mühelos übertrifft, aber noch mehr erstaunt es sie, dass sie sich selbst darin wiederfinden – im Lumpenproletariat der Vernunft.

Dysfunktion – Querdenker ohne Gedanke, Querulant ohne Mission, Queer ohne e. Der Weg des weisen Laien zum heutigen Schimpfwortidioten ist verschlungen. Er setzt da an, wo das idion gesellschaftliche Wirkung zeigt, wo es zum Symptom eines Versagens wird. Der idiotes bezeichnete im antiken Athen die „Privatperson“: jemanden, der sich vor allem um seine persönlichen Angelegenheiten kümmerte und daher für Staatsgeschäfte ungeeignet war. Der Begriff wurde in der Antike zwar oft funktional verwendet, z.B. als politischer Gegensatz zum strategos, als Begriff für einen Prosaiker im Gegensatz zum Dichter, als Bezeichnung für Laien oder zur Kennzeichnung bürokratischer Angelegenheiten (für private Opferriten galten beispielsweise andere Tarife als für öffentliche). Politisch bedeutete idiotes aber eine Dysfunktion. So schreibt Platon in den Nomoi, dass „das Gemeinwohl den Staat zusammenhält, das Sonderinteresse aber ihn zerreißt“. Eine Gesellschaft von Privatleuten ist unmöglich, weil es keine Vermittlung aller Einzelinteressen geben kann und der politische Logos nicht die handelnde Vernunft umgreift. Anders formuliert: Man kann es nicht jedem recht machen, wenn jeder schon auf seine Weise recht hat – die utopische Erfüllung dieser Vorgabe wäre in antiken Augen eine Gesellschaft im Singular, eine Idiokratie. Als Vermittlungsinstanz zwischen den rechthaberischen Einzelnen und dem Recht der Vielen hat später die christliche Staatslehre die „Pastoralmacht“ (Foucault) als Regierungstechnik eingeführt: Der Hirte kümmert sich sowohl um die Herde als Ganzes als auch um das Wohlergehen des einzelnen Schafs. Er wird gegebenenfalls sowohl den Einzelnen opfern, um das Wohlergehen aller sicherzustellen, als auch auch alle anderen opfern, um das Wohlergehen des Einzelnen sicherzustellen: „Omnes et singulatim: das Paradox des Hirten“. Diese Subjektivierungstechnik hat sich in der Moderne säkularisiert und schließlich zur spätkapitalistischen Gouvernementalität geführt, in der Staatsinteresse und Einzelinteresse komplex ineinandergehen. Das Epochen umgreifende Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Staat, Idiotie und Politologie unterfüttert die Frage, wie und wann das „Zeitalter der Gouvernementalität“ im Zeitalter des Idioten mündet.

Selbst-Sabotage – Der US-amerikanische Erziehungswissenschaftler ­Walter C. Parker hat 2005 in seinem Essay Teaching Against Idiocy vor weitreichenden Konsequenzen heutiger Formen der Idiotisierung gewarnt, die er im allgegenwärtigen Hype des Privaten aufkommen sieht. Dieses Private ist dabei nicht deckungsgleich mit dem Individuellen: Menschen nennen Eigentum auch dann privat, wenn z.B. alle die gleichen Handys oder T-Shirts besitzen. Die Inflation des Privaten führe notwendig zu einer generellen Orientierungslosigkeit, so Parker. Die Antike fand entsprechend für den idiotes das Bild des ruderlosen Schiffs, das auf Klippen zu schlagen drohe. Platon sieht die Ursachen der Orientierungslosigkeit in der „Idiopragie“ (idiopragia). Damit sind Dinge und Handlungen gemeint, die einem selbstgeeichten Kompass folgen. Das sei abzulehnen, so Platon, denn „die Schwäche der Menschennatur wird ihn stets zur Habsucht und zur Wahrnehmung seines eigenen Vorteils treiben, […] und zuletzt auf ihn selbst und den ganzen Staat das äußerste Unheil häufen.“ Habsucht ist also dann idiotisch, wenn sie sich ins Gegenteil verkehrt und alle Habsüchtigen zu Mittellosen macht. Der Privatier treibt, vom Versprechen des Vorteils getrieben, seinen eigenen Verlust voran. Hier steckt marxsche Dialektik in der platonischen: Der Verfasser des Kapitals wird vom „Idiotismus der Bürgerwelt“ schreiben, die sich einer Matrix des Untergangs verschrieben hat. In der modernen Interpretation ist allerdings die Bedeutung der Idiopragie zur Gerechtigkeitsformel gewendet: Man bezeichnet damit nun eine gerechte Arbeitsteilung bei der Staatsbildung, die auf den spezifischen Fähigkeiten jedes Individuums beruht. Davon ist auch Marx’ konkrete Utopie der freien Zukunftsgesellschaft beseelt: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“. Der Idiotismus, auf den sich Marx bezieht, besteht darin, dass die Fähigkeiten und Bedürfnisse des Bürgertums ein entfremdetes Wollen ausdrücken, das sich schließlich gegen die Selbstverwirklichung jedes Einzelnen wendet – was man im Übrigen auch für die spätere Uminterpretation des Satzes zum „sozialistischen Leistungsprinzip“ sagen kann.

Isoliert – Marx’ und Platons Einsichten haben nichts an Aktualität eingebüßt, denn auch heutige Gesellschaften sind nicht idiotensicher. So dürfen in manchen US-Bundesstaaten offiziell als idiots deklarierte Bürger nicht an Wahlen teilnehmen. Allerdings sind in diesem Fall nicht die Lobbyisten mächtiger Wirtschaftsunternehmen gemeint, die ihre special interests durchsetzen, sondern Personen mit einem extrem niedrigen IQ. Diese Verknüpfung von Idiotie und „Dysrationalität“ (Keith ­Stanovitch) etablierte sich in der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts. Im Jahre 1801 veröffentlichte Philippe Pinel das erste Standardwerk zur Systematisierung psychischer Erkrankungen, den Traité médico-philosophique sur l'aliénation mentale. Der Traktat unterschied fünf Gruppen: Melancholiker, Monomaniker, Maniker, Demente und Idioten. Entscheidend war, dass Pinel für jede Erkrankung eine eigene Psychopathologie ausformulierte, d.h. die unterschiedlichen Geisteskrankheiten waren nicht Erscheinungsformen ein und desselben Wahnsinns, sondern mussten in verschiedenen Abteilungen therapiert werden. Der Idiotiebegriff bezog sich auf die Folgen physiologischer Abnormalien (wie z.B. der „Kleinköpfigkeit“ oder Mikrozephalie), wurde aber zugleich auch in einem abstrakteren Sinne verstanden, der über den Horizont üblicher Erkrankungen hinausreichte. In einer in der Nachfolge Pinels stehenden Studie über Geisteskrankheiten in Beziehung zur Medizin und Staatsarzneikunde (1836) von Jean-Étienne-Dominique Esquirol heißt es: „Die Idiotie ist keine Krankheit, sondern ein Zustand, in dem die intellektuellen Fähigkeiten nie bestanden, oder sich nicht haben entwickeln können […]“. Die Unterscheidung von Krankheit und Zustand ist wichtig, um die Singularität des Idioten hervorzuheben: „Das Wort idios, privatus, solitarius, drückt den Zustand eines Menschen aus, der, der Vernunft beraubt, gleichsam allein, von der übrigen Natur abgesondert, dasteht“ (Esquirol). Diese Natur des Idioten ist aber von Anfang an normativ unterwandert und meint auch ‚Kultur‘. Esquirol schildert den Fall eines seiner an Idiotie leidenden Patienten, dem er zur Entspannung empfohlen hatte, sich einmal „aufs Pferd zu setzen“. Später habe er erfahren, dass der Patient seine Empfehlung wörtlich genommen und sich über Stunden auf ein Pferd gesetzt hatte, ohne sich vom Fleck zu rühren. Diese wörtliche Umsetzung der ärztlichen Empfehlung verfehlte zwar die Therapie, aber erfüllte deren Zweck, denn es muss offenbar für den Patienten entspannend gewesen sein, auf dem Pferd sitzen zu bleiben, ohne davonzureiten. Für den Nervenarzt ist diese intellektuelle Spontanität aber nur als Symptom eines isolierten Geistes erkennbar. Michel Foucault hat dergleichen Fälle zusammengetragen, um die Diskrepanzen zwischen medizinischer Analytik und Internierungserfahrung darzustellen. Er schrieb in diesem Zusammenhang, dass „der Wahnsinn nur in dem Maße möglich [war], in dem um ihn herum es jene Weite und jenen Spielraum gab, der der Person gestattete, selbst die Sprache ihres eigenen Wahnsinns zu sprechen und sich als Irrer zu konstituieren.“ Darin besteht auch die ‚Kultur‘ des Idioten. Die Autorität setzt Common-Sense-Variablen, wie man sich zu verhalten hat. Der Patient erkennt diese Variablen nicht (an) und nimmt die Worte wörtlich – ja, gewiss, wie eben ein Idiot, aber nicht wie der Idiot des Arztes, sondern wie ein eigener Idiot. Es ist ja sein Akt, den niemand so vorhergesehen hat. Der Arzt hingegen ist auf ähnliche Weise nicht therapierbar wie sein Patient, und zwar nicht, weil er krank wäre, sondern in derselben Weise, in der ein Gott zwar allmächtig ist, aber selbst nicht an Gott glauben kann, d.h. er verschließt sich einer kategorischen Möglichkeit. Dieser Idiotismus des Arztes ist nie das Thema, weil alle Taten des Patienten von vornherein als pathologisch definiert werden, und ich leugne nicht, dass es gute Gründe dafür gibt. Ich betone nur mit Hinweis auf Clément Rosset, dass die Idiotie überhalb oder unterhalb der Erkrankung als metaphysischer, performativer oder phantasmatischerTatbestand weiterhin fortbesteht. Auf diese Vielfalt zielt meine Analyse. Man könnte also für das obige Beispiel sagen, beide Instanzen nehmen am selben Idiotypus teil, nur spielen sie bei der Konfrontation unterschiedliche Rollen. Der Arzt wendet sein Sprachspiel an, der Patient macht auf das Sprachspiel des Arztes aufmerksam. Und das beschreibt wiederum ein Modell für die philosophische Arbeit am Begriff des Idioten.

Ordnung – Neue Praktiken ziehen neue Begriffe nach sich. Heutzutage wird das, was früher einmal Idiotie genannt wurde, gemäß der Standardisierung ICD-10 (2012) zum Spektrum geistiger Behinderungen ­gezählt (F70–F79). Im englischen Sprachraum ist der entsprechende Ausdruck mental retardation (MR) nicht mehr so geläufig wie vor ein paar Jahren, weil retard als Schimpfwort etabliert ist. Stattdessen spricht man von intellectual disability (ID) oder auch intellectual development disorder (IDD) – intellektuelle ‚Unordnung‘. Es erscheint schwierig, in den Bereich, den Foucault „geistige Orthopädie“ genannt hat, Ordnung zu bringen, wenn die Metaphern der Ordnung/Unordnung selbst zur Diagnose werden. Ordnung ist ein beliebtes Leitwort für Herrschaftszustände („Recht und Ordnung“), ordentliche mentale Zustände dienen der Klassifikation, und „das Ziel von Klassifikation ist Macht“ (Jean Garrabé). Es überrascht daher nicht, dass die antipsychiatrisch agierende Neurodiversity-Bewegung weltweite Projekte gegen das Ordnungsdenken ins Leben gerufen hat (Autistic Pride Day, Mad Pride). Diese wenden sich nicht generell gegen klinisches Therapieren, sondern gegen die gesellschaftspolitischen Folgen des psychiatrischen Klassifikationsapparates und der Institutionalisierungspraxis. Die „halluzinatorische“ Schizo-Analyse von Deleuze & Guattari bildet hier die intellektuellen Ausgangsbewegung, die „Ödipus zerstören, die Illusion des Ich, den Hampelmann Überich, das Schuldgefühl, das Gesetz, die Kastration“ von der „ureigensten“ Krankheit des Kapitalismus befreien soll, der sich als Dispositiv in alle Institutionen gefressen hat. Davon ist auch das institutionalisierte Wissen nicht gefeit: „[D]ie Psychologie macht den Fehler, soziale Probleme zu privatisieren. So beschäftigt sich eine riesige therapeutische Industrie mit Symptomen, die politische Ursachen haben“, stellt Eva Illouz fest. Auch kulturphänomenologische Analysen des Idioten klammern die klinischen Klassifikationen ein, d.h. sie separieren die Phänomene von den medizinischen Erklärungen, um die zugrundeliegenden philosophischen Fragen auszuheben. So betont etwa Martin Halliwell in Images of Idiocy, dass Idioten vor allem Fokuspunkte für alternative Modi der Subjektivität bilden, die das notorische postmoderne Interesse an fragmentierten Existenzen wachhalten. Nicht jedes Verstehen muss therapieren, ‚Lösungen anbieten‘. Es ist auch heilsam, wenn man etwas versteht und nichts daraus folgt.

Nexus – Bis zum 14. Jahrhundert lässt sich der Idiotenbegriff noch in der Bedeutung von „Privatmensch“ feststellen. Trotz der Entpolitisierung des Begriffs und der semantischen Verschiebung hin zum heutigen Schimpfwortidioten bleiben gewisse Charakteristiken erhalten: die Isolation und Eigenheit des Geistes, die Selbstbegründung. Eine Interpretation ist, dass der idiotes mit der Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts in Form des privaten, aus sich selbst heraus begründeten Individuums den Kern des modernen Gesellschaftsvertrages ausmacht und zugleich andere Aspekte des Begriffes für die klinische Diagnostik nützlich werden. Denn auch das naturrechtlich begründete Individuum steht wie ein Idiot „von der übrigen Natur abgesondert“ da. Rousseau bezeichnete Neugeborene daher als „perfekte Idioten“. Das Individuum ist in diesem Sinne nur da Mensch, wo es auch Idiot ist. Es ist, nach Adorno, „ein von der Gesellschaft Abgedichtetes, Abgespaltenes“. Die zunehmende Atomisierung der sozialen Ordnung mit ihrer „Mikrophysik der Macht“ (Foucault) begründet in der Moderne den staatsbürgerlichen Idiotypus, der fortan als irreduzible Entität der Politik kursiert. Während also der Idiot bei John Locke die Rolle einer Nicht-Person übernimmt, die den Gesellschaftsvertrag außer Kraft setzt und daher aus dem Gesellschaftsverbund ausgeschlossen werden muss (dessen Eigentum und Körper vom Königreich konfisziert werden kann usw.), ist ein anderer Aspekt des Idioten etwa bei Rousseau gerade die Voraussetzung des Gesellschaftsvertrages, in dem Moral und Politik auf den Fundamenten eines als natürlich verstandenen, für sich bestehenden Subjektes fußen, in dem der noch in der griechischen Antike als Antipode der politischen Vernunft geltende idiotes nun samt seinen idiopragischen Veranlagungen zur Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung wird. Mit anderen Worten: Die mentale Krankheit des Idioten ist auf ähnliche Weise wie die politische Gesundheit des citoyen konstruiert. Beide zehren von verschiedenen Perspektiven derselben Idee. Es ist der Reiz des Idiotiebegriffs, alle diese unterschiedlichen Sphären zugleich anzusprechen. Denn offensichtlich ist dieser unterirdische Nexus von privat und debil aus dem politischen Diskurs verschwunden und der (a)politische Idiot durch andere Begriffe ersetzt worden – andernfalls dürften ja nur Idioten wählen gehen und nur Idioten gewählt werden, was einem populistischen Zirkel entspräche. Dennoch verbleibt eine lebensweltliche Verwandtschaft: Wer nur auf sich selbst bezogen ist, hat zwar den eigenen Blick, aber er unterschätzt die Umstände, die einer gesetzten Aufgabe zu eigen sind, und zugleich überschätzt er die eigene Expertise, wird zuletzt zum Fachidioten. Letztlich wird der Idiot – ob Voll- oder Fachidiot, ob hoher oder niedriger IQ – scheitern. Heutige Wirtschaftslobbyisten und Finanz­jongleure verhalten sich somit zwar nach außen hin ‚individuell‘ und ‚aufgeklärt‘, aber im Hinblick auf den gesellschaftlichen Mehrwert genauso randalierend wie Monomaniker in den Irrenhäusern des 19. Jahrhunderts. Die Wände der geschlossenen Anstalt sind lediglich um den gesamten Planeten gezogen.

Brüter – Was hieße es, den Idiotenbegriff etwa im Hinblick auf Platon und Marx wieder zu politisieren, ihn in die gesellschaftliche Wirklichkeit zu überführen und seine planetarische Reichweite neu zu bestimmen? Was Deleuze & Guattari über die Geschichte der Philosophie schreiben, gilt auch für die Geschichte des Idioten, die „völlig uninteressant [ist], wenn sie sich nicht vornimmt, einen eingeschlummerten Begriff wieder zu wecken, ihn auf einer neuen Bühne wieder aufzuführen – und sei es um den Preis, ihn gegen sich selbst zu kehren“. Den Begriff zu wecken heißt, ihn von allen Seiten neu zu umgreifen, ihn im Sinne Parkers „als konzeptuelles Werkzeug zu verwenden, um ein zentrales gesellschaftliches Problem“ der Gegenwart zu klären, nämlich die Selbstabschottung im Zuge der Singularisierungsapparaturen und die damit einhergehenden Paradoxien des Herdenverhaltens dieser Hyperindividualisierten. Übliche Dichotomien wie privat/öffentlich, Ich/Welt, selbst/andere, Individuum/Masse, Individuum/Dividuum usw. müssen womöglich am Beispiel des Idioten neu durchdekliniert werden. „Idioten brüten das Jahrhundert aus“, schreibt Tristan Tzara. „Jahrhunderte später beginnen sie von Neuem.“ Ist es wieder an der Zeit?

Ego-Ökonomie – Heutige Gesellschaftsanalysen fokussieren weniger auf den im politischen Phänomen steckenden Idiotismus als vielmehr auf den Egoismus, dem Profit aus den Miseren anderer. Der Unterschied wird im humanistischen Bild deutlich: Ein Kupferstich Pieter Bruegels d. Ä. stellt den Egoisten als jemanden dar, der sich am Hausbrand seines Nachbarn wärmt. Francis Bacon erweitert das Bild, wenn er von den Selbstverliebten schreibt, dass sie ihr Haus anzünden würden, nur um sich Rühreier zubereiten zu können. Wo sich das Eigeninteresse ins Gegenteil verkehrt, entsteigt der von einem aufdringlichen „interesse­losen Wohlgefallen“ getriebene Idiot. Der typische Egoist will dagegen zu jeder Zeit das Optimale für sich erzielen, und im Gegensatz zum Idioten wähnt er sich nicht alleine. Marx schreibt in Das Elend der Philosophie (1847): „Jeder Egoismus spielt sich ab in der Gesellschaft und vermittelst der Gesellschaft. Er setzt also die Gesellschaft voraus, das heißt gemeinsame Ziele, gemeinsame Bedürfnisse, gemeinsame ­Produktionsmittel etc.“ Der Karrierist bewegt sich mit seinen Gelegenheiten, der Idiot quer zu ihnen. „Wenn ein ‚Idiot‘, ein uneigennütziger Mensch, in die Welt von Egoisten fällt, so wird es schlecht enden“, lautet das Fazit einer Bühnenfassung von Dostojewskis Roman. Egoisten sorgen daher für gesellschaftliche Sicherheitsvorkehrungen. Im Finanzgewerbe entspricht dies den sogenannten Golden Parachutes, Abfindungen und staatlichen Bail­outs, mit denen sich die Akteure retten können, wenn es ‚zu brenzlig‘ wird. Auch wurden mit dem Aufkommen des Shadow Banking Systems seit den 1990er Jahren im Wertpapierhandel Risiken zunehmend mit komplexen Absicherungsmechanismen wie etwa Kreditderivaten kombiniert. Im günstigsten Fall, dass das Haus des Nachbarn Feuer fängt, verspricht etwa ein Credit Default Swap das Maximum an Wärme, das man aus dem Brand generiert. Vor allem in der Weltfinanzkrise von 2007 pervertierte sich das globale Profitinteresse, als Kredite aus Bankbilanzen verschwanden und in Schattenbanken ausgelagert wurden, bis jeder den Marktüberblick verlor. Der gewiefteste Erfolgsstratege wird zum Idioten, wenn er das Feuer so lange schürt, bis sich seine Karriereleiter vor lauter Hitze zum Hamsterrad krümmt.

Die Eier der Welt – Bruegels Figur des Narren aus derselben Kupferstichserie kommt einer Genese des Idioten nahe: Es stellt einen Betrunkenen dar, der ein Ei ausbrütet, worin ein Narr zum Vorschein kommt. Der Berauschte reproduziert sich selbst, seine Aktivität ist Selbstzweck. Der Selbstbrüter „holt den eigenen Idioten hervor“. Hat sein Schaffensrausch nicht auch etwas von der erfüllten Konsumseligkeit, die man als Kaufrausch bezeichnet, und werden Spekulationsgeschäfte trotz aller ihnen innewohnender Profitrationalität nicht als Rausch beschrieben? Es drängt sich die Bildsprache in Martin Scorseses The Wolf of Wall Street auf, wo sich Investitionen und Injektionen, Wertpapiere und Prostituierte in konzentrischen Bewegungen ineinander schlingen. Für diesen Eiertanz des Bewusstseins hat der Finanzökonom Willem Buiter den Begriff „cognitive regulatory capture“ geprägt: Das ist „der Prozess, durch den die Verantwortlichen der zuständigen staatlichen Stelle die Ziele, Interessen, Ängste, Hoffnungen und die Wahrnehmung der Realität des ihnen übertragenen Teilbereichs, den sie regeln sollen, internalisieren und wie bei einer Osmose übernehmen“. In Adam McKays Film The Big Short (2015) spiegelt sich dieses kognitive Staatsversagen in der Figur einer Finanzegulierungsbeamtin wider, die sich in Las Vegas an einem Pool mit einem Broker von Goldman Sachs vergnügt. Die Libido schafft sich eine eigene Familienaufstellung – die Vermählung der Regulierer mit den Regulierten. McKay verstand es im übrigen auch, den Kern der Finanzkrise mit einem an Idiota gemahnenden Freak in deren Epizentrum darzustellen: Dr. Michael Berry, das einäugige, autistische und verschrobene Finanzgenie, wittert den Kollaps als Erster, weil sein Idioteninstinkt ihn mit der allgemeinen ökonomischen Entwicklung synchronisiert. Was bei Idiota der Holzlöffel, ist bei Berry der Heavy Metal. Berrys unmusikalisch agierende Kollegen können die ökonomische Realität der sich anbahnenden Immobilienkrise nicht erkennen. Berry wird als Dilettant beschimpft, weil er den Subprime-Markt dort in Bewegung geraten sieht, wo sich alle anderen im Sumpf des ökonomischen Equilibriums suhlen. Am Ende hat der Idiot mit seinen Vorhersagen alle Wirtschaftsexperten übertrumpft. Ähnlich besticht ein weiterer Protagonist, Jarred Vennett, in einer Szene, als er sich instinktiv zuflüstert: „I smell money“, bevor er eine Investmentfirma von seiner CDO-Strategie überzeugt. Das ist der Idiotenfaktor, die Ebene, die unterhalb der Dummheit ansetzt – das Ich, das sich als Es gebärt: unverstandene Instinkte, die mit dem Interesse verwoben sind, für die das Wort „Profitgier“ unzureichend ist, weil es den Interessensfall abschließt, während das blinde Begehren und der Wille, der sein Gegenteil will, weiter darin rumoren. Die Gier ist ein ­Symptom des Egoisten, der klar abgesteckte Ziele verfolgt. Der Idiot agiert unterschwelliger und widersprüchlicher. Das Alltägliche wird in ihm so lange weitergesponnen, bis es totale Bedeutung bekommt und die logische Struktur des Instinkts zur Entsprechung der Spekulation geraten lässt – kapitalgetriebene „Tiere in Menschenform“. In einer politischen oder ökonomischen Krise wird die Totalität dieser Sinnebene deutlich, tritt eine alternative Ordnung und Endperspektive der Gesellschaft zutage: Wenn heute ein Finanzexperte wie Kenneth Rogoff die Flexibilisierungen am Arbeitsmarkt mit dem Hinweis auf die positiven Effekte der „animal instincts“ lobt, vergisst er, dass gerade diese Instinkte auch permanent den Kollaps einfordern – Cognitive Capture of the Real.

Unterhalb der Dummheit – Idioten sind keine Dummköpfe. Wenn Wittgenstein anmerkt, dass „unsere größten Dummheiten sehr weise“ sein könnten, und dass der „amerikanische dumme und naive Film […] in aller seiner Dummheit und durch sie belehren“ könne, dann entdeckt er einen Idiotypus in sich, dessen Einfältigkeit Ursprung des Wissens ist, ohne dass damit eine Belehrung einhergeht. Bestimmte Propaganda oder Werbeanzeigen muten hingegen dumm an und nicht idiotisch, weil sie etwas rationalisieren, was der emanzipierte Betrachter von vornherein als hinterhältig ablehnt. Denn Dummheit ist nicht naiv, sondern dreist („dummdreist“). Und sie ist eine bemühte Form der Rationalisierung, deren Unterbau fehlt. Der strategos kann eine Dummheit begehen, der idiotes nicht, weil man von ihm nicht die übliche Abfolge von Gedanken erwartet. Er gibt zu, dass die Notwendigkeit der Abfolge zufällig ist. Die Gründe des Dummkopfs führen folgerichtig und konventional zueinander, aber entweder sind die ihnen zugrunde liegenden Annahmen falsch, oder die Verknüpfungen fadenscheinig. Deshalb hat die ­Entlarvung der Dummheit keinerlei Mehrwert, man hat nichts davon, sie zu durchschauen. Wenn man sie an sich selbst entdeckt, wenn man sie in sich aufsteigen sieht, wie dies Foucault einmal formulierte, schämt man sich ihrer, weil sie so durchschaubar und nutzlos ist. Der ideal­typische Idiot hingegen rationalisiert gar nichts, und wenn, dann mühelos. Dumm­köpfen ist Denken und Anstrengen ein und dasselbe. Robert Musil spricht von der „höheren Dummheit“, die er von der „einfachen Dummheit“ unterscheidet. Letztere ordne ich dem besinnungslosen Weisen zu, der seine „libidinöse Dummheit“ (Lyotard) mit einer unergründlichen Intelligenz gekoppelt hat, wie etwa obiges Finanzgenie. Das ist die Erkenntnisebene, von der Wittgenstein schreibt. Der Dummkopf ist der rationale Ignorant im Bann eines extrovertierten Körpers.

Null-Denken – Clément Rosset schreibt: „Die Dummheit ist von unternehmungslustigem Wesen: sie besteht […] darin, andauernd Botschaften auszusenden. Sie spricht und muss dem gesagten permanent etwas ‚hinzufügen‘.“ Der Dummkopf hat seinen -kopf, d.h. er räsoniert permanent, der azephale Idiot hat nur sich, und wenn er Glück hat, dann hat er auch noch recht. Der Unterschied ist wichtig, weil er die IQ-Hegemonie herausfordert: Die Intelligenten bleiben nicht unter sich, sondern mischen sich unters Volk, entweder mit einem Überfluss an Erklärung oder mit praktischer Überforderung. Wie der US-Psychologe Stephen Greenspan betont: „Poor reasoning involves faulty thinking while irrationality involves clueless behavior.“ Greenspan zeigt in seinen Foolishness Studies, dass diese Unterscheidung von der IQ-Debatte getrennt werden muss, vor allem wenn es um Alltagssituationen geht. Einmal sagte mir eine ältere Dame, während sie auf meine dreijährige Tochter zeigte: „Die Kleine sieht genauso wie die Tochter meiner Nachbarin aus.“ Beide Kinder sind blond, das ist die ‚Ähnlichkeit‘. Etwas als spezifische Einsicht verlautbaren, der nur eine allgemeine oder gar keine zugrunde liegt, ist dumm. James Weller definiert daher die Dummheit als „erlernte Korruption des Lernens“, d.h. eine Rationalisierung einer Erfahrung, welche authentisches Erleben zugunsten einer Konvention entstellt und die Möglichkeit weiterer authentischer Erlebnisse sabotiert. Ohne Dummheit könnte man innovativ mit Situationen umgehen, sie als neue, eigene Situationen verstehen lernen. Der Idiot macht das ohnehin, weil er das Getriebe der Konventionen nicht durchdrungen hat. Man erklärt Dummheiten manchmal als „menschliche Reaktionen“, z.B. dass jemand betont, einen gerade Verstorbenen „gestern noch gesehen zu haben“, oder schockiert darüber ist, dass er „von heute auf morgen nicht mehr da ist“, obwohl derlei Aussagen der Tatsache seines Todes nichts hinzufügen. Dennoch wird das so gesagt, als ob es Erkenntniswert habe. Man erklärt, wo keine Erklärung ist und wo Schemata auftauchen, die als Floskeln über Situationen gestülpt werden. „Wir sind umso dümmer in unseren Handlungen, je weniger unwissend wir sind“ (Charles Richet). Wenn obige Frau über meine Tochter gesagt hätte: „Die Kleine hat zwei Ohren und sieht deshalb genauso aus wie die Tochter der Nachbarin, die auch zwei Ohren hat und eine Tochter ist“, dann hätte man sie in den Idioten-Olymp aufnehmen können. Es ist vielleicht so, dass viele Menschen ihren inneren Idioten spüren, ihn aber rational zu übertünchen versuchen und sich dadurch zu Dummköpfen machen – gemäß der Überlegung: Das, was gerade in meinem Kopf vor sich geht, ist ziemlich peinlich. Also gebe ich nicht diese ersten Gedanken, sondern nur die Erklärungen dieser Gedanken verbal von mir, um mir keine Blöße zu geben. Ein Dummkopf kriegt auf Dauer nichts mehr mit, weil er seine Lebenswelt mit Konzepten verklärt, die mit der Ideologie des zwischenmenschlichen Verständnisses operieren. Oder wie es Avital Ronell ausdrückt: „The dummkopf works only with the known“.

Hyperintellekt – Slavoj Žižek macht den Unterschied zwischen Idiot und Dummkopf an der Rolle des Großen Anderen fest. Der Idiot „ist eine (bisweilen) hyperintelligente Person, die ‚es‘ einfach nicht versteht, die eine Situation logisch versteht, aber ihre versteckten kontextuellen Regeln nicht erkennt. Ein Beispiel: Als ich zum ersten Mal nach New York kam, fragte mich ein Kellner in einem Cafe: ‚How was your day?‘ Die Phrase mit einer genuinen Frage verwechselnd, antwortete ich ihm wahrhaftig (‚ich bin todmüde, im Jetlag, gestresst …‘), und er schaute mich an, als ob ich ein kompletter Idiot sei … und er hatte recht.“ Verwandt ­hiermit sind Kategorien von Witzen, in denen der Idiot als jemand dasteht, der ­einfachste Sachverhalte grundsätzlich verkennt, der z.B. beleidigt erklärt, keine Witze mehr zu erzählen, weil die Leute immer so darüber lachten, oder eine Waschmaschine mit dem Fernseher verwechselt („Bild dreht sich ständig“), oder wo ein Idiot einen schweren Stein mit sich führt, um ihn bei Gefahr abzuwerfen und schneller weglaufen zu können, oder wo generell ein gewisser Grundzweifel über die Beschaffenheit der Dinge auftritt („Warum leuchtet die Sonne nur tagsüber?“). Der Dummkopf hingegen identifiziert sich nach Žižek vollkommen mit dem Common Sense und steht komplett „für den ‚großen Anderen‘ der Erscheinungen“, d.h. er redet mit der Sprache der vermeintlichen Allgemeinheit, denkt, ohne eigene Gedanken zu formulieren, aber im Unterschied zu Woody Allens Zelig, dem menschlichen Chamäleon, glaubt er sich souverän über den Dingen. Der Idiot hat nur eigene Gedanken oder nur fremde Gedanken, und er verbleibt in der Isolation, in der ihm grundlegendste Injunktionen der Gemeinschaft ein Rätsel bleiben. Das Interface zwischen Individuum und Gesellschaft ist ihm ein Rätsel. Žižek erwähnt eine Episode aus Jaroslav Hašeks Der brave Soldat Schwejk, in der dieser während eines Feuergefechts ins Niemandsland rennt und warnend ausruft: „Nicht schießen! Da sind Leute auf der anderen Seite!“ Und der Idiot hat ja recht: Da sind tatsächlich Leute auf der anderen Seite. Schwejks Gesinnungsbruder Forrest Gump, der auch im Kampfgebiet landet, ruft aus: „Gewehrkugeln und Zeugs fliegen mir um die Ohren. Ich kapier das einfach nich – warum zum Teufel tun wir das alles?“ Dummköpfe sind diejenigen, die dem Krieg eine rationale Rechtfertigung geben. Der Idiotenkrieg hingegen kennt nur eine Seite, die Seite der Menschheit. Es wäre aber falsch, Schwejk oder Gump als Pazifisten auszuzeichnen, da es ihnen nicht um eine Abwägung zwischen Krieg und Frieden geht. Krieg wäre schon in Ordnung, nur sollte dann nicht so herumgeballert werden. Diese ethische Textur des Idioten wird im Witz von einem Zeitgenossen deutlich, der eine Atombombe mit einem Seil hinter sich herzieht. Als ihn jemand darauf anspricht, dass das Ding losgehen könnte, antwortet er: „Kein Problem, ich habe noch eine zweite“. Dieselbe affirmative Ethik leitet Schwejk, wenn er aufgefordert wird, den idiotischen Ausdruck von seinem Gesicht zu nehmen, und er antwortet, dass das nicht ginge, weil er jetzt ein „offizieller Idiot“ sei.

Prozeduren – Die Tendenz, etwas zu behaupten, weil andere daran glauben, ohne selbst daran glauben zu müssen, erzeugt Dummheitsprozeduren, die man als Form der Interpassivität (Robert Pfaller) deuten kann. Durch Konformitätsdruck entstehen wohl die meisten Dummheiten, weshalb inzwischen die Schwarmdummheit zum geflügelten Wort geworden ist. Greenspan macht vier Areale aus, in denen sich derlei Defizite manifestieren:

1) die situative Logik (der Moment, in dem die Kommunikation stattfindet)

2) der kognitive Aspekt (was geht einem durch den Kopf?)

3) Persönlichkeit (was ist das für ein Mensch?)

4) der Zustand (wie geht es der Person?)

Das sind Dummheitsareale, die Subjekt-Eigenschaften oder soziale Strukturen betreffen. Manche Situationen erzeugen etwa eine Verlegenheit, die einen zwingt, etwas zum Thema zu machen, das keines ist – verfehlter Small Talk. Oder man ist erschöpft und ‚begeht eine Dummheit‘. Hier geht es um die Performanz der Vernunft – oder wie es Forrest Gump ausdrückt: „stupid is as stupid does“. Carlo M. Cipolla folgt diesem funktionalen Aspekt und theoretisiert die Dummheit in seinem Buch The Laws of Stupidity im Rahmen einer Ökonomie des Versagens: Wenn alle an einer gesellschaftlichen Transaktion beteiligten Parteien Verluste erfahren (lose-lose), dann muss mindestens ein Dummer daran beteiligt gewesen sein. Ein Dummer sorgt durch sein Handeln für den Verlust aller. Dummheit betrifft nach Cipolla eine gleichbleibend große Gruppe von Akteuren unabhängig vom gesellschaftlichen Zusammenhang. Ob Straße, Ballettschule oder Parlament: Stets sei der Anteil an Dummen gleich. Ihre Gefährlichkeit werde dabei chronisch unterschätzt, auch weil es immer mehr Dumme gibt, als man vermutet. Wer sich in intellektuelle Umgebungen begibt, z.B. Universitäten, wird erstaunt sein, wie hoch der Anteil an Dummen ist, und dies lässt sich nicht nur an der Häufigkeit festmachen, in der manches universitäre Verhalten zum Nachteil aller Beteiligten führt: Das geschäftige Desinteresse von Studenten führt zur Frustration der Lehrenden, das systemische Konkurrenzgebaren der Lehrenden und die „praxisorientierte“ Lehre führen zur Trivialisierung der Forschung und der Aufgabe von Wissensidealen, was an die Szene in L.A. Confidential erinnert, als ein neuer Cop einen altgedienten fragt: „Warum bist du Polizist geworden?“ Und der andere antwortet: „Ich habe es vergessen.“ Könnten das heute nicht auch manche Professoren von sich sagen, die in administrativen Abläufen versinken oder sich als neoliberale Manager versuchen? Viele „kommen dümmer aus diesen Institutionen heraus, als sie hineingegangen sind, weil sie vor allem gelernt haben, was zu denken sich nicht lohnt“ (Metz & Seeßlen). Aber steckt nicht auch Grundsätzliches hinter dieser Polemik, wenn Nietzsche schon in der gesamten europäischen Geistesgeschichte eine grandiose Verdummungsübung erblickt, die zugleich die Fundamente der abendländischen Rationalisierung bestimmt hat: „Daß jahrtausendelang die europäischen Denker nur dachten, um etwas zu beweisen […], daß ihnen bereits immer feststand, was als Resultat ihres strengsten Nachdenkens herauskommen sollte […] – diese Tyrannei, diese Willkür, diese strenge und grandiose Dummheit hat den Geist erzogen.“ Nietzsches Punkt ist, dass Dummheit und Wahrheit keine Gegensätze sind. Denn Wahrheit muss erklärt werden, wo sie sich nicht als Epiphanie selbst erklärt. Wenn Evidenz allerorten wäre, gäbe es kein Denken, sondern nur Idiotenblick. Das Jahrhunderte währende Räsonieren im theologisch-philosophischen Hamsterrad hat demnach scholastische Dummheiten produziert, die dahingehend produktiv gewesen sind, dass sie das Denken in Bewegung gesetzt haben – auch dort, wo es gar nicht nötig war. Insofern darf man die Universitäten heute ermuntern, durch permanente institutionelle Optimierungen der Dummheit mittels Hochschulreformen, Wissensspezifizierungen und Bürokratisierungen die Denkmaschinerie weiter anzuheizen – je sinnloser und ineffektiver, desto besser fürs Denken. Emil Cioran behauptet, dass der Geist nur Fortschritte mache, wenn er die Geduld aufbringe, um sich zu kreisen. Und was könnte die institutionelle Vernunft besser? Was könnten die Archivare des Wissens besser? Die Idioten benötigen die Dummen, um den Idioten Struktur zu geben. Und die Dummen benötigen die Idioten, um diese Strukturen auszuhebeln. Nach Orson Welles sind Idioten daher „eine weise Einrichtung der Natur, die es den Dummköpfen erlaubt, sich für klug zu halten“.

Status – Ein weiterer Aspekt der Konstellation von Idiotie und Dummheit betrifft die Frage des sozialen Status. Es ist unmöglich, eine begangene Dummheit zu überspielen, wenn es um den Status geht. Der ehemalige republikanische Kandidat um die US-Präsidentschaft, Rick Perry, gab 2012 ein treffendes Beispiel, als ihm während einer Debatte einer der Eckpunkte seines Wahlkampfprogramms nicht einfallen wollte, er aber darauf insistierte, dass er sich daran erinnern könne, was aber nicht gelang. Man kann ja alles mögliche versuchen, aber man kann niemandem weismachen, dass man sich erinnerte, wenn man sich nicht erinnert. Mit anderen Worten: Perry machte sich zum Dummkopf. Wenige Tage später ging er in die PR-Offensive und versuchte durch Auftritte in Comedy-Sendungen selbstironisch auf ‚dumm zu machen‘, indem er in einem Sketch bei einfachsten Aufzählungen Erinnerungslücken vortäuschte. Es half nichts: Als endgültiger Dummkopf markiert, schied der Texaner aus dem Rennen. Etwas später setzte sich Perry eine Hornbrille auf, die ihn intellektuell erscheinen lassen und dem Dummen-Image entgegenwirken sollte. Es half nichts: Perry verblieb im Dummenloch und schied aus dem Rennen. Das Problem ist, dass allzu offensichtliche Entdummungsstrategien den Double Bind, in dem sich der Kandidat befindet, verstärken. Die Berater der ehemaligen Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin haben nach öffentlichen Peinlichkeiten Palins (räsonierend, sie könne von ihrem Fenster aus Russland sehen usw.) gar nicht erst versucht, ihr eine Entdummungsstrategie nahezulegen. In solchen Fällen hilft nur strategische Idiotisierung: Palin bekam als authentische Stimme des ruralen Amerika (Tea Party, später Freedom Caucus) eine eigene Fernsehshow und wurde zur öffentlichen Idiotin, die nun ungefiltert alles von sich geben konnte, was sie wollte. Hier irgendwo muss man im übrigen die Geburt der modernen „post-truth politics“ ­ansetzen: ­Palins wichtigster Unterstützer war der spätere Trump-Berater Steve Bannon. Die Dummheitssymptome der Macht treten im Moment auf, wo diese droht, ad absurdum geführt zu werden. Der Dummkopf ­versucht dann, die Kommunikation mittels Konventionen unter Kontrolle zu bekommen, während der Idiot forsch alles über Bord wirft und sich um nichts schert. Sagen, wie es ist, auch wenn es nicht ist. Der Kreis schließt sich. Donald Trump holte mit dieser Idiotengeste Perry später als Energieminister ins Kabinett und installierte damit einen Klimaschutzgegner an der Spitze der Klimaschutzbehörde. Die Schamlosigkeit hat so gesehen ihre Richtigkeit. Es sind hier zwei Machtprozeduren angesprochen: Der Idiot verkörpert die anarchische Ader der Macht, der Dummkopf ihre rationale Struktur.

Duett – Im Gegensatz vom Dummkopf und Idioten schimmert Federico Fellinis weltgeschichtliche Konstellation von Weißer Clown und Dummer August