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Leena Lehtolainen

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Beschreibung

Tödliche Zeilen Maria Kallio ermittelt wieder: Der Besitzer eines kleinen Verlages meldet seine Frau, die Journalistin Annukka Hackman, als vermisst. Kurz darauf finden Elchjäger im Waldsee ihre Leiche. Was zunächst wie ein Jagdunfall aussieht, entpuppt sich bald als Mord. Das Manuskript, an dem die Tote arbeitete, scheint keine außergewöhnlichen Enthüllungen zu beinhalten. Zumindest auf den ersten Blick nicht … Maria Kallios siebter Fall «Ein Super-Krimi.» (Hamburger Morgenpost)

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Seitenzahl: 461

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Leena Lehtolainen

Im schwarzen See

Maria Kallios siebter Fall

 

 

Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara

 

Über dieses Buch

Tödliche Zeilen

 

Maria Kallio ermittelt wieder: Der Besitzer eines kleinen Verlages meldet seine Frau, die Journalistin Annukka Hackman, als vermisst. Kurz darauf finden Elchjäger im Waldsee ihre Leiche. Was zunächst wie ein Jagdunfall aussieht, entpuppt sich bald als Mord. Das Manuskript, an dem die Tote arbeitete, scheint keine außergewöhnlichen Enthüllungen zu beinhalten. Zumindest auf den ersten Blick nicht …

 

Maria Kallios siebter Fall

 

«Ein Super-Krimi.» (Hamburger Morgenpost)

Vita

Leena Lehtolainen, 1964 geboren, lebt und arbeitet als Kritikerin und Autorin in Degerby, westlich von Helsinki. Sie ist eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen Finnlands.

Impressum

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel «Veren Vimma» bei Tammi, Helsinki

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2009

Copyright © 2006 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Veren Vimma» Copyright © 2003 by Leena Lehtolainen

Published by agreement with Tammi Publishers, Helsinki, Finnland

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-30091-0

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Eins

Ich hatte noch nie einen Menschen getötet, aber jetzt war ich dazu gezwungen. Als ich mich dem Ufer näherte, hörte ich, wie Annukka vom Felsen ins Wasser sprang. Ihre Sachen lagen einige Meter vom Ufer neben einem Baumstumpf. Ich wusste, dass sie eine Pistole in der Handtasche hatte. Damit würde ich es tun.

Leise schlich ich mich heran und machte die Handtasche auf. Ich trug Gummihandschuhe und einen Wegwerfregenmantel, über die Schuhe hatte ich Plastikbeutel gezogen, und meine Haare waren unter einem Hut verborgen. Ich würde keine Spuren hinterlassen.

Die Pistole fühlte sich schwer an. Ich überzeugte mich, dass sie geladen war. Das Magazin war voll, aber ich hoffte, ein Schuss würde genügen.

Annukka schwamm zügig, ihr blondes Haar lag wie ein Fächer auf dem Wasser. Ich entsicherte und zielte. Mit einem dumpfen Knall löste sich der Schuss, Annukkas Kopf zuckte. Kein Schrei. Die Leiche schaukelte auf den Wellen, der Neoprenanzug hielt sie über Wasser.

Ich wartete einige Minuten, bevor ich auch den Autoschlüssel und das Handy aus ihrer Handtasche nahm. Das Handy schaltete ich sofort aus, ging dann auf Umwegen zu Annukkas Wagen und durchsuchte ihn, fand aber nicht, was ich wollte. Ich musste mit leeren Händen zurückkehren, bevor die Dunkelheit undurchdringlich wurde. Meinen eigenen Wagen hatte ich in etwa einem Kilometer Entfernung geparkt. Auf dem Weg dorthin, am Waldrand entlang, begegnete mir kein Mensch. Auch auf der Fahrt durch das Zentrum von Kirkkonummi und weiter nach Eestinkylä kam mir niemand entgegen. Es war inzwischen völlig dunkel. Auf der Brücke in Vårnäs hielt ich an, warf Pistole, Schlüssel und Handy ins Wasser, zog die Schutzkleidung aus und legte sie ins Auto. Ich würde sie irgendwo anders fortwerfen. Dann fuhr ich in die Stadt.

Erst zu Hause fing ich an zu zittern.

Zwei

An diesem Morgen hätte ich lieber nicht in den Spiegel geschaut. Unter den Augen lagen dunkle Schatten, meine Haare waren hoffnungslos verfilzt. Beim Frühstück weigerte sich Iida, ihren Brei zu essen, und Taneli beschwerte sich, seine Portion sei zu heiß. Er hatte ja Recht: Ich hatte verschlafen und deshalb keine Zeit gehabt, den Brei abkühlen zu lassen.

Ich packte Schlechtwetterkleidung in die Kindergartentaschen, denn es war wieder einmal Schneeregen angesagt. Iida wollte statt Gummistiefeln unbedingt ihre Winterschuhe anziehen, und um zur morgendlichen Lagebesprechung nicht zu spät zu kommen, gab ich schließlich nach. Noch zwei Tage bis zu Anttis Rückkehr! Die Kinder kreischten im Treppenhaus, ich hatte bisher vergeblich versucht, ihnen beizubringen, wie man sich in einem Hochhaus zu benehmen hat. In Gedanken verfluchte ich den Unbekannten, der gerade im Aufzug geraucht hatte. Obwohl die Standheizung schon seit zwei Stunden lief, war das Rückfenster vereist.

Zuerst brachte ich Iida in die Vorschulgruppe, dann lieferte ich Taneli in der Gruppe der unter Dreijährigen ab. Seine Hausschuhe waren unauffindbar, obwohl ich genau wusste, dass ich sie gestern Nachmittag in sein Fach gelegt hatte. Schließlich entdeckte ich sie neben den Schluppen eines anderen Kindes.

Im Auto schob ich eine Kassette der Gruppe Rehtorit ein und drehte voll auf. «Polizisten sind Helden», behauptete die Band, doch ich fühlte mich absolut nicht heldenhaft. Wieso hatten mich die zwei Wochen, in denen ich mit den Kindern allein war, an den Rand der Erschöpfung gebracht? Und das, obwohl es am Arbeitsplatz ruhig zugegangen war, es lagen fast nur simple Routinefälle an. In der vorigen Woche, als Iida erkältet gewesen war, hatte ich sogar unbesorgt zu Hause bleiben und sie pflegen können.

Es waren die durchwachten Nächte, die mich zittrig machten. Denn wenn Antti nicht zu Hause war, fand ich einfach nicht ins Bett. Ich sah mir ein melodramatisches Video nach dem anderen an, hörte über Kopfhörer Musik und trank zu viel Whisky. Wenn ich allein war, rasten meine Gedanken wild durcheinander, sodass mir nichts anderes übrig blieb, als in Phantasiewelten und schräge Harmonien zu entfliehen.

Ich parkte auf meinem persönlichen Stellplatz in der Tiefgarage des Präsidiums, neben Jyrki Taskinens Saab, der selbst bei diesem Schmuddelwetter vor Sauberkeit glänzte. Mir blieb gerade noch Zeit, den Mantel in mein Dienstzimmer zu bringen und mir einen Kaffee zu holen, bevor ich in den Besprechungsraum ging, wo meine Mitarbeiter bereits auf mich warteten.

Ursula alberte mit Puupponen herum, Puustjärvi döste. Die anderen waren wach, aber schweigsam. Koivu fehlte. Ich trank einen Schluck Kaffee, dann fing ich an.

«Guten Morgen allerseits. Wo steckt Koivu?»

«Er hat einen Kunden und kommt, sobald er frei ist», wusste Autio zu berichten.

Sämtliche Fälle waren in Bearbeitung, es gab keine Unklarheiten. Wir hatten es nur mit unkomplizierten Voruntersuchungen zu tun, die wir bald an die Staatsanwaltschaft weiterleiten konnten. Vergewaltigungen, Körperverletzungen, eine Messerstecherei, häusliche Gewalt. Das war unsere Welt.

Am Wochenende hatte die Saison der vorweihnachtlichen Betriebsfeste begonnen, worauf die Zahl der Schlägereien und versuchten Vergewaltigungen sofort in die Höhe geschnellt war. Von nun an würde es nur schlimmer werden, bis die Welle an den Weihnachtstagen ihren Höhepunkt erreichte.

Die Weihnachtsfeier der gesamten Kripo würde am Freitag in einer Woche stattfinden, und ich freute mich schon darauf, mit Taskinen zu tanzen.

Koivu kam herein, setzte sich und polierte seine Brille. Auch er wirkte nicht gerade taufrisch. Sein drei Monate altes Baby hielt ihn immer noch nachts wach. Ein paarmal hatte ich ihn mitten am Tag schlafend im Ruheraum gefunden.

«War dein Kunde so wichtig?», fragte ich, denn es war üblich, dass alle an der Morgenbesprechung teilnahmen.

«Furchtbar aufgeregt war er jedenfalls. Atro Jääskeläinen heißt er, und er macht sich Sorgen um seine Frau, eine gewisse Annukka Hackman, die seit Montagabend verschwunden ist.»

«Soll er doch froh sein», brummte Lähde, der, wenn man seinen Geschichten Glauben schenken wollte, mit der nörglerischsten und tyrannischsten Frau der Welt verheiratet war.

«Ist er aber nicht. Er kann sie nicht erreichen, ihr Handy ist ausgeschaltet, Freunde und Verwandte wissen von nichts. Herr Jääskeläinen möchte, dass wir es mit einer GPS-Ortung versuchen.»

Der Name Annukka Hackman kam mir irgendwie bekannt vor, aber ich konnte mich nicht erinnern, woher.

«Ist die Dame eine von der treuen Sorte?», wollte Ursula wissen.

«Das habe ich ihn auch gefragt, aber daraufhin regte er sich nur noch mehr auf. Jedenfalls ist es für beide nicht die erste Ehe.»

«Die kommt zurück, wenn ihr Liebhaber sein Pulver verschossen hat, wartet’s nur ab», schnaubte Lähde, und wir wandten uns dem nächsten Fall zu.

Gegen Mittag, als ich Unmengen von Überstundenformularen ausgefüllt hatte und gerade in die Kantine gehen wollte, blinkte eine Intranet-Meldung über einen neuen Fall auf dem Bildschirm auf. Ich hatte kaum hingeblickt und das Wort «Leiche» gelesen, als Puustjärvi auch schon mit rotem Gesicht in mein Büro getrampelt kam.

«Am Humaljärvi haben Elchjäger aus Versehen eine Frau erschossen.»

«Wohl zu viel Zielwasser getrunken? Humaljärvi – ist das nicht dieser kleine See in Kirkkonummi?»

«Genau.»

«Dann fahr mit Koivu hin, du kennst dich in der Gegend am besten aus.»

«In Ordnung», sagte Puustjärvi gehorsam, es fehlte nicht viel und er hätte salutiert. «Dieser Fall geht natürlich vor?»

Ich nickte, während ich in Gedanken bereits die anliegenden Fälle mit neuen Prioritäten versah. Die leichten Körperverletzungen würden warten müssen.

Puustjärvi ging und ließ die Tür hinter sich offen. Ich sah zum Fenster hinaus. Der Schneeregen hatte aufgehört, aber der Himmel war dunkelgrau, und der Nordwind ließ die Fahnen flattern, die anlässlich des Tages der Finnlandschweden aufgezogen waren. Plötzlich schien es mir verlockend, den eisigen Wind im Gesicht zu spüren. Kurz entschlossen stand ich auf, nahm den Mantel aus dem Schrank und schlüpfte in die Winterstiefel.

Auf dem Korridor war Puustjärvi gerade dabei, Koivu über den Leichenfund zu informieren. Ursula und Puupponen hatten sich dazugesellt. Die Frau war offenbar beim Schwimmen von einer Kugel getroffen worden.

«Weiß man schon, um wen es sich handelt?»

«Keinerlei Papiere. Sie war blond, so viel steht fest, aber von ihrem Gesicht ist nicht viel übrig geblieben. Die Jäger sollen übrigens völlig nüchtern sein.»

«Na schön, dann wollen wir mal», sagte ich zu Koivu und Puustjärvi.

«Kommst du auch mit?», fragte Koivu verwundert. Seit der Rückkehr aus dem Erziehungsurlaub hatte ich mich strikt auf Schreibtischarbeit beschränkt. «Juckt es dich, den verantwortungslosen Jägern die Leviten zu lesen?»

«Nee, ich hab bloß keine Lust, ständig am Schreibtisch zu sitzen», knurrte ich. In den letzten zehn Tagen hatte ich keine Zeit zum Joggen gehabt, ich sehnte mich nach frischer Luft.

«Kallio, das Fitnesswunder, immer bereit, sich ins Gebüsch zu schlagen», grinste Koivu.

«Du kannst mich mal», entgegnete ich gut gelaunt; ich freute mich darauf, nach langer Zeit wieder einmal mit ihm draußen zu arbeiten. Ursula sah uns verwundert an. Zwei Wochen nach ihrem Dienstantritt hatte sie Puupponen gefragt, ob ich ein Verhältnis mit Koivu hätte. Puupponen wäre vor Lachen fast vom Stuhl gefallen. Er wusste, dass Koivu für mich eine Art Mischung aus gutem Kumpel und kleinem Bruder war.

«Wie haben die es nur fertig gebracht, eine Frau mit einem Elch zu verwechseln?», fragte Puustjärvi, als wir von der Schnellstraße auf den Westring fuhren. Wir hatten ihm das Steuer überlassen, da wir es nicht eilig hatten. Puustjärvi hielt sich nämlich gewissenhaft an die Geschwindigkeitsbeschränkungen.

«Sie hatten einen Elch in den See getrieben und auf ihn angelegt. Irgendwer hat dann stattdessen die Frau getroffen», erklärte Koivu gähnend.

«Eine Frau und ein Elch im selben See? Schwer zu glauben. War die Frau unter dem Wind?»

«Bin ich etwa Meteorologe?», brummte Koivu verdrossen. «Sowieso verrückt, im November schwimmen zu gehen.»

«Der Humaljärvi hat nicht mal einen vernünftigen Strand, nur Gebüsch rundherum», seufzte Puustjärvi. «Wahrscheinlich eine Selbstmörderin. Vielleicht hat sie sich mit Absicht in die Schussbahn geworfen.»

Ich dachte an den Elchjäger, der unwillentlich einen Menschen getötet hatte. Mit Leuten, die in eine vergleichbare Situation geraten waren, hatte ich es schon ein paarmal zu tun gehabt: mit einem LKW-Fahrer, dem ein Betrunkener vors Auto gelaufen war, mit Lokomotivführern, die den Selbstmörder auf den Gleisen zu spät gesehen hatten, mit einem Vater, der sein einjähriges Kind nur ein paar Minuten unbeaufsichtigt in der Badewanne gelassen hatte. Für einige Sekunden bereute ich es doch, nicht am Schreibtisch geblieben zu sein.

Wir mussten unseren Wagen ganz am Anfang des Waldwegs stehen lassen, denn auf der schmalen Schneise, die zum See führte, standen bereits die Fahrzeuge der Jäger, der Kriminaltechniker und der Ortspolizei. Ich zog die Gummistiefel an.

In Ufernähe hatten Forstmaschinen tiefe Furchen in die Erde gerissen, sodass die Schneise immer unwegsamer wurde. Ich war bald außer Atem. Nach Tanelis Geburt hatte ich es nicht geschafft, meine alte Kondition wiederzugewinnen. Als wir ankamen, lief mir der Schweiß den Rücken herunter. Kostüm und Ledermantel waren nicht die beste Kleidung für diesen Einsatz.

Über der Leiche lag eine Plane. Die Jäger hatten die Tote aus dem Wasser geholt und aufgeregt, aber vergeblich nach dem Puls getastet. Ich nickte dem Kriminaltechniker Hirvonen zu und stellte mich dem Einsatzleiter der Ortspolizei vor. Dann zwang ich mich, unter die Plane zu schauen. Die Frau lag auf dem Bauch, ihr Körper steckte in einem schwarzen Taucheranzug. Auf dem Kopf kringelten sich blonde Locken, weiter unten, am Nackenansatz, war die Kugel eingedrungen. Ich hatte keine Lust, mir anzusehen, was vom Gesicht übrig geblieben war.

«Sie ist auf keinen Fall heute erschossen worden», sagte Hirvonen. «Guck sie dir an, Kallio. Totenstarre, Flecken an der Stirn, und unter dem Taucheranzug sind bestimmt noch mehr. Blut und Hirnmasse sind größtenteils weggespült. Sie hat stundenlang im Wasser gelegen, vielleicht die ganze Nacht.»

«Und die Schusswunde stammt nicht von einem Jagdgewehr», sagten Koivu und ich wie aus einem Mund. «Das war ein kleineres Kaliber.»

«Wer geht denn mit einer Pistole auf Elchjagd?», wunderte sich Puustjärvi.

«Vielleicht handelt es sich um ein Kleinkalibergewehr oder um eine .22er. Die kann man mit derselben Munition laden. Jedenfalls ist die Kugel am Kinn ausgetreten. Es dürfte sich kaum lohnen, den Seeboden abzusuchen, die Sorte von Kugeln zerspringt in winzige Stücke», seufzte Hirvonen.

«Schauen wir mal, wie weit wir ohne die Kugel kommen», sagte ich und wandte mich ab. Ich fühlte mich unendlich müde und spürte gleichzeitig, wie mein Adrenalinpegel stieg. Der vermeintliche Jagdunfall entpuppte sich als Mord – für mich der erste Mordfall seit drei Jahren.

«Wurden irgendwelche Ausweispapiere gefunden?»

«Nein, und bisher auch keine Kleidungsstücke, obwohl die Frau bestimmt nicht im Taucheranzug durch den Wald gelaufen ist. Aber wir suchen weiter», sagte einer der Polizisten aus Kirkkonummi.

«Koivu, erinnerst du dich an die Personenbeschreibung der vermissten Frau Hackman?»

«Blond, mittelgroß, schlank.»

Die Kennzeichen trafen auf das Opfer zu, aber das allein hatte noch nichts zu bedeuten. Wir bewegten uns nicht vom Fleck, um möglichst keine Spuren zu zerstören. Schade, dass die Jäger die Leiche aus dem Wasser geholt hatten, so konnten wir kaum noch feststellen, aus welcher Richtung der Schuss gekommen war. Zudem war die Tote womöglich von weit her angetrieben worden, denn der Neoprenanzug trug im Wasser, ähnlich wie eine Schwimmweste. Wir mussten feststellen, aus welcher Richtung der Wind in der letzten Nacht geweht hatte. Ich holte mein Notizbuch hervor, das ich immer bei mir trug, obwohl ich nur noch selten Vernehmungen führte, und stellte eine Liste der zu überprüfenden Punkte auf. Der Schweiß war mittlerweile getrocknet, ich begann zu frieren. Ich bat Koivu, die Vernehmung der Jäger zu organisieren, sie sollten uns zeigen, wo die Leiche auf dem Wasser getrieben war. Puustjärvi konnte inzwischen die Spurensuche koordinieren. Wahrscheinlich hatten sowohl die Elchjäger als auch wir Polizisten bereits einige Spuren kaputtgemacht. Aber irgendetwas würde sich trotzdem finden, wie immer.

Es dauerte nicht lange, bis Koivu mit einem relativ kleinen Mann mit feuchten Haaren zurückkam, der vor Kälte dermaßen zitterte, dass man kaum verstand, was er sagte. Seinen Namen bekam ich immerhin mit: Jaakko Halonen. Allerdings fragte ich mich, ob es sinnvoll war, mit ihm zu sprechen, denn obwohl er beteuerte, es ginge ihm gut, waren die Schocksymptome unverkennbar.

«Wir hatten einen Elchbullen eingekreist und eigentlich nicht damit gerechnet, dass er in den See laufen würde, aber genau das hat er getan. Einige von uns haben auf ihn geschossen, aber keiner hat ihn getroffen, wir haben nämlich gehört, wie er am anderen Ufer aus dem Wasser stieg. Ich habe ihn mit dem Fernglas verfolgt, und auf einmal sah ich die Frau …» Halonen schluckte. «Sie trieb auf dieser Seite, ziemlich nah am Ufer. Als alter Jäger sah ich sofort, dass sie tot war. Trotzdem … Penttilä meinte, wir sollten ein Boot holen, aber ich bin lieber gleich zu ihr hingewatet. Ich wollte sehen, ob wir ihr nicht doch noch helfen konnten. Die Polizei kann sicher feststellen, wer von uns …»

«Wie weit war die Leiche vom Ufer entfernt?», fragte ich und war beinahe froh, den Mann gleich von seinen Gewissensqualen erlösen zu können.

«Keine zehn Meter, und sie war so leicht …» Er zitterte immer heftiger.

«Danke, das war es auch schon. Und machen Sie sich bitte keine Gedanken mehr wegen der Schuldfrage, die Frau ist nicht mit einem Jagdgewehr erschossen worden. Vielen Dank, dass Sie die Leiche aus dem Wasser geholt haben», versuchte ich ihn zu beruhigen. Sicher hatte er nicht die Absicht gehabt, Spuren zu verwischen. Trotzdem würden wir überprüfen müssen, ob es zwischen Halonen und der Unbekannten eine Verbindung gab.

«Dann war ich es also nicht?» Sein Zittern nahm zu.

«Wenn Sie alle mit Jagdgewehren geschossen haben, ist es keiner von Ihnen gewesen. Kann einer der anderen Jäger Sie nach Hause fahren, oder vielleicht besser zum Arzt? Hatakka, kümmerst du dich bitte darum?», bat ich einen der Ortspolizisten.

Gleich darauf klingelte mein Handy. Puustjärvi hatte etwas zu melden.

«Ich bin circa zweihundert Meter östlich von der Leiche. Hier liegen Kleider und eine Handtasche. Kommst du?»

Ich machte mich sofort auf den Weg. Im Wald waren Stimmen zu hören, offenbar trafen die Bahrenträger ein. Der Uferpfad war schwer begehbar, er wand sich über steile Felsen und brach hier und da vor einzelnen Felsblöcken ab. Warum hatte die Frau ausgerechnet hier schwimmen wollen? Der Neoprenanzug deutete darauf hin, dass sie regelmäßig in kaltem Wasser schwamm, aber warum in dieser Einöde? Schließlich gab es Gewässer genug, die leichter zugänglich waren.

Die Kleider und die Handtasche lagen in der kleinen Mulde eines sanft abfallenden Uferfelsens, der einen bequemen Zugang zum Wasser bot. Die Kleidungsstücke steckten in einer Plastiktüte und waren säuberlich zusammengefaltet: zuoberst die Unterwäsche, BH und Slip aus dunkelblauem Satin und sicher nicht ganz billig. Auch bei dem wetterfesten Outdoor-Dress samt Thermogarnitur und den hohen Wanderstiefeln handelte es sich um teure Markenprodukte. Die Unterwäsche bildete allerdings einen merkwürdigen Kontrast zum sportlichen, funktionellen Stil der übrigen Kleidung. An dem dunkelblauen, flauschigen Frotteehandtuch, das zuunterst lag, waren keine Initialen.

Nachdem die Techniker ihre Fotos gemacht hatten, nahm ich mir die Handtasche vor. Sie sah neu aus, das steife Leder knirschte. Ich fand eine Geldbörse, die ich vorsichtig öffnete. Sie enthielt Kreditkarten, zwei Zwanzig-Euro-Scheine und einen Führerschein mit dem Bild einer eleganten blonden Frau: Maija Annukka Hackman, geb. 8.4.1970.

«Sieht so aus, als hätten wir Annukka Hackman gefunden», sagte ich zu Koivu, der mir gefolgt war.

«Sie ist also doch nicht fremdgegangen», bemerkte Puustjärvi.

«Nein. Es sei denn, sie hatte ein Rendezvous mit dem Wassermann», versuchte Koivu zu witzeln.

Als ich das Foto auf dem Führerschein genauer betrachtete, wusste ich plötzlich, wieso mir der Name Annukka Hackman bekannt vorgekommen war. Diese Frau hatte mich vor ein paar Jahren für die Wochenendbeilage einer Boulevardzeitung interviewt. Das war kurz vor Beginn meines zweiten Mutterschaftsurlaubs gewesen, und ich hatte lange gezögert, bevor ich meine Zustimmung gab, weil mir das Thema des Artikels, «Frauen in außergewöhnlichen Berufen», nicht behagte. Meiner Meinung nach gehörten Frauen im Polizeidienst längst zum Alltag, auch wenn noch nicht allzu viele zur Kriminalkommissarin aufgestiegen waren. Außer mir waren eine Professorin für theoretische Physik, eine Offizierin und eine Feuerwehrchefin interviewt worden. Was mich betraf, interessierte sich die Reporterin vor allem für zwei Themen: meine unübersehbare Schwangerschaft und einen Mordfall mit kommunalpolitischer Dimension, den ich einige Monate zuvor aufgeklärt hatte. Annukka Hackman hatte mich als furchtlose Kämpferin für die Gerechtigkeit dargestellt, die sich selbst durch eine Schwangerschaft nicht bremsen lässt. Der Artikel war mir so peinlich gewesen, dass ich mich nach Kräften bemüht hatte, ihn aus dem Gedächtnis zu tilgen.

Allerdings hatte Annukka Hackman einen effektiven und kompetenten Eindruck gemacht. Sie hatte sich vor dem Interview über die Arbeit der Polizei und den allmählich steigenden Frauenanteil informiert. Trotzdem hatte ich die ganze Zeit das Gefühl gehabt, auf der Hut sein zu müssen. Hackman hatte sich bemüht, sozusagen von Frau zu Frau mit mir zu sprechen, in der durchschaubaren Absicht, eine Verbindung zwischen uns zu schaffen, die mich dazu verleiten würde, ihr Dinge anzuvertrauen, die ich einem männlichen Reporter nie erzählen würde. Ob sie zuletzt für dieselbe Zeitung arbeitete wie damals, wusste ich nicht. Unsere Suche nach dem Täter musste im privaten Umfeld des Opfers beginnen. Ihr Mann hatte sie als vermisst gemeldet, doch das konnte natürlich ein Täuschungsmanöver sein. Ich sah auf die Uhr. Halb zwei. Die Kita schloss um fünf.

«Petri, wenn du hier bleibst und die weiteren Ermittlungen beaufsichtigst, fahre ich mit Koivu zum Ehemann und überbringe ihm die traurige Botschaft. Koivu, hast du die Adresse dabei?» Todesnachrichten zu überbringen war hart, gehörte aber zum Job. Koivu und ich waren auch in dieser Hinsicht ein eingespieltes Team.

Annukka Hackman und ihr Mann Atro Jääskeläinen besaßen den kleinen Verlag Spoiler, der die gleichnamige Zeitschrift für Motorsport herausgab und Internetseiten zum selben Thema unterhielt. Die Firma befand sich im Espooer Stadtteil Nöykkiö, offenbar unmittelbar neben der Privatwohnung, wie die Hausnummern 26 A und 26 B vermuten ließen.

«Welchen Eindruck hattest du von Jääskeläinen? War er ehrlich besorgt?», fragte ich, als Koivu im Zentrum von Kirkkonummi auf die Landstraße nach Espoo einbog.

«Ich weiß nicht, ich war heute früh noch nicht ganz aufnahmefähig. Wenn man ständig aus dem Schlaf gerissen wird … du kennst das ja.»

«Allerdings. Wie wird Anu damit fertig?»

«Sie beklagt sich nie, wird aber von Tag zu Tag blasser. Wir haben alles Mögliche ausprobiert, Fencheltee und so weiter, nichts hilft. Aber irgendwann wird es ja wohl aufhören.»

Anu, Koivus Frau, hatte auch in unserem Dezernat gearbeitet, wollte sich aber nach dem Mutterschaftsurlaub versetzen lassen. Sie fehlte mir, ich vermisste ihre Planmäßigkeit, ihren scharfen Verstand und die Möglichkeit, mit einer Frau über die mitunter befremdliche Logik der männlichen Kollegen lachen zu können. Meine Hoffnung, Ursula könne Anu ersetzen, hatte sich nach und nach als trügerisch erwiesen.

«Wir werden Herrn Jääskeläinen bitten müssen, die Leiche zu identifizieren, auch wenn die untere Gesichtshälfte schlimm zugerichtet ist. Haben die beiden Kinder?»

«Keine gemeinsamen, aber Jääskeläinens Tochter aus erster Ehe wohnt bei ihnen. Sie heißt Sini, ist sechzehn und hat keine Ahnung, wo ihre Stiefmutter sein könnte. Behauptet ihr Vater jedenfalls. Ich hatte den Eindruck, dass er sie unbedingt aus der Sache heraushalten wollte.»

«Hatte sie Ärger mit der Stiefmutter?»

«Scheint so. Aber in solchen Fällen rennen wohl eher die Teenager weg als die Stiefmütter.»

Die Behauptung, Teenager würden ihre Stiefmutter nicht erschießen, kam uns erst gar nicht in den Sinn. Noch vor einigen Jahren hätte ich sie gelten lassen, doch die jüngsten Ereignisse hatten gezeigt, dass Teenager, egal ob Mädchen oder Jungen, zu allem fähig waren. Neben Atro Jääskeläinen war Sini zunächst eine der Hauptverdächtigen für uns.

Ich lehnte den Kopf an die Nackenstütze und überlegte, wie ich dem Mann gegenübertreten sollte. Vielleicht wäre es besser gewesen, einen Pfarrer mitzunehmen, aber ich wusste ja nicht einmal, ob die Familie zur Kirche gehörte. Für alle Fälle hatte ich den Zettel mit den Telefonnummern der kirchlichen Krisenhilfe und der psychologischen Beratungsstelle griffbereit. In meinen ersten Jahren im Polizeidienst gab es solche Anlaufstellen noch nicht, und es war mir oft schwer gefallen, Trauernde allein zu lassen. Zwar fühlte ich mich heute so hilflos wie damals, doch ich hatte gelernt, meine Gefühle besser zu verbergen. Eine schlimme Nachricht sei besser als Ungewissheit, hieß es. Trotzdem widerstrebte es mir, Atro Jääskeläinen die Nachricht zu überbringen, die Frau, die er gerade erst geheiratet hatte, sei tot.

Drei

An der letzten Kreuzung vor Nöykkiö bat Koivu mich, den Atlas aufzuschlagen. Der Stadtteil war in den letzten Jahren so zugebaut worden, dass selbst Polizisten sich kaum noch zurechtfanden. Das Bauland war in winzig kleine Grundstücke zerteilt worden, für die man weit über hunderttausend Euro hinlegen musste.

Unter der angegebenen Adresse fanden wir ein gestuftes Doppelhaus, dessen einstöckige, nach Norden gelegene Hälfte den Verlag beherbergte. Die Hecke um das Grundstück war erst einen Meter hoch und konnte die Baustelle westlich vom Haus nicht verdecken. In der Einfahrt standen zwei Wagen, ein roter Audi und ein zerbeulter gelber Käfer mit hellblauen Heckstreifen. Wir gingen zum Verlagseingang. Bevor wir klingeln konnten, wurde bereits die Tür aufgerissen.

Der Mann, der vor uns stand, war mittelgroß, etwas über vierzig und rundlich. Er sah aus wie jemand, der nur zu Fuß geht, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt. Die runde Brille ließ sein Gesicht kindlich erscheinen.

«Polizei?», stieß er hervor.

«Ja. Kommissarin Maria Kallio und Hauptmeister Pekka Koivu. Sind Sie Atro Jääskeläinen?»

«Geht es um … Annukka?»

«Dürfen wir hereinkommen?»

Jääskeläinen rührte sich nicht vom Fleck. Ich hatte diese Haltung schon oft genug erlebt, um zu wissen, was dahinter steckte: die Gewissheit, vor dem Schlimmsten zu stehen, und der Wunsch, den schrecklichen Moment hinauszuzögern.

«Wo ist Annukka? Lebt sie?»

Ich fasste ihn am Arm und führte ihn ins Haus, wie ich meinen Sohn Taneli an den Esstisch bugsierte, wenn er nicht kommen wollte. Erst als Jääskeläinen auf der niedrigen Bank im Flur saß, sagte ich ihm, seine Frau sei tot. Allerdings verschwieg ich ihm, wie sie gestorben war und wo man die Leiche gefunden hatte.

«Sind Sie ganz sicher, dass es Annukka ist?»

«In der Nähe der Leiche lag eine Handtasche mit den Papieren Ihrer Frau, und die Personenbeschreibung stimmt auch überein. Wir möchten Sie bitten, sie zu identifizieren, sobald Sie sich dem gewachsen fühlen.»

Eine Weile sagte Jääskeläinen gar nichts. Seine Augen schwammen, die rundlichen Finger krallten sich in die ausgebleichte Jeans.

«Annukka», sagte er, als könnte er seine Frau damit zurückholen. «Annukka hat an einer inoffiziellen Biographie von Sasha Smeds gearbeitet, die nächste Woche in Druck gehen sollte. Das Buch bringt ganz neue Fakten über sein Leben, es hätte sich bestimmt gut verkauft. Wenn Sasha in zwei Wochen die Rallye von Großbritannien gewinnt, ist er Weltmeister.»

Plötzlich brach er in lautes Weinen aus, wie ich es bei einem Mann selten erlebt hatte. Er heulte wie ein kleines Kind.

«Das Buch sollte unserem Verlag den Durchbruch bringen … Auf Finnisch und Englisch … Annukka war so gescheit. Ohne sie wird nichts daraus. Wer hat sie umgebracht? Wieso hat sie nicht besser aufgepasst? Warum hat sie nicht geschossen? Sie hatte ihre Waffe doch immer dabei!»

«Eine Waffe?», riefen Koivu und ich fast gleichzeitig. «Ihre Frau trug eine Schusswaffe bei sich?»

Das war in Finnland eine Seltenheit, selbst Kriminalbeamte waren meist unbewaffnet. «Weshalb? Was für eine Waffe?»

Wir bekamen keine Antwort. Es ist immer wieder erschreckend, wenn ein Mensch ganz und gar aus der Fassung gerät, wie Atro Jääskeläinen, der haltlos weinte und kein Wort mehr herausbrachte.

«Was ist denn hier los?» Durch die rot gestrichene Tür am Ende des Flurs kam ein magerer Mann mit Pferdeschwanz.

«Kommissarin Kallio und Hauptmeister Koivu von der Espooer Polizei. Guten Tag.»

«Jouni Jalonen, Grafiker. Sind Sie wegen Annukka …» Er stockte und blickte ratlos auf den schluchzenden Jääskeläinen.

«Es tut mir Leid, aber Frau Hackman ist tot aufgefunden worden. Sie wurde ermordet.»

«Wie ist das passiert?» Seine Stimme zitterte.

«Das können wir noch nicht sagen.»

«O Gott … Mein Beileid, Atro», sagte Jalonen, freilich ohne dem Angesprochenen auch nur eine Hand auf die Schulter zu legen. Koivu und ich wechselten einen kurzen Blick.

«Wissen Sie, ob Herr Jääskeläinen Angehörige hat, die ihm zur Seite stehen können?»

Er schüttelte den Kopf. «Danach müssen Sie Sini fragen, über Atros Privatleben weiß ich nicht viel. Ich bin hier nur angestellt, als Layouter für den Spoiler.»

Jalonens zerfurchte graue Haut, die Nikotinflecken an Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand und nicht zuletzt der Geruch, den er verströmte, wiesen ihn als starken Raucher aus.

«Wie gut haben Sie Annukka Hackman gekannt?», fragte ich ihn.

«Annukka? Sie kennen zu lernen war nicht leicht. Sie war eine verdammt gute Journalistin, aber privat hielt sie Distanz.»

Der Grafiker versprach, sich um Jääskeläinen zu kümmern, bis die Krisenhilfe eintraf und Sini aus der Schule kam. Zu dritt brachten wir den weinenden Mann in seine Wohnung, auf das schwarze Ledersofa im Wohnzimmer. Er weigerte sich, das Beruhigungsmittel einzunehmen, das ich im Arzneischränkchen fand. Vorläufig konnten wir ihm nicht zumuten, die Leiche zu identifizieren.

Jalonen bestätigte, dass Annukka Hackman eine Pistole hatte, eine Hämmerli Kaliber .22, für die sie auch einen Waffenschein besaß. Da sie die Garage als Schießstand benutzt hatte, war die Pistole mit einem Schalldämpfer versehen.

«Soweit ich weiß, hatte sie Angst, wenn sie bei ihren Reportagen allein unterwegs war. Außerdem hat ihr offenbar ein Exfreund nachgestellt, aber dazu kann ich nichts Genaueres sagen.» Er steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und sah uns fragend an. «Gibt es sonst noch etwas, oder kann ich wieder ins Büro gehen?»

Da wir ohne Haussuchungsbefehl ohnehin nicht viel tun konnten, verabschiedeten wir uns. Jalonen würde später noch einmal befragt werden.

«Bei einer Pistole von dem Kaliber kann man dieselbe Munition verwenden wie bei einem Kleinkalibergewehr», stellte Koivu fest, als wir wieder im Wagen saßen.

«Und da in Frau Hackmans Tasche keine Waffe gefunden wurde, besteht die Möglichkeit, dass man sie mit ihrer eigenen Pistole erschossen hat. Wir lassen den See danach absuchen. Der Täter muss gewusst haben, dass die Hackman eine Waffe bei sich trug. Damit haben wir wenigstens ein Kriterium, das den Kreis der Verdächtigen einschränkt.»

Wir bogen in die Schnellstraße ein, die an Henttaa vorbeiführte. Obwohl wir schon seit zwei Jahren nicht mehr dort lebten, schmerzte der Anblick der vertrauten Umgebung immer noch. Das Einfamilienhaus, in dem wir zur Miete gewohnt hatten, war längst abgerissen worden, auf dem Grundstück standen nun drei neue Häuser zu dreihundertfünfzigtausend Euro pro Stück. Wir hatten gar nicht erst in Betracht gezogen, eins davon zu kaufen, denn wir wollten an unserer Überzeugung festhalten, dass es im Leben mehr geben musste als die Abzahlung eines Eigenheims.

«Sieh zu, dass du so viel wie möglich über Annukka Hackman herausfindest. Jobs, Exfreunde, Laster. Das Buch über Sasha Smeds klingt interessant, womöglich hat es auch etwas mit dem Fall zu tun.» Wir saßen mittlerweile bei einem verspäteten Mittagessen in der Kantine. Koivu schlug sich den Bauch mit Frikadellen voll, während ich mich mit Räucherfischsalat begnügte.

Zwar wusste ich nicht viel über Rallyesport, doch der Name Sasha Smeds war in den letzten Jahren wohl niemandem unbekannt geblieben. In der vorigen Saison hatte er die Weltmeisterschaft ganz knapp verloren, weil er das letzte Rennen in der dritten Sonderprüfung wegen eines Motorschadens abbrechen musste, woraufhin das konkurrierende Team seinen in Führung liegenden Fahrer anwies, ebenfalls zu unterbrechen. Dadurch hatte der zweite Fahrer des Teams das Rennen gewonnen und war in der Gesamtwertung mit einem Punkt an Sasha vorbeigezogen. In den finnischen Medien war anschließend eine heftige Debatte über unfaire Praktiken im Motorsport geführt worden. In diesem Jahr hatte Sasha offenbar wieder Aussichten auf den Weltmeistertitel.

«Smeds und Carlos Sainz liegen vor dem letzten Rennen punktgleich an der Spitze. Liest du keine Zeitungen?»

«Die Rallyeberichte jedenfalls nicht. Typen, die im Overall in Blechkisten hocken, interessieren mich nicht, mir sind spärlich bekleidete Männer lieber.»

«Antti weiß bestimmt alles über Rallyes», frotzelte Koivu, denn vor zwei Jahren hatte Antti während der Rallye von Jyväskylä an einer Demonstration gegen Motorsport teilgenommen. Nach Tanelis Geburt war er noch eifriger als zuvor darangegangen, die Welt zu verbessern, aber in letzter Zeit legte er allem gegenüber nur noch Verdrossenheit an den Tag. Ich hoffte, die Reise nach Schottland würde ihn ein wenig aufmuntern.

«Ein Enthüllungsbuch, mit dem der Verlag das große Geld machen wollte, könnte durchaus ein Motiv für den Mord sein. Stell für morgen ein Haussuchungsteam zusammen! Ich komm gerne mit, sobald ich die Sitzung des Führungsstabs hinter mir habe. Sagen wir, um halb zwölf. Jetzt muss ich los, die Kinder abholen und in den weißen Würfel bringen.»

Weißer Würfel war der Name, den sich Antti für unsere derzeitige Wohnung ausgedacht hatte. Sie hatte drei Zimmer, Küche, Balkon und eine kleine Sauna, alles in allem 90 Quadratmeter. Das Kiefernwäldchen, das man vom Schlafzimmer und vom Kinderzimmer aus sah, war bei der Wahl der Wohnung ausschlaggebend gewesen, denn dort bekam man gelegentlich Vögel, Eichhörnchen und Hasen zu Gesicht. Vor Wohnzimmer- und Küchenfenster breitete sich allerdings ein anderes Panorama aus: Parkplätze und Nachbarhäuser. Viele hätten sich in dieser Wohnung wohl gefühlt, wir nicht.

«Wann kommt Papa?», fragte Iida auf dem Heimweg vom Kindergarten.

«Noch zweimal schlafen, dann ist er wieder da.» Antti nahm am Klimakongress der EU in Edinburgh teil, der zugleich den Abschluss des Projekts bildete, an dem er seit einem Jahr mitgearbeitet hatte. Sein Vertrag mit dem Meteorologischen Institut lief zum Jahresende aus; wie es weitergehen würde, wussten wir nicht. Heutzutage garantierte selbst ein Doktortitel keine feste Anstellung mehr.

Ich fütterte die Kinder ab, wusch die Wäsche, las zwei Gutenachtgeschichten vor. Dabei kreisten meine Gedanken allerdings ständig um Annukka Hackman. Ob der Artikel, für den sie mich interviewt hatte, noch irgendwo herumlag? Taneli schlief bald ein, aber Iida wälzte sich noch nach neun in ihrem Bett, während ich die Mappen durchsah, die sich in der Schlafzimmerkommode angesammelt hatten. Schließlich fand ich den zerknitterten Artikel zwischen Literatur- und Musikkritiken, die Antti gesammelt hatte. Annukka Hackman und der Fotograf hatten darauf bestanden, dass ich in Polizeiuniform zum Fototermin erschien. Allerdings war meine Schwangerschaft schon so weit fortgeschritten, dass der Overall der Streifenbeamten das Einzige war, was mir noch halbwegs passte. Leider war er mir an Armen und Beinen zwanzig Zentimeter zu lang – ich sah auf den Fotos ziemlich komisch aus.

Der Artikel trug die Überschrift EINE MUTTER KLÄRT MORDE AUF. Ich hatte Annukka Hackman damals gefragt, ob sie für einen Bericht über Männer bei der Kripo einen entsprechenden Titel gewählt hätte. Ein Vater klärt Morde auf; das traf in unserem Dezernat auf Puustjärvi, Koivu und Lähde zu, und auch bei ihnen wirkte sich die Familie auf die Arbeit aus. Koivus Alltag entsprach haargenau den Statistiken, denen zufolge Väter von Kleinkindern die längsten Arbeitszeiten haben.

«Maria Kallio, 35, ist ausgebildete Juristin und leitet das Gewaltdezernat der Espooer Polizei. Weibliche Kriminalkommissare sind in Finnland nicht eben reichlich gesät. Unter einem typischen Ermittler in Sachen Mord stellt man sich immer noch einen Mann vor, groß, breitschultrig und mit leichtem Bauchansatz.

Kallio stammt aus einer nordkarelischen Lehrerfamilie. Die Berufswahl fiel ihr leicht, und auch die Aufnahme in die Polizeischule gelang ihr im Gegensatz zu den meisten Bewerbern bereits im ersten Anlauf. In den theoretischen Fächern war sie Jahrgangsbeste. Nach Abschluss der Ausbildung arbeitete sie Mitte der 1980er Jahre bei der Schutzpolizei in Helsinki, bewarb sich jedoch zwei Jahre später um einen Studienplatz an der juristischen Fakultät der Universität Helsinki. Wieder meisterte sie die Aufnahmeprüfung beim ersten Versuch.»

Anschließend wurde mein beruflicher Werdegang geschildert, inklusive des sechsmonatigen Abstechers in eine Anwaltskanzlei. «Geld ist offenbar nicht das Wichtigste für Maria Kallio, denn als Juristin könnte sie weitaus mehr verdienen als im Polizeidienst. Dass sie 1996 zur Leiterin des Dezernats für Gewaltverbrechen bei der Espooer Polizei ernannt wurde, obwohl sie gerade vor dem Beginn des Mutterschaftsurlaubs stand, darf man geradezu als Wunder bezeichnen. In der Privatwirtschaft wäre dergleichen undenkbar. Offenbar hatte Kallio ihren Karrieresprung nicht zuletzt der Aufklärung des Mordes an der Eiskunstläuferin Noora Nieminen zu verdanken. Nach der Rückkehr aus dem Erziehungsurlaub leitete sie unter anderem die Ermittlungen über die Todesfälle auf der Insel Rödskär und sorgte bei der Suche nach dem Mörder des Stadtverordneten Petri Ilveskivi für Unruhe in der Espooer Kommunalpolitik. Dem Vernehmen nach brachte sie dabei ihre Vorgesetzten in eine unangenehme Lage.

‹Das hört sich nach harter Arbeit an. Wie schaffen Sie es, Mordermittlungen und Mutterpflichten miteinander zu verbinden, Kommissarin Kallio? Sind Sie eine dieser Superfrauen, wie man sie aus Fernsehserien kennt?›

‹Absolut nicht!›, widerspricht Kallio vehement. ‹Ich brauche mich nicht allein um meine Tochter zu kümmern, denn erstens hat sie ja auch einen Vater, und zweitens haben wir eine zuverlässige Tagesmutter gefunden. Wir finnischen Frauen sind nun mal berufstätig, ob als Polizistin, Lehrerin oder Näherin, das spielt überhaupt keine Rolle.›

Allerdings kommen die wenigsten Mütter in ihrem Beruf mit Mördern in Berührung oder geraten in Lebensgefahr. Bei einem Geiseldrama im Januar 1996 kam ein Kollege der Kommissarin ums Leben; ihr selbst blieb dieses Schicksal nur durch einen glücklichen Zufall erspart. Während der Ermittlungen im Fall Ilveskivi explodierte ein Sprengsatz in ihrem Briefkasten. Auf die Frage, ob sie ihre Dienstwaffe jederzeit bei sich trage, verweigert Kallio die Antwort.

‹Gegen die zunehmende Gewaltbereitschaft kann man meiner Meinung nach nichts ausrichten, indem man sich bewaffnet und verbarrikadiert. Man muss die Ursachen beseitigen, um Gewalt zu verhindern›, meint sie – ein überraschend idealistischer Standpunkt für eine Polizistin. Ist es nicht aufreibend, immer wieder mit den Schattenseiten des Lebens konfrontiert zu werden?

‹Gerade deshalb ist mir meine Familie so wichtig. Sie gibt mir Kraft›, erklärt sie.

Die Kommissarin, die in ihrer Freizeit Sport treibt und Bassgitarre spielt, ist seit 1995 mit einem Mathematiker verheiratet und hat eine vierjährige Tochter, gibt aber aus Sicherheitsgründen die Namen ihrer Familienangehörigen nicht bekannt. Im Frühjahr erwartet sie ihr zweites Kind. Zur Familie gehört außerdem der 15-jährige Kater Einstein.»

An dieser Stelle stiegen mir Tränen in die Augen. Einstein, der bis dahin ein freies Katzenleben geführt hatte, war zwei Wochen nach dem Umzug in den weißen Würfel gestorben. Wir hatten überlegt, ihn nach Inkoo zu Anttis Eltern zu bringen, wo er freien Auslauf gehabt hätte, aber Anttis Vater war krank, und die beiden wollten sich nicht mehr mit einem Tier belasten. Antti vermisste Einstein noch schmerzlicher als ich, denn es war ursprünglich seine Katze gewesen.

Ich hatte Annukka Hackman lang und breit erklären müssen, weshalb ich ihr nicht gestattete, Antti und Iida in ihrem Artikel namentlich zu erwähnen, und war mir albern vorgekommen, als ich über mein Hochzeitsdatum Auskunft geben musste, das mit dem Thema der Reportage wahrhaftig nichts zu tun hatte. Annukka Hackman hatte mich gedrängt, über mein Privatleben und über die Gefühle zu sprechen, die meine Arbeit auslöste, und war über meine Weigerung enttäuscht gewesen. In meiner Verärgerung hätte ich um ein Haar erklärt, der Anblick einer Leiche würde mich sexuell erregen. Glücklicherweise hatte ich den Mund gehalten, sonst hätte ich meinen dummen Spruch garantiert in den Schlagzeilen wiedergefunden.

Mein Handy meldete sich mit dem Song «Gewalt und Drogen» von Pelle Miljoona, der Anruf kam also aus dem Präsidium.

«Kemppinen von der Zentrale, grüß dich. Ich habe hier ein paar Anrufe von Reportern wegen des Todesfalls am Humaljärvi. Soll ich sie an dich weiterleiten?»

«Jetzt gleich? Hat Puustjärvi denn keinen Bericht für die Pressestelle geschrieben?»

«Die beiden Boulevardzeitungen und die Nachrichtenagentur fragen nach dem Namen des Opfers. Sie haben gehört, dass es sich um eine Journalistin handeln soll.»

Wahrscheinlich galt für die Presse dasselbe wie für die Polizei: Wenn ein Kollege getötet wurde, arbeitete man mit doppeltem Einsatz an der Aufklärung. Es war zehn Uhr, die Reporter hatten es eilig, wenn ihre Berichte schon am nächsten Tag erscheinen sollten.

Da ich mich immer um ein gutes Verhältnis zur Presse bemühte, ließ ich mir von Kemppinen Namen und Telefonnummer der Anrufer geben. Vielleicht war es immer noch besser zu arbeiten, als mit albernen Filmen und zu viel Whisky die Zeit totzuschlagen. Ich wählte die erste Nummer auf Kemppinens Liste, nahm mir allerdings vor, die Identität des Opfers geheim zu halten. Notfalls würde ich mich darauf berufen, dass die Angehörigen noch nicht informiert waren.

Es wurde elf Uhr, bevor ich mit den Pressevertretern fertig war. Als ich das Handy am nächsten Morgen um sieben Uhr wieder einschaltete, hatten sich vier weitere gemeldet, die um Rückruf baten. Im Lauf des Nachmittags würden wir eine Pressekonferenz abhalten müssen.

Diesmal war das ganze Dezernat zur Morgenbesprechung angetreten. Koivu wirkte einigermaßen ausgeschlafen. Ursula war damit beschäftigt, sich die Fingernägel dunkelbraun zu lackieren, Puustjärvi saß neben ihr und verzog das Gesicht. Da es im Fall Hackman am meisten zu besprechen und zu delegieren gab, stand er als Letzter auf der Tagesordnung.

Puustjärvi berichtete, in der näheren Umgebung des Sees sei bisher nur Annukka Hackmans Fahrzeug gefunden worden, ein roter Peugeot 406, den man sofort ins kriminaltechnische Labor gebracht hatte. Die Autoschlüssel fehlten, Hackmans Handy ebenfalls. Im Handschuhfach des Peugeot hatte eine Quittung gelegen, aus der zu schließen war, dass sie vor zwei Tagen um 15.40 Uhr an einer Tankstelle im Zentrum von Kirkkonummi getankt hatte. Bei dieser Gelegenheit hatte sie den Kilometerzähler auf null gestellt; der aktuelle Kilometerstand zeigte, dass sie von der Tankstelle direkt an den See gefahren war.

«Zu Hackmans Mobiltelefon lässt sich keine Verbindung herstellen, vielleicht liegt es auch im See. Er wird heute abgesucht», berichtete Puustjärvi.

«Okay, dann bleibst du weiterhin in Kontakt mit den Kollegen in Kirkkonummi und mit eventuellen Augenzeugen in der Umgebung. Koivu, wie weit bist du mit Hackmans Profil?»

«Sini Jääskeläinen hat mich gestern angerufen», begann Koivu. «Sie behauptet zu wissen, wer ihre Stiefmutter umgebracht hat. Vor ihrer Heirat war die Hackman mit einem gewissen Hannu liiert, der sie wiederholt bedroht haben soll, angeblich hatte sie ihm die Ehe versprochen.»

«Hannu? Und wie heißt er weiter?»

«Sini behauptet, seinen Nachnamen wüsste sie nicht. Ich werde Atro Jääskeläinen danach fragen.»

«Ein Ermittlungsstrang ist also dieser Hannu. Und was hast du sonst noch?»

«Maija Annukka Hackman, geborene Väänänen. Geboren und aufgewachsen in Espoo, Abitur 1989. Ihre erste Ehe mit Janne Hackman hielt nur einige Monate, von Dezember 1993 bis ins Frühjahr 1994. Seit Frühling letzten Jahres mit Atro Jääskeläinen verheiratet. Sie hat Marketingkommunikation studiert, in den Semesterferien beim Regionalfunk gejobbt und dann eine feste Anstellung als Reporterin bekommen, zuerst bei einer Illustrierten, später beim Abendblatt. Seit zwei Jahren Freelancerin mit eigenem Medienbüro, das im Frühjahr in den Verlag Spoiler integriert wurde. Spezialisiert auf Motorsport und Interviews, hat in ihren Artikeln die verschiedensten Persönlichkeiten porträtiert, von Ministern und Rennfahrern bis zu allein erziehenden Müttern und Polizistinnen.» Er grinste mich an.

«Okay. Du konzentrierst dich auf Atro und Sini Jääskeläinen. Und du, Ursula, klapperst bitte Hackmans Kollegen und Kontakte ab. Besonders interessant scheint mir das Buch über Sasha Smeds.»

«Kann ich auch Sasha Smeds persönlich befragen?» Ursula lächelte katzenfreundlich.

«Wenn nötig. Puupponen, du hast den Obduktionsbericht, oder?»

«Na, eben nicht.» Puupponen sah verschmitzt in die Runde. «Kadaver-Kervinen hatte Dienst, aber er hat sich geweigert, die Leiche aufzuschneiden. Die Hackman war nämlich seine Exfreundin.»

«Seine Freundin?» Ich hatte mir nie recht vorstellen können, dass Kervinen sich für Lebende interessierte. «Warum hast du das nicht gleich gesagt?»

«Ich hab mich an deine Regel gehalten: eins nach dem anderen. Hackman und Kervinen waren vor zwei Jahren liiert, wie Koivu ja schon anderweitig erfahren hat. Offenbar war die Frau gleichzeitig mit Kervinen und Jääskeläinen befreundet, bis sie sich für den Letzteren entschieden hat.»

«Aber dann …»

«Genau. Der Exfreund, der sie bedroht hat, ist unser Pathologe. Am Telefon klang er ziemlich nervös», lachte Puupponen, doch es war ein gezwungenes Lachen. Er wusste so gut wie ich, dass wir uns in einer vertrackten Lage befanden, denn Kervinen war Teil unseres Teams, auch wenn er streng genommen nicht unserem Dezernat oder dem Präsidium angehörte. Wir alle hatten schon erlebt, wie unangenehm es war, Kollegen zu vernehmen.

«Am besten übernehme ich diesen Teil selbst», seufzte ich. «Koivu, du kommst als zweiter Mann mit. Mach einen Termin mit Kervinen und …»

«Wieso gerade ihr?», warf Ursula ein. «Ich habe noch nie etwas mit Kervinen zu tun gehabt, während ihr ihn schon seit Jahren kennt. Also ist es für mich viel leichter, neutral zu bleiben. Koivu sollte doch die Jääskeläinens befragen. Bitte, Maria, setz mich für Kervinens Vernehmung ein!»

Ursula Honkanen hatte die Stelle in unserem Dezernat erhalten, weil sie besser qualifiziert war als die meisten anderen Bewerber. Sie hatte ihr wirtschaftswissenschaftliches Studium an der Universität Tampere abgebrochen, das ihr zu theorielastig war, hatte sich freiwillig zum Wehrdienst gemeldet und anschließend die Polizeischule besucht. Sie hatte ein Jahr im Dezernat für Wirtschaftskriminalität in Lahti gearbeitet und war dann zu uns gekommen, weil Ressourcen von den Wirtschafts- auf die Gewaltdezernate verlagert wurden. Mittlerweile war sie achtundzwanzig und sah phantastisch aus, fast eins achtzig groß und schlank, mit kurzen blonden Haaren. Kurz nach ihrem Dienstantritt war ich unfreiwillig Zeugin eines Gesprächs zwischen Puupponen und Autio geworden, die darüber spekulierten, ob die überdimensionierten Brüste der neuen Kollegin Silikon enthielten oder nicht.

«Hör mal, Ursula, der Smeds-Aspekt kann wirklich wichtig sein und erfordert auf jeden Fall Fingerspitzengefühl. Du hast doch gesagt, du würdest gern mit Sasha Smeds sprechen. Weiß übrigens jemand, wo er wohnt?»

«In Inkoo, wie die Hälfte der finnischen Rallyefahrer», antwortete Puustjärvi. «Aber er ist bestimmt noch nicht zu Hause, die Australien-Rallye ist gerade erst zu Ende gegangen.»

Nachdem ich die restlichen Aufgaben verteilt hatte, feilte ich mit der Öffentlichkeitsreferentin an unserer Pressemitteilung. Es war oft nützlich, mit einem Fall an die Öffentlichkeit zu gehen, denn die meisten Menschen waren gern bereit, der Polizei behilflich zu sein, andererseits musste man genau abwägen, welche Fakten man publik machen konnte, ohne die Ermittlungen zu beeinträchtigen. Einer der Elchjäger hatte der Presse bereits verraten, dass eine Frau erschossen worden war, und nun war es an der Zeit, die Identität des Opfers bekannt zu geben. Die nächsten Angehörigen waren bereits informiert.

«Kervinen ist unterwegs zu uns», meldete Koivu, als ich von der Besprechung mit der Pressereferentin zurückkam. «Er hat sich den Rest des Tages freigenommen. Ein Gutes hat die Sache wenigstens: Wir können es Jääskeläinen ersparen, seine Frau zu identifizieren. Kervinen hat offiziell bestätigt, dass die Tote Annukka Hackman ist.»

Ich hatte Kadaver-Kervinen nie besonders gut leiden können. Nicht weil ich eine Abneigung gegen Pathologenhumor gehabt hätte, der ja nur ein Versuch war, sich gegen den makabren Beruf abzuschotten. Doch Kervinen war eben kein Humorist. Er machte sich so wenig aus den Menschen, die er aufschnitt, dass er nicht einmal Witze über sie riss. Leichen waren für ihn Untersuchungsobjekte, die er mit rein wissenschaftlichem Interesse betrachtete. Aber vielleicht war auch das ein Schutzmechanismus.

«Bring ihn in mein Büro und bestell uns Kaffee und Brote. Wir haben keine Zeit, zu Mittag zu essen, bevor wir zu Jääskeläinen fahren.»

«Fährst du mit?»

«Du hilfst mir hier, also helfe ich dir dort. Hast du letzte Nacht schlafen können?»

«Fünf Stunden am Stück. Neuer Rekord.»

Ich lächelte mitfühlend. Ich erinnerte mich gut an die Monate nach Tanelis Geburt, in denen ich so manche Nacht mit Ohrenstöpseln auf der Wohnzimmercouch geschlafen hatte, während Antti im Schlafzimmer das quäkende Baby zu beruhigen versuchte. Allein hätte ich die ersten Monate nicht überstanden, schließlich forderte Iida auch ihren Anteil an meiner Zuwendung.

«Weißt du, ob Kervinen je verheiratet war?», fragte ich Koivu. Ich konnte mich nicht erinnern, an Kervinens Hand einen Ring gesehen zu haben. Auch von Kindern hatte er nie gesprochen, selbst während meiner beiden Schwangerschaften nicht. Er war ein paar Jahre jünger als ich, die wenigsten Männer in seinem Alter waren ledig, trotzdem hatte ich oft das Gefühl gehabt, Kervinen wüsste nicht einmal, was Sex ist. Offenbar hatte ich mich getäuscht. Dennoch konnte ich mir schwer vorstellen, dass er jemanden bedroht haben sollte.

Für eine bestimmte Sorte von Männern war es unerträglich, von einer Frau verlassen zu werden, mitunter löste die Trennung ungeheure Aggressivität aus. Nächtliche Anrufe, Auflauern, Drohbriefe waren die Folge. Das kürzlich erlassene Kontaktverbotsgesetz war mehr als überfällig gewesen. Allerdings hatte das Ehepaar Hackman-Jääskeläinen keine Anzeige gegen Kervinen erstattet. Vielleicht hatte Sini ganz einfach übertrieben.

Puupponen teilte mit, die Obduktion sei für den Nachmittag angesetzt, und bot sich an, daran teilzunehmen. Wenn Kervinen der Mörder war, hatte er als Experte vermutlich gewusst, wie er es vermeiden konnte, Spuren zu hinterlassen. Schusswaffen boten dem Täter ohnehin eine gewisse Sicherheit, da er mit dem Opfer nicht in Berührung kam, und vor Schmauchspuren wüsste Kervinen sich zweifellos zu schützen.

Als er schließlich mit Koivu, der ein voll beladenes Tablett balancierte, hereinkam, hätte ich ihn fast nicht wiedererkannt. Bisher hatte ich ihn nur im weißen Kittel erlebt, sorgfältig gekämmt und gepflegt. Jetzt standen die hellbraunen Haare in sämtlichen Richtungen vom Kopf ab, der Hemdkragen sah unter dem Wintermantel hervor, und die Schuhe waren nass. Seine Marotte, ständig das Rasierwasser zu wechseln, war im ganzen Präsidium bekannt, doch jetzt roch er nur nach Schweiß. Er ließ sich in einen Sessel fallen, lehnte Kaffee und Tee ab und fing an zu würgen, als er die belegten Brote sah. Seine Hände zitterten. Seinen Blick wusste ich nicht zu deuten, doch er machte mir Angst.

«Du hast Annukka Hackman erkannt?» Irgendwie musste ich das Gespräch in Gang bringen, und da mir nichts Besseres einfiel, kam ich direkt zur Sache.

«Ich dachte, es wäre ein x-beliebiger Fall. Die Papiere hab ich mir gar nicht angesehen, ich hab einfach den Reißverschluss aufgezogen. Die Augen … und die Oberlippe … Aber keine Unterlippe, kein Kinn. O Gott, es war entsetzlich! Und dann ruft euer Puupponen an und fragt, ob es eine interessante Leiche wäre. Wollte der mich verarschen oder was?»

Koivu und ich wechselten einen besorgten Blick. Kervinen wirkte nicht unbedingt vernehmungsfähig.

«Ganz und gar nicht, Hannu», begann ich vorsichtig. Es schien mir besser, ihn mit dem Vornamen anzureden. «Es hat doch keiner von uns gewusst, dass du mit Annukka Hackman befreundet warst.»

«Befreundet? Wir waren verlobt, ich hatte sogar schon eine größere Wohnung gekauft, damit wir zusammenziehen können. Dann hat sie sich plötzlich für Jääskeläinen entschieden. Sie war dermaßen opportunistisch! Das sieht man doch schon daran, dass sie damals diesen Janne Hackman geheiratet hat. Weil sie seinen Namen wollte, versteht ihr? Väänänen klang ihr nicht fein genug.»

«Wie habt ihr euch kennen gelernt?»

«Sie hat für irgendeine Familienzeitschrift eine Reportage über das Pathologische Institut geschrieben. Damals waren gerade ein paar besonders spektakuläre Fälle in den Schlagzeilen, vor allem der eine, wo der Täter seine Opfer zerstückelt hat. Nach denen hat sie mich ausgefragt. Sie hat wahrscheinlich gedacht, Pathologen hätten bei uns dasselbe Berufsbild wie in den Fernsehserien, wo sie gemeinsam mit der Polizei Verbrechen aufklären … Als sie dann die Wahrheit erfuhr, flaute ihr Interesse ab.» Er rutschte unruhig im Sessel hin und her. Bisher hatte ich ihn nur in seiner beruflichen Rolle erlebt. Der private Hannu Kervinen, der mir gegenübersaß, war ein Fremder.

«Du hast gesagt, Annukka sei opportunistisch gewesen. Und sonst? Was war sie für ein Mensch?»

Kervinen schlug sich auf die Knie. «Sie war genau wie du! Immer darauf versessen, die Wahrheit aufzudecken und herauszuposaunen. Sie meinte, die Menschen hätten das Recht zu erfahren, was die Politiker, die sie gewählt haben, in ihrer Freizeit tun und welche Macken Miss Finnlands neuer Freund hat. Sie wäre bestimmt eine gute Polizistin geworden. Für eine saftige Story war sie zu allem bereit. Wahrscheinlich ist sie auch bloß deshalb mit mir ins Bett gegangen. Und aus dem Jääskeläinen hat sie sich genauso wenig gemacht, das sag ich dir! Sie wollte ein Buch über Sasha Smeds schreiben, aber weil der das Projekt nicht autorisiert hat, haben alle anständigen Verlage abgewinkt. Sie brauchte Jääskeläinens Verlag für ihre Enthüllungen. Diese Frau hat mein Leben ruiniert, glaubt ja nicht, dass ich auch nur ein gutes Wort über sie sage!»

Und doch hatte er sich in Annukka Hackman verliebt, sie musste also auch ihre guten Seiten gehabt haben. Ich zwang ihn, mir mehr über seine Beziehung zu ihr zu erzählen, und löste eine gewaltige Redeflut aus, die ich von dem sonst langsam und überlegt sprechenden Pathologen nicht erwartet hatte. Zwischendurch fingerte er immer wieder an dem Schlüsselbund herum, das ihm am Gürtel hing und an dem zwei winzige Skalpelle baumelten. Nach und nach erfuhr ich, dass Kervinen einen Verlobungsring erstanden und sein Apartment in Helsinki verkauft hatte, um eine Dreizimmerwohnung in Tapiola erwerben zu können. Als der Umzug näher rückte, hatte Annukka ihm erklärt, sie habe es sich anders überlegt. Sie werde Atro Jääskeläinen heiraten.

«Aber du hast dich damit nicht abgefunden?»

«Das war überhaupt nicht böse gemeint, ich wollte nur, dass sie die Verantwortung für das übernimmt, was sie tut. Sie hat das Ehegelöbnis gebrochen und mein Leben ruiniert!»

Die meisten abgewiesenen Liebhaber, die ihrer Expartnerin nachstellen, fühlen sich völlig im Recht. Wahrscheinlich hatte Kervinen allen Ernstes geglaubt, Annukka Hackman würde zu ihm zurückkehren, wenn er nur hartnäckig blieb, immer wieder früh um sechs bei ihr klingelte und sie mit einer SMS nach der anderen bombardierte.

«Wart ihr überhaupt schon mal richtig verliebt? So sehr, dass ihr das Gefühl hattet zu sterben, wenn ihr nicht bekommt, was ihr wollt? Dass euer Körper euch nicht mehr gehorcht?»

Koivu gab keine Antwort, auch ich schwieg. Schließlich stellte ich die unvermeidliche Frage:

«Was hast du vorgestern Abend getan?»

«Zu Hause gehockt, Musik gehört und Annukka nachgetrauert. Ich hab mich nach ihr gesehnt, jeden Tag, seit sie mir verkündet hat, dass sie Jääskeläinen will und nicht mich. Jeden verdammten Tag! Vielleicht hört das jetzt auf, nachdem sie tot ist.»

Allem Anschein nach meinte Kervinen, er könne uns getrost ein Motiv servieren, weil wir ihn sowieso verdächtigten. Ich beugte mich zu ihm hin, ohne mich von dem stechenden Schweißgeruch abschrecken zu lassen.

«Kann jemand bezeugen, dass du zu Hause warst?»

«Nein.»

«Dann wirst du jetzt zum Schmauchtest gehen.»

Kervinen stand auf, und ich glaubte schon, er würde zuschlagen.

«Verdammt nochmal, Kallio, traust du mir so wenig Sachverstand zu? Wenn ich Annukka erschossen hätte, dann hätte ich dafür gesorgt, dass keine Spuren zurückbleiben.»

«Na schön, dann kannst du dich ja unbesorgt testen lassen. Deine Fingerabdrücke haben wir sicher schon. Wir sprechen uns später noch. Hast du dich krankschreiben lassen?»

«Warum denn?» Kervinen hatte sich wieder hingesetzt und stand nun erneut auf, als ihm klar wurde, dass die Vernehmung beendet war. Ich bat Liisa Rasilainen von der Schutzpolizei, ihn ins kriminaltechnische Labor nach Tikkurila zu fahren.

«Ganz schön heftig», meinte Koivu, als Kervinen gegangen war. Gefühlsausbrüche brachten ihn regelmäßig in Verwirrung.

«Allerdings. Seltsam, dass jeder Verliebte überzeugt ist, kein anderer könnte so starke und echte Gefühle entwickeln. Wir müssen überprüfen, ob er am Dienstagabend telefoniert hat. Vielleicht liefert ihm sein Festanschluss ein Alibi, oder aber sein Handy verrät ihn.»

Koivu nahm das letzte Brot und goss sich Kaffee nach. «Sini Jääskeläinen kommt um drei aus der Schule. Wenn wir gleich losfahren, können wir auch mit ihr sprechen.»

«Gut. Und ich will das berüchtigte Buch über Sasha Smeds haben. Was für Enthüllungen da wohl drinstehen? Komm, wir sehen es uns mal an.»

Vier

Ich hatte es immer schon interessant gefunden, die Wohnungen wildfremder Leute zu sehen. Sie kamen mir vor wie Kulissen in einem Theaterstück, das wir uns gegenseitig vorspielen.

Im Haus der Familie Hackman-Jääskeläinen war im Prinzip alles wohl geordnet, nur Kleinigkeiten verrieten, dass hier jemand gewohnt hatte, der nun nie mehr zurückkehren würde. Im Schlafzimmer lag ein Ladegerät ohne das dazugehörige Handy, auf dem Wohnzimmertisch standen welkende Rosen. An den Lockenwicklern im Bad hingen blonde Haare. Auf der Spüle stand ein Becher mit der Aufschrift «Annukka», an dessen Rand rosa Lippenstift haftete. Ich hatte Eltern erlebt, die das Zimmer ihres toten Kindes zum Museum machten, in dem nichts verändert werden durfte, aber auch einen Mann, der unmittelbar nach dem Tod seines Geliebten mit hysterischem Eifer dessen Kleider in die Mülltonne warf, weil er ihren Anblick nicht ertrug. Vielleicht wollte Atro Jääskeläinen den Lippenabdruck seiner Frau für immer bewahren und würde den Becher nie mehr spülen.

Das Ehepaar hatte das Haus erst vor einem halben Jahr bezogen. Sie hatten es kurz vor der Fertigstellung gekauft, da die ursprünglichen Interessenten im letzten Moment zurückgetreten waren, berichtete Atro Jääskeläinen. Er wirkte ruhiger als am Vortag, roch aber nach Bier und sprach auffällig langsam.

«War Ihre Frau Kaltwasserschwimmerin?»

«Nicht mehr. Vor einigen Jahren ging sie regelmäßig zum Eislochschwimmen. Der Neoprenanzug stammt aber noch aus der Zeit, als sie Triathlon machte. Annukka hat von einer Sportart zur anderen gewechselt, ihr Interesse hielt nie lange vor. In letzter Zeit hat sie sich besonders für den Rallyesport begeistert, sie ist sogar probeweise als Kopilotin gefahren.»

«Mit Sasha Smeds?»

«Früher auch mit ihm, aber in letzter Zeit mit weniger bekannten Fahrern.» Er zählte eine Reihe von Namen auf, die ich noch nie gehört hatte.

«Hat sie Ihnen von ihrem Vorhaben erzählt, im Humaljärvi zu schwimmen?»

«Sie hat nicht gesagt, wohin sie fuhr, nur, dass sie etwas Wichtiges überprüfen wollte. Sie meinte, es würde ungefähr zwei Stunden dauern. Sie mochte es nicht, kontrolliert zu werden, aber natürlich habe ich mir sofort Sorgen gemacht, zumal ja dieser Kervinen …»

«Warum haben Sie ihn übrigens nicht angezeigt?»

«Annukka meinte, sie würde allein mit ihm fertig, er würde sich allmählich beruhigen. Hat er sie umgebracht?»