Im Windschatten des roten Sturms - Werner Gille - E-Book

Im Windschatten des roten Sturms E-Book

Werner Gille

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Beschreibung

Als im Reich der Mitte die Sonne unterging: "Hope to see you again!" – ermutigend klangen die Worte nicht, die der englische Offizier im Jahr 1967 am Kontrollpunkt in Hongkong Werner Gille bei seiner Einreise nach China zum Abschied nachrief. Denn über das Datum der Rückkehr würde allein die allmächtige kommunistische Partei befinden. Seit einem Jahr tobte in Mao Tse-tungs Reich die Kulturrevolution, und Gille war es als einem der ganz wenigen westlichen Ausländer gelungen, ein Visum zu erhalten. Und so bereiste er mehrere Wochen lang Großstädte und Provinzen, besuchte Universitäten, Theater und Dorfkommunen, begegnete Rotgardisten auf ihren Märschen durch China, nahm in Peking an den Feierlichkeiten zum 1. Mai teil. Dabei erlebte er hautnah die Euphorie der Massen, aber auch die grausame Demütigung aller Andersdenkenden, der "Feinde des Volkes".

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Seitenzahl: 311

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Bildnachweis

Alle Fotos (sofern nicht in der Bildunterschrift anders angegeben):

© Werner Gille

Hinweis

Die chinesischen Namen wurden so wiedergegeben, wie es im Deutschen in der Zeit der Kulturrevolution üblich war.

Besuchen Sie uns im Internet unter

www.herbig-verlag.de

© der Originalausgabe und dem eBook: 2016 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

Umschlagfoto: Werner Gille

Satz und eBook-Produktion: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN 978-3-7766-8239-7

Inhalt

Vorbemerkung

München, im Frühjahr 1967

»… wenn die Raben weiße Flügel haben«

Where East Meets West and West Meets East

»Ein Funke kann die ganze Steppe in Brand setzen«

Politischer Unterricht auf der Straße

Das Mädchen mit den weißen Haaren

Wandzeitungen und Staatspresse

Die Heimkehr der verlorenen Söhne

»Mit der einen Hand für die Produktion arbeiten, mit der anderen für die Revolution«

Sonderwünsche

Die vier alten Übel

Das Ideal der gegenseitigen Hilfe

Stumme Gedanken

Die Lange-Marsch-Gruppe der Roten Garde

Die Produktion eines neuen Bewusstseins

»Der Baum mag die Ruhe lieben, aber der Sturm lässt nicht nach«

Peking, 1. Mai 1967

Mauern nach außen, Mauern nach innen

Eine gemischte Arbeitskompanie

Zutritt verboten: Die Mausoleen der Ming-Kaiser

Im Nationalen Volkskongress

Stadtrundfahrt

Die Peking-Oper

Die Gleichschaltung der religiösen Gemeinschaften

Traktorenwerk Nr. 1

Schanghai

Xingye Lu 76

Das »Museum des Hasses«

Spießrutenlaufen

Antiquitäten

Hafenrundfahrt

Stille Stunden am Westsee

Schanghai – München

Nachwort

Bibliografie

Bildteil

Vorbemerkung

Tagebücher, Tonbandaufnahmen, Fotos, Gesprächsprotokolle, Notizen halfen mir, mich zurückzuversetzen in das China der Kulturrevolution. Ich hörte wieder die Lautsprecherdurchsagen, die Revolutionslieder, sah die demonstrierenden Massen, wurde als Deutscher angestaunt wie ein Wesen von einem anderen Planeten, erschrak vor fanatischen Appellen der jungen Rotgardisten an Schüler, Studenten, Arbeiter und Bauern, gegen Klassenfeinde kein Erbarmen zu zeigen, ließ mir von dem Kommandeur einer Propagandakompanie eine rote Armbinde mit der Inschrift »Freund des Volkes«, die mich vor Anpöbelungen auf den Straßen schützen sollte, über den linken Arm streifen, war begeistert von der leidenschaftlichen Hingabe des Balletts der Peking-Oper an seine Arbeit – und begann, meine Eindrücke und Erfahrungen so wiederzugeben, wie ich sie damals erlebt habe.

München, im Frühjahr 1967

Die »Große Proletarische Kulturrevolution« in China ist der Versuch, die Weltzustände total zu verändern. Sie bedeutet ein erfülltes Leben für die einen, Tod für die anderen. Gelingt die Revolution, setzt sie neue Maßstäbe für die Zukunft – misslingt sie, ist das Ergebnis das gleiche. Dass die Revolution »ihre Kinder frisst«, ist durch die Geschichte bewiesen, ebenso die Tatsache, dass sie eine Zeitenwende einleitet. Im Fall des Sieges zerstört sie die politischen Überzeugungen der Vergangenheit und vernichtet ihre Repräsentanten; scheitert sie, wird ihre Politik als blutiger Irrtum verurteilt, und die Revolutionäre werden als Verbrecher gebrandmarkt.

Lenin sagte kurz vor Beginn der Oktoberrevolution in St. Petersburg zu seinen Genossen: »Morgen gehört uns Russland, oder wir hängen an den Laternenpfählen.«

Ich möchte mich auf das einlassen, was in China geschieht; erleben, wie es zugeht, mich über Wasser halten in den Fluten der Gewalttätigkeiten, zur Ruhe kommen an einem Reisfeld, einem Flussufer, in einer nächtlichen Stunde; ich möchte begreifen, was die Worte Mao Tse-tungs für die Menschen bedeuten. Frei atmen inmitten einer Revolution, mich nicht fangen, nicht einschüchtern, nicht bestechen lassen. Zuhören, aufnehmen, festhalten, was geschieht – in Momentaufnahmen, in stunden- und tagelangen Beobachtungen. Die eigenen Überzeugungen nicht verleugnen, stumm bleiben, wo es sinnlos erscheint, sie zu erwähnen. Bilder sammeln für die Erinnerung, um beim Betrachten das einst Erlebte wiederzubeleben. Augenzeuge einer Revolution sein und dabei einen klaren Kopf behalten. Ist das möglich?

Wünsche sind das, Erwartungen, Gedanken vor einer Reise. Einer Reise nach Fernost, nach China, in ein China, das seine Vergangenheit zerstören will und auf dem Weg ist, sich eine neue, »von allem Alten gereinigte« Zukunft zu erbauen. Wird das gelingen, oder wird sich eines Tages herausstellen, dass die Revolution nur eine blutige Blase war, die am Ende zerplatzt? Es ist eine Kulturrevolution, die auch die uralte chinesische Kunst mitverantwortlich macht für den Luxus der Herrschenden auf Kosten des ohnmächtigen Volkes. Tabula rasa auf allen Gebieten des menschlichen Lebens.

Was nützen mir diese Gedanken im China so fernen München? Eine Antwort kann ich nur vor Ort finden. Wird es mir gelingen, eine Bresche in die chinesischen Mauern zu schlagen und ein Einreisevisum zu erhalten, und wenn ja, was werde ich sehen: eine von der Revolution zerstörte Zivilisation oder die »aufgehende Sonne der Hoffnung« für die bisher aller Hoffnung Beraubten?

»Lass dir nichts einreden, sieh selber nach«, dieser Satz von Bert Brecht weist in die richtige Richtung.

»… wenn die Raben weiße Flügel haben«

Um zu großen Erfahrungen zu gelangen, erzwingt das Leben oft mühselige Vorbereitungen. Meinen Wissensdurst nährten Geschichtsbücher, Forschungsberichte, asiatische Kunst, Musik, Bilder, Filme. Die bevorstehende Reise war meine erste nach Asien. Aufenthalte in Indien, Malaysia, Japan, Bhutan, Sibirien, Kasachstan, Usbekistan, in der Mongolischen Volksrepublik halfen mir, in der Fremde Fuß zu fassen. Sie haben mich beschenkt, aber auch beraubt um materielle Dinge, um Träume, die bei derBegegnung mit der Wirklichkeit erloschen – und mir neue Träume geschenkt.

Zuweilen hatte ich Bücher mitgenommen, um sie dort zu lesen, wo sie geschrieben wurden oder wo die Geschichten spielten. Sven Hedins Durch Asiens Wüsten las ich im Bayan-Bulak (dem »Tal der tausend Quellen«) am Rande eines Wüstengebirges und Mein Leben als Entdecker in der Universitätsbibliothek in Ulan Bator, der Hauptstadt der Mongolischen Volksrepublik. Von den Studenten wurde ich zuerst neugierig betrachtet, dann in Gespräche verwickelt. Ihr Hunger nach Informationen, nach Büchern aus dem Westen, ihre Fragen nach unserem Leben und warum ich, ein Westdeutscher, zu ihnen in die Mongolische Volksrepublik käme, berührten mich. Keine Belehrungen, nur Wissensdurst von diesen »Kindern der Steppe«. Hedins wissenschaftliche Erkenntnisse boten reichlich Stoff zum Nachdenken, doch weit mehr interessierten mich seine Abenteuer bei den Expeditionen ins Ungewisse, seine Hingabe an eine exotische, zuweilen fast unwirklich scheinende Fremde.

Meinen Traum von Indien zerstörten die Slums von Bombay und Kalkutta, er erfüllte sich beim Anblick des Tadsch Mahal bei Agra und führte mich zum »Pfad der Erkenntnis« bei der Lektüre von Rabindranath Tagores Gitanjali. Ich las es im »Indian Room« des »Great Eastern Hotel« in Kalkutta. Nur durch eine Tür, Zimmerwände, einen Gang getrennt – ich könnte auch sagen, abgeschirmt – von der internationalen Atmosphäre dieses Luxushotels. Männer aus »aller Herren Länder« in maßgeschneiderten Anzügen, Inderinnen in hauchdünnen Seiden-Saris, Europäerinnen, »perfekt gestylt« – jeder und jede unnahbar und doch höflich bei flüchtigen Begegnungen.

Nah, ganz nah dagegen waren mir die Gedichtzeilen Tagores:

An jeder fremden Tür muss der Wanderer pochen,

Eh er zu seiner eigenen kommt,

Durch alle äußeren Welten musst du wandern,

Bis du zuletzt im Heiligsten der Seele angelangt.

Ich brauchte nur wenige Schritte aus dem Hotel hinaus auf die Straße zu gehen, zu den Hütten der Unberührbaren an den Ufern des Ganges, den Elendsgestalten auf den Bürgersteigen, den um Reis und Rupien bettelnden Krüppeln, und schon war ich inmitten der Hungernden, der Rechtlosen, der orientierungs- und führungslosen Massen. Sie waren die Adressaten, an die sich Maos Appelle in Indien richteten.

Einige Jahre nach meinem China-Aufenthalt flog ich nach Japan. Bei einer öffentlichen Kundgebung des Literaturnobelpreisträgers Yasunari Kawabata hörte ich sein Urteil über die Kulturrevolution: Massenmord an der Kunst.

Kunst. Chinesische Kunst. Der holländische Kunsthistoriker Jan Fontein schreibt über die Kunst der Chinesen: »Sie ist die Kultur, die in der ganzen Welt die längste ununterbrochene Dauer aufweist…« (Propyläen Kunstgeschichte, Bd. 17, S. 14, Berlin 1968). Er schildert die Anziehungskraft, die Chinas Kunst auf Korea und Japan ausübte, und wie fremde Eroberer von der chinesischen Kultur überwältigt wurden und sich assimilierten. »Die Manchu kamen als fremde Eroberer … doch die Eroberer konnten sich auf die Dauer der Anziehungskraft der chinesischen Kultur nicht entziehen.« (a.a.O., S. 65). Auch im fernen Europa haben »große Geister des 18. Jahrhunderts Chinas wahre Größe wohl verstanden. Leibniz, der schon 1697 … die Auffassung vertrat, chinesische Missionare sollten nach Europa kommen … Voltaire, der … 1745 die Chinesen auf Kosten seines Vaterlandes pries« (a.a.O., S. 66).

Der chinesische Historiker und Politologe Kuo Heng-yü erklärt uns, dass in China seit Jahrhunderten »die Entwicklung des Neuen durch kritische Assimilation des Alten vorangeht … Dazu gehört auch die Nutzbarmachung ausländischer Errungenschaften.« (China und die Barbaren, S. 177).

Stand ich vor einem chinesischen Kunstwerk, wurde ich nie enttäuscht. Gemälde, Tuschzeichnungen, Porzellanvasen, Keramik, Jadeschmuck – alles war im Ausdruck vollkommen. Gemälde zeigten ein Bild der Natur, vollkommen dargestellt in einem Blütenzweig oder in einem Bambushain. In der Begegnung mit dieser uralten Kultur begriff ich, dass Europa nicht der geistige Mittelpunkt der Welt war (für den es sich jahrhundertelang hielt), sondern nur eine kulturelle und zivilisatorische Größe in einer globalen Welt.

Schwer vorstellbar, dass jetzt alles, was an das alte China erinnert, aus den Museen entfernt, vielleicht sogar zerstört werden sollte, verurteilt als volksfremde Kunst, entstanden zur Unterhaltung der Ausbeuterklasse, der Feudalherren, der kaiserlichen Generäle und ihrer Konkubinen.

China im Umbruch. Konnte es sein, dass auch diese Revolution nichts anderes bewirkte als Zerstörung, neues Elend, neuen Zwang? Wiederholte sich in China das, was Sergej Solowjow (1820-1879), Rektor der Universität Moskau, in seinem 29-bändigen Werk zur Geschichte Russlands über Revolutionen, Aufstände, Attentate und Umsturzversuche in seinem Land schrieb: »… dass den Guten die Hände verdorren, den Bösen aber freie Hand gelassen wird« und dass die Welt sich erst verändern wird, »wenn die Raben weiße Flügel haben«?

Edgar Snow, amerikanischer Journalist und Publizist, der 1936 den Bürgerkrieg in China miterlebte und 1960 fünf Monate kreuz und quer durch China reiste, gilt in West und Ost als China-Experte. Bedrückt von seinen Erfahrungen und den verheerenden gegenseitigen Missverständnissen, die in China über die USA und in den USA über China und Asien ganz allgemein herrschten, gibt er den Vereinigten Staaten einen großen Teil Mitschuld an den Zuständen in China. Aus der Sicht Pekings war der Korea-Krieg die Vorbereitung auf eine militärische Intervention in China und gehörte das amerikanische Stützpunkt-System in Asien zur Strategie der Einkreisung. Die Unterstützung Tschiang Kai-sheks und der konservativen Kräfte bestärkte die Kommunisten in ihrer Überzeugung, dass »die USA die Besitzenden bis zum Letzten unterstützen« würden. (Edgar Snow: Gast am anderen Ufer. Rotchina heute. 1961. Deutsche Ausgabe: München 1964. S. 720)

Nach Snow hätte Nordamerika den Sieg der Kommunisten zwar nicht verhindern können, eine Friedenspolitik hätte jedoch die »linken Thesen« von der Unbelehrbarkeit der Imperialisten und der die Politik Amerikas bestimmenden Macht des »militärisch-industriellen Komplexes« widerlegt und damit eine Änderung der maoistischen Politik eingeleitet. Amerika hingegen demonstrierte seine Macht, und China antwortete mit steigendem Nationalbewusstsein und der Radikalisierung des Kommunismus.

Bücher. Ich brauche sie wie die Luftzum Atmen. Die Autoren sprechen in ihnen auf sehr persönliche oder auf distanzierte Weise über sich selbst, über die Welt, über Liebe und Hass, über Krieg und Frieden – mit anderen Worten: über den Menschen. In Büchern nichtchinesischer Autoren über China suchte ich nach der Sicht des Außenstehenden auf das Leben der Menschen, die Geschichte, die Kultur eines für sie fremden Volkes. Ähnlich wie die Erkenntnisse dieser Autoren würden wahrscheinlich meine sein, da und dort verschieden, bedingt durch andere Sehnsüchte, Wünsche, Erfahrungen, doch im Grundsätzlichen nicht so weit weg von denen der anderen.

Was diese Autoren nicht miterlebt hatten, war eine Kulturrevolution. Um mich auf das, was noch nicht beschrieben worden war, vorzubereiten und China besser zu verstehen, las ich Klaus Mehnerts Peking und Moskau, von Gottfried-Karl Kindermann Konfuzianismus, Sunyatsenismus und chinesischer Kommunismus, Hellmut Wilhelms Gesellschaft und Staat in China. Zur Geschichte eines Weltreiches, das I Ging (Buch der Wandlungen), übersetzt von Richard Wilhelm, Plädoyer für Peking von Frank Thiess.

Genug der Lektüre. Ich wusste noch nicht einmal, ob ich das Einreisevisum erhalten würde. Es war an der Zeit, die dafür notwendigen Schritte zu unternehmen.

Um Rat und Unterstützung bittend, wandte ich mich an Wissenschaftler, Wirtschaftsführer, Journalisten. Nach ihren Erfahrungen wurden Einzelreisen nicht genehmigt, und auch Delegationen von Gewerkschaftsführern, Unternehmern und Gelehrten, die sowohl die Sowjetunion als auch die Volksrepublik China bevorzugten, erhielten nur in seltenen Ausnahmefällen ein Visum. Die Bundesrepublik Deutschland hatte keine diplomatischen Beziehungen zu Peking. Wer als Westdeutscher nach China reisen wollte, musste Kontakt mit der chinesischen Botschaft in der Schweiz in Bern aufnehmen.

Ob die Empfehlungsschreiben mir helfen würden, war ungewiss. Sie konnten auch das Gegenteil bewirken. Autoritär regierte Staaten sind zuweilen misstrauisch gegenüber Menschen, die sich informiert haben; Ahnungslose lassen sich leichter beeindrucken. Die chinesischen Botschaftsangehörigen nahmen die Schreiben zur Kenntnis. Mit keinem Wort zeigten sie, was sie über den Inhalt dachten. Meine Wünsche und Fragen hörten sie sich geduldig an, ein Ja oder Nein bekam ich nicht zur Antwort. »Wir werden Ihr Anliegen weiterleiten. Die Entscheidung wird in Peking getroffen. Sie werden alles rechtzeitig erfahren.«

Zu diesem Visum gibt es noch eine kleine Geschichte.Der Eintrag in die Rubrik »Beruf« bereitete mir einiges Kopfzerbrechen, denn Autoren und Journalisten war die Einreise verboten. Eingedenk der Tatsache, dass für Schriftsteller und Journalisten Papier zu ihrem Arbeitsmaterial gehört, schrieb ich dann kurz entschlossen »Papierkaufmann« in die entsprechende Rubrik, wohl wissend, welcher Gefahr ich mich damit aussetzte, aber ich wollte unbedingt in die Volksrepublik China. Im Land wurde ich dann einige Male in Papierfabriken geführt – das Erstaunen der Werkdirektoren und Arbeiter über meine Unwissenheit war nicht gering. Wahrscheinlich dachten sie, ich wolle bewusst nichts über die Papierproduktion in Westdeutschland erzählen oder »meine Regierung« hätte es mir verboten. Für mich war die Situation jedes Mal beschämend.

Nach knapp zwei Monaten, als ich schon fast nicht mehr damit gerechnet hatte, kamen das Visum und ein ausführliches Informationsschreiben. Es enthielt die Mitteilung, dass ich in Hongkongeiner Delegation zugeteilt würde. Einzelreisen seien unüblich. Ich könnte jedoch jederzeit im Land Anträge auf Einzel-Unternehmungen stellen. Was ich tat und was gelang. In Hongkong solle ich Kontakt zu dem staatlichen chinesischen Reisebüro Luexingshe aufnehmen, dort würde ich alles Weitere erfahren. Ein Direktflug in die Volksrepublik China wäre für Fluglinien, die zu NATO-Staaten gehörten, untersagt. Sie dürften den Luftraum über China nicht überfliegen und nicht auf chinesischen Flugplätzen landen. Ich müsste von Hongkong aus einreisen. Es war vom ersten Moment an klar: Es ging nach ihren Vorstellungen oder es ging überhaupt nicht.

Was mir gewährt wurde, war vielen anderen versagt geblieben. So war zum Beispiel nicht nur für Journalisten und Schriftsteller, sondern auch für Politiker, Offiziere und Geistliche aus Westeuropa die Volksrepublik ein verbotenes Land. Warum ich ein Visum für einen Aufenthalt im kommunistischen China erhielt, ist mir bis heute unklar.

Vielleicht habe ich einfach nur Glück gehabt? Vielleicht wollten sie zeigen, dass es tausend Verbote gab, wenn es ihnen aber opportun erschien, sie eines davon plötzlich ohne Begründung außer Kraft setzten? Vielleicht hofften sie auch, damit ein vorsichtiges Zeichen dafür zu geben, dass ihr Land nicht so verschlossen war, wie es den Anschein hatte, und sie bereit waren für vorerst inoffizielle Kontakte zum Westen.

Meine Frau Eva begleitete mich zum Flughafen. Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, gingen wir zur Passkontrolle. Sie blieb stehen, ich passierte. Nach einigen Schritten drehte ich mich zu ihr um. Sie trug ein weißes Kostüm, um den Hals einen hellroten Seidenschal, mit ihm winkte sie mir. Ich werde diesen wehenden Schal nicht vergessen. Wir wussten beide nicht, wann wir uns wiedersehen würden.

Die Lufthansa-Maschine stand startbereit auf der Rollbahn. Ich verstaute mein Handgepäck, setzte mich, Fensterplatz. Dann war es so weit. »Bitte anschnallen – fasten seatbelt …« Das Flugzeug raste über die Startbahn, hob ab, flog. Destination: Hongkong.

Vier Monate später berichtete ich dem damaligen Bundesfinanzminister Franz Josef Strauß von meinen Erlebnissen in China. Er hatte mich in seine Wohnung eingeladen, das Gespräch dauerte eine Stunde. Wir tranken Kaffee – es war das erste und einzige Mal in meinem Leben, dass mir ein Minister Kaffee einschenkte.

Strauß hörte aufmerksam zu, fragte in Anspielung auf den bayerischen Löwen, ob der steinerne Löwe in Peking noch in der Verbotenen Stadt stände, erkundigte sich nach dem Funktionieren der Kollektive, dem Patriotismus der Chinesen, der Zustimmung der Bevölkerung zu Maos Politik und wollte wissen, was ich im Lande über die politische Lage zwischen der Volksrepublik China und der Sowjetunion erfahren hätte. »Eine deutsche Ostpolitik darf nicht in Moskau enden«, sagte er. »Sowohl China als auch Westeuropa sind von Moskau her gefährdet. Wir müssen das Fenster zu China öffnen. Dann wird manches hereinkommen, was wir nicht wollen. Aber damit werden wir fertig – und frische Luft hat noch niemandem geschadet.«

Als ich erwiderte, dass die Chinesen von der Sowjetunion als dem »russischen Polarbären« sprachen, lachte er. »Wir haben keine Grenzprobleme mit China, es gibt keine chinesischen Besatzungstruppen in Deutschland, das kommunistische System missfällt uns, aber vor dem chinesischen Volk habe ich großen Respekt. Ich hätte nichts gegen gute Kontakte mit China einzuwenden.«

Im Jahr 1975 flog Franz Josef Strauß als erster westdeutscher Politiker nach Peking und wurde von Mao Tse-tung empfangen.