Immer wieder Maja - Sissi Flegel - E-Book

Immer wieder Maja E-Book

Sissi Flegel

4,4

Beschreibung

Eigentlich verläuft das Leben von Maja Renz in ruhigen Bahnen. Ihre Kinder sind erwachsen, sie hat eine gute Stelle als Provenienzforscherin in einem Stuttgarter Auktionshaus, pflegt ihre Freundschaften und ihr Chef Adrian Hölzl macht der geschiedenen Frau schöne Augen. Doch eines Tages wird klar: Ihr Vater versinkt zunehmend in Demenz und kann sich nicht mehr allein versorgen. Maja zieht in ihr elterliches Haus nach Bad Argenried. Ihr geordnetes Leben wird auf den Kopf gestellt. Ihr Vater hält sie auf Trab und fesselt sie ans Haus – aber heutzutage gibt's ja rasche elektronische Kommunikation. Maja knüpft an Freundschaften aus der Schulzeit an; dabei trifft sie auf den zwielichtigen Unternehmer Jörg Winterstein, der ihr Schmetterlinge in den Bauch zaubert, ein fast schon vergessen geglaubtes Gefühl. Zudem weckt eine verschwundene Heiligenfigur in der Argenrieder Kirche die Neugier der Kunsthistorikerin.Die Pflege des Vaters, die Schwangerschaft der Tochter, die Sorge um den weltreisenden Sohn, ihr Chef Adrian, der ihr hartnäckig den Hof macht, der Hallodri Winterstein, der gegen ihren Willen ihr Herz höher schlagen lässt, die Freundinnen, die alles immer besser wissen, aber das Herz am rechten Fleck haben, das immer vertracktere Rätsel um den heiligen Georg – Maja steckt in der turbulentesten Zeit ihres Lebens.

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Sissi Flegel, geborene Oesterle, wuchs in Isny im Allgäu auf. Sie arbeitete als Lehrerin und Lehrerausbilderin, bevor sie sich voll und ganz ihrer großen Leidenschaft widmete: dem Schreiben. Sie veröffentlichte zahlreiche Romane für Kinder und Jugendliche, wofür sie Preise und Auszeichnungen erhielt. Sie ist unter anderem Autorin in der bekannten Jugendbuchreihe »Freche Mädchen«. Seit einigen Jahren schreibt sie auch Unterhaltungsliteratur für Frauen, die dem Teenager-Alter entwachsen sind. Sissi Flegel lebt in der Nähe von Stuttgart, ist verheiratet und hat einen erwachsenen Sohn. www.sissi-flegel.de

1. Auflage 2017

© 2017 by Silberburg-Verlag GmbH,

Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.

Druck: Gulde-Druck, Tübingen.

Printed in Germany.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1760-8

E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1761-5

Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-2024-0

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www.silberburg.de

Für Romy

E-Mail von Maja an Adrian, 20. Februar, abends

Lieber Adrian,

Ski fahren muss in diesen Tagen herrlich sein! Ich habe mich kundig gemacht: Über Davos lacht die Sonne von einem wolkenlosen, tiefblauen Himmel, der Schnee ist, wie könnte es dort auch anders sein, meterhoch, und wenn du dich in deinem Hotel nicht rundum verwöhnen lässt, ist dir nicht zu helfen: Die Bedingungen für einen perfekten Winterurlaub könnten nicht besser sein!

Obwohl ich dir aus dem tristgrauen Stuttgart schreibe, kann ich zu deinem Glück sogar noch etwas hinzufügen. Die Provenienz der Jugendstilvasen aus der Sammlung Achim Otter konnte ich klären. Du kannst sie unbesorgt zur Auktion geben. Das freut mich für dich und das Auktionshaus!

Morgen holt mein ehemaliger Mann seine letzten Besitztümer ab. Dann gehört das Haus (wieder!) mir allein. Zusammen mit meiner Putzhilfe werde ich es entrümpeln und von Grund auf saubermachen. Danach werde ich eine Flasche Schampus (keinen Sekt!!!) köpfen, nur noch ins Bett fallen und am nächsten Tag mein neues Leben beginnen. Meinem Ex weine ich keine Träne nach. Im Gegenteil – ich bin voller Tatendrang, Adrian!

Komm mit heilen Knochen zurück und sei herzlich gegrüßt von deiner Mitarbeiterin und Freundin

Maja

E-Mail von Nicki an Maja, 21. Februar, abends

Liebe Mama,

gestern habe ich den Mietvertrag für eine bezahlbare, sehr hübsche, sonnige Wohnung mit Blick auf den See unterschrieben – ich bin überglücklich, denn sie (die Wohnung!) ist genau das, was ich mir vorgestellt habe.

Und um das Glück vollzumachen, habe ich mich endgültig von Bernd getrennt. Du hast ja so recht: Eine Schwangerschaft ist heutzutage kein zwingender Grund, um zu heiraten, vor allem, wenn man, so wie ich, genau weiß, dass man den Mann nicht liebt. Du siehst, liebe Mama, ich beherzige deinen Rat. Jetzt, wo ich den tollen Job in den gräflichen Gärten der Mainau bekommen habe, kann ich das Kind auch alleine großziehen, und ab und an wirst du doch mich und dein erstes Enkelkind besuchen, nicht wahr? Trotz deines Halbtagsjobs solltest du dazu Zeit haben, denn Tom ist in Südamerika, und da du endlich geschieden bist, musst du dich um Papa nicht mehr kümmern, der hat ja jetzt seine neue Familie. Ist echt ein Witz, dass er in seinem Alter noch ein Kind gezeugt hat, das ungefähr zur selben Zeit wie sein erstes Enkelkind zur Welt kommen wird.

Du weißt, ich liebe Papa, ich habe ihn immer bewundert, aber dass er in seinem Alter diese junge Tussi – sie ist ja nur sechs Jahre älter als ich! – heiraten musste, verstehe ich einfach nicht. Wenn ich mir vorstelle, ich müsste mit einem über 50-Jährigen ins Bett, bekomme ich eine Gänsehaut. Himmel aber auch! Aber okay, die süße Leonie steht eben auf Hängebacken und faltige Haut. Und, nicht zu vergessen, auf einen nicht unvermögenden Mann an ihrer Seite.

Nein, ich werde nicht über sie herziehen. Sollen die beiden doch glücklich miteinander werden. Und mit ihrem Kind. Und ich werde auch die Beziehung zu Papa nicht abbrechen, obwohl ich Tom verstehe, der nach dem ersten Blick auf seine Stiefmutter zu Papa sagte, er werde erst wieder mit ihm sprechen, wenn Leonie ihm den Laufpass gegeben hätte. Er ist sich absolut sicher, dass sie das früher oder später tun wird. Er beruft sich dabei auf eigene Erfahrungen, obwohl er ja erst neunzehn ist.

Hat er was von sich hören lassen? Ich vermisse meinen Bruder.

Das Baby wächst und gedeiht nach Plan, aber es strampelt nicht. Meine Ärztin sagt, am Anfang vom dritten Monat könne man das noch nicht erwarten. Stimmt das?

So, jetzt ist’s aber genug.

Ganz herzliche Grüße von deiner Tochter

Nicki

WhatsApp von Thomas an Maja, 25. Februar, abends

Hi Mum,

wir sind gut in Santiago gelandet. Philipp und ich brechen morgen mit dem Jeep auf, hoch in die Atacama in ein verlassenes Goldgräbercamp. Falls du beim Entrümpeln auf den alten Plattenspieler stößt – den möchte ich. Dito die Platten. Nicki ist einverstanden.

Melde mich bald wieder. Pass auf dich auf.

LG Tommy

E-Mail von Dr. Adrian Hölzl an Maja, 28. Februar, abends

Geliebte Maja,

das Hotel, der Schnee, der strahlendblaue Himmel über Davos – ohne dich, Liebste, ist alles nichts. Ich musste einfach nach Hause, ich bin wieder hier in Stuttgart! Leider konnte ich dich telefonisch nicht erreichen, ich weiß, du hast deinen freien Tag. Trotzdem bitte ich dich, nachdem du die Mail gelesen hast, zu mir zu kommen. Ich muss dich sehen, dich in meine Arme schließen, muss spüren, dass es dich gibt, dass du kein Traum bist!

Gerade ist eine Dame bei mir gewesen, die mir ein wunderbares Teeservice zur Auktion überlassen hat. Massives Silber, Kanne, Milchkännchen und Zuckerdose. 17. Jahrhundert, angeblich ununterbrochen im Besitz der Familie.

Bevor ich es in den Katalog aufnehme, möchte ich, dass du die Provenienz untersuchst. Die Dame kommt aus einer Stadt im Allgäu, wo, wie ich aufgrund einer kurzen Recherche feststellte, ein Münchner mit Hilfe örtlicher Kumpane und einschüchternder Maßnahmen die Bevölkerung um ihren wertvollen Besitz brachte. Es wäre fatal, wenn die Dame in eine unangenehme Untersuchung hineingezogen würde – sie machte mir einen achtbaren Eindruck. Gut gekleidet, alte Perlenkette, teure Uhr.

Da du ja aus dem Allgäu kommst, wäre das doch ein Auftrag nach deinem Herzen. Obwohl das meine bluten würde, wenn du für eine Woche oder so aus Stuttgart verschwinden würdest. Ich liebe dich, Maja, ohne dich ist jeder Tag ein verlorener.

Weißt du, dass in meinem 63-jährigen Körper das Herz eines Jünglings schlägt? Mir ist, als würde ich zum ersten Mal in meinem Leben lieben. Das ist wunderbar.

Ich umarme dich! Komm, so schnell du kannst.

Immer der Deine

Adrian

SMS von Axel Renz an Maja, 2. März, morgens

Maja,

mein weißer Plattenspieler der Firma Braun muss noch in unserem Haus sein. Ich hole ihn mitsamt Schallplatten morgen ab. Hoffe, du bist gegen 19 Uhr daheim.

Axel

SMS von Maja an Axel, 2. März, mittags

Nein, bin ich nicht. Es ist auch nicht mehr unser Haus. Es ist meins. Solltest du entgegen deiner mündlichen Versicherung doch noch einen Hausschlüssel besitzen, wirst du ihn nicht benützen. Als Richter wirst du wissen, dass dies ungesetzlich wäre.

Maja

Brief von Ines an Maja, 2. März

Liebste Maja,

seit ewigen Zeiten haben wir nichts mehr voneinander gehört! Ich finde, das muss sich ändern, schließlich waren wir allerbeste Freundinnen und sind von der ersten Klasse bis zur Zehnten, wo ich genug von der Schule hatte, auf einer Bank gesessen. Mein Gott, was hat sich seither doch alles getan … Wir müssen uns unbedingt treffen!

Weshalb ich dir heute schreibe: Unser Hochwürden ist nicht mehr der Jüngste; seit wenigen Monaten unterstützt ihn ein junger Vikar (er heißt Fidelis) mit dem klassischen Gesicht einer griechischen Statue – er ist viel zu schön für den Job! Wie ein Rattenfänger lockt er mit seinem charmanten Lächeln die Mädchen sowie die alten Ratschkacheln von Bad Argenried scharenweise in die Kirche. Ich übertreibe nicht. Es heißt, der Verbrauch an Weihrauch sowie Messwein sei sprunghaft angestiegen. Er teile an besonders eifrige Kirchgängerinnen sogar bunte, von ihm signierte Heiligenbildchen aus, die von den verzückten Mädchen gesammelt, geküsst und in den BH gestopft würden, damit sie dem glühenden Herzen nahe seien. Ach, wenn ich doch auch noch so jung wäre …

Doch auch mir liegt der schöne Vikar am Herzen: Er liebt Bücher, bestellt und kauft alle bei mir und ist daher einer meiner besten Kunden. Und genau aus diesem Grund schreibe ich dir: Heute traf »Raubzüge – Allgäuer Geschichten aus dem Dritten Reich« für ihn ein. Als ich das Buch in Händen hielt, musste ich einfach die Schutzfolie entfernen – und was entdeckte ich? Du hast das Vorwort geschrieben!

Mein erster Gedanke war: Mit der hast du die Schulbank gedrückt. Mein zweiter: Schau im Telefonbuch nach! Und siehe da, ich habe dich darin gefunden! Wie schade, dass du nicht mehr um die Ecke wohnst!

Maja, ich bin ja so stolz auf dich! Hast Kunstgeschichte studiert. Bist Provenienzforscherin geworden und schreibst kluge Artikel.

Ich gestehe, dass ich erst mal gegoogelt hab, was genau ein Provenienzforscher tut, aber so ganz habe ich es nicht kapiert. Könntest du mir wohl auf die Sprünge helfen? Möglichst hier in Argenried (seit ein paar Jahren Bad Argenried!, unser Städtchen hat ein Upgrade erfahren!), bei einem Kännchen Bergkräutertee oder einem Espresso in Resls Café und Backstube gegenüber meinem »Bücherwurm«!

Besuchst du nicht ab und zu deinen Vater? Er scheint noch recht fit zu sein, geht zwar am Stock, was jetzt im Winter, wo die Wege doch recht vereist sein können, nur vernünftig ist, und wenn wir uns zufällig über den Weg laufen, reden wir übers Wetter, die depperten Touristen und, natürlich, über dich.

Erinnerst du dich noch an Babette? Sie saß zwei Bänke vor uns, hatte lange, blonde Zöpfe, war schon damals recht gut beieinander, aber sie hatte ein so sonniges Wesen. Sie schaffte mit knapper Not den Hauptschulabschluss, und alle Lehrer trauten ihr nur eine (wegen ihrer barocken Figur zweifelhafte!) Karriere als Kellnerin in einem Touristenschuppen zu. Sie hatten unrecht. Babette ist eine erfolgreiche Geschäftsfrau geworden und das lebende Beispiel dafür, wie wenig Noten aussagen: Schräg gegenüber von meinem Bücherwurm betreibt sie ihren »Heustadl«, einen sehr erfolgreichen Beautysalon. Ich bin eine ihrer Kundinnen und muss sagen, dass sie mit ihren Kräutersalben und -cremes wahre Wunder bewirkt. Im Gegenzug kauft Babette alle Zeitschriften bei mir – mit Büchern hat sie’s nicht so. Ich habe kaum eine Falte im Gesicht, was gut ist, denn ich habe einen neuen Lover, der mich ebenfalls unendlich verjüngt. Er ist nicht ganz so alt wie ich, will heißen, deutlich jünger, was die ledigen, aber frommen Ratschkacheln im Ort mit giftigem Neid kommentieren, wie du dir denken kannst. Doch davon mündlich mehr!

Jetzt bimmelt die Ladenglocke, und ich muss mich um meine Kunden kümmern. Damit du mir rasch antworten kannst, habe ich meine Mailadresse und Handynummer aufgeschrieben.

Für heute Servus – sei herzlich umarmt von deiner treuen Freundin

Ines

E-Mail von Maja an Ines, 3. März, mittags

Liebe Ines,

gerade habe ich deinen Brief aus dem Kasten geholt, ihn gelesen und mich so darüber gefreut, dass ich einfach sofort antworten muss.

Es ist gut möglich, dass ich in nächster Zeit nach Argenried (Bad Argenried – ich kann mich noch nicht so richtig daran gewöhnen, dass unser Städtchen zum Kurort aufgestiegen ist) kommen werde, denn ich soll der Provenienz eines silbernen Teegeschirrs nachgehen. Die Eignerin wohnt in oder nahe Kempten. Dann treffen wir uns zu einem ausgiebigen Schwatz – versprochen!

Jetzt möchte ich dir aber doch rasch das Wichtigste über meinen Job berichten: Bevor ein Objekt, ein Gemälde zum Beispiel oder, wie bei meinem augenblicklichen Auftrag, eine silberne Teekanne zur Auktion kommt, muss sichergestellt sein, dass es vom Besitzer entweder rechtmäßig erworben wurde oder ein verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut aus der NS-Zeit ist. Um es wissenschaftlicher auszudrücken: Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt in der systematischen Erforschung des Vorlebens der Dinge. Früher erforschten Kunstwissenschaftler den Weg eines Kunstwerks bis zurück ins Atelier oder in die Werkstatt. Wenn sie nachweisen konnten, dass sich das Werk durchgehend in namhaften Sammlungen befunden hatte, sprach das für Authentizität und Qualität. Seit dem Fall Gurlitt geht es nicht mehr nur um Fragen der Echtheit und Qualität. Nun geht es auch darum, ob ein Werk politisch verfolgten Eigentümern entzogen wurde oder, vermehrt seit den Kriegen im Nahen Osten, um Werke, die aus Plünderungen stammen.

Es geht um Aktenstudium, um Aufkleber, Stempel, Sigel, Kennzeichen und Auktionsnummern, um die Schicksale der damaligen Eigentümer und um die Aktivitäten der profitierenden Händler. Manchmal kann man die ursprünglichen Besitzer nicht mehr ermitteln, und manchmal muss man an die moralische Verpflichtung gegenüber den Opfern appellieren – leider nicht immer mit Erfolg!

Meine Tätigkeit verlangt nicht nur kunsthistorische Kenntnisse, sondern auch detektivisches Gespür. Deshalb liebe ich meine Arbeit ganz besonders!

So. Ich hoffe, das Wichtigste geschrieben zu haben.

Was mein Privatleben angeht: Ich bin geschieden, aber ich habe (auch) einen Lover. Er ist der Besitzer des Auktionshauses, für das ich arbeite, ist seit Jahren Witwer, sehr gebildet und kultiviert. Er liebt mich von ganzem Herzen und würde lieber heute als morgen heiraten, nur ich will (noch) nicht – die Scheidung von Axel muss ich erst noch verdauen, bevor ich mich wieder binde.

Nicki, meine Tochter, arbeitet als Biologin auf der Mainau, und mein Sohn Tommy ist nach bestandenem Abitur auf einer Tour durch Südamerika.

Ich freue mich auf Argenried, besonders aber auf dich!

Sei herzlich gegrüßt und umarmt von deiner

Maja

PS: Viele Grüße auch an Babette!

E-Mail von Babette an Maja, 3. März, abends

Liebe Maja!

Ines hat mir deine Grüße ausgerichtet, vielen Dank. Und sie hat mir deine Mailadresse gegeben. Wenn du uns besuchst, bekommst eine Heustadl-Beautybehandlung gratis. Wegen alter Freundschaft. Ich hab auch einen Lover, aber heiraten will ich ihn nicht. Er guckt aufs Geld und auf den Hintern meiner Mitarbeiterin namens Dite. Ich habe auch einen Mitarbeiter, Ansgar, der ist schwul. Er sammelt alle Pflanzen für unsere Schönheitsprodukte. Sogar Luitpolda, das ist die Haushälterin von unserem Hochwürden, ist eine geschätzte Kundin. Sie lässt ihre Hühneraugen von uns behandeln.

Pfiat di und Servus!

Deine alte Schulfreundin

Babette

Im Heustadl ist Diskretion Ehrensache!

E-Mail von Henriette an Maja, 5. März, abends

Liebe Maja,

herrliches Wetter, perfekt präparierte Pisten, gführiger Schnee – Zermatt sorgt wie immer bestens für seine Skifahrer. Nur noch eine knappe Woche, dann sind wir wieder in Stuttgart. Schade. Aber ich freue mich auf dich! Steht unser Haus noch? Du hast versprochen, in unserer Abwesenheit danach zu schauen.

Liebe Grüße von deiner Nachbarin und besten Freundin

Henriette

PS: Auch Clemens sendet dir Grüße!

E-Mail von Maja an Henriette, 5. März, abends

Liebe Henriette,

wie ich dich beneide! Das letzte Mal war ich vor einigen Jahren mit Axel in Zermatt, seitdem bin ich nicht mehr auf den Skiern gestanden. Für mich, die ich im Allgäu geboren bin, ist das so schmerzlich wie eine Amputation. Wie ein fehlendes Glied vermisse ich es, bei strahlendem Sonnenschein einen steilen Hang hinunterzuwedeln. Im kommenden Winter wird das anders, das schwöre ich!

Ich habe mich endlich aufgerafft, alles auszumisten, was Axel bei seinem Auszug großzügigerweise zurückgelassen hat, als er mit seiner schwangeren Geliebten zusammenzog: ausgeleierte Badehosen, Hemden mit ausgefransten Krägen, einzelne Socken, alte Briefe und Unterlagen … Es kam einiges zusammen. In einer Margarineschachtel stieß ich auf unsere Liebesbriefe. Ich habe sie wieder gelesen. Das war ein Fehler. Zu viele Erinnerungen kamen hoch: die Studentenzeit in Tübingen, der Tag, an dem Axel in der Mensa mit mir zusammenstieß, sodass sein Gulasch samt Kartoffelbrei auf meiner Jeans und, schlimmer noch, auf meinen schicken neuen Schuhen landete, und wie er mich zur Wiedergutmachung zu einem Kaffee und danach zu einer Stocherkahnfahrt einlud – das war im Frühling, die Kastanien fingen gerade an zu blühen – und wie wir uns dabei ineinander verliebten. Ich erinnerte mich daran, wie wir mal nachts in sein Zimmer schlichen, weil seine Wirtin keine Damenbesuche erlaubte, und wie das Bett zusammenkrachte, worauf er sich erneut auf Zimmersuche begeben musste, was, wie du weißt, in Tübingen auch damals schon keine einfache Sache war …

An alles erinnerte ich mich. Ich konnte nicht anders, mir liefen die Tränen übers Gesicht. Dass unsere gemeinsame Zeit – immerhin etwas mehr als ein Vierteljahrhundert – so enden musste!

Die Zeit ging so rasch vorüber, Henriette. Wie oft ging es turbulent zu, mit Hauskauf, Umbau, dem Anlegen des Gartens, dann der Geburt der Kinder und dazu noch Axels Karriere als Richter. Mit Einladungen und allem, was man eben als verantwortungsbewusste Ehefrau unternimmt, um einem ehrgeizigen und erfolgreichen Mann den Rücken freizuhalten. Als Thomas und Nicki in die Grundschule gingen, habe ich mit Freuden wieder gearbeitet; zuerst in der Staatsgalerie, dann bei Hölzl im Antiquariat – das sind jetzt auch schon wieder ein paar Jahre! Und ich habe mich mit einigem Erfolg, wie ich sagen kann, in die Problematik der Provenienzforschung eingearbeitet! Aber es ist ja eigentlich unnötig, dir das zu schreiben, du hast das alles miterlebt!

Wenn ich so die letzten Zeilen lese, stelle ich fest, dass Axel und ich ein für unsere Zeit typisches Leben führten: Haus, Kinder, Karriere. Und dann … Scheidung.

Aber ich habe mir ganz energisch vorgenommen, nicht zu jammern. Die Zeit des Selbstmitleids ist endgültig vorbei. Ich schaue nach vorn und werde mich wie Münchhausen am Schopf aus dem Sumpf ziehen, schließlich habe ich einiges, wofür ich dankbar sein kann.

Nicki hat ihren Traumjob. Dass sie sich von Bernd hat schwängern lassen, ist bedauerlich, aber immerhin hat sie sich von dem egozentrischen, arroganten Kerl getrennt und freut sich jetzt auf das Kind – ich ebenso! Und wenn Tommy von dieser Südamerikareise zurückkommt, wird er bestimmt wissen, ob er Schreiner werden oder doch studieren will, und wenn ja, was. Mir ist das eine so lieb wie das andere. Hauptsache, er ist mit sich im Reinen.

Als ich Kunstgeschichte studierte, hätte ich mir nicht träumen lassen, auf welch faszinierendem Gebiet ich mal tätig sein würde: Provenienzforschung! Ich glaube, damals war das Wort noch nicht mal erfunden, geschweige denn, dass man sich der Spätfolgen des Kriegs annahm! Ich muss mal nachforschen, wann das Thema überhaupt spruchreif wurde. Komisch, dass ich mir die Frage erst jetzt stelle. Jedenfalls ist die Tätigkeit genau das, was ich mir wünsche. Mit ihrer Hilfe werde ich Axel vergessen.

Und dann hab ich ja auch Hölzl! Er liebt mich, wie Axel mich nie geliebt hat. Dafür bin ich natürlich sehr dankbar, aber genau das ist mein Dilemma. Erinnerst du dich an Goethes Gedicht »Willkommen und Abschied«, das mit diesen Zeilen endet:

Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!

Und lieben, Götter, welch ein Glück!

Als ich mich in Axel verliebte, dachte ich im Traum nicht daran, dass nur ich verliebt sein könnte – Liebe geschah gleichzeitig und war gegenseitig. Punkt.

Heute weiß ich, dass es, wie Goethe schreibt, ein Geschenk der Götter ist, wenn man wiederliebt. Tja. Die Götter haben nur Hölzl die Liebe geschenkt; mir haben sie lediglich Zuneigung gegeben. Und Vertrauen. Auch Bewunderung für das, was er weiß und leistet. Aber das ist zu wenig für ein gemeinsames Leben. Na, vielleicht wird aus dem ganzen Paket infolge einer geheimnisvollen Transformation doch noch Liebe … Ich würde es mir, vor allem aber ihm wünschen.

Übrigens hat mir Hölzl einen wunderbaren Auftrag in Aussicht gestellt: Um der Provenienz eines silbernen Teeservices nachzugehen, werde ich ins Allgäu fahren, allerdings erst, nachdem du wieder zurück bist. Ich plane mal ein verlängertes Wochenende ein, von Donnerstag bis Sonntagnachmittag, damit ich auch meinen Vater besuchen kann. Das Telefonieren wird zunehmend schwieriger, da er nicht mehr gut hört. Weil er nur eine Schreibmaschine besitzt – er weigert sich, einen PC zu kaufen –, beschränkt sich unsere Kommunikation auf Briefe beziehungsweise, von seiner Seite aus, auf Karten. Wenn ich darüber nachdenke: Die letzte kam vor einem Monat an!

Seit dem Tod meiner Mutter schaut unsere Nachbarin, die Margot Rupp, immer mal wieder bei ihm herein. Sie bewirtschaftet ihren kleinen Hof und hat nie geheiratet. Entweder weil sie zu arm war oder weil sie keine Schönheit ist und ziemlich derb daherkommt. Aber sie hat versprochen, mich anzurufen, wenn er Hilfe braucht. Du weißt ja, dass er um keinen Preis der Welt in ein Altersheim will. Zum Glück ist er, abgesehen vom nachlassenden Hörvermögen, noch recht fit. Allerdings meinte Margot neulich, er habe den Namen ihrer Kuh (sie heißt Kättere) nicht mehr gewusst, worauf er sehr wütend geworden sei.

Liebe Henriette, ich vermisse dich, deinen gesunden Menschenverstand, deine Klugheit – und unsere Gespräche übern Gartenzaun, in der Küche oder vorm Kamin.

Komm mit heilen Gliedern zurück!

Deine Maja

Brief von Maja an Titus, 6. März

Lieber Vater,

ich hoffe, du bist wohlauf und gesund!

Wenn es das Wetter zulässt, fahre ich übernächste Woche ins Allgäu und würde gerne von Donnerstag bis Sonntag in meinem alten Zimmer übernachten.

Dr. Hölzl hat mich beauftragt, der Provenienz eines antiken silbernen Teeservices nachzugehen. Die Eigentümerin wohnt in/bei Kempten, was bedeutet, dass ich tagsüber unterwegs sein werde. Trotzdem werden wir beide viel Zeit miteinander verbringen können. Wie wäre es mit einem Spaziergang entlang der Argen und den köstlichen Kässpatzen im Restaurant des Hotels »Hochgratblick«?

Ich freue mich auf die Tage mit dir und grüße dich herzlich.

Deine Maja

E-Mail von Ines an Maja, 6. März, nachmittags

Liebe Maja,

natürlich wirst du bei deinem Vater wohnen, aber einen Abend musst du für mich reservieren. Darauf bestehe ich – wir haben uns unendlich viel zu berichten!!!

Drei Tage und Nächte lang hat es unaufhörlich geschneit, die Schneepflüge sind der Massen kaum Herr geworden, doch dann hat das Wetter einen Purzelbaum geschlagen: Jetzt regnet es! Es ist nicht zu fassen! Wer klug ist, bleibt zuhause. Das ist schlecht fürs Geschäft, aber gut für meine Haut: Ich nutze die Flaute und lasse mich von Babette verschönern!

Deine Ines

E-Mail von Adrian an Maja, 7. März, morgens

Geliebte,

ich danke dir für den wundervollen Abend. Mein sehnlichster Wunsch ist, du würdest auch das nächste Wochenende mit mir verbringen, bevor du ins Allgäu aufbrichst. Ich brauche etwas, wovon ich während deiner Abwesenheit zehren kann. Bitte denke über uns beide nach. Ich weiß wohl, dass dich die Scheidung mitgenommen hat und dass du Zeit brauchst. Aber wir beide sind nicht mehr die Jüngsten – wer weiß, wie lange uns noch eine gute, gesunde Zeit vergönnt ist. Sollten wir die nicht nützen? Liebste, es ist wieder einmal Goethe, der mein Empfinden auf den Punkt bringt:

Fühle, was dies Herz empfindet,

Reiche frei mir deine Hand,

Und das Band, das uns verbindet,

Sei kein schwaches Rosenband!

Ewig der Deine

Adrian

E-Mail von Maja an Henriette, 10. März, frühabends

Liebe Henriette,

nur noch zwei Tage, dann bist du wieder aus Zermatt zurück! Mir fehlen dein kühler Kopf und deine besonnenen Ratschläge, denn Adrian bedrängt mich so mit seiner Liebe, dass es mir direkt die Luft abschnürt. Ich kann doch nicht mehr tun, als ihn um Zeit zu bitten und ihm zu sagen, ich würde ihn schätzen, aber nicht lieben???

Wie kommt es nur, dass sich ein Mann über sechzig wie ein testosterongesteuerter Teenager benimmt?

Deine Maja

SMS von Henriette an Maja, 10. März, zehn Minuten später

Weil er weiß (oder ahnt oder fürchtet), dass es die allerletzte Testosteronausschüttung vorm Finito ist!

Henriette

SMS von Maja an Henriette, 10. März, drei Minuten später

Wie kann ich den Fluten entkommen?

Maja

SMS von Henriette an Maja, 10. März, zwei Minuten später

Rette dich ins Allgäu!!!

Henriette

E-Mail von Maja an Henriette, 11. März, morgens

Liebe Henriette,

das Schicksal hat zugeschlagen. Ich kam vorher gerade ins Büro, als das Telefon klingelte und Margot Rupp, die Nachbarin meines Vaters, in den Hörer schrie – sie schreit immer, weiß Gott, weshalb –, mein Vater sei gestürzt und liege jetzt im Argenrieder Krankenhaus. Sie war so außer sich, dass es dauerte, bis ich Genaueres erfuhr. Demnach habe es im Allgäu heftig geschneit, danach geregnet, über Nacht sei dann die Temperatur weit unter den Gefrierpunkt gesunken, worauf am Morgen Wege und Straßen mit einer spiegelglatten Eisschicht überzogen waren. Was mein Vater erst bemerkte, als er – er wollte die Zeitung aus dem Kasten holen – am Boden lag.

Zum Glück hat Margot sein Rufen gehört und den Notarzt alarmiert. Der stellte einen verstauchten Knöchel und etliche Prellungen fest, ließ ihn aber vorsichtshalber doch ins Krankenhaus fahren. Jetzt steht fest, dass er wahnsinniges Glück gehabt hat und, nach nur einer Nacht, morgen entlassen wird. Was bedeutet, dass ich heute nach Argenried fahren werde.

Adrian ist am Boden zerstört. Er hat mich zwar nicht wieder mit Goethe traktiert, dafür aber die Sekretärin zur Post geschickt, die Tür abgeschlossen (mit dem Schlüssel!!!) und anschließend aus seiner Aktentasche ein kleines, mit dunkelblauem feinem Leder überzogenes Etui herausgeholt.

Mir schwante Schlimmes, und tatsächlich! Im Etui befand sich ein hinreißender Ring mit einer von Diamanten eingefassten Perle – spätes 19. Jahrhundert, eine wundervolle Arbeit.

Hölzl hat versucht, mir den Ring über den Finger zu streifen. Er hätte auch gepasst, doch ich sagte, Perlen würden Tränen und Unglück bedeuten, das wisse er doch. Worauf er meinte, es seien Tränen seiner Sehnsucht, und ob ich ihn nicht endlich, bevor ich wegfahren würde, hoffen ließe … ob ich ihn nicht ein kleines bisschen lieben würde … und so weiter und so fort.

Henriette, er hat mir leidgetan. Aber ich habe mir auch leidgetan: Weshalb kommt die Liebe so oft zur falschen Zeit oder von der falschen Person?

Und wenn mal Person sowie Zeit stimmen: Weshalb ist sie nicht von Dauer?

Oder, da sie offensichtlich ein Verfallsdatum hat, weshalb endet sie dann nicht bei beiden zur selben Zeit? Ich denke da natürlich an Axel und mich … Das wäre wenigstens gnädig.

Henriette, das Leben ist schon bescheuert, aber die Liebe setzt ihm (dem Leben) die Krone auf.

Deine Maja

PS: Schade, dass wir uns verpassen: Bevor du ankommst, bin ich weg. Passt du bitte auch auf mein Häuschen auf?

SMS von Maja an Ines, 11. März, mittags

Liebe Ines,

mein Vater ist gestürzt. Ich fahre heute noch nach Argenried. Rufe dich dann an – wäre schön, wenn du kurzfristig am Abend Zeit hättest.

In Eile

deine Maja

SMS von Ines an Maja, 11. März, zehn Minuten später

Liebe Maja,

stehe dann mit Argenrieder Bier und einem Vesper (schätze mal, dein Vater hat nichts im Haus und du keine Gelegenheit, etwas einzukaufen) vor deiner Tür!

Deine Ines

WhatsApp von Maja an Nicki, 11. März, früher Nachmittag

Liebes,

nach einem Sturz, der schlimmer aussah, als er war, fahre ich jetzt nach Argenried, um deinen Großvater morgen früh aus dem Krankenhaus abzuholen. Ich bleibe übers Wochenende, da ich die Gelegenheit für eine Recherche nütze. Lass mich wissen, wie es dir geht!

Deine Mami

E-Mail von Adrian an Maja, 11. März, nachmittags

Meine Liebste,

der Wetterbericht, den ich halbstündlich abhöre, meldet heftige Schneefälle. Ich bin krank vor Sorge um dich: Hättest du doch meinen Wagen mit Allradantrieb statt deines Golfs genommen – wegen des Teeservices gerätst du in Lebensgefahr! Ich mache mir die größten Vorwürfe. Bitte melde dich.

Immer der Deine

Adrian

E-Mail von Maja an Henriette, 12. März, spätabends

Liebe Henriette,

als du heute Morgen anriefst, war ich gerade im Krankenhaus, konnte also nicht reden. Jetzt ist es kurz vor Mitternacht. Bestimmt schläfst du schon, aber ich muss dir unbedingt berichten (und dabei meine Gedanken ordnen!), was alles auf mich einstürmte: Henriette, mein Vater ist nicht mehr der Alte, und ich wusste es nicht!

Doch zuerst: Wie gut, dass ihr heil nach Hause gekommen seid. Für euch wie für mich war die Fahrt kein Vergnügen. Schneefall und miserable Sicht von der Alb bis ins Allgäu, die Pflüge sind kaum durchgekommen. Aber als gebürtige Allgäuerin schrecken mich schneebedeckte Straßen nicht, mich beunruhigen nur die leichtsinnigen Raser aus dem Flachland – und nun auch der Zustand meines Vaters.

Als ich ihn abholen wollte, saß er angezogen auf seinem Bett. Ich grüßte den alten Mann im Nachbarbett und umarmte dann Titus, der zögerlich und so, als sei er sich nicht ganz sicher, fragte: »Bist du das, Maja?«

»Natürlich«, antwortete ich, weil ich dachte, wie das Gehör hätten auch seine Augen nachgelassen.

»Die Schwester«, erklärte er dann, »hat alles gepackt. Es fehlt nur noch das Waschzeug.«

Wir gingen in das Badezimmer. Auf der Ablage über dem Waschbecken standen sein Waschbeutel sowie zwei Gläser mit je einer Zahnbürste und -pasta sowie ein drittes Glas, in dem ein Gebiss schwamm. Er steckte seine Zahnbürste und die Tube in seinen Beutel, fischte das Gebiss aus dem Wasser, warf es mit einer blitzschnellen Bewegung ins Klo und betätigte dann die Spülung.

Das alles ging so rasch, dass ich nicht eingreifen, sondern nur empört rufen konnte: »Was tust du da?! Das Gebiss gehört nicht dir!«

Worauf er richtig triumphierend meinte: »Das Ding hat mich immer so damisch angebleckt!«

Früher hätte sich mein Vater niemals an fremdem Eigentum vergriffen. Er, der immer nach dem Grundsatz lebte: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu, und mich mit dem Lied »Üb immer Treu und Redlichkeit« nervte – war für mich von einem Augenblick zum anderen zu einem Fremden geworden.

Aber das war nur die erste Überraschung, zu Hause ging es dann weiter. Höchst ordentlich, ja fast pedantisch, war er schon immer gewesen, und nach dem Tod meiner Mutter putzte und pflegte er das Haus. Niemand hätte das besser machen können. Jetzt ist alles schmuddelig und verstaubt. In der Küche stinkt’s, der Fußboden starrt vor Schmutz … Ich erspare dir die Einzelheiten.

Wegen der schlechten Straßenverhältnisse war ich erst gegen Mittag ins Krankenhaus gekommen, er hatte bereits gegessen, war müde, wollte ins Bett, eine Wärmflasche und einen Kamillentee.

Er weigerte sich, die Hände zu waschen, da er von der Schwester am Morgen unter die Dusche gestellt worden war. »Das war genug Wasser für den ganzen Tag.«

Ich brachte ihm den mit einem Löffelchen Honig gesüßten Tee ans Bett. Er roch daran. »Renata«, sagte er dann, »wie dumm von dir, du hast vergessen, dass ich keinen Honig mag.«

Henriette, er hat mich, seine Tochter, mit seiner Frau verwechselt!

Und dann machte er das Maß voll, indem er meinte: »Wecke mich pünktlich um sieben. Meine Aktentasche ist zwar gepackt, aber bei dem schlechten Wetter brauche ich länger, um ins Gymnasium zu kommen, und ich will nicht unpünktlich sein.«

Als ich die Küche aufräumte, kam Margot, die Nachbarin. Ich war noch so entsetzt, dass ich sie geradezu anschnauzte (was mir umgehend leidtat): »Mein Vater ist ja dement! Warum hast mir nichts davon gesagt?«

Worauf sie gleichmütig in schönstem Allgäuer Dialekt antwortete: »Des isch normal. Älle alte Leut werdet wirr em Grind.«

Demenz als Normalität im Alter – ich bitte dich!

Später kam dann noch Ines, eine Schulfreundin. Zusammen putzten wir die Küche, danach setzten wir uns an den (sauberen) Holztisch, vesperten, tauschten Erinnerungen aus und kamen dann auf Titus zu sprechen.

Von ihr erfuhr ich, dass er vor kurzem in Pantoffeln, im Schlafanzug und Morgenmantel eine Zeitung und frische Brötchen gekauft hatte, worüber sich seine ehemaligen Schüler sehr gewundert haben, denn Titus war ein höchst geachteter, in meinen Augen fast krankhaft korrekter und auch gefürchteter Lateinlehrer – und nun schlappte er mit Pantoffeln an den nackten Füßen, wirren Haaren und völlig unangemessen gekleidet durch die Fußgängerzone!

Das kam auch Hochwürden zu Ohren, worauf er meinen Vater besuchte. Angeblich wollte er Titus bewegen, ins hiesige Altersstift zu ziehen; da er aber bei seinem Besuch einen völlig normalen Eindruck machte, unterhielten sie sich über die Kirchenväter im allgemeinen und Augustinus im Besonderen.

Ines sagte, Titus’ Ausflug im Schlafanzug sei Stadtgespräch gewesen, und Luitpolda, Hochwürdens Haushälterin, habe ihr das Übrige erzählt. Tatsache sei, meinte Ines, dass Titus nicht mehr allein leben dürfe.

Sie hat Recht. Das Stift St. Bartholomäus hat einen guten Ruf. Morgen werde ich mich erkundigen, ob dort für Titus ein Zimmer frei ist. Wenn ja, werde ich ein, zwei Wochen brauchen, bis ich hier alles organisiert habe. Ich muss mir auch überlegen, ob ich das Haus verkaufe oder erst mal vermiete. Ines meinte, seitdem Argenried ein Bad und staatlich anerkannter Kurort geworden sei, seien die Preise rapide gestiegen.

Ich mache mir große Vorwürfe, dass ich meinen Vater seit vergangenen Sommer nicht mehr besucht habe. Aber ich schwöre dir, Henriette, ich habe nichts von seiner Demenz bemerkt. Du weißt, dass er nicht nach Stuttgart kommen wollte, und wenn wir telefoniert haben, benahm er sich wie immer. Für die Rupp waren seine gelegentlichen Aussetzer eine völlig normale und daher nicht beunruhigende Alterserscheinung. Trotzdem. Als einziges Kind hätte ich mich um ihn kümmern müssen. Meine Scheidung ist da keine Entschuldigung.

Jetzt trinke ich noch ein lauwarmes Bier – Ines und ich mussten den völlig verschimmelten Kühlschrank abtauen und auswaschen. Die Flasche ins Freie zu stellen, hab ich versäumt –, dann geh ich ins Bett. Zum ersten Mal seit Beginn meiner Ehe schlafe ich wieder in meinem Mädchenzimmer. Mein Gott, was ist aus meinen (in Anlehnung an Goethe!) Mädchenmorgenjugendträumen geworden! Wollte mich schon in den Schlaf heulen, als ich mein früheres Lieblingsbuch im Regal entdeckte: Jane Eyre von der Brontë. Gefällt mir noch immer, ich werde es noch mal lesen.

Herzlich

deine Maja

E-Mail von Maja an Adrian, 13. März, kurz nach Mitternacht

Lieber Adrian,

du hast dich umsonst geängstigt, ich bin gestern gut in Argenried angekommen, habe heute meinen Vater abgeholt und nach Hause gebracht. Jetzt ist es mitten in der Nacht, doch bevor ich ins Bett gehe, kurz das Wichtigste: Mein Vater ist dement, er soll/darf/kann nicht mehr allein im Haus wohnen. Zum Glück gibt es im Ort ein Altenstift, das einen vorzüglichen Ruf genießt. Ich hoffe, ich kann ihn bewegen, dort einzuziehen, zu mir nach Stuttgart will er ja nicht.

Du wirst verstehen, dass ich nicht schon nächsten Sonntag zurückfahren kann. Ich nehme allerdings an, in der kommenden Woche Zeit für die Recherche zu finden. Im Grunde genommen bin ich sogar froh darüber, denn sie ist weit weniger emotionsgeladen als die Sache mit meinem Vater, die ja in seinem wie auch in meinem Leben eine Zäsur darstellt.

Sei nun herzlich gegrüßt von

Maja

E-Mail von Adrian an Maja, 13. März, morgens

Liebste,

das sind leider betrübliche Nachrichten. In Gedanken bin ich zwar stets bei dir, aber in so schweren Zeiten ist das nicht genug: Mein Platz ist an deiner Seite, deshalb habe ich nächste Woche von Samstag auf Sonntag mit Rücksicht auf die frommen Allgäuer und deinen Ruf ein Zimmer im Hotel Hochgratblick gebucht.

Ich liebe dich von ganzem Herzen.

Dein Adrian

WhatsApp von Maja an Nicki und Tommy, 13. März, mittags

Liebe Nicki, lieber Tommy,

schlechte Nachrichten: Euer Großvater Titus hat einen verstauchten Knöchel, ist leider dement und muss betreut werden. Bis ich eine Lösung für ihn gefunden habe, wohne ich in Argenried. Ihr fehlt mir sehr!

In Liebe

eure Mami

E-Mail von Maja an Henriette, 20. März, abends

Liebe Henriette,

was ist nur mit dir los? Gehst du nicht mehr ans Telefon, haben die Baumaßnahmen in der Stadt sämtliche Kabel gekappt, ist ganz Stuttgart 21 in einem riesigen Krater versunken oder infolge eines Tornados, Schneesturms oder Erdbebens von der Außenwelt abgeschnitten? Und hast du auch noch dein Handy verlegt?

Egal. Obwohl es schon nach elf am Abend ist, will ich dir kurz berichten, was hier passiert ist.

Ich habe letzte Woche das Stift St. Bartholomäus angesehen und war sehr angetan von den Einrichtungen und den Schwestern, die sich um die Betagten kümmern. Der Preis ist hoch, aber angemessen, und für Titus wäre ein Appartement – zwei Zimmer, Kochnische, Bad und Südbalkon mit Sicht auf den Hochgrat – frei.

Doch er will nicht!

Als ich ihm vorsichtig und mit liebevollen Worten den Umzug nahebringen wollte, reagierte er völlig panisch. Wurde schneeweiß, dann knallrot, bekam Herzrasen, Atemnot, pinkelte in die Hose und kippte völlig weg, sodass ich vor Schreck und Entsetzen seinen Hausarzt anrief, der schon eine halbe Stunde später vor der Tür stand. Dr. Semmering ist ein alter, rundlicher Herr mit roten Apfelbäckchen und herzhaftem Humor. Er begrüßte Titus mit den Worten »Na, mein Lieber, willst heut ernsthaft den Löffel abgeben?« und wandte sich dann nach einem scharfen Blick auf meinen Vater an mich: »Der Cognac befindet sich im Schreibtisch, unterste Schublade.«

Tatsächlich. Da standen zwei Flaschen Chantré, eine leere und eine fast volle. Dr. Semmering füllte ein Wasserglas bis zur Hälfte, Titus kippte den Cognac mit geübtem Schwung hinunter und kehrte prompt ins Reich der Lebenden zurück. Mir traten fast die Augen aus dem Kopf. Der Arzt tätschelte Titus die Wange und empfahl ihm, als intelligenter Mensch möge er doch bitte seine Wünsche mit Worten und nicht mit unsinnigem Theater kundtun, ergriff meinen Arm und schob mich in die Küche.

Dort fragte er mich, was denn geschehen sei. »Nichts«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Ich hab ihm nur empfohlen, ins Stift zu ziehen. Ich kann ihn nicht mehr allein im Haus lassen, aber da ich in Stuttgart wohne und arbeite …«

Semmering hatte die Cognacflasche mitgebracht. Er schenkte sich ein Glas ein (offensichtlich ist er hier zuhause!) und ergänzte: »… war für ihn die Aussicht, ins Stift ziehen zu müssen, wie ein Dolchstoß ins Herz. Oh je!«

»Ich kann ihn doch nicht sich selbst überlassen!«

»Wie wäre es mit einer tüchtigen Haushälterin?«, entgegnete er. »Oder, noch besser, wenn Sie bis zu seinem Ende bei ihm bleiben würden?«

»Wie? Einfach so und das jahrelang?«

Er stärkte sich mit einem zweiten Cognac. »Von jahrelang hab ich nichts gesagt.«

»Sondern?«

Um es kurz zu machen, Henriette: Mein Vater hatte offensichtlich mehrere kleinere Gehirnschläge, weigert sich aber, das Rauchen und Trinken aufzugeben, denn er behauptet, seit dem Tod meiner Mutter sei sein Leben nicht mehr lebenswert. Im Klartext: Er steuert ganz bewusst sein Ende an. Warum also soll er sich noch der Mühe eines Umzugs unterziehen, wo alles getan würde, um ihn am Leben zu halten?

Semmering sagte, Titus habe ihm strikt verboten, mich von den Hirnschlägen zu informieren; er ist erleichtert, dass er endlich mit mir sprechen konnte, und legte mir nahe, für einige Monate hierherzuziehen, unter anderem auch, um mir später mal keine Vorwürfe machen zu müssen.

Das geschah am Freitag.

Gestern erschien Hölzl – der hat mir gerade noch gefehlt, dachte ich zuerst. Tatsächlich aber war er mir eine große Hilfe. Er unterhielt sich lange mit Titus (es gehört zu seiner Form der Demenz, dass sich Phasen der Orientierungslosig- und Vergesslichkeit mit völliger Klarheit abwechseln) und meinte, als wir später an der Argen spazieren gingen, ich müsse hierbleiben. Unbedingt, und obwohl ihm meine Abwesenheit das Herz brechen würde – er würde so oft wie möglich ins Allgäu fahren.

Frühlingsanfang, liebe Henriette, und das ist bei mir der Stand der Dinge: Statt Tauwetter und einsetzendem Wachstum Stillstand! Mein Gott aber auch …

Ruf mich an und hilf mir, eine Entscheidung zu treffen!

Deine Maja

WhatsApp von Tommy an Maja, 21. März, spätnachmittags

Hi Mum,

krass. Für mich ist Opa Titus immer noch der coole Lateiner. Oh Mann, was hatte der für Sprüche drauf. Nicht bloß carpe diem. Als ich die Klasse wiederholen musste, sagte er völlig verblüfft und verständnislos: »Das glaube ich nicht. Ich hielt dich nie für einen Feigling.«

»Das bin ich auch nicht«, hab ich protestiert.

»Oh doch«, meinte er so deprimiert, als hätte ich ihn maßlos enttäuscht. »Über eins musst du dir im Klaren sein: ›Faulheit ist die Furcht vor bestehender Arbeit.‹ Sagte Cicero vor rund 2000 Jahren, und ich teile seine Meinung, lieber Enkel.«

Das reichte mir.