Improper, Miss Trivett! - Cleo Bennet - E-Book

Improper, Miss Trivett! E-Book

Cleo Bennet

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Beschreibung

England 1810: Auf seinem Landgut lockt Mr. Teversham die büchervernarrte Gouvernante Miss Bird mit seiner erotischen Büchersammlung in eine bizarre Beziehung. 1865 stößt die junge Emily Trivett in der Bibliothek von Uppington Hall auf den Roman, der Miss Birds pikantes Abenteuer beschreibt. Während Emily fasziniert dem Zusammenhang zwischen der Fiktion, dem Herrenhaus und ihrer schrulligen Großtante Mabel nachspürt, entgeht ihr völlig, dass der Bibliothekar von Uppington sich beileibe nicht nur für das Abstauben ehrwürdiger Folianten interessiert... Eine augenzwinkernd erzählte SM-erotische Liebesgeschichte aus dem Viktorianischen England.

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Seitenzahl: 450

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Improper, Miss Trivett!

Eine ungezogene Liebesgeschichte

von Cleo Bennet

Copyright © der Originalausgabe 2022 bei der Autorin

ISBN eBook 978-3-347-57067-2

ISBN Print 978-3-347-57066-5

Covergestaltung: F. Rüttgers unter Verwendung folgender Illustrationen: Kai Beercrafter, Serg Zastavkin, Picsfive, Sichon/alle Shutterstock

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine

Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können,

und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.

Albert Camus

Von Eseln und Gurken

Shrewsbury, Sommer 1865

Emily Trivett war angewiesen worden, Mr. Sedgwick unter allen Umständen aus dem Weg zu gehen.

Wohlgemerkt, ihre Eltern misstrauten nicht etwa dem jungen Mann, sondern ihr. Mr. Sedgwick, angehender Geistlicher, hatte vor einer Woche das Zimmer des ältesten ihrer drei jüngeren Brüder bezogen, welcher das Studium in Cambridge angetreten hatte. Die Universität war teuer, der zahlende Untermieter durfte auf keinen Fall durch unhöfliches Betragen vergrault werden.

„Und wenn es sich partout nicht vermeiden lässt, dass du das Wort an ihn richtest“, hatte Reverend Dr. Trivett seiner Tochter eingeschärft, „dann denk an deine Erziehung und dass wir dir beigebracht haben, wie man Konversation mit gebildeten Leuten betreibt!“

Emily hatte artig genickt, obwohl der Satz vor Absurditäten strotzte. Erstens hatten ihre Eltern sie keine Konversation gelehrt, denn in Gesellschaft hatte sie den Mund zu halten, Punkt. Zweitens bedurfte sie, was die Konversation mit gebildeten Menschen betraf, keiner Ermahnung, denn mit dem einzigen Exemplar dieser Gattung, das sie kannte – Mr. Rooke, der Inhaber der Leihbibliothek, die sie mindestens einmal in der Woche aufsuchte –, gelang ihr ein angeregtes und vergnügliches Gespräch völlig ohne Mühe. Und drittens lag das eigentliche Problem darin, dass keiner ihr beigebracht hatte, wie man mit extrem dummen Leuten redete.

So war, als Mr. Sedgwick Emily auf dem Flur abfing, die Katastrophe praktisch abzusehen.

Vermutlich angeödet vom Studium theologischer Schriften, lungerte er auf der Schwelle seines Zimmers herum, als sie aus dem Garten kam, versperrte ihr den Weg zur Treppe und begann zu plaudern.

Emily verfluchte insgeheim ihre Manieren, die ihr nicht nur verboten, dem jungen Mann den Ellbogen in den bereits ansehnlichen Wanst zu rammen, sondern auch, ihn einfach wortlos stehenzulassen.

Mr. Sedgwick lobte ihren Vater als einen Mentor mit einzigartiger Menschenkenntnis und erwähnte bescheiden seine eigenen glänzenden Aussichten auf eine Karriere in der anglikanischen Kirche. „Ich wage vorauszusagen, dass unsere Bekanntschaft Ihrer Bildung in jeder Hinsicht förderlich sein wird“, fuhr er gutgelaunt fort. „Ihr Vater erwähnte, dass Sie gern lesen – zufällig arbeite ich an einer Liste geeigneter Bücher für Damen, die Sie sehr interessieren wird. Die Bedeutung einer sorgsamen Auswahl der Lektüre für das schwache Geschlecht ist gar nicht hoch genug einzuschätzen! Denn während Romane den Frauen nur Rosinen in den Kopf setzen und sie dazu animieren, ihre Zeit zu vergeuden, überfordert wissenschaftliche Literatur wiederum den weiblichen Geist und lässt den Körper austrocknen, was zwangsläufig die Fruchtbarkeit mindert!“

„Das wusste ich nicht“, sagte Emily, die bei Mr. Rooke – neben Romanen – sehr gern naturgeschichtliche und historische Werke auslieh. Sie fragte sich, ob auch illustrierte Bildbände über exotische Gegenden unter Wissenschaft zählten. „Was bleibt mir dann noch zum Lesen übrig? Reisebeschreibungen wie jene von Mr. Darwin?“

Mr. Sedgwick flutschten beinahe die Augen aus dem Kopf. „Um Gottes willen – Sie meinen doch nicht das blasphemische Geschreibsel über die vorgebliche Entstehung der Arten?“

Mr. Rooke hatte ihr „The Origin of Species“ erst kürzlich in die Hand gedrückt. Vor wenigen Jahren erschienen, erfreute es sich unverändert großer Beliebtheit, und sei es nur, weil es so umstritten war.

„Ein Pseudo-Gelehrter, der Gott die Erschaffung Adams abspricht!“ Beim Gestikulieren verfehlte der junge Geistliche nur knapp die Vase auf der Kommode. „Er behauptet, nicht Gott habe uns aus Lehm gemacht, sondern ein unbegabter Engel namens Evolutium in einer unendlichen Folge von Zwischenschritten, weil er’s besser nicht vermochte! Und wovon mag er ausgegangen sein? Von einer Kakerlake?“, geiferte Mr. Sedgwick. „Und in welchem Stadium genau, frage ich Sie, mag wohl der Kakerlaken-Mensch gewesen sein, als Jesus Christus am Kreuz starb? Hatte er noch sechs Beine oder vielleicht nur noch fünfeinhalb?“

„Mr. Darwin hat kein Wort über Menschen geschrieben“, wandte Emily ein. (Obwohl ihr die Wesensart so manches Menschen – einmal ungeachtet der Anzahl seiner Beine – eine Verwandtschaft mit gewissen Tierarten durchaus plausibel erscheinen ließ. Aber Mr. Darwin war wohl ein nachsichtigerer Christenmensch als sie.)

Der junge Mann glotzte sie entrüstet an. „Natürlich hat er! Und woher wollen Sie das überhaupt wissen?“

„Weil ich es gelesen habe. Sie offensichtlich nicht.“

„Selbstverständlich nicht!“, sagte Mr. Sedgwick mit Inbrunst.

„Wie können Sie ein Buch beurteilen, das Sie nicht gelesen haben, aber mir das Urteil absprechen?“, fragte Emily neugierig.

„Weil Sie es natürlich nicht verstanden haben!“, sagte Mr. Sedgwick, der sich schon wieder gefangen hatte, im Brustton der Überzeugung. „Wie sollten Sie auch? Wie ich schon ausführte: Das ist keine Lektüre für eine Frau!“

„Keine Lektüre für Esel“, korrigierte Emily, die den halben Tag die Gemüsebeete von Unkraut befreit hatte und einfach nur in ihr Zimmer wollte, um sich umzukleiden. Im Gegensatz zu Mr. Sedgwick hatte sie in diesem Hause etwas zu tun. „Ich finde Mr. Darwins Schlussfolgerungen bemerkenswert. Übrigens stammt er aus Shrewsbury, haben Sie das gewusst?“

Mr. Sedgwick beäugte sie misstrauisch und rang sich schließlich ein „Nein, das wusste ich nicht, aber das ist wohl schwerlich relevant in dem Zusammenhang!“ ab.

Emily setzte eine einsichtige Miene auf und nickte, denn sein Blick hatte ihr plötzlich wieder die Ermahnung ihres Vaters ins Gedächtnis gerufen. Lieber Gott, du machst doch sicher keine halben Sachen? Bitte lass Mr. Sedgwick ein solch außerordentlicher Esel sein, dass er nicht merkt, dass ich ihn einen Esel genannt habe! Es war ja auch nur sehr indirekt…

Mehr Ärger konnte sie sich derzeit wirklich nicht leisten. Ihr Vater war bereits aufgebracht, weil sie am Dienstagnachmittag bei einem Mann zum Tee gewesen war (Mr. Rooke, über sechzig, verheiratet, und die Einladung war genaugenommen von seiner Frau ausgegangen, anlässlich ihres Geburtstages, aber Dr. Trivett hatte Emilys Rechtfertigung kein Gehör geschenkt). Ihre Mutter wiederum war konsterniert, weil ihre Tochter sie nicht zu Mrs. Wilberforce begleitet hatte (Emily war spazieren gewesen, was sie ihrer Mutter auch vorher angekündigt hatte, nur wann hörte Mama je zu?). Emily wusste, dass Bücher ein tückisches Terrain waren, seit sie ihren Vater auf Mr. Huttons These angesprochen hatte, dass die Erde viele Millionen Jahre älter sein müsse, als in der Bibel stand. Dr. Trivett hatte keinerlei Interesse an den geologischen Beweisen bekundet, sondern wutschnaubend das Buch eingefordert, um es zu verbrennen. Sie hatte zwar das Buch gerettet, indem sie ihrem Vater buchstäblich zwischen den Händen durchschlüpfte und es Mr. Rooke zurückbrachte, aber der Ungehorsam hatte ihr die bösesten Prügel ihres Lebens eingetragen. Danach hatte sie sich vorgenommen, niemals wieder einen Geistlichen auf ein wissenschaftliches Buch anzusprechen.

Aber Mr. Sedgwick hatte angefangen, oder?

„Sie sehen, Miss Trivett, Ihr Verstand ist gar nicht in der Lage, wesentliche von unwesentlichen Informationen zu trennen.“ Der junge Mann kam einen Schritt näher. „Wissenschaftliche Themen sind für Frauen nun einmal verwirrend. Statt Dinge zu lesen, die Ihren Horizont übersteigen“, er lächelte sie wohlwollend an, „sollten Sie besser Ihr Klavierspiel vervollkommnen.“

Das war nun sicherlich ein gut gemeinter Rat, aber leider gab es im Hause Trivett kein Klavier, und Emily hatte nie Unterricht bekommen.

Sie sah auf die verhinderten Pianistinnenfinger hinunter, unter deren Nägeln jede Menge Erde klebte, und bemerkte versöhnlich: „Kürzlich las ich, dass ein Professor daran arbeitet, Sonnenlicht aus Gurken zu extrahieren. Das erschien mir sehr interessant, namentlich im Hinblick auf unser Wetter, aber leider“, hier sah sie schüchtern zu Mr. Sedgwick auf, „kann ich überhaupt nicht verstehen, wie das jemals funktionieren soll!“

Er bedachte sie mit einem huldvollen Lächeln. „Natürlich können Sie das nicht verstehen, liebe Miss Trivett – wie sollten Sie die zugrundeliegenden wissenschaftlichen Prinzipien durchschauen können, wo es Ihnen doch schon am gesunden Menschenverstand fehlt, von profunder Bildung ganz zu schweigen? Sehen Sie, was die Gurke anbelangt, so ist jedem gebildeten Menschen natürlich sofort klar…“

Und er erging sich aus dem Stegreif in einer so eloquenten Diskussion des Für und Wider, des Trotz und Obwohl der Gurkentheorie, dass Emily nur staunen konnte.

Sein Eifer blieb auch Dr. Trivett nicht verborgen. Vom Redeschwall aus seinem Arbeitszimmer gelockt, kam er die Treppe halb herunter und bedachte Emily sofort mit einem misstrauischen Blick. Zu Mr. Sedgwick sagte er: „Ich sehe, Sie verstehen sich mit meiner Tochter.“

„Sir, ich erläutere ihr gerade die Möglichkeiten, Sonnenlicht aus Gemüse zu extrahieren – der neueste Ansatz der Wissenschaft, um das englische Wetter aufzubessern, Sie haben zweifellos davon gehört, Sir? Vielversprechend, in der Tat!“

Der Reverend runzelte die Stirn. „Sind Sie sicher? Aus Gemüse? Darf ich fragen, wo Sie davon gehört haben?“

„Ich nicht“, sagte Mr. Sedgwick, „aber Miss Trivett hat davon gelesen und bat mich – verständlicherweise – um eine Erläuterung.“

Dr. Trivett sah noch misstrauischer drein. „Gelesen? Ich bin sicher, ich habe keinerlei wissenschaftliche Zeitschrift abonniert…“

„Oh, das stand in einem Buch, Sir.“ Emily lächelte entwaffnend. „Von Mr. Jonathan Swift. Gulliver’s Travels.“

„Sehen Sie, Sir!“, strahlte Mr. Sedgwick. „Es war nicht dieser Scharlatan Darwin!“

Im Gegensatz zu seinem neuen Untermieter hatte Dr. Trivett von Swifts satirischem Roman immerhin gehört. Seine Gewittermiene (die seiner Tochter galt, nicht dem unbedarften Mr. Sedgwick) ließ keinen Zweifel daran.

War es ihre Schuld, dass Mr. Sedgwick so dumm war wie Porridge? Emily versuchte zumindest eine Rechtfertigung. „Ich sagte ihm, dass ich es nicht für glaubhaft halte, Sir. Aber schließlich ist er der mit dem gesunden Menschenverstand.“

Was genau Mr. Sedgwick ihrem Vater über den Rest ihres Gespräches erzählte, erfuhr sie nie; in jedem Fall war dieser Zwischenfall der Tropfen, der das Fass elterlicher Ungnade zum Überlaufen brachte.

Am Abend teilte Dr. Trivett seiner Tochter mit, dass er beschlossen habe, sie aufs Land zu schicken. Zu diesem Zweck hatte er die entfernteste, gebrechlichste und senilste Verwandte ausgegraben, die sich im Familienkreise auftreiben ließ, nämlich „die Witwe von Großonkel Will – wo wohnt sie doch gleich? Irgendetwas mit W… Witheridge? Ich habe doch neulich erst einen Brief…“ Dr. Trivett wühlte in seinem Poststapel, überflog ein Blatt nach dem anderen und ließ es zu Boden fallen, „Da! Willowbridge, ich wusste, es war etwas mit W! Mabel Phelps heißt das alte Mädchen, sie wird sich über deinen Besuch freuen, und du kannst dich in Demut und christlicher Nächstenliebe üben. Gleich morgen schreibe ich ihr, dass du kommst!“

Ein Sommer auf dem Lande

~

„The Pleasure of Reading. The Governess’s Tale“ by Mr. Cyril Blackburn, Kapitel 1

Charlotte Bird liebte Bücher. Dieser Tatsache verdankte sie die Stellung als Gouvernante der zehnjährigen Harriett, der einzigen Tochter des verwitweten Mr. N in Three Oaks Manor, der in seiner Annonce ausdrücklich nach einer „bibliophilen Dame“ verlangt hatte.

Miss Bird war von zarter Konstitution und einer vornehmen Blässe, um die manche Lady sie beneidet hätte. Ihr Haar war braun, fein und zu ihrem Bedauern ohne jede natürliche Anlage zu Locken, die zu jener Zeit so beliebt waren. Doch ihrer bescheidenen Stellung eingedenk, trug sie es ohnehin zu einer schlichten Frisur hochgesteckt und verzichtete auf das künstliche Herstellen von Löckchen. Ihre Gesichtszüge zeichneten sich durch keine jener gewinnenden Besonderheiten aus, welche auf den ersten Blick fesseln – wie mandelförmige Augen, elegant geschwungene Brauen oder betonte Wangenknochen –, waren andererseits aber auch von übermäßiger Asymmetrie, Warzen und sonstigen Entstellungen verschont geblieben, so dass sie sich schlimmstenfalls als ‚gewöhnlich’, bestenfalls als ‚nicht unansehnlich’ umschreiben ließen.

Zu ihrem Charakter ist zu sagen, dass Miss Bird nicht törichter, alberner oder leichter zu beeindrucken war als andere junge Damen ihres Alters, aber zweifelsohne besser gebildet als so manch andere von ähnlich ärmlicher, wenngleich hochanständiger Herkunft. Sie hatte das Internat von Mrs. L. in Ch. besucht, welches bekanntlich auch Töchter höchster Kreise ausbildete, sie durfte sich hervorragender Französisch- und akzeptabler Italienischkenntnisse rühmen, ihre Aquarelle von Blumen und Landschaften erregten Bewunderung ob ihrer Detailgenauigkeit, und ihre Singstimme war, wenngleich zart, doch glockenrein und verfehlte nie den richtigen Ton. Kurzum, wäre Charlotte Bird nur unter glücklicheren pekuniären Umständen zur Welt gekommen, hätte sie im Alter von zweiundzwanzig Jahren nicht eine Erzieherinnenstelle bei einem zurückgezogen lebenden Witwer angetreten, sondern wäre ohne jeden Zweifel längst eine vorteilhafte Ehe eingegangen…

~

Emily Trivett war klein, etwas füllig, brünett und kürzlich zwanzig geworden. Im Sommer neigte sie zu einer milden Bräune sowie einer halben Million Sommersprossen, gegen die weder Hut noch Sonnenschirm halfen. Sie besaß eine Stupsnase, braune Augen und liebte Bücher über alles, weshalb sie sehr detaillierte romantische Vorstellungen vom Landleben hatte.

Von ihren Eltern hatte sie wieder und wieder gehört, dass Romane nichts mit dem wirklichen Leben zu tun hatten. Für ihre Ankunft in Willowbridge wappnete sich Emily also nach Kräften gegen eine herbe Enttäuschung.

Umso größer war ihre Verblüffung, als sie Anfang Mai dort ankam und das Cottage in jeder Hinsicht so verträumt, rosenumrankt und spinnwebverhangen vorfand, wie sie es sich als eifrige Leserin von Miss Austen ausgemalt hätte.

Und begrüßt wurde sie nicht von einer spitznasigen, entzückenden und geschwätzigen alten Dame, sondern gleich von zweien.

Wobei die eine – auf den zweiten Blick – so alt noch gar nicht war. Und so entzückend auch nicht.

Die andere blinzelte sie an und strahlte übers ganze faltige Gesicht. „Da bist du ja endlich, Kindchen! Eunice, meine Großnichte Emily. Emily, darf ich dir Miss Eunice Kneebone vorstellen, die Schwester unseres Vikars, die so gütig ist, ab und an nach einer halbblinden alten Frau zu sehen, die sonst niemanden auf der Welt hat – aber jetzt bist du ja da! Wessen Tochter bist du noch mal, Kind?“

„Papa ist der Sohn des Vetters zweiten Grades von Großonkel William.“ Emily war froh, als die Tante abwinkte, denn sie verstand die Verwandtschaft selbst nicht so recht und hatte von Großonkel Will zuvor noch nie gehört. Sie würde es Auntie Mabel also gewiss nicht vorwerfen, dass diese sich ihrerseits nicht an Reverend Dr. Trivett erinnerte.

„Ach ja, der liebe Onkel Will…“, sagte Tante Mabel mit einem entrückten Lächeln. Sie war eine kleine, zarte, weißhaarige Person Ende siebzig, mehr Fee als Mensch, was sie durch eine Vorliebe für weiße Kleidungsstücke und Spitzenbesatz – vom Häubchen bis zum Unterrocksaum – noch betonte. Über den Besuch ihrer Großnichte war sie völlig aus dem Häuschen. „Nein, dass sich jemand meiner erinnert! Ich bin deinem Vater so dankbar! – Er hat mir einen so entzückenden Brief geschrieben!“, informierte sie Miss Kneebone.

Diese, eine hochaufgeschossene, hagere Jungfer mittleren Alters, farb- und schmucklos gekleidet, hatte bei Emilys Eintreten einen strengen Blick aufgesetzt, der sich seitdem so wenig gelockert hatte wie ihr Haarknoten. Offensichtlich hatte die zerstreute Tante es unterlassen, ihre Nachbarin im Vorfeld über den Besuch zu unterrichten, mit dem diese sich künftig Tante Mabels Teekuchen würde teilen müssen.

Miss Eunice half sich über den Schock hinweg, indem sie dem Gebäck so entschlossen zusprach, als gälte es, die Reserven eines feindlichen Heeres zu vernichten, während Tante Mabel Emily nach ihrer Reise ausfragte und jedes Detail mit mitfühlendem Gemurmel und heftigem Nicken aufnahm, so dass der Spitzensaum ihres Häubchens aus dem Beben gar nicht herauskam. „Haben Sie gehört, Eunice, welche Strapazen das liebe Kind auf sich genommen hat um meinetwillen? – Hol dir doch eine Tasse, Kindchen, du musst ja ganz entkräftet sein!“

Nun hatte die Reise das Kindchen nur von Shropshire nach Cheshire geführt, nicht von England in die australische Wüste, aber eine Postkutsche war kein fliegender Teppich, Englands Straßen eine holprige Angelegenheit, und den Tee nahm Emily in jedem Falle dankbar an, von den Kuchen ganz zu schweigen.

Miss Eunice verabschiedete sich mit dem Hinweis, sie müsse noch weitere Besuche machen. „Der Hilfebedürftigen und Einsamen gibt es so viele“, ihr tadelnder Ton stellte klar, dass sie keine Zeit hatte, den ganzen Nachmittag mit Nichtigkeiten zu verschwatzen, „dass einer mildtätigen Seele niemals zu rasten vergönnt ist!“

„Ja, und wenn sie sich nicht beeilt, kriegt sie bei Mrs. James nichts mehr zu fressen“, bemerkte Tante Mabel, kaum dass des Pfarrers Schwester aus der Tür war, und stieß einen trockenen Seufzer aus, der einem Rülpsen verdächtig nahekam. „Worauf wartest du, Kind? Von allein räumt sich das Geschirr nicht ab! Du willst die ganze Arbeit ja wohl nicht deiner halbblinden Großtante überlassen!“

Die halbblinde Großtante hatte das Geschirr immerhin auf den Tisch bugsiert bekommen (und drei fantastische Teekuchen hergestellt!), dachte Emily, aber sie gehorchte willig. Zum Anpacken war sie schließlich hierher verbannt worden.

Vom Gebäck waren nur Krümel verblieben. „Deine Kuchen sind wunderbar, Tante Mabel!“

„Ach ja?“ Ihre Großtante kniff die Äuglein zusammen. „Denk ja nicht, dir fliegen hier die gebratenen Tauben in den Mund, Miss Liebenswürdig. Wenn du Kuchen willst, back welchen!“

Mrs. Trivett war der Überzeugung, dass Haus- und Gartenarbeit sich für eine Dame nicht schickte, was sie nicht daran hinderte, ihre Tochter zu allen Arbeiten im Haus heranzuziehen – mit Ausnahme der Küche, die von Sally, der einzigen Angestellten des Trivettschen Haushalts, mit der Vehemenz eines Richard Löwenherz verteidigt wurde. Das Ergebnis war, dass Emily nur rudimentäre Fertigkeiten in der Küche besaß – was sich in diesem Sommer radikal ändern sollte, denn Auntie Mabel war nicht nur eine begnadete Bäckerin, sondern auch sehr begabt im Herumkommandieren.

Und schließlich war sie ja halb blind. Die liebe Emily konnte schlecht erwarten, dass Tantchen sich mühselig selbst durch die Vorratskammer tastete. Oder auf den Knien mit der Scheuerbürste über die Dielen rutschte und dabei mit dem Kopf gegen den Türrahmen stieß.

Nein, auf das Augenlicht der armen alten Tante war so gar kein Verlass mehr. Funktionierte es tadellos beim Abzählen der Zuckerstücke, die Miss Kneebone in ihrem Tee versenkte, so versagte es eine halbe Stunde später kläglich beim Lokalisieren der Spülschüssel. Wie gut, dass „die liebe Emily“ da war, um ihr zur Hand zu gehen!

„Denn eines ist sicher – Eunice wird keinen Finger krumm machen, solange du hier bist“, konstatierte Tantchen. „Außer, um ihn in den Henkel einer Teetasse zu fädeln, natürlich. Da sie ohnehin zwei linke Hände hat, kann ich mit dir im Haus jedenfalls nicht schlechter fahren!“

Nichtsdestotrotz kam Miss Kneebone weiterhin ihrer Christenpflicht nach, täglich nach der „armen alten Miss Phelps“ zu sehen. (Die Blicke, mit denen sie Emily durchbohrte, stellten klar, dass sie vor allem kam, um sich zu überzeugen, dass die „junge Miss Emily“ ihre alte Tante weder vernachlässigte noch vergiftete.) Dabei leistete sie heldenhaft ihren Beitrag beim Vertilgen von Törtchen und Brötchen. Und plauderte zwischen den Bissen ausgiebig über die übrigen Einwohner von Willowbridge.

„Da geht die Heuschreckenplage“, lautete schon einmal Tante Mabels Kommentar, wenn die Besucherin das Gartentor hinter sich geschlossen hatte. „Wenn du es fertigbringst, den ganzen Sommer lang höflich zu ihr zu sein, hast du genug christliche Demut fürs Leben gelernt!“

Reverend Dr. Trivett hatte in seinem Brief an Tante Mabel – den sie Emily gleich am nächsten Morgen vorlesen ließ – unmissverständlich dargelegt, dass seiner Tochter Demut, Bescheidenheit und bessere Umgangsformen nottaten. „Ihre törichte Mutter hat sie sträflich verzogen; es wird ihr gut tun, sich im Dienste ihrer Nächsten aufzuopfern und sich auf die weiblichen Tugenden Gehorsam, Fürsorge und Barmherzigkeit zu besinnen!“

Emily buk, kochte, putzte, wusch, ging zum Markt, fütterte die Hühner, pflegte den Garten und fand den Frondienst dennoch erträglich. Denn nach erledigtem Tagwerk hatte Tante Mabel nichts dagegen, dass ihre junge Verwandte sich mit einer Lesestunde belohnte. Oder auch zwei oder drei.

„Aber unbedingt, Kindchen!“, sagte Auntie in ihrem Sessel am Fenster, die fragilen Hände im Schoß verschränkt. „Ehe meine Augen nachließen, habe ich zu jeder Tag- und Nachtzeit gelesen!“ Sie seufzte vor sich hin und versank in ihren Erinnerungen, aus denen sie zwei Minuten später ebenso abrupt wieder aufschrak, um Emily mit einem vorwurfsvollen Blick zu bedenken. „Was, bitte, tust du da? – Lies gefälligst laut! Seit Äonen warte ich darauf, dass mir jemand vorliest! – Wen hätte ich denn bitten sollen – Miss Kneebone? Die vertrocknete Sumpfdistel würde einen Roman nicht mit der Feuerzange anfassen!“

Emily kam aus einem Haushalt, in dem man sich mit einem Buch – wenn es nicht die Bibel war – besser unter die Bettdecke verkroch. Ihr Vater sah Lesen als ein Symptom des Müßiggangs an, der für Frauenzimmer besonders verderblich war, und Romane als ein sicheres Mittel, Frauen Flausen in den dummen Kopf zu setzen. Ihre Mutter hielt Dickens für ausschweifend und langatmig (sie hatte nie ein Wort von ihm gelesen, das Urteil gründete allein auf dem Umfang seiner Bücher), Schriftstellerinnen durch die Bank für frivole alte Jungfern und plapperte ohnehin los, sobald sie ihrer Tochter ansichtig wurde, so dass an Lesen in ihrer Gegenwart nicht zu denken war. Ihre Brüder schließlich machten sich einen Spaß daraus, ihr das Buch zu stibitzen und zu verstecken.

Eine Gastgeberin, die ihre Leselust guthieß und ermutigte, konnte so autoritär, anspruchsvoll und launisch sein, wie sie wollte, Emilys Sympathie war ihr gewiss.

Kurzum, Emily fühlte sich in ihrer Verbannung pudelwohl.

~

„The Pleasure of Reading. The Governess’s Tale“ by Mr. Cyril Blackburn, Kapitel 3

Jeden Nachmittag von zwei bis drei Uhr erhielt Harriett Reitunterricht, weshalb Miss Bird eine Stunde ganz für sich hatte, die sie in der Bibliothek verbrachte.

An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass Three Oaks Manor über eine Bibliothek verfügte, die ob ihrer Größe in der gesamten Grafschaft bekannt war, wenngleich sich niemand rühmen konnte, sie in den letzten Jahren betreten zu haben, da Mr. N Besuche und Gesellschaften im Allgemeinen ebenso verabscheute wie Tanz und Kartenspiele im Besonderen. Womit ihr Arbeitgeber seine Zeit verbrachte, auf welchen früheren Besitzer von Three Oaks die Einrichtung der Büchersammlung zurückging und ob Mr. N, der das Anwesen erst vor fünf Jahren erworben, seither zu ihrer Erweiterung beigetragen hatte, entzog sich Miss Birds Kenntnis und ist für das Folgende auch nicht von Belang.

Jedenfalls entdeckte Miss Bird, nachdem sie die Bibliothek schon mehrere Wochen lang täglich frequentiert hatte, eines Tages, dass eine Seitentür in der westlichen Wand, die sie zuvor nicht weiter beachtet hatte, einen Spalt offenstand.

Durch den Spalt erspähte sie Bücherregale.

Wie bereits erwähnt, war Miss Bird eine leidenschaftliche Leserin. Die Aussicht auf ein erweitertes Reservoir an Lesestoff ließ daher ihr Herz höherschlagen. Sie trat ohne Zögern ein.

Der Raum war klein, annähernd quadratisch und, wie die Bibliothek auch, dunkel getäfelt und erlesen möbliert. Mit Ausnahme der Südwand, in welcher sich ein Fenster befand, und einer Stelle auf der Westseite, wo das Porträt eines missgelaunt dreinblickenden Herrn in barocker Aufmachung hing, war das Kabinett mit Bücherregalen bis zur Decke ausgekleidet. Miss Birds geschultem ästhetischem Sinn entging nicht, dass diese räumliche Erweiterung die Symmetrie der Bibliothek störte, doch verschwendete sie keinen weiteren Gedanken daran, da die Fülle an Buchrücken, sämtlich in dunkles Leder gebunden, die Titel oft in goldenen Lettern eingeprägt, sie viel mehr faszinierte.

„L’ Academie des Dames“, „Thérèse philosophe“, „Memoirs of a Woman of Pleasure“ – wenn das kein Lesevergnügen für eine Dame versprach! Viele Titel enthielten zudem Frauennamen, was Miss Bird, die romantische Literatur vor allem anderen favorisierte, ungemein entzückte: „Valentine“, „Christine“, „Juliette“ – letztere sogar verfasst von einem Marquis! Die Regale im Hauptteil der Bibliothek enthielten hingegen vorrangig historische, religiöse, geographische oder philosophische Abhandlungen; nach Romanen hatte Miss Bird suchen müssen. Demzufolge konnte sie ihr Glück, auf diesen Schatz gestoßen zu sein, kaum fassen.

Sie nahm aufs Geratewohl einen Band aus dem Regal, der „Berenikes Reisen“ ankündigte.

In den ledernen Einband waren die Umrisse eines Paares geprägt, das unbestreitbar splitternackt war. Miss Bird erstarrte für einen Augenblick ob des obszönen Anblicks und sagte sich, dass sie dieses Machwerk unverzüglich zurück ins Regal schieben und ihm entschlossen den Rücken zukehren müsse.

Stattdessen sah sie sich flink um, stellte fest, dass niemand in der Nähe war, und besah das Bild genauer.

Der Mann war wohlgeformt, schätzte sie ein. Muskulös, aber langgliedrig, schmal in den Hüften, breit in den Schultern. Der Eindruck wurde lediglich von dem merkwürdigen länglichen Ding getrübt, das aus seinen unteren Körperregionen zu ragen schien, als sei es dort festgewachsen. Am ehesten machte es den Eindruck einer überdimensionierten und missgebildeten Gurke, dachte die verwirrte Gouvernante. Ebenso rätselhaft waren ihr die Absichten der ebenfalls unbekleideten Frau, die sich auf ein Geländer stützte, wobei sie dem Mann auf unziemliche Weise ihr bloßes Gesäß entgegenstreckte. Auf die Gurke schien sie jedenfalls keinen Appetit zu haben, was die Betrachterin angesichts der verkrüppelten Gestalt des Gemüses nicht weiter verwunderte. Und warum in aller Welt waren die Hände der Dame mit einem Seil an die Querstange des Geländers gebunden?

Miss Bird gab das Rätseln über die Illustration auf und schlug das Buch auf.

Die „1“ des ersten Kapitels wurde vom Kupferstich einer Kette eingerahmt, die sich anmutig um die Zahl schlängelte und an beiden Enden in massiven Schellen endete.

Die Geschichte handelte von der griechischen Prinzessin Berenike, welche gerade im Dienst der Göttin Artemis ewige Jungfräulichkeit geschworen hatte, als sie das Pech hatte, von einem phönizischen Piraten geraubt zu werden, der sich anschließend nach allen Regeln der (literarischen) Kunst bemühte, ihren Stolz zu brechen. (Ihre Jungfräulichkeit, welche die ersten Stunden in seiner Gewalt nicht überlebte, erbeutet zu haben, genügte dem Halunken offensichtlich nicht.) Das Schiff segelte von Hafen zu Hafen die Mittelmeerküsten entlang; mehrfach gelang es der unerschrockenen Berenike, ihrem Peiniger zu entkommen, doch unweigerlich fing er sie wieder ein und ließ sie ihre Fluchtversuche teuer bezahlen. Als die Arme einmal zur Strafe in Ketten auf der Ruderbank schwitzte, umgeben von ungehobelten Mannsbildern, die sie mit Hohn und Anzüglichkeiten überschütteten und bisweilen auch durch das dünne Kleidchen in Schenkel und Hinterteil (!) kniffen, vergaß die erschütterte Miss Bird vorübergehend das Atmen.

Über jedem Kapitel prangte ein Paar Hand- oder Fußfesseln, manchmal gar eine bizarre Kombination von beidem, stets detailliert gezeichnet, die Form fantasievoll variiert. Miss Bird betrachtete die Vignetten mit großem Interesse, schließlich war sie selbst künstlerisch nicht ganz unbegabt, und dem Zeichner gebührte ihrer Ansicht nach Bewunderung für seine sorgfältige Arbeit.

Atemlos verfolgte sie auch den nächsten Fluchtversuch der tapferen Heroine: Als das Schiff in Karthago vor Anker lag, kletterte Berenike bei Nacht und Nebel von Bord, während die Seeräuber sich in den Spelunken der Stadt vergnügten, und flehte in der Hafenkommandantur um Hilfe. Der Wachhabende lauschte erschüttert ihrer Geschichte und eilte sich, sie zum Kommandanten zu führen.

Berenike folgte dem Mann durch einen dunklen Flur, bis er an eine Tür klopfte, durch deren Spalt Licht schimmerte. Gedämpfte Männerstimmen erklangen dahinter, das Rollen von Würfeln, Gelächter. Respektvoll wartete der Soldat, bis eine barsche Stimme ihm einzutreten befahl. Er klinkte die Tür auf und ließ Berenike den Vortritt, eine Zuvorkommenheit, die sich im Nachhinein als unglücklich herausstellen sollte. Sie trat über die Schwelle und –

– hier stockte Miss Bird in böser Vorahnung erneut der Atem, noch bevor sie den Satz zu Ende gelesen hatte –

– sah den Hafenkommandanten von Karthago, einen bulligen Mann in schreiend bunten Kleidern, wie er gerade den Weinkrug hob, um seinem Gegenüber nachzuschenken. In letzterem, einem schlanken Mann mit wettergegerbter Haut und schwarz gelocktem Haar und Bart, der die Beine lässig übereinandergeschlagen hatte und sich in diesem Augenblick zu ihr umdrehte, erkannte sie ihren Entführer.

Miss Bird entfuhr ein tiefer Seufzer. Hatte sie es nicht geahnt? Die arme Berenike! Es war wirklich grausam, wie sich ihr Schicksal immer und immer wieder zum Üblen wendete!

Der Mund des Piraten verzog sich langsam zu einem Grinsen. „Sieh sie dir an: kann nicht genug von mir bekommen. Kaum lasse ich sie für eine Stunde allein, läuft sie mir hinterher.“

Die zu Tode erschrockene Prinzessin drehte sich auf dem Absatz um und wollte davonrennen, doch prallte sie prompt gegen den Mann, der sie hierher begleitet hatte. Er fluchte und hielt sie mehr instinktiv als absichtsvoll fest, sie biss ihn in den Arm, doch zu spät: Schon war der Pirat bei ihr und packte ihr Haar. Sein Griff, das hatte sie schon Dutzende Male erfahren müssen, war unerbittlich wie Eisen, da half kein Zappeln, kein Beißen, kein Treten. Wenig später lag sie, Hände und Füße festgebunden, mit gespreizten Schenkeln und entblößter Scham vor drei Männern, die sämtlich nicht mit ihr verheiratet waren und dennoch schamlos ihre Absicht kundtaten, sich ihrer auf eine Weise zu bedienen, die nach Miss Birds bescheidener Kenntnis ausschließlich einem Ehemann vorbehalten war, „auf dass du den Weg nicht umsonst auf dich genommen hast, meine Schöne!“

Diskutiert wurde nicht das Ob, sondern lediglich das „Wer zuerst?“ Sie einigten sich darauf zu würfeln.

Die folgenden fünf oder sechs Seiten bewogen Miss Bird zwei Dutzend Mal, schockiert nach Luft zu schnappen, dazwischen presste sie wieder und wieder die Hand auf ihren Mund, um in ihrer Erregung nicht laut aufzustöhnen.

Der Hafenkommandant war als Letzter an die Reihe gekommen und vom Ergebnis äußerst angetan. „Ich könnte sie dir abnehmen“, grunzte er, kaum dass er wieder zu Atem gekommen war. Er schlug einen Preis vor.

Der Seeräuber war nicht beeindruckt. „Auf dem Sklavenmarkt“, er schaute auf seine Gefangene hinunter, deren Augen sich beim letzten Wort weiteten, und ein böses Lächeln spielte um seine Lippen, „würde sie leicht das Doppelte erzielen –“

„Miss Bird? Miss Bird, sind Sie hier?“ Die Stimme der Haushälterin riss die Gouvernante, die genauso gefesselt war wie die Heldin des Romans, abrupt aus ihrer Versenkung. „Ich suche Sie überall! Harriett ist schon seit einer Viertelstunde fertig!“

Mit zitternden Händen schob Miss Bird das Buchzeichen zwischen die Seiten und stellte das Buch zurück an seinen Platz. Alles in ihr widerstrebte der Pflicht, ausgerechnet an dieser Stelle Buch und Kabinett zurückzulassen. Ihr Kleid war unter den Achseln klatschnass, und sie war sicher, die entsetzliche Vorstellung, was auf den nächsten Seiten geschehen konnte, würde sie bis in den Schlaf verfolgen. Wenn sie denn überhaupt Schlaf fände.

Tatsächlich hatte sie nachts wechselweise die Einbandillustration und die Vignetten vor ihrem inneren Auge und schauderte ausgiebig.

~

An Emilys zweitem Sonntag in Willowbridge brachte Miss Kneebone ihren Bruder mit zum Tee. Der Vikar, wie seine Schwester von knochiger Gestalt, nur noch einen Kopf größer, ging notorisch etwas gebückt, was wohl den niedrigen Decken der Häuser auf dem Lande geschuldet war. Als ihm Aunties Gast vorgestellt wurde, richtete er sich überrascht zu seiner vollen Länge auf und krachte prompt gegen einen Deckenbalken. „Trivett?“, rief er, während er sich den Schädel rieb. „So ein Zufall! Sind Sie verwandt mit meinem alten Freund, dem Reverend Dr. Trivett in Shrewsbury?“

Emily kam nicht dazu, die Verwandtschaft zu erklären, weil Tante Mabel ihr zuvorkam. Allerdings warf die Gute einiges durcheinander: erklärte Großonkel Will zu ihrem Vetter und Dr. Trivett zu dessen Neffen zweiten Grades. Emily schaute unwillkürlich zu dem Porträt über der Kommode, das einen Herrn mit silbernem Haar und strengem Blick zeigte, dem man sofort abnahm, dass er Generationen von Patienten so eingeschüchtert hatte, dass sie jede noch so bittere Medizin schluckten. Er wirkte etwas indigniert darüber, dass seine Witwe so vergesslich geworden war.

Der Vikar konnte gar nicht genug über Gottes Wege staunen. „Dass er das nie erwähnt hat! Dabei korrespondieren wir seit Jahren – erst kürzlich hatte ich ihm geschrieben, wie unermüdlich sich meine liebe Eunice um Sie kümmert, teure Miss Phelps – dass er dies zum Anlass genommen hat, Sie zu schicken, Miss Trivett, ist so großherzig! Aber er hätte Sie mir doch ankündigen können! Ich hätte Sie in Empfang genommen!“

An dieser Stelle warf Emily hastig ein, dass Tante Mabel sie ganz reizend empfangen habe, „und Sie haben ja schließlich eine Gemeinde zu umsorgen, wie mein Vater auch, was sicherlich der Grund ist, weshalb er vergaß, Sie zu informieren –“

„Ja, ja, zweifellos. Wie war noch mal genau die Verwandtschaft, Miss Phelps? Ich muss gestehen, dass es mich etwas verwirrt.“

Die Verwirrung wurde gewiss nicht kleiner, denn diesmal machte Auntie Großonkel Will abwechselnd zu ihrem Onkel und ihrem Halbbruder und Dr. Trivett zu seinem Enkel, wahlweise Adoptivsohn, wobei sie sich halsstarrig jegliche Einwürfe von Emily verbat, mit dem Ergebnis, dass die Geschwister Kneebone gequälte Blicke tauschten und der Vikar die Erdbeertörtchen lobte. „Nicht wahr“, strahlte Tante Mabel, „die hat Emily gemacht, das Kind war ja so ungeschickt, als sie herkam, aber sie lernt schnell, und ich danke Gott jeden Tag dafür, sie um mich zu haben – möchten Sie noch eine Tasse, Vikar?“

Als sie den Besuch zum Gartentor begleitete, flüsterte Miss Eunice Emily ins Ohr: „Die liebe Miss Phelps! Sie hat nicht mehr alle Tassen im Schrank – wenn Sie einen verständigen Gesprächspartner brauchen, finden Sie bei uns immer eine offene Tür!“

„Die liebe Eunice“, bemerkte Tante Mabel verächtlich, „hat ein Gedächtnis wie ein Sieb! Tausendmal habe ich ihr von deinem Vater erzählt, aber sie hört ja nie zu!“

„Warum nennen sie dich eigentlich hartnäckig Miss Phelps, Auntie?“

Wenn Tantchen in Gegenwart von Miss Kneebone lachte, klang es wie das Zwitschern eines Vögelchens. War sie mit Emily allein, lachte sie heiser wie ein schwindsüchtiger Säufer. „Diese Landbewohner! Ich bin vor zwanzig Jahren schon als Witwe hierhergezogen, und so bin ich in ihren Augen eine alte Jungfer und werde es bleiben, bis mein letztes Stündchen geschlagen hat!“

„Wo habt Ihr früher gelebt, du und Onkel Will?“, fragte Emily.

Doch im Gegensatz zu anderen alten Damen, die Emily kannte, neigte Tante Mabel nicht dazu, in sentimentalen Erinnerungen zu schwelgen. „Verschone mich mit deinem vorgetäuschten Interesse, Kind, ich habe genug von der heiligen Inquisition aus dem Pfarrhaus! Lies mir lieber vor, ich muss dringend das närrische Geschwätz der beiden aus dem Kopf kriegen!“

Nichts lieber als das, Tantchen.

* * *

Nachdem Emily ihre wenigen mitgebrachten Bücher und Auntie Mabels ebenso bescheidenen Bücherschatz gelesen hatte, erkundigte sie sich nach einer Leihbibliothek in der Nähe.

Miss Kneebone lachte herablassend. „Meine liebe Miss Trivett, dies ist doch nicht London!“ Worauf sie sich erbot, einige erbauliche Bücher aus der Bibliothek ihres Bruders mitzubringen, die der Charakterbildung einer jungen Dame förderlich wären. „Moral und Grundsätze sind das A und O der Erziehung!“ Emilys höflichen Protest wies sie zurück. „Das macht mir überhaupt keine Umstände, wo denken Sie hin – wo wir doch praktisch Nachbarn sind!“

Schon am folgenden Tag fand sich Emily mit einem Stapel belehrender Traktate beglückt, die an Langatmigkeit höchstens von einer Anthologie der Moose und Algen übertroffen worden wären. Über der fünften Seite des ersten Buches nickte sie am helllichten Tage auf der Gartenbank ein.

Tante Mabel hatte Mitleid („Wirf das Zeug in den Kamin, du erweist der Menschheit einen Dienst!“) und eine Eingebung. „Kannst du nicht nach Uppington gehen und bei Mr. Teversham ein paar Bücher ausleihen? Seine Bibliothek ist riesig, er ist weithin als Büchernarr verschrien. Und er ist ein Gentleman. Er wird gewiss nichts dagegen haben.“ Auntie verzog ihr faltiges Antlitz zu einem Grinsen, das sie mehr einem Kobold als einer Fee ähneln ließ. „Bei Tausenden von Büchern wird es den alten Zausel wohl kaum stören, für eine Woche auf drei oder vier davon zu verzichten!“

Emilys Gesicht hatte sich bei dem Wort Bibliothek beträchtlich aufgehellt. „Meinst du, ich kann gleich hinübergehen?“

„Nicht heute, Kind.“ (Es war Mittwoch.) „Warte bis Freitagnachmittag.“

~

„The Pleasure of Reading. The Governess’s Tale“ by Mr. Cyril Blackburn, Kapitel 4

Am Morgen nach ihrer Entdeckung des Kabinetts konnte man Miss Bird im Frühnebel in ihrem kurzärmeligen Kleid durch den Park von Three Oaks schreiten sehen. Hatte sie sich bei solcher Gelegenheit früher gefühlt wie eine Nymphe, die, in wehende Schleier gehüllt, leichtfüßig über die Wiesen Arkadiens hüpfte – die wundervoll natürliche Mode der Epoche legte diese Metapher nahe –, so argwöhnte sie jetzt hinter jedem Baum einen lüsternen Piraten und musste sich sehr zusammennehmen, um nicht ins Laufen zu verfallen. Dass etwas in ihr nach derart würdeloser Hektik drängte, irritierte sie zutiefst. Was für ein Vorbild stellte sie als Erzieherin für Miss Harriett dar?

(Berenike übrigens hatte, um eines damenhaft gemessenen Schrittes willen ein hauchdünnes Silberkettchen zwischen den Fußgelenken getragen – eine Idee, die Miss Bird sehr hübsch fand. Der phönizische Seeräuber auch, wenngleich aus anderen Gründen: Bei dem Versuch, ihm zu entkommen, war die Prinzessin nach zwei Schritten kläglich auf die Nase gefallen. Der Barbar, der sich nur noch bücken und seine Beute hatte auflesen müssen, stellte seine barbarische Natur unter Beweis, indem er das Schmuckstück mit den Händen zerriss und durch solides Eisen ersetzte.)

Obwohl ihr bewusst war, dass es die Literatur war, die einen solch verderblichen Einfluss auf ihr seelisches Gleichgewicht ausübte, kehrte Miss Bird am Nachmittag, sobald sie ihrer Schülerin ledig war, schnurstracks ins Kabinett zurück. Wenn ein Roman sie derart aus der Fassung zu bringen imstande war, dachte sie trotzig, dann war es höchste Zeit, dass sie ihr schwaches Gemüt abhärtete!

Außerdem wollte sie unbedingt wissen, wie es weiterging.

Die nächsten Kapitel von „Berenikes Reisen“ eigneten sich hervorragend zum Abhärten empfindsamer Gemüter. Die Protagonistin wurde in unzulänglich bekleidetem Zustand auf dem Sklavenmarkt feilgeboten und von einem Individuum ersteigert, das seine Finger schon auf dem Weg zu seiner Behausung nicht bei sich behalten konnte. Selbige Behausung entpuppte sich zu Miss Birds Entsetzen als Freudenhaus der übelsten Sorte – der geneigte Leser kann sich vorstellen, mit welchen Schilderungen Miss Bird auf den nächsten zwanzig oder dreißig Seiten gepeinigt wurde. Fast noch mehr als die Schande, welche die Heroine im Laufe der ersten Nacht durch ein Dutzend Männer (Miss Bird zählte zweimal nach) zu erdulden hatte, beunruhigte die Leserin eine gewisse maskierte Gestalt, die aus dem Dunkel einer mit Vorhängen verkleideten Nische genüsslich den Qualen Berenikes zusah und erst hervortrat, als sie, geschunden und gedemütigt, in den frühen Morgenstunden allein auf der zerwühlten Bettstatt zurückblieb.

„Nun, gefällt es dir hier besser als auf meinem Schiff?“, fragte er sardonisch. Denn es war (hier entrang sich Miss Birds Brust ein kläglicher Seufzer) kein anderer als der wohlbekannte, garstige Piratenkapitän. Die arme Berenike, mit einer Courage, die Miss Bird nur von ganzem Herzen bewundern konnte, spie ihm vor die Füße, worauf der Schurke lachte und ihr einen Strick um den Hals knotete, an dem er sie vom Bett hochzog. „Dein Pech, meine Schöne!“ Denn der Verkauf war nur vorgetäuscht, ihr Martyrium in seiner Gewalt setzte sich noch am selbigen Tage fort…

Am nächsten Morgen sah sich Miss Bird im Park alle drei Schritte ängstlich um, das kleinste Rascheln im Laub ließ sie zusammenzucken, und als vor ihr ein Vogel aus einem Baum aufflog, sank sie mit einem Schrei ins taufeuchte Gras.

Danach verzichtete sie ganz auf ihre morgendlichen Spaziergänge und verließ das Haus nur noch in Gesellschaft ihrer Schülerin.

~Die Bibliothek

Der Weg von Willowbridge nach Uppington Hall führte über Feldwege und durch ein kleines Laubwäldchen, das den Hügel krönte; Emily brauchte kaum mehr als eine halbe Stunde und empfand die Wanderung als sehr erfrischend, erst recht, da sie damit Miss Kneebones Besuch zum Tee verpasste.

Uppington Hall verfügte über keine der liebenswerten Eigenarten, die englische Landsitze in Romanen auszeichnen, vielmehr bot sich der Besucherin der Anblick einer grauen Fassade mit zwei kurzen Seitenflügeln, die einen Innenhof mit einer fantasielos bepflanzten und von Buchs eingefassten Rabatte flankierten. (Sie konnte nur hoffen, dass sich hinter dem Haus ein Garten verbarg.) Auf ihrem zielgerichteten Marsch zur Eingangsfront registrierte Emily beiläufig die Abwesenheit von gotischen Ziertürmchen, Wasserspeiern, niedergebrannten Seitenflügeln und efeuumrankten Ruinen einstiger Kreuzgänge, doch hielt sich ihre Enttäuschung in Grenzen, schließlich interessierte sie hier lediglich der Inhalt von Mr. Tevershams Bibliothek.

Als sie sich bei der Dame mittleren Alters, die sich als Mrs. Hadley, die Haushälterin, vorstellte, nach dem Herrn des Anwesens erkundigte, blühte ihr eine Überraschung.

„Mr. Teversham empfängt keine Besucher mehr“, sagte Mrs. Hadley mit etwas spitzer Miene. „Er ist vor acht Jahren verstorben.“

Auntie, Auntie!, dachte Emily mit einem innerlichen Kopfschütteln. Du bist wirklich senil!

Doch mehr Zeit, mit ihrer Großtante zu hadern, blieb ihr nicht; Mrs. Hadley wollte die Tür wieder schließen – die Tür, hinter der sich, Tante Mabel zufolge, ein unermesslicher Schatz von Büchern verbarg, die keinen Leser mehr hatten. Falls die Bibliothek nicht auch der Vergangenheit angehörte, was bei Tantchens Geisteszustand ja durchaus im Bereich des Möglichen lag.

„Ich wollte nur fragen, ob ich ein paar Bücher ausleihen dürfte. Meine Großtante hat mir von Mr. Tevershams berühmter Bibliothek erzählt…“ Emily fand, unter den Umständen könne ein wenig Schmeichelei nicht schaden.

Die Haushälterin musterte die Bittstellerin von Kopf bis Fuß. Emily trug ihr bestes Kleid, hellgraue Seide mit einem blütenweißen Spitzenkrägelchen, das Auntie ihr geschenkt hatte, und darunter sogar ein Korsett (der Mahnung ihrer Mutter eingedenk, die ihr ans Herz gelegt hatte: „Wenn du vornehme Leute triffst, vergiss dein Korsett nicht!“). Als sähe ich aus wie eine Betrügerin, die beabsichtigt, ihre Bücher zu stehlen!, dachte Emily indigniert. „In einer Woche bringe ich sie zurück. Wir leben drüben in Willow Cottage. Meine Großtante, Mrs. Phelps, ist sehr betagt und wüsste die Freundlichkeit wirklich zu schätzen…“

Mrs. Hadley sah sich um, als erwarte sie eine Entscheidung von einer unsichtbaren Person im Inneren des Hauses.

Sie musste Schritte gehört haben, wurde Emily verspätet klar, denn im nächsten Moment sprach die Haushälterin jemanden an. „Mr. Blake! Da ist eine junge Dame, die fragt, ob sie sich ein paar Bücher ausleihen dürfe, für Miss Phelps drüben in Willowbridge, und ich wusste nicht…“

„Aber sicher“, hörte Emily zu ihrer Erleichterung den unsichtbaren Mr. Blake sagen. „Danke, Mrs. Hadley, ich kümmere mich darum.“

Mr. Blake, der sich als der Bibliothekar vorstellte, war ein Mann von unauffälligem Äußeren, wenn man einmal von der Brille absah, einem Utensil, das Emily bislang eher mit älteren Herren wie Mr. Rooke in Verbindung gebracht hatte. Vielleicht, schlussfolgerte sie nun, hatten Brillen doch eher mit Büchern zu tun als mit dem Alter, denn Mr. Blake konnte nicht viel über dreißig sein.

Er bat schon auf dem Flur um Entschuldigung dafür, dass das Angebot an „Büchern, die sich für Damen eignen“ in der Bibliothek begrenzt sei.

„Das macht nichts“, sagte Emily, die sich einer ähnlichen Unterhaltung mit Mr. Rooke vor acht oder neun Jahren entsann, munter. „Soweit ich weiß, werden Bücher für Gentlemen ebenfalls mit lesbaren Lettern gedruckt.“

Dieser Satz hatte Mr. Rooke zum Lachen gebracht. Bei Mr. Blake funktionierte er nicht ganz so; der Bibliothekar blinzelte nur verdattert, ehe er fortfuhr: „Die meisten sind zudem recht antiquiert. Mr. Tevershams Geschmack war etwas eigensinnig. Aber die Bibliothek steht nichtsdestotrotz zu Ihrer Verfügung, Miss Trivett.“

Das hatte sie hören wollen. „Wem gehört Uppington denn jetzt?“

„Mr. Tevershams Großneffen.“ Der Bibliothekar verzog leicht die Lippen. „Er findet das Haus viel zu groß für seine Zwecke; er lebt die meiste Zeit in Chester.“

„Warum verkauft er das Haus dann nicht?“

„Man braucht ein solches Haus, um eine solche Bibliothek zu beherbergen“, sagte Mr. Blake schlicht, und Emily, die in diesem Moment über die Schwelle der Bibliothek trat, verstand augenblicklich, was er meinte.

Kleiner hätte das Haus gar nicht sein dürfen. Die Bibliothek bildete unzweifelhaft das Herzstück des Gebäudes: zwei Stockwerke hoch, mit einer umlaufenden Galerie im oberen Stock, sämtliche Wände mit Bücherschränken aus dunklem Holz ausgekleidet bis zur Decke. Die hohen Südfenster verhinderten, dass die Bücher in Düsternis dahindämmerten. Emily, die nur die winzige, vollgestopfte Leihbibliothek ihres Heimatorts kannte, fühlte sich wie in ein Feenreich versetzt. Sogar die gemalten Fabeltiere auf einem Globus weckten im Vorbeigehen ihr Entzücken. Ihr Vater besaß auch einen solchen, doch als Mann von eher geistigen als weltlichen Interessen hätte er Australien auf dessen Außenseite längst nicht so schnell lokalisiert wie den Sherry im Inneren.

Im Vorbeistreifen an den Regalen entdeckte sie alte Bekannte: „Wade’s British History“, „Hallam’s Middle Ages“ und „Robertson’s India“, ein ganzes Brett „Punch“, jahrgangsweise eingebunden, und dazwischen ein Universum ihr unbekannter Bücher, die zu lesen ihre Lebenszeit bei weitem nicht ausreichen würde. Warum hatte der selige Mr. Teversham die Regale nicht in Form eines Labyrinths aufstellen lassen? Dann hätte sie sich dazwischen verirren können, und Mr. Blake würde sie nie wiederfinden, um sie nach Hause zu schicken…

Die Stimme des Bibliothekars riss sie aus ihrer Fantasie. „Wenn Sie schauen mögen, Miss Trivett?“

Die „für Damen geeignete Lektüre“ machte tatsächlich nur einen bescheidenen Bruchteil der Sammlung aus und wirkte fast so antik wie der Globus. Die ledernen Einbände waren rissig, die eingeprägten Lettern altmodisch; fehlen nur noch Spinnweben und Mäusenester, dachte Emily und fasste den benachbarten Tisch ins Auge, auf dem sich augenscheinlich neue Anschaffungen stapelten. Die sahen, wie angedroht, nicht nach Romanen aus, doch erstens war ein Titel ihr durchaus vertraut: „On the Origin of Species“ konnte sie sehr wohl ein zweites Mal lesen, schon um in der Lage zu sein, nach ihrer Heimkehr nach Shrewsbury eventuelle weitere Esel, die sich in ihr Heim verirrt haben mochten, zu entlarven.

Zum zweiten wäre selbst (um wahllos ein Beispiel zu nennen) „Über die Flora und Fauna von West Shropshire“ immer noch spannender als die erbaulichen Traktate aus dem Pfarrhaus. Oder ein Nachmittag am Teetisch mit Eunice Kneebone.

Und drittens wusste niemand besser als Emily selbst, dass ihr ein wenig Bildung nur gut täte. Sie packte also ohne viel Federlesens ein Dutzend Bücher in ihren Korb. Mr. Blake erkundigte sich in mild verblüfftem Ton: „Sie mögen Voltaire, Miss Trivett?“

„Wenn ich ihn gelesen habe, werde ich es wissen“, sagte sie.

Er nickte und enthielt sich danach jeden Kommentars zum Rest ihrer Auswahl. Ganz wie Mr. Rooke. Einem Bibliothekar waren eben, im Gegensatz zu den etwas engstirnigen Geistlichen, alle Bücher gleich kostbar und lesenswert.

Auf dem Heimweg überlegte Emily hin und her, beschloss aber am Ende doch, Tante Mabel schonend darüber aufzuklären, dass Mr. Teversham nicht mehr am Leben war.

Auntie starrte sie indigniert an. „Natürlich weiß ich das, ich war schließlich auf seiner Beerdigung! Wie bist du auf den Gedanken gekommen, er könne noch leben, Kindchen? – Aber es ist ein Trost, zu wissen, dass seine Bücher noch existieren! Hast du irgendwen von Bedeutung getroffen?“

„Nur den Bibliothekar, Tantchen.“

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„The Pleasure of Reading. The Governess’s Tale“ by Mr. Cyril Blackburn, Kapitel 5

Als Miss Bird mit den Reisen der griechischen Prinzessin fertig war (am Ende wurde Berenike Königin von Tyros und sah mit der angebrachten Genugtuung zu, wie ihr Peiniger, der skrupellose Seeräuber, gevierteilt wurde), war sie so ergriffen, dass sie augenblicklich zum Regal eilte, um nach neuer Lektüre zu suchen, die ihrer aufgewühlten Gemütslage entsprach.

Ob eine religiöse Schrift besser geeignet gewesen wäre? Aber darüber zu spekulieren, wäre nutzlos – Miss Bird stand der Sinn nicht nach Trost, und in dem Raum, in dem sie sich befand, hätte sie diesen auch nicht gefunden.

Sie entschied sich für einen französischen Roman, „Les malheurs de la Comtesse Valentine et sa femme de chambre Ninon“, dessen Seiten noch nicht einmal aufgeschnitten waren. Mr. N hatte bei ihrer Einstellung verkündet, dass er das Erlernen der französischen Sprache für Zeitvergeudung halte, aber da die Gesellschaft es nun einmal von einer gebildeten jungen Dame erwarte, so solle sie seine Tochter in Gottes Namen darin unterrichten.

Wozu schließlich, dachte Miss Bird, während sie mit dem Buchmesser die ersten Seiten aufschlitzte, lernte eine Dame das Französische, wenn nicht, um sich den Schatz der Literatur zu erschließen?

Besagte Valentine, eine blutjunge Gräfin, entging während der Wirren der Französischen Revolution mit knapper Not dem Schrecken der Guillotine, indem sie die Kleider mit ihrer Zofe tauschte. Solcherart verkleidet schlug sie sich nach Calais durch, in der Absicht, nach England überzusetzen, wo sie Verwandte besaß und daher auf eine Zuflucht vor Chaos und Anarchie hoffen durfte. (Hier nickte Miss Bird zustimmend, hatte sie doch stets mit Grauen den Nachrichten vom Kontinent gelauscht, wo verrückt gewordener Pöbel die althergebrachte Ordnung auf den Kopf gestellt und in seinem Blutrausch alles geköpft hatte, was nicht rechtzeitig das Weite gesucht hatte. Am Ende hatten die Meuchler einander gemordet, was ihnen nur recht geschah!)

Doch – welch ein Graus! – die Comtesse sollte nie in England ankommen. Denn der Kapitän, dem sie sich anvertraut hatte, entpuppte sich als ein Freibeuter bar jeder Grundsätze, der in Wahrheit auf dem Weg nach Gibraltar war und nicht die Absicht hatte, seinen schönen Passagier wieder gehen zu lassen. Und in den Methoden, letzteres sicherzustellen, war er nicht zimperlich. Häufig sah sich Miss Bird gezwungen, eine Passage zwei- oder gar dreimal zu lesen, weil ihr Verstand sich zunächst weigerte, die ungeheuerlichen Dinge, die darin beschrieben wurden, zu begreifen.

Eigentlich hätte sie sich ja nicht zu wundern brauchen, hatte sie doch bereits aus ihrer vorherigen Lektüre gelernt, dass Freibeuter eine höchst verabscheuungswürdige Spezies Mann darstellen, denen eine Dame unter keinen Umständen Vertrauen schenken darf.

Andererseits, dachte die Gouvernante und kaute auf der Innenseite ihrer Unterlippe, während ihr Herz schnell und ängstlich pochte, hatte Valentine ja nicht wissen können, als was der capitaine sich entpuppen würde – obwohl sein schwarzer Bart, die mehrfach gebrochene Raubvogelnase und der Name Monroe Brown ihrer Ansicht nach hinreichende Verdachtsmomente für eine finstere Natur darstellten.

Aber hatte Valentine denn eine Wahl gehabt?, fragte sich Miss Bird in ihrem Lehnstuhl im Kabinett von Mr. Ns Bibliothek. War nicht selbst die unvorstellbare Demütigung, zur Belustigung einer Horde unzivilisierter Halunken mit einem… einem Halseisen! (hier geriet sogar der Gedankenfluss der zivilisierten jungen Dame ins Stottern) an den Mast gekettet zu werden wie ein wildes Tier, in jedem Falle dem Verlust des Kopfes unter dem Fallbeil vorzuziehen?

Miss Bird war eine wohlerzogene Person und sich daher der Tatsache bewusst, dass eine englische Lady darauf nur mit „Nein!“ antworten durfte, und das, ohne zu zögern. Also kam sie nach kurzem Nachsinnen zu der Schlussfolgerung, dass es der Comtesse nur recht geschah, dass sie in der Gewalt eines Wüstlings gelandet war, nachdem sie sich derart selbstsüchtig vor dem weit züchtigeren Tod auf dem Schafott gedrückt hatte.

Solcherart beruhigt und voller Genugtuung machte sich Miss Bird daran, weiterzulesen.

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Die Bücher aus Uppington verschafften nicht nur Emily kurzweilige Stunden, sondern entzückten auch Tante Mabel, die für das Vergnügen, vorgelesen zu bekommen, sogar in Kauf nahm, dass Emily Haus und Garten ein klein wenig vernachlässigte.

Glücklicherweise verlangte sie nicht, dass ihre Großnichte ihr ganze Bücher vorlas, sonst wäre Emily nach einem Tag heiser gewesen. Stattdessen begnügte sie sich damit, ein halbes Stündchen lang dasjenige Kapitel zu hören, in dem Emily sich gerade befand. (Nach Ablauf der halben Stunde war sie ohnehin eingenickt.)

Freilich war sie eigensinnig und ausgesprochen mäkelig. Naturgeschichte ertrug sie gar nicht, Dickens fand sie „zu brutal für eine feinfühlige Leserschaft“ (dafür amüsierte sie sich königlich über das muntere Blutvergießen und Wiederauferstehen in Voltaires „Candide“), und an Charlotte Brontë ließ sie kein gutes Haar, was sie allerdings nicht daran hinderte, sich aus deren Büchern besonders häufig vorlesen zu lassen. „Unkonkret und inkonsequent“, urteilte sie anschließend ungnädig, „obwohl man ihr immerhin zugutehalten muss, dass sie dem verachteten Stand der Erzieherinnen zu Gerechtigkeit verholfen hat!“

Angesichts der Genugtuung in Tante Mabels Ton merkte Emily auf. „Warst du auch eine Gouvernante, Auntie? Dann hast du eine Schule besucht? War es genauso furchtbar wie bei Jane Eyre?“

„Aber es geht doch nichts über Miss Austen!“, schwärmte Auntie. (Manchmal war ihr Gehör ebenso unzuverlässig wie ihr Augenlicht.) „Das waren noch Zeiten, Kindchen! Man wusste, wie man sich benahm; vor allem wusste man, wie man sich kleidete: Musselinschleier, die mehr enthüllten, als sie verbargen, großzügige Dekolletés, winzige Puffärmelchen…“ Wehmütig schweifte ihr Blick zu dem Porträt einer jungen Dame, das gleich neben dem von Onkel Will hing: eine zarte Kreatur, das Gesicht von Löckchen umrahmt, zwischen der hohen Taille und dem Halsausschnitt ihres weißen Kleides befand sich kaum eine Handbreit Stoff. „Freilich war diese Mode den Unarten des englischen Wetters nicht immer gewachsen – was haben wir gebibbert! Aber wer schön sein will, muss leiden, Kindchen!“, schloss Tante Mabel weise.

Miss Eunice Kneebone, gute dreißig Jahre jünger, bekam „schon vom bloßen Hinsehen eine Erkältung“; sie fand sogar Emilys hochgeschlossene graue Kleider mit den langen Ärmeln nur „gerade noch akzeptabel“ und rümpfte angesichts eines „frivolen“ Spitzensaumes am Kragen die Nase. („Der blanke Neid“, vertraute Auntie später Emily an. „Ihr habe ich nie ein Stück Spitze geschenkt, der bigotten Krähe!“) Die städtische Mode, die Figur durch ein Korsett zu formen, hielt sie für unzüchtig; „dergleichen würde ich niemals tragen!“, verkündete sie hocherhobenen Hauptes.

Dergleichen hatte sie auch nicht nötig, da an ihrer Figur kein Gramm Fleisches hing, dachte Emily, in deren Mitte es durchaus etwas einzuschnüren gab. Nicht dass sie darum das Korsett geschätzt hätte, im Gegenteil – es war eine beständige Quälerei. Aber angesichts der Ablehnung von Miss Kneebone beschloss sie, es beim nächsten Mal zu genießen.

Selbst Miss Kneebones tägliche Heimsuchungen und säuerliche Krittelei konnten nichts daran ändern, dass Emily ihre Verbannung nach Willowbridge als eine ganz erhebliche Verbesserung ihrer Lebensumstände empfand.

Es war ja auch bitter nötig, dass sich jemand um Tante Mabel kümmerte, denn die war nicht nur halb blind, sondern wirklich sehr durcheinander. Nicht nur, dass sie sich in den Verwandtschaftsverhältnissen verirrte – auch ihre Erinnerungen an ihre Ehe mit Onkel Will waren diffus und wechselhaft und manchmal sogar ganz verschwunden.

An einem Vormittag konnte sie Emily die Orte aufzählen, an denen Onkel Will als Arzt gewirkt hatte, nur um am Nachmittag desselben Tages mit Miss Kneebone zwei Stunden lang darüber zu schwadronieren, wie gut es doch sei, sich niemals verheiratet zu haben; die beiden Damen bedauerten von Herzen alle unter der Fuchtel zügelloser Ehemänner schmachtenden Frauen und rieten Emily ernstlich, sich eventuellen Heiratsplänen ihrer Eltern standhaft zu widersetzen.

Nach zwanzig Jahren in der Obhut zweier Menschen, die gewohnheitsmäßig aneinander vorbeiredeten, ließ sich Emily von derart lächerlichen Widersprüchen nicht irritieren; sie nickte also artig und verzichtete darauf, Tantchen an ihre Zeit mit Onkel Will zu erinnern. Wenn man bedachte, dass das Porträt des weißhaarigen Patriarchen auf 1802 datiert war, er also schon sehr alt gewesen sein musste, als Tante Mabel ins heiratsfähige Alter kam, so war es womöglich weise von ihr, die Einzelheiten dieser Ehe zu vergessen… Und überhaupt, so Emilys entschiedene Meinung, waren Aunties Memoiren Aunties Angelegenheit. Wer einer geschenkten Großtante zu genau auf den Stammbaum schaute, hatte sie nicht verdient!

Miss Kneebone, nachdem sie Emily empfohlen hatte, ihr Leben der Nächstenliebe und Missionsarbeit zu widmen, wollte gerade dazu ansetzen, sie einer Prüfung zum Inhalt der erbaulichen Traktate zu unterziehen, da wurde sie von Auntie unterbrochen, die darüber zu sinnieren begann, ob ihr Erdbeerlikör wohl dieses Jahr gelungen sei. „Er müsste jetzt eigentlich durchgezogen sein. Es ist nur leider zu früh am Tag, das nachzuprüfen, oder was meinen Sie, Miss Kneebone?“

Miss Kneebone stimmte entschieden zu. „Unbedingt! Es ist einer meiner Grundsätze, nie vor sieben Uhr abends starke Getränke zu mir zu nehmen!“