Mr. Mischiefs skandalöse Manieren - Cleo Bennet - E-Book

Mr. Mischiefs skandalöse Manieren E-Book

Cleo Bennet

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Beschreibung

"Bist du ein Kätzchen oder eine Lady, Myrtle?" Der Tadel wurde durch den belustigten Tonfall gemildert. "Halte dich aufrecht! Hände hinter dem Rücken gekreuzt. Ich will dein Gesicht sehen, also schön hoch mit dem Kinn." Je länger sie in die grauen Augen blickte, umso absurder erschien ihr der Gedanke, aufzubegehren. Er hatte recht: Es war einfach, sich zu fügen … Lancashire, Sommer 1819: Die Internatsschülerin Myrtle besucht in den Ferien ihren Wohltäter, dessen mit allen Wassern gewaschener Freund nichts unversucht lässt, um sie in pikante Situationen zu bringen. Die junge Dame hätte freilich viel mehr Spaß daran, müsste sie nicht ständig fürchten, dass er ihren nicht ganz so wohlerzogenen Plan durchschaut. London, drei Monate später: Die Lehrerin Flo sitzt auf heißen Kohlen, während sie darauf wartet, dass der Gatte ihrer Freundin Anne ihr eine Stellung im Ausland vermittelt - weigert sich aber dickköpfig, damit herauszurücken, weshalb sie unbedingt das Land verlassen will … Regency Romance mit verschämt-unverschämter Erotik und einer Prise BDSM.

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Seitenzahl: 630

Veröffentlichungsjahr: 2022

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1 Ein Brief aus Langley Park

‘The explanation,’ said Mr. Glowry, ‘is very satisfactory. The Great Mogul has taken lodgings at Kensington, and the external part of the ear is a cartilaginous funnel.’

Thomas Love Peacock, “Nightmare Abbey”1

Langley Park, Lancashire, im Mai 1819

Sehr verehrte Miss Hornblowe,

mit großer Überraschung fand ich heute unter den Papieren meines verstorbenen Vaters, Mr. Nathan Granville, die Briefe Ihrer Schülerin Myrtle Hope.

Leider hat mein Vater nie erwähnt, dass er für Miss Hopes Schulbildung aufgekommen ist. Er starb im vergangenen Herbst, während ich mich auf dem Kontinent aufhielt, und seit meiner Rückkehr nach England vergingen einige Monate, bis ich die Muße fand, seinen Nachlass mit der gebotenen Gründlichkeit durchzusehen.

Miss Hopes Briefe haben mich tief gerührt, weshalb ich umgehend zu Feder und Papier griff. Ich bitte Sie mit allem Respekt, Ihrem Schützling mein beiliegendes Schreiben auszuhändigen. Auch möchte ich Ihnen dafür danken, dass Sie einem Waisenkind in unverschuldeter Not so großzügig Obdach in Ihrer Schule gewähren. Von meiner Seite soll es Ihnen an Beistand nicht mangeln; ich habe bereits meinen Anwalt angewiesen, die Zahlungen an das Broadley Institute for Young Ladies unverändert fortzuführen… [etc. etc.]

Liebe Miss Hope,

Sie kennen mich nicht, aber Ihren Briefen darf ich entnehmen, dass der Name Granville Ihnen vertraut ist, daher nehme ich mir hiermit die Freiheit, Ihnen zu antworten.

Mit dem größten Bedauern muss ich Sie vom Tod Ihres Gönners, meines Vaters Mr. Nathan Granville, in Kenntnis setzen. Darüber hinaus möchte ich Ihnen sagen, wie tief Ihre Briefe mich berührt haben. Ein so reines, unschuldiges Herz wie das Ihre ist über schnöde pekuniäre Zuwendungen so unendlich erhaben, dass Ihre Dankbarkeitsbezeugungen sich erübrigen – glauben Sie mir: Sie verdienen allein um Ihrer selbst willen die allerbeste Bildung und glücklichste Zukunft, und es ehrt mich, dass meine Familie Ihnen über Ihre unglücklichen Umstände ein wenig hinwegzuhelfen vermag. Lassen Sie mich Ihnen also versichern, dass Sie um Ihre Ausbildung nicht fürchten müssen. Es ist mein innigster Wunsch, mich der Großzügigkeit meines Vaters würdig zu erweisen.

Um nun unbescheiden auf meine Person zu sprechen zu kommen: Ich werde nur noch wenige Monate in England weilen; kommenden Herbst gedenke ich mir einen langgehegten Traum zu erfüllen und mich einer archäologischen Expedition nach Ägypten anzuschließen. Da sich meine Rückkehr um viele Jahre aufschieben kann, würde ich Sie gern vor meiner Abreise kennenlernen. Ich bitte Sie daher von ganzem Herzen, mein bescheidenes Heim in Ihren Sommerferien mit Ihrem Besuch zu beehren, und hoffe darauf, dass Ihre Schulleiterin meinem Anliegen wohlwollend gegenüberstehen wird. Es versteht sich von selbst, dass ich für die Kosten Ihrer Reise aufkomme.

In Erwartung einer positiven Antwort verbleibe ich mit allem Respekt etc. etc.

Clifford Granville, Esq.,

1 Fast alle Zitate stammen aus zeitgenössischen gotischen Schauerromanen. Horace Walpole hob das Genre 1746 mit „The Castle of Otranto“ aus der Taufe, Ann Radcliffe (u.a. „The Mysteries of Udolpho“, 1794) war die Gothic-Queen ihrer Zeit, und Thomas Love Peacock parodierte das sterbende Genre 1818.

2 Mäuse, Götter und andere Trivia

‘You are surprised,’ said the lady; ‘yet why should you be surprised? If you had met me in a drawing-room, and I had been introduced to you by an old woman, it would have been a matter of course: can the division of two or three walls, and the absence of an unimportant personage, make the same object essentially different in the perception of a philosopher?’

Thomas Love Peacock: “Nightmare Abbey”

Langley Park, Lancashire, im Juli 1819

Verehrte Miss Hornblowe,

bitte vergeben Sie mir, dass ich in meiner kindlichen Selbstsucht bereits drei ganze Wochen verstreichen ließ, ohne zur Feder zu greifen und Sie meines Wohlergehens in Langley Park zu versichern! Ich werde mich bemühen, das Versäumnis wettzumachen, indem ich bei der Schilderung dieses idyllischen Landsitzes und seiner Bewohner kein noch so triviales Detail auslasse.

Meine Anreise verlief ohne Zwischenfälle (wenn man nicht die Postkutsche an sich als solchen ansehen möchte – alle Jahre einmal jeden Knochen durchgerüttelt zu bekommen, ist gewiss eine gute Vorbeugung gegen Gicht?); jedenfalls bestieg ich Mr. Granvilles wartenden Wagen in Preston ohne sichtbare blaue Flecke und im fortwährenden Besitz meines Hutes.Aber stellen Sie sich meine Enttäuschung vor, als ich des Hauses meines Wohltäters ansichtig wurde: keine fensterlosen Türme, keine vergitterten Fenster, keine rostigen Fackelhalter in den Fugen roher Mauersteine, keine Spinnweben; man hört noch nicht einmal das unheimliche Rascheln von Mäusen in den Ecken!

Nun, das mit den Mäusen könnte sich wohl bald ändern.

Sie hatten unrecht, Madam, Langley Park hat mit schaurigen italienischen Schlossruinen leider gar nichts gemein. Darüber hinaus jedoch kann ich Ihnen nichts Unvorteilhaftes über das Anwesen und seinen Besitzer mitteilen, ich müsste schon lügen, und das hat Mr. Granville, der mich – nachdem er über den ersten Schreck angesichts meiner Wenigkeit hinweggekommen war – mit der überschwänglichsten Herzlichkeit aufgenommen hat, nicht verdient.

Noch bevor der offene Wagen in der Einfahrt zum Stillstand gekommen war, war Mr. Granville die Eingangstreppe heruntergesprungen, strahlend wie ein Siebenjähriger angesichts seines von einer Reise zurückkehrenden Vaters, aus dessen Satteltasche der Kopf eines Hundewelpen lugt. Er riss den Schlag auf und streckte ihr beide Arme entgegen. „Willkommen in Langley Park, Miss Hope!“

Sie ließ sich aus der Kutsche helfen und knickste dann. „How do you do, Mr. Granville? Ihre Einladung ehrt mich über alle Maßen!“

Als sie wieder hochkam, blickte sie unter ihrem Hut hervor in das verdutzte Gesicht ihres Gastgebers, dessen glattrasierte Wangen sich mit einer linkischen Röte überzogen hatten, welche perfekt die Hitze widerspiegelte, die die junge Dame im eigenen Gesicht fühlte. Allerdings wusste sie besser damit umzugehen. Schließlich hatte sie eine exzellente Erziehung zu beweisen, während dem Herrn hier offenbar auf dem Kontinent seine Manieren eingerostet waren.

„Danke der Nachfrage, Sir, meine Reise verlief ohne Zwischenfälle.“

Da er immer noch kein Wort herausbrachte, blinzelte sie treuherzig zu ihm auf. „Ich bin auch enttäuscht, Sir. Ich hatte einen würdigen Greis mit grauen Koteletten erwartet, in denen sich ein Rudel Füchse verstecken könnte. – Sind Sie wenigstens kurzsichtig, Sir?“

Er schüttelte den blonden Lockenkopf, zu verdattert, um auf ihren scherzhaften Ton einzugehen. „Ich bin nicht im Mindesten enttäuscht!“, beschwor er hastig. „Ich schätze nur, ich habe Sie mir kleiner vorgestellt… ich meine, kindlicher…“ Er wurde noch röter und strich sich fahrig das Haar aus der Stirn. „Jünger?“

Noch kleiner? Zumindest hatte er nicht „hübscher“ gesagt. Ihre Antwort geriet dennoch ein wenig spitz. „Es tut mir schrecklich leid, dass ich schon achtzehn bin, Sir. Wenn Sie rechtzeitig geschrieben hätten, was Sie erwarten, hätte Miss Hornblowe bestimmt einen passenderen Gast für Sie gefunden.“

Phyllida Hendricks beispielsweise: dreizehn, aber sah aus wie acht und benahm sich auch so? Vielleicht besser nicht. Der arme Mann sah überfordert genug aus mit dem Gast, den er bekommen hatte. „Nein, nein“, versicherte er mit glühenden Wangen, „ich bin nur überrascht… Miss Hope, das ist alles. Falsche Erwartungen. Mein Fehler.“

Nun, da sind wir ja schon zwei, Sir. Während zwei Hausdiener sich ihrer Taschen annahmen und Clifford Granville weiter stammelte, vermutlich das Wetter betreffend, ließ das Mädchen ihren zweiten Blick auf dem Mann verweilen, der den verschrobenen Griesgram aus ihren Vorahnungen ersetzt hatte. Im besten Alter, hübsch, gesittet, nur nicht an den Umgang mit jungen Ladies gewöhnt. Sie würde darauf wetten, dass er auch nicht an eine Anstandsdame gedacht hatte. Nun, das war nicht ihr Problem. Sie jedenfalls hatte bereits in der Einfahrt, nach einem Blick auf das Haus und die sich rechts und links andeutenden Ausmaße des Parks, entschieden, dass sie ganz gewiss nicht umkehren würde.

„Falls das hilft, Sir: Ich könnte darüber nachdenken, einmal auf einem Steckenpferd zu reiten“, bot sie großmütig an. „Aber nur, wenn Sie mitmachen.“

Er starrte sie einen Moment lang an und brach dann in Gelächter aus. Erst danach kam er auf die Idee, ihr den Arm zu bieten, um ihr das Haus zu zeigen.

Kurz: Mr. Granville ist die Liebenswürdigkeit in Person und könnte nicht weiter entfernt sein von dem grummeligen Einsiedler, vor dem Sie mich gewarnt haben. Ich gedenke ihm aber zu verzeihen, wie wenig schrullig er ist – immerhin ist er erst sechsundzwanzig, da bleibt ihm gewiss noch genug Zeit, sich Schrullen zuzulegen.

Bislang hat er auch keinerlei Absicht erkennen lassen, mich in ein Verlies zu sperren, vielmehr durfte ich mir ein Gästezimmer aussuchen. Ich habe das italienische genommen; wenn ich im Bett mein Buch sinken lasse, sehe ich direkt auf die Stadtmauer von Rom im Abendrot, davor auf dem Kaminaufsatz stehen Michelangelos David in Gips (sein linker Arm ist abgebrochen und schief wieder angeklebt worden, was ihm ein sehr antikes Aussehen verleiht) und eine römische Bleikristallvase, die ich gern mit blühenden Zweigen gefüllt hätte, aber sie ist aus tausend Scherben zusammengeklebt worden und, wie ich fürchte, nicht dicht. Gleich nebenan ist das griechische Zimmer, zu dem Mr. Granvilles Freund Mr. Everett kürzlich eine spontane Zuneigung gefasst hat, weshalb er aus dem niederländischen Zimmer am Ende des Ganges dorthin umzog. Es ist sehr beruhigend, einen Gentleman in der Nähe zu wissen, zumal Mr. Granvilles Zimmer auf der anderen Seite des Hauses liegt und er im Falle eines Falles, eines Feuers beispielsweise, …

(oder des unbefugten Eindringens einer Maus)

…vermutlich erst hier wäre, wenn die Hausmädchen schon meine Asche zusammenkehrten – falls letztere nicht bereits für die Ewigkeit in geschmolzenem Bleiglas eingeschlossen wäre. Ein hübscher Gedanke: Mr. Granville würde diesem Artefakt sicherlich einen Ehrenplatz auf dem Kamin in der Bibliothek einräumen und könnte allen Besuchern dann die unglaubliche Geschichte zum Besten geben, wie er eines Sommers Miss Hope traf, nur um sie ein paar Wochen später wieder zu verlieren, weil sie die unselige Angewohnheit hatte, nachts bei Kerzenschein zu lesen… Doch keine Angst, Miss – sollte ich je vorhaben, bei brennendem Licht einzuschlafen, werde ich vorher sicherstellen, dass Mr. Everett nebenan weilt. Auf sein Gehör und seine Geistesgegenwart ist unbedingt Verlass, und glücklicherweise zeigt er wenig Neigung, sich auf sein eigenes Anwesen Edgedale zu begeben, das nahe Lancaster liegt. Leider erzählt er nie davon. Ich vermute, es ist sehr groß, aber möglicherweise etwas verwildert – kein Wunder, bei seiner andauernden Abwesenheit.

„Sie sind mit Miss Austens Werk vertraut?“, hatte Mr. Everett kurz und knapp gefragt. „Stellen Sie sich Pemberley vor. Und jetzt verdoppeln Sie die Anzahl der Kaninchenlöcher. Mein Vater war ein ausnehmend schlechter Schütze.“

Mr. Granvilles Herzensgüte zeigt sich auch darin, dass er die Jagd verabscheut und buchstäblich keiner Fliege etwas zuleide tun kann. Ein Zimmer im zweiten Stock hat er versiegeln lassen, weil Fledermäuse darin überwintern! Und Mrs. Gribble, seine Haushälterin, musste ihn praktisch mit vorgehaltenem Fleischmesser zwingen, das Aufstellen eines Dutzends Fallen gegen die jüngste Mäuseplage anzuordnen.

Jedenfalls widmet er sich der Aufgabe, meinen Sommer in seiner Obhut so unvergesslich wie nur möglich zu gestalten, mit bewundernswürdiger Begeisterung. Man darf allerdings nicht vergessen zu erwähnen, dass er sich vor meiner Ankunft fast zu Tode gelangweilt haben muss, da Mr. Everett so rücksichtslos war, ihn für mehrere Monate alleinzulassen.

Mr. Everetts erster Auftritt, zwei Tage nach Miss Hopes Ankunft in Langley Park, war schon ein wenig seltsam gewesen, doch im Vergleich damit, wie sich die Bekanntschaft im weiteren Verlauf gestalten würde, konnte man ihn praktisch als zivilisiert bezeichnen.

„Everett!“ Bis Mr. Granville sein Buch weggelegt und sich erhoben hatte, war der Neuankömmling mit seinen langen Beinen schon am Fenster und schloss ihn in die Arme. „Granville! Du musst meine Verspätung verzeihen! Das Wetter zwang mich zu einer ungeplanten Übernachtung, und dann lahmte auch noch das Pferd…“

Er verstummte, als sein Blick auf ein rotblondes Mädchen fiel, das bis vor zwei Sekunden von der Rückenlehne ihres Sessels verdeckt gewesen war und sich nun schüchtern erhob.

Mr. Granville, der mittlerweile damit zurechtkam, dass eine Internatsschülerin auch in Gestalt einer jungen Frau auftreten konnte, schien geradezu diebisch erfreut, seinerseits seinen Freund überraschen zu können, denn er griente von einem Ohr zum anderen. „Darf ich vorstellen? Mr. Everett, mein treuester Freund und Reisegefährte – Miss Myrtle Hope.“

Sie knickste. Mr. Everett war sehr groß und ein wenig hager, trug sein dunkles Haar in jener modischen Art, die immer aussah wie frisch vom Wind zerzaust, und war für eine Reise eine Spur zu elegant gekleidet. Außerdem war er ungemein verblüfft, was sich darin zeigte, dass er, anstelle eine Verbeugung anzudeuten, aus heiterem Himmel anfing zu lachen und ebenso abrupt wieder damit aufhörte. Dabei starrte er das Mädchen unverwandt und ziemlich ungehobelt an.

„Nicht wahr, das ist eine Überraschung…“, sprudelte Mr. Granville heraus, bevor ihm die Verwirrung seines Freundes zu Bewusstsein kam. „Kennt ihr euch?“

„Nein, ich hatte noch nicht das Vergnügen.“ Mr. Everett kniff die Augen zusammen, als hätte er Mühe, sie scharf zu sehen. „Wie war noch mal ihr Name?“

„Myrtle Hope. Ihre Mutter war die Erzieherin meiner Tante Beth – Vaters jüngere Schwester, die so früh verstarb, ich selbst war erst zwei Jahre alt, deshalb habe ich gar keine Erinnerungen an Miss Scott… Und stell dir vor, mein Vater hat ihre Schulausbildung bezahlt, in Broadley –“

„Ich bin beeindruckt“, sagte sein Freund langsam, ohne einen Blick von der jungen Dame zu wenden. „Du hast mir nie etwas davon gesagt, dass dein Vater ein Philanthrop war.“

„Ich hatte doch keine Ahnung!“, rief Mr. Granville. „Bis ich in seinen Papieren auf die Briefe aus Broadley stieß! Miss Scott verließ uns nach Tante Beths Tod, verständlicherweise, und trat eine andere Stellung an, die sie wiederum aufgab, um einen Vikar zu heiraten. Die Verbindung wurde mit einer Tochter gesegnet, die bereits zur Schule ging, als die Eltern sich entschieden, eine Missionsreise nach Südamerika anzutreten…“

Hier sah er mitfühlend Myrtle an, die gefasst zurücknickte. „Patagonien, Sir.“

„Lasst mich raten: Das Schiff ging mit Mann und Maus unter, und das arme Kind stand als Vollwaise da“, sagte Mr. Everett ein wenig zu brüsk für Myrtles Vorstellung von einem wohlerzogenen Gentleman. Zu ihrer Verteidigung muss man sagen, dass sie ihn ja noch nicht kannte.

Und zu seiner, dass er sich alsbald wieder fing. „Mein tiefstes Mitgefühl, Miss Hope, wenngleich ich sagen muss, dass Ihren Eltern nicht ganz unrecht geschah. Sie mutterseelenallein zurückzulassen um irgendwelcher Patagonier willen, die zweifellos keinen Penny auf die anglikanische Vorstellung von Seelenheil gaben, war eine selbstsüchtige Entscheidung.“

Tröstend nahm Mr. Granville ihre Hände. „Machen Sie sich nichts daraus, meine Liebe, er ist ein unverbesserlicher Atheist!“

Ruhig blickte sie zu seinem Freund auf. „Sie wollten mich sehr wohl mitnehmen, Sir. Aber Miss Hornblowe – die Direktorin von Broadley – bestand darauf, dass ein Mädchen in einer Schule besser aufgehoben sei als auf dem Pazifik.“

„Wenn Ihre Eltern den Umweg über den Pazifik genommen haben, wundert es mich allerdings nicht, dass sie niemals zurückkamen“, bemerkte Mr. Everett. „Aber Miss Hornblowe hatte recht. Auf Reisen lauern die unvorhersehbarsten Gefahren, Mr. Granville und ich können ein Lied davon singen, wir haben die Jahre auf dem Kontinent nur mit viel Glück überlebt.“ Er blickte an ihr vorbei aus dem Fenster; als er sich wieder ihr zuwandte, glitzerte es in seinen grauen Augen. „Wo sind Sie aufgewachsen, Miss Hope?“

„Littlebourne, Sir. Yorkshire.“

Er fuhr fort, sie auszufragen. Warum sie keinen Yorkshire-Akzent spreche?

„Der Akzent ist noch nicht erfunden, den Broadley nicht in einem halben Jahr ausmerzt. Das ist der ganze Sinn einer teuren Schule, Sir.“

Wo sie in früheren Jahren die Sommerferien verbracht habe?

„Bei dieser oder jener Freundin.“

„Und wie kommen Sie nach Langley Park?“

„Mit der Postkutsche nach Preston. Dort ließ Mr. Granville mich abholen.“

„Das hatte ich nicht gemeint –“, begann er, doch hier gebot der Hausherr ihm lachend Einhalt. „Lieber Freund, ich wusste nicht, dass du bei der Heiligen Inquisition angeheuert hast! Mit deiner gütigen Erlaubnis werde ich die Sache abkürzen. Wie gesagt, im Frühjahr stieß ich auf Miss Hopes Briefe. Wenn du sie erst einmal gelesen hast“, er schmunzelte über ihre entsetzte Miene, „wirst du verstehen, dass ich umgehend antwortete und sie einlud, den Sommer in Langley Park zu verbringen. Sie akzeptierte, mit dem Einverständnis ihrer Schulleiterin selbstverständlich…“

„Selbstverständlich“, murmelte Mr. Everett.

„…und hier ist sie“, schloss Clifford Granville strahlend. „Du hast ihre Ankunft nur um zwei Tage verpasst.“

„Mein Pech“, sagte Mr. Everett, und jetzt ließ er Miss Hope endlich die ihr zustehende Begrüßung zukommen, indem er sich elegant und eine Spur zu tief verneigte. „Apropos verpasst, alter Freund – ihr habt doch hoffentlich noch nicht gegessen? Ich sterbe vor Hunger!“ Unverblümt taxierte er Myrtles zierliche Figur. „Ich hoffe, Sie sind nicht mäklig. Mrs. Gribble kann vieles ertragen, aber keine gerümpfte Nase angesichts ihrer Kochkünste.“

Es war das erste Mal, dass sie in Lloyd Everetts Gegenwart errötete. Hätte sie geahnt, dass dieser Moment eine lange Tradition begründen sollte, hätte sie sich womöglich weniger geärgert. „Schulessen verwöhnt nicht, Sir, sondern härtet ab.“

„Dass Sie zehn Jahre Internat überlebt haben, spricht allerdings für Ihre Konstitution.“

„Neun Jahre. So wie Sie das sagen, klingt es wie eine Gefängnisstrafe.“

„Schule ist die Institution, die einem Gefängnis am nächsten kommt. Ich weiß, wovon ich spreche, Miss Hope, ich war sechs Jahre in Rugby. Nun, gehen wir hinüber, oder soll ich Bescheid geben, dass man das Dinner auf dem Klavier serviert?“

Es war auch das erste Mal, dass sie Clifford Granville und Lloyd Everett zusammen erlebte, und die beiden benahmen sich gemäß dem eingespielten Muster, das ihr schon bald ganz selbstverständlich vorkommen würde: Mr. Everett gab den Ton an, und Mr. Granville – mit einem verlegenen Lachen, das ihn noch jünger aussehen ließ, als er ohnehin schon war – folgte artig seinem Vorschlag.

Mr. Everett, ich kann es nicht anders sagen, ist Gottes Antwort auf das hiesige Wetter und die dem Engländer angeborene Neigung, zu allem ein desinteressiertes Gesicht zu machen. Kurz: das personifizierte Gegenteil von Langeweile.

Gleich am nächsten Tag brachte er ein Pony (!) an, das mir kaum bis zur Hüfte reichte, und verkündete, für einen Aufenthalt auf dem Lande sei es unabdingbar, dass ich reiten lerne.

„Es wird mehrere Jahre dauern, bis dieses Tier groß genug ist, dass ich darauf sitzen kann, Sir. Gibt es keine richtigen Pferde in Lancashire?“

Das Vergnügen war dann auf Mr. Granvilles Seite, als ich mich als ein derartiges Naturtalent im Sattel erwies, dass ich bereits eine Stunde später – auf einem richtigen Pferd! – im Trab den Park umrundete, ohne mir den Hals zu brechen. Mr. Everett machte ein langes Gesicht – d.h. ein längeres, lang ist es von Natur aus –, aber nahm es sportlich.

„Ein guter Lehrer, und der Funke der Inspiration springt eben nur so über.“

„Das ist Naturtalent“, rief Mr. Granville lachend von seinem Braunen herüber.

Mr. Everett betrachtete die junge Dame, die so unverkrampft im Damensattel thronte. „Sind Sie ganz sicher, Miss Hope, dass Sie noch nie zuvor auf einem Pferd gesessen haben?“

„Auf dem Pfarrhof von Littlebourne gab es nur Hühner und Kaninchen, Sir.“

Doch zurück zu Mr. Granville. Wie gesagt, er ist die Zuvorkommenheit, Güte und Schüchternheit in Person. Es bedurfte des Einschreitens von Mr. Everett – den man nicht gerade schüchtern nennen kann –, um das ewige ‚Miss Hope‘ hier und ‚Miss Hope‘ dort zu beenden.

„Wenn du sie noch länger mit Samthandschuhen anfasst, wird sie dir bald auf der Nase tanzen“, tadelte Mr. Everett beim Lunch an seinem dritten Tag. „Du bist ihr Vormund, Granville!“

„Strenggenommen“, sagte ihr Wohltäter mit einem verlegenen Blick in ihre Richtung, während die glasierte Bohne, die er anvisiert hatte, boshaft seinem Gabelstoß entwischte, „bin ich nichts dergleichen.“

„Nun“, sagte Mr. Everett, „etwas möchtest du ja wohl haben für dein Geld. Zudem würde es ihrem Respekt vor deiner Autorität nicht schaden.“

Der Jüngere sah aus, als hätte ihn seine Weisheit verlassen. „Ich hatte nie einen Vormund. Woher soll ich wissen, wie man sich als solcher benimmt?“

„Nichts einfacher als das. Lass dir ihre französische Grammatik zeigen, frag sie die englischen Könige ab, lass sie deine Pfeife holen –“

„Ich rauche nicht!“

„Umso besser, dann kannst du sie ausschelten, wie zum Henker sie auf die Idee kommt, dir eine Pfeife anzuschleppen. Schelte ist das A und O – wie sonst soll sie einen Vormund respektieren lernen, der noch kein graues Haar besitzt? Und wehe, die französische Grammatik sitzt nicht! Der Rohrstock gehört bei jedem guten Vormund in Griffweite.“

„Keine Angst, Miss Hope… Myrtle“, Mr. Granville errötete, „ich war nie sonderlich gut in französischer Grammatik!“

„Ich schon. Aber ich verspreche, ich verzichte auf den Rohrstock, Sir.“

Er lächelte erleichtert. Sein nächster Angriff auf die Bohnen hatte Erfolg.

Übrigens hat Mr. Granville die Taschentücher, die ich auf Ihre Empfehlung hin für ihn bestickt habe, mit größter Freude entgegengenommen und war eine halbe Stunde lang außer sich vor Bewunderung über die feine Handarbeit. Ich bin überzeugt, er wird es niemals übers Herz bringen, sie zu benutzen, was ein klarer Beweis für die Empfindsamkeit seiner Seele ist, wenn es auch nicht gerade für eine praktische Natur spricht.

Mr. Everett war derselben Meinung. „Warum lässt du sie nicht rahmen und hängst sie über den Kamin?“, schlug er vor, als er der Lobhudelei überdrüssig wurde. „Es wäre ein Sakrileg, solche Kunstwerke mit profanem Nasensekret zu entweihen!“

Langley Park ist wohltuend familiär. Mrs. Gribble ist gekränkt, wenn man nicht mindestens dreimal täglich an ihre Vorratskammer geht – „man“ umschließt Mr. Granville und meine Wenigkeit, während Mr. Everett ihre Gunst verspielt hat durch seine barbarische Angewohnheit, Kaffee statt Tee zu trinken, ein Laster, welches er sich auf dem Kontinent zugezogen hat. Mr. Granville und Mr. Everett haben sich nämlich vor zwei Jahren in Athen getroffen und die Grand Tour von dort gemeinsam fortgesetzt. Mr. Granville erzählt gern vom Kontinent, vor allem von den Museen. Ich vermute, er hat sie alle nachts besucht und immer einen großen Koffer dabeigehabt, denn Langley Park ist mit Erinnerungsstücken vollgestopft: Pastelle von Sandstränden und Zitronenbäumen, Öllämpchen in Form von Stieren, Vasen mit nackten Sportlern darauf – haben Sie gewusst, dass bei den Griechen auch Gentlemen mit Ladies gerungen haben? Jedenfalls nannte Mr. Granville es „Ringkampf“, bevor er die Vase versteckte –, eine ganze Menagerie venezianischer Glastierchen, Schachfiguren aus jedem denkbaren Material, römische Münzen, glasierte Tonscherben und die üblichen Sammlungen von verzierten Schnupftabakdosen und mehr oder weniger krummen Dolchen.

Nicht zu vergessen das halbe Dutzend Marmorskulpturen im Park, angeblich Kopien antiker griechischer Meisterwerke. (Sie tragen keine Feigenblätter an den heiklen Stellen; ich würde mich nicht wundern, wenn der alte Mr. Granville am Schrecken starb, als er die Kisten öffnete, die sein Sohn heimgesandt hatte, und auf diese kontinentalen Nackedeis stieß.) Wobei Mr. Everett behauptet, für den Preis, den Mr. Granville bezahlt hat, hätte man ihm eigentlich die Originale aushändigen müssen und den halben Parthenon dazu.

Kurz gesagt: Mr. Granville scheint entschlossen, Langley Park als Außenstelle des British Museum zu etablieren. Oder als „Clifford Granville Collection of Odd European Knickknacks“, wie sein Freund vorschlägt. Der rät ihm ernsthaft zu, seine Sammlung der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, vor allem, wenn er sich bei dem Versuch, durch eine Tür zu gehen, wieder einmal den Arm an einer Vitrine gestoßen hat.

„Wenn erst einmal Krethi und Plethi hier hindurchtrampelt und sich die Taschen füllt, kann man nach ein paar Wochen wieder in diesem Hause leben, ohne dass einem fünf Pfund Bronze auf den Kopf fallen, sobald man seinen Sessel an den Kamin rückt“, prophezeite Mr. Everett und rieb sich den Ellbogen. „Außerdem kannst du jene Hälfte deines Personals einsparen, die pausenlos damit beschäftigt ist, den Krempel abzustauben.“

Allein die Vitrinen zu putzen, ist eine Sisyphosarbeit. Betty hat mir erzählt, dass es bis Mai gedauert hat, alles auszupacken. Es gibt nicht ein Mosaiksteinchen, zu dem Mr. Granville nicht eine kurzweilige Geschichte zu erzählen wüsste.

„Diesen Bacchus“, ehrfürchtig platzierte er die Bronze auf seiner Handfläche, „fand ein Mann in den Fundamenten seines Hauses, das direkt auf den Grundmauern eines antiken Tempels errichtet worden war. Er wollte sich gar nicht davon trennen; er glaubte felsenfest daran, dass der Gott sein Haus und seine Familie über Generationen beschützt hatte, sie sind ein wenig abergläubisch, die Griechen… Du hättest ihn erleben müssen, Myrtle: Er gestikulierte mit Händen und Füßen und – ich schwöre! – beiden Ohren! Und redete ein so wunderbares Kauderwelsch aus Griechisch, Französisch und Gottweißwas, ich bin sicher, er erzählte mir seine ganze Familiengeschichte seit Odysseus, es war zu schade, dass ich fast nichts verstand, er war übrigens Weinbauer, kelterte einen fantastischen Wein! Jedenfalls gelang es mir mit viel Mühe, ihm diese Seltenheit abzuschwatzen. Ist er nicht wunderschön?“

Die mit Weinblättern bekränzte Skulptur grinste über beide Pausbacken, wie es sich für Bacchus gehörte, und passte in Größe, Statur und Farbe perfekt in Mr. Granvilles Sammlung. Myrtle vermutete, dass die griechischen Götter – wenn man ihre zeitraubenden Einmischungen in menschliche Angelegenheiten bedachte – auf dem Olymp niemals so vollzählig versammelt gewesen waren wie in Langley Park.

„Natürlich zahlte ich ihm einen anständigen Preis dafür. Der Bacchus war ja so etwas wie sein Hausgott.“ Mr. Granville stellte die Figur zurück zwischen Athene und Hephaistos. „Ich hoffe sehr, dass danach kein Erdbeben sein Haus verschüttet hat.“

„Wenn, dann hätte es eine bemerkenswerte Menge Götter verschüttet“, warf Mr. Everett trocken ein. „Verreisen Sie nie mit einem Kunstsammler, Miss Hope. Ihr Vormund zog los, um Orangen zu kaufen, und kehrte zurück mit einem ungenießbaren Gott, der ihn mehr gekostet hat als ein ganzer Orangenhain.“

„Es gibt vergängliche Köstlichkeiten, und es gibt unvergängliche“, sagte Mr. Granville mit Pathos.

„Ich bezahlte einen Bruchteil der Summe, die der kleine Säufer dich gekostet hat, für einen Blick in die Werkstatt des ehrsamen Weinbauers. Es war sehr aufschlussreich: Eine Armee von Bronzegöttern, säuberlich aufgereiht in Wannen voller Essig und bereit zur Attacke auf den Geldbeutel gutgläubiger Engländer, wenn nur erst die antike Patina ausgereift wäre.“

„Deine Fabulierkunst in allen Ehren“, sagte Mr. Granville mit einem duldsamen Seufzer, „aber dein Misstrauen gegenüber aller Welt ist bemitleidenswert.“

„Erinnern Sie mich daran, Miss Hope, dass ich Ihnen einmal mein Erinnerungsstück an den abergläubischen Winzer zeige: zwei identische Gussstücke samt Gießform.“

Entsetzen überschwemmte die Miene des Hausherrn. „Oh nein, nicht die Satyrn!“

„Natürlich die Satyrn. Sie sind unbestreitbar mythische Kreaturen – und sehr sympathisch. Ihr Grinsen finde ich ausgesprochen ansteckend.“ Sein eigenes Grinsen war von satyrischer Boshaftigkeit. Das Mädchen stellte fest, dass es sehr leicht war, sich zwei Hörner auf seiner Stirn vorzustellen. „Übrigens taugen sie zu mehr als zum Staubfangen, Miss Hope: Sie sind nämlich hohl – was sie natürlich mit den meisten Göttern gemein haben. Wenn man sie allerdings mit Lampenöl füllt und Dochte in ihre Schwänze –“

„Bester Freund, ich bitte dich –“

„– fädelt und anzündet, so dienen sie buchstäblich zur Erleuchtung. Ich gestehe, ich ziehe meine bocksbeinigen gods of enlightenment allen anderen Göttern vor.“

„Du sprichst mit einer Lady!“

„Sicherlich hat Miss Hope nichts gegen die Aufklärung einzuwenden?“

Laut Mr. Granville ist Mr. Everett ein Liberaler, was ersterer als freundschaftlichen Scherz meint und letzterer eigensinnig als Lob auffasst. Ich denke aber, er ist nur liberal, weil es gerade à la mode ist, konservativ zu sein. Konformität ist ihm ein Graus; das Werk eines allgemein beliebten Dichters würde er nicht mit einer Zange anfassen. Lieber liest er Byron. Oder die Schriften eines gewissen Mr. Bentham, eines Atheisten, der so radikale Ideen predigt wie religiöse Freiheit, die Abschaffung der Todesstrafe und ein Wahlrecht für jedermann, sogar für Frauen. (Wenigstens ist er nicht so romantisch wie Byron.)

„Ich muss sagen“, sagte Mr. Granville eifrig, „dass ich Mr. Benthams Idee eines Frauenwahlrechts etwas abgewinnen kann. Mir ist schon der eine oder andere Mann begegnet, der seiner Frau, was den Verstand anbelangt, nicht annähernd das Wasser reichen konnte.“

„Das sagst du nur, weil Myrtle hier sitzt“, behauptete Mr. Everett. „Du musst ihr nicht nach dem Mund reden, weißt du?“

Sein Freund runzelte verblüfft die Stirn. „Also bist du dagegen?“

„Natürlich. Es wäre ja langweilig, wären wir alle einer Meinung.“

„Ich habe noch gar nichts gesagt!“, gab Miss Hope zu bedenken.

„Sie sind natürlich dafür – wann hätte sich je eine Frau eine Gelegenheit entgehen lassen, sich einzumischen? Sämtliche Frauen würden für die Liberalen stimmen, denen sie das Stimmrecht verdanken, und was würde dann aus diesem Land?“

Mr. Granvilles Erstaunen wuchs und wuchs. „Du wählst liberal!“

„Genau das meine ich.“

Mr. Everett stellt ein gutes Bonmot jederzeit über Logik. Tatsächlich hat er die Kunst perfektioniert, in ein- und demselben Satz seinem Freund, mir und sich selbst zu widersprechen, ohne auch nur Atem zu schöpfen. Das macht Gespräche mit ihm immerhin kurzweilig, wenn schon nicht sinnvoll oder zielführend.

An jenem Nachmittag hatte er seine ganze Eloquenz aufgewandt, um seinen Freund davon zu überzeugen, dass ein Wahlrecht für Frauen noch unsinniger sei als eines für besitzlose Männer – woraufhin er selbst prompt wieder dafür votierte. Vorübergehend jedenfalls. „Die Unterschiede zwischen Mann und Frau sind vorrangig physischer Natur. Man nehme nur jenes skandalöse Organ, die Quelle allen Übels, ohne das die Menschheit zweifellos besser dran wäre –“

Mr. Granville entfuhr ein Geräusch, als habe er eine Qualle verschluckt, auch seine Gesichtsfarbe passte dazu. „Nimm Rücksicht auf Myrtle, ich bitte dich!“

Mr. Everett grinste. „Ich spreche vom Gehirn. Wir sind uns doch einig, dass sie so etwas besitzt? Was ich sagen wollte: Auch wenn gewisse Kreise zweifellos wünschten, Gott hätte den menschlichen Schädel mit Lehm gestopft – oder sentimentaler Landschaftspoesie, meinethalben, es gibt viel zu viel davon –“

„Tatsächlich“, gelang es der jungen Dame einzuwerfen, „hat er Adams Schädel mit Lehm gestopft. Evas Kopfinhalt war dann schon ein wenig fortgeschrittener –“

„Unglücklicherweise, Miss Hope, glaube ich nicht an Märchen, die in alten Büchern stehen. Ihre Neigung, anderen ins Wort zu fallen, um sich dann an Nebensächlichkeiten aufzuhängen, weckt freilich Zweifel daran, ob Ihr Gehirn wirklich dem männlichen ebenbürtig ist.“

„Es schien mir die einzige Möglichkeit, auch einmal zu Wort zu kommen, Sir. Immerhin geht es um mein Stimmrecht.“

„Das Sie noch nicht haben und, wie ich meine Landsleute kenne, auch für die nächsten hundert Jahre nicht haben werden. Seien Sie froh, Sie dürfen sich weiterhin mit Ihrer ganzen Denkkapazität den wirklich wichtigen Fragen des Lebens widmen.“

„Wie der, welchen Hut ich morgen zur Kirche trage, Sir?“ Es war eine unmenschliche Herausforderung, angesichts der halben Million Lachfältchen, die seine Augen einrahmten – wie brachte es ein Mensch, dessen ganzer Rest nicht viel älter aussah als dreißig, auf so viele Falten? –, den angemessenen Ernst zu wahren.

Er strahlte. „Ich wusste, Sie würden mich verstehen! Da das Wetter sehr ungewiss aussieht, ist das eine Entscheidung, bei der man ungeheuer viel falsch machen kann. Mehr jedenfalls als bei der Wahl zwischen Whigs und Tories.“

„Nun gehst du ein ernstes Thema wirklich zu frivol an!“, mahnte Mr. Granville.

„Worüber man nicht lachen kann, ist nicht wert, ernst genommen zu werden.“

Hatte ich erwähnt, dass er nichts ernst nimmt? Ein erfrischendes Lebensprinzip, zumindest für die Sommerferien. Was den Rest des Jahres angeht, so ist das zum Glück sein Problem. Mr. Granville wiederum nimmt nur Dinge ernst, die zweitausend Jahre lang unter Sand oder Asche begraben lagen; er glüht für die Antike, weshalb Mr. Everett ihn einen konservativen Heuchler nennt, weil es nämlich ausgerechnet die alten Griechen waren, die auf die skandalöse Idee mit der Demokratie gekommen sein sollen.

Aber glauben Sie jetzt ja nicht, dass ich meine Tage mit trockenen politischen Debatten verbringe! Jeden Tag unternehme ich mindestens einen ausgedehnten Spaziergang. Selbstverständlich niemals unbegleitet – mein Wohltäter scheint große Angst zu haben, ich könne ihm wieder abhandenkommen, dabei erscheinen mir die Einwohner von Lancashire durchaus zivilisierte Menschen zu sein, die im Allgemeinen dem Mord, Totschlag oder Kannibalismus nicht mehr zuneigen als die Bewohner anderer Gefilde Englands. Die gefährlichste Begegnung der letzten Tage hatte ich jedenfalls mit einem Kaninchenloch.

Mein Überleben verdanke ich dem Eingreifen Mr. Everetts, welcher die Herausforderung so beherzt anging, als gälte es, mich einhändig aus einem Vulkankrater zu ziehen. (Tatsächlich hat er voriges Jahr Mr. Granville aus dem Ätna gezogen – oder umgekehrt; die beiden beharren auf unterschiedlichen Varianten der Geschichte.) Nach eingehender Untersuchung erklärte er den Knöchel für lediglich verstaucht, aber unbedingt schonungsbedürftig, und so trat ich den Rückweg zum Haus in seinen Armen an, unterhalten von einem Vortrag über den Zusammenhang zwischen der Anzahl von Kaninchenlöchern auf einem Grundstück, der Abneigung dessen Eigentümers gegen die Jagd und der Häufigkeit des Auftretens verstauchter Knöchel bei selbigem Besitzer oder dessen höchst bedauernswerten Gästen…

„…wofür du dich hoffentlich in deinen Grund und Boden schämst, Granville!“ Mr. Everett duckte sich unter einem Ast hindurch.

„Wann hast du eigentlich zum letzten Mal ein Jagdgewehr abgefeuert?“, hörte sie ihren Gastgeber, der jetzt zwei Spazierstöcke schlenkerte, unschuldig fragen. „Als dein Vater dich zwingen wollte, diesen armen räudigen Hund zu erschießen, und du versehentlich beinahe ihn selbst getroffen hättest?“

„Nicht versehentlich.“ Mr. Everett ruckte die Last in seinen Armen zurecht. „Mir fehlte es an Übung. Mit einer Pistole hätte ich ihn nicht verfehlt.“ Worauf er nahtlos zum Thema Kaninchenlöcher zurückkehrte. „Freilich sind Sie auch nicht ganz unschuldig, Miss Hope. Es würde Ihren Freunden einige Sorge und Mühe ersparen, wenn Sie sich überwinden könnten, auf den Wegen zu bleiben.“

„Ich bin sicher, ich kann selbst laufen!“, wandte die junge Dame ein, der es ein wenig peinlich war, wegen eines lächerlichen verstauchten Knöchels getragen zu werden.

Ihr Retter sah gelassen auf sie herunter. „Ich gehe ebenfalls davon aus, dass Sie diese Kunst grundsätzlich beherrschen. Aber nicht mit den Füßen vier Fuß über dem Boden. Ein Mindestmaß an Kooperation wäre übrigens angebracht, junge Lady. Wenn Sie nicht bald die Arme um meinen Nacken legen, muss ich Sie mir über die Schulter werfen wie einen Sack Mehl.“

Die beiden folgenden Tage verbrachte ich auf dem Sofa, den Knöchel hochgebettet, und die beiden Herren ließen kaum eine Minute verstreichen, ohne mir kühlende Getränke, wärmende Schals oder ein spannenderes Buch zu bringen. Hier tat sich Mr. Everett (den es nie lange im Sessel hält, während Mr. Granville über einem Buch die Zeit vergessen kann) besonders hervor. Er las mir sogar vor! Freilich hat er, was die Auswahl der Lektüre anbelangt, kein so glückliches Händchen…

„Oh lady! Blessed be that tear / It falls for one who cannot weep…”

„Hören Sie auf, um Himmels willen!“ Sie wehrte die Hand mit dem Taschentuch ab, die sich ihrem Gesicht näherte – sie hatte Tränen gelacht, wohlgemerkt.

Mr. Everett sah etwas pikiert drein; auf Byron ließ er bekanntlich nichts kommen. „Haben Sie kein Herz, Miss Hope?“

„Keins für Pathos, Sir, und außerdem tut mir jetzt der Bauch weh. Wenn Sie der Meinung sind, dass Poesie der Heilung förderlich ist, könnten Sie vielleicht Wordsworth auftreiben?“

„Niemals – von dem wehmütigen Zeug würden Sie gänzlich invalide!“

…wie Mr. Granville, der offensichtlich Erkundigungen eingezogen hatte, mit welcher Art von Literatur man eine junge Dame am besten aufheitert, und am folgenden Tag mit Mrs. Radcliffes „The Mysteries of Udolpho“ aufwartete. Um Ihrem missbilligenden Stirnrunzeln zuvorzukommen, dear Madam: Er mühte sich löblich, die Passagen, die er für allzu nervenaufreibend hielt, zu überspringen.

Nach zwanzig Seiten Landschaft und einem ebenso langen Poem, das selbige Landschaft in den blumigsten Wendungen pries, hielt Mr. Everett das Gähnen nicht länger aus und stibitzte seinem Freund das Buch. „Lass mich einmal! Wenn du erlaubst, springe ich ein wenig vor, sonst muss Miss Hope ihre Sommerferien auf zwei Jahre verlängern, und das täte ihrer Bildung gar nicht gut.“ Er blätterte in dem dicken Band, runzelte die Stirn, blätterte weiter und begann schließlich zu lesen.

In „The Mysteries of Udolpho“ fordert der finstere Montoni bekanntlich von der Heldin die Abtretung ihres Erbes und droht ihr für ihre hartnäckige Weigerung die fürchterlichsten Strafen an. Während die Fantasie der Leserin sich also ausmalte, wie die arme Emily mindestens an Händen und Füßen in Ketten geschmiedet von der Gewölbedecke eines düsteren Kellers herabhing, wo ihre Seufzer schaurig widerhallten, verwies Mrs. Radcliffes villain lediglich mit zornig gesträubten Brauen das Mädchen des Zimmers und hieß sie am nächsten Morgen ihre Habseligkeiten packen, um sie – o Gipfel des Grauens! – an einen anderen Ort zu verfrachten.

So weit jedenfalls die Handlung, an welche die junge Zuhörerin (die den Roman bereits in Broadley gelesen hatte, und zwar mehrfach) sich erinnerte. Nach Langley Park hatte sich offenbar jedoch eine interessantere Ausgabe des Buches verirrt.

„Der Unmut darüber“, las Mr. Everett, „dass Emily sich ihm so standhaft widersetzte, setzte Montoni zu, und seine Misslaune ließ er großzügig an seiner Gefangenen aus. Auch in jener Nacht stieg er also in den Turm, schloss umständlich die sieben Schlösser auf und betrat, ohne anzuklopfen, ihre Zelle, die übrigens keineswegs des Komforts entbehrte. Ein ausgeklügeltes System mit heißem Wasserdampf, der durch Hohlräume im Boden strömte, sorgte für wohlige Wärme, das Bett war mit Seidenkissen bedeckt, und Emily trug Kleider nach der neuesten Pariser Mode…“

Die Patientin lauschte fasziniert und ganz ohne zu gähnen. Diese Autorin wusste, was sie einer Lady schuldig war. Horror ertrug sich viel besser, wenn die Heroine unter Wahrung eines Mindeststandards an Bequemlichkeit litt!

„…Als der Bösewicht nun also in die Zelle trat, war er zunächst besänftigt von Emilys Anblick: Mit demütig im Schoß gefalteten Händen saß sie auf einem Bänkchen zwischen den vergitterten Fenstern und sah ihm gefasst entgegen.

Dann fiel ihm auf, dass sie kaum anders konnte, denn als er sie am Morgen aufgesucht hatte, hatte ihn ihre mangelnde Einsicht so erzürnt, dass er sie am Hals an die Wand gekettet und ihre Hand- und Fußgelenke mit so engen Fesseln zusammengeschlossen hatte, dass sie nicht aufstehen konnte –“

„Hör auf, Everett“, befahl Mr. Granville entsetzt. „Sein Handeln ist abscheulich –“

„Im Gegenteil“, widersprach sein Freund, „endlich einmal agiert er vernünftig. Hätte er das von Anfang an getan, hätte das seine törichte junge Schutzbefohlene zweifellos daran gehindert, sich in dem düsteren Schloss zu verlaufen, und der Anblick all der rätselhaften verschleierten Porträts, offenen Gräber et cetera wäre ihrem zarten Gemüt erspart geblieben.“

„Ganz zu schweigen von den vielen Ohnmachtsanfällen“, ergänzte Myrtle lebhaft, „die dem Leser erspart geblieben wären!“ Die peinliche Neigung von Mrs. Radcliffes Heroinen zu Bewusstlosigkeit und Duckmäuserei, die den Bösewichten sogar die Mühe ersparte, sie zu fesseln, war ihr von jeher ein Dorn im Auge gewesen. Wo, bitte, blieb denn da die Spannung?

„Ihr Frühstück“, fuhr Mr. Everett fort, „war demzufolge unberührt. Der Anblick ihrer trockenen Lippen und flehenden Augen, der in jeder fühlenden Seele Mitgefühl hervorgerufen hätte, heiterte den Schurken nur auf. Seine Augen schillerten vor Bösartigkeit schwefelgelb, als er sie anherrschte: ‚Es gibt erst wieder Limonade, wenn Sie unterschreiben, dass Sie mir all Ihren Besitz vermachen!‘“

Hier hielt er inne, weil er einen glucksenden Laut vernommen hatte. „Es zeugt nicht von guter Erziehung, über die Not einer Lady zu lachen, Miss Hope.“

„Ich lache nicht, Sir. Ich bin lediglich überrascht von der Originalität der Erpressung.“ Sie konnte sich nicht an die Szene erinnern. Diese Fassung des Romans gefiel ihr viel besser als jene, die sie kannte!

„Nicht wahr. Was würden Sie übrigens an Emilys Stelle erwidern?“

„Ich würde ihn bitten, wiederzukommen, wenn er bereit ist, seine ewigen Drohungen auch wahrzumachen“, sagte sie sofort.

„Gesprochen wie eine wahre Engländerin, Miss Hope, brava! Monsieur Valancourt wird stolz auf Sie sein, auch wenn Ihre Entschlossenheit sein Eingreifen praktisch überflüssig macht, denn dem Schurken, entmutigt ob Ihrer unbeugsamen Haltung, bleibt nun nichts mehr übrig, als Sie auf der Stelle freizulassen.“

„Humbug!“, rief sie entrüstet. „Wenn er auch nur einen Funken Charakter besitzt, wird er sie in ein richtiges Verlies sperren! Und wenn nicht, ersuche ich Sie, auf der Stelle mit dem Vorlesen aufzuhören, bevor mich der Schlaf übermannt!“

Mr. Everett bedachte sie mit einem hintergründigen Lächeln. „Es freut mich, dass Sie für die gerechte Bestrafung einer Sünderin sogar Ihren Schlaf opfern.“

Sie runzelte die Stirn. „Verwechseln Sie hier nicht Opfer und Bösewicht, Sir?“

Er lächelte immer noch. „Seit wann ist Ungehorsam eine Tugend, liebes Kind? Aber lassen Sie mich fortfahren. Montoni war drauf und dran, ihr zur Strafe für ihre Standhaftigkeit die abscheulichsten Qualen anzukündigen, da vernahm er plötzlich von draußen das Geklimper einer Laute! Ein Troubadour, der sich tragischerweise im Jahrhundert geirrt hatte – muss ich mehr über seinen Realitätssinn sagen? –, hatte unter ihrem Turm sein Liedchen zu singen begonnen. Emily, an ihren poetisch veranlagten Verehrer erinnert, stimmte mit tränenerstickter Stimme ein.

Doch ach! sie hatte die Anwesenheit ihres Peinigers vergessen!

‚Die Signorina meint, sie sei eine Nachtigall!‘, höhnte Montoni. Die Gefangene wurde geknebelt, ein Seil vom Turmfenster herabgelassen, an dem der Troubadour prompt hinaufkletterte – hatte ich erwähnt, dass er sich im falschen Zeitalter befand? Jedenfalls ließ Montoni, als der Sänger auf halber Höhe angelangt war, seine Leute mit Pfeil und Bogen auf ihn schießen. Voilà, zum Abendessen gab es gespickten Troubadour. – Für die Hunde“, ergänzte Mr. Everett rasch, bevor sein Freund sich über schlechten Geschmack echauffieren konnte.

Doch früher oder später hatte diesem ja auffallen müssen, wie selten der Vorleser ins Buch blickte. „Grundgütiger, Everett“, fragte er stirnrunzelnd, „steht das wirklich da?“

Ohne ein Anzeichen von Schuldbewusstsein klappte Mr. Everett das Buch zu. „Ich habe mir lediglich die Freiheit genommen, zu erzählen, was hätte passieren müssen. Offensichtlich hat die Verfasserin nie ein düsteres Schloss in den Pyrenäen von innen gesehen, im Gegensatz zu uns beiden. – Erinnerst du dich nicht mehr? Wir haben einmal in einem solchen Gemäuer übernachtet. Vom Unwetter überrascht, die Straßen unwegsam… es könnte durchaus Udolpho gewesen sein. Hieß der Eigentümer nicht Montoni?“

Die ungläubigen Grimassen seines Freundes tat er mit einer Handbewegung ab. „Du warst mehr tot als lebendig, kein Wunder, dass du dich nicht erinnerst. Nach jenem Ritt um die Wette mit Blitz und Donner hast du achtundvierzig Stunden geschlafen, während ich mich jedes Mal, wenn ich nach dir sehen wollte, in den labyrinthischen Gängen verlief. – Ah, jetzt verstehe ich endlich, wessen Leiche die arme Emily zu Tode erschreckt hat! Sie muss über dich gestolpert sein! So bleich und stoppelbärtig, wie du warst, da musste eine Lady ja das Schlimmste befürchten!“

Mr. Granville begann so verzweifelt zu gestikulieren, dass sein Schützling um seines Seelenfriedens willen eingestand, dass sie den Roman bereits kannte. „Ich schwöre Ihnen, Sir, dass es nur eine Wachspuppe war – so wie überhaupt alle Schreckensbilder sich am Ende als Missverständnisse entpuppten. Was eine lebensgroße Wachsfigur im Schloss verloren hatte, habe ich freilich nie verstanden.“

„Ja“, bemerkte Mr. Everett betrübt, während sein Freund aufatmete, „diese südländischen Schurken halten einfach keine Ordnung in ihren Häusern. Einem britischen Gentleman wäre das nicht passiert.“

Sie verzog den Mund; die Vorstellung war zu lächerlich. „Wenn ein britischer Gentleman auf die Idee käme, eine Lady in einem unwirtlichen Schloss, sagen wir, nahe der schottischen Grenze einzusperren und zu tyrannisieren, würden ihm dabei ja derart die Zähne klappern, dass sie ihn bitten müsste, seine schrecklichen Drohungen zu wiederholen!“

„Ein britischer Gentleman“, sagte Clifford mit Betonung, „würde sich eher erschießen, als auch nur darüber nachzudenken, eine Lady zu erschrecken!“ Damit nahm er das Buch an sich und schlug vor, eine Ausfahrt ins Dorf zu unternehmen.

Wie gesagt, Mr. Everett – obwohl er sich selbst ein bisschen zu gern reden hört – ist unterhaltsamer als alle anderen Gentlemen, die mir je begegnet sind. Natürlich darf man seine Scherze nicht wörtlich nehmen, aber zum Glück weiß sein Freund das bereits.

Auf der Treppe betonte Mr. Granville schon wieder, wie dankbar er für Mr. Everetts Gesellschaft sei, war er doch fest überzeugt, er selbst sei „ein Einsiedlerkrebs, der sich zur Unterhaltung von Damen so wenig eignet wie Schuhleder zur Dekoration von Hüten.“

„Du hast recht“, sagte Mr. Everett, der Miss Hope um ihres lädierten Knöchels willen auf den Armen trug. „Schließ dich irgendwo ein und zähle deine Bronzegötter, ich unterhalte derweil deine Gäste.“

Womit er es Myrtle überließ, ihrem Wohltäter zu versichern, dass sie viel lieber einen Krebs auf dem Hut tragen wollte als einen herzlosen Gentleman.

„Das ist sehr lieb von dir“, sagte Clifford errötend, „aber er hat das nicht so gemeint.“

„Ich hoffe sehr, sie hat das nicht so gemeint“, sagte Mr. Everett. „Andernfalls müsste ich ernsthaft an ihrem Geschmack in Sachen Hutmode zweifeln.“

Sprach’s und krönte sein Haupt schwungvoll mit einem Zylinder, bevor er Myrtle erneut aufhob, um sie zur Kutsche zu tragen.

„Bei deiner Länge“, sagte Clifford, während er die Haustür aufstieß, „trägt man übrigens Ziertürmchen und Glockengestühl.“

Da Spaziergänge während meiner Rekonvaleszenz außer Frage standen, wurde ich, sobald das Wetter es zuließ, im Tilbury durch die Grafschaft kutschiert…

„Aber auf dem Rückweg reitest du, und ich fahre! So kann Myrtle entscheiden, wer von uns beiden zu Pferd die bessere Figur macht.“

„Du bist ihr Vormund, zum Henker – du sollst gar keine gute Figur machen! Es reicht, wenn du nicht aus dem Sattel fällst!“

…so dass ich mich nun rühmen kann, mit der Landschaft West Lancashires bestens vertraut zu sein. Aber keine Angst, Madam, ich weiß, wie sehr Sie ausufernde Landschaftsbeschreibungen hassen. Kurz zusammengefasst: Es gibt Bäume.

Sie sehen, ich bin in den besten Händen –

„Es ist sehr rücksichtslos, von einem Menschen zu verlangen, dass er mehr als eine Seite liest.“ Die trockene Stimme erklang so dicht hinter ihrem Kopf, dass sie vor Schreck das letzte Wort mit einem hektischen Schnörkel abschloss. „Ganz besonders im Sommer. Hat man Ihnen nicht beigebracht, sich kurzzufassen?“

Sie legte die Feder weg und ließ ihre linke Hand auf der halb beschriebenen Seite ruhen. „Eloquenz und belles-lettres stellen wichtige Teile des Unterrichts in Broadley dar. Und ich schreibe meiner Schulleiterin, Sir.“

„Die arme Frau wird sich an Ihren winzigen Buchstaben die Augen verderben.“ Mr. Everetts dunkler Haarschopf beugte sich schamlos über ihre Schulter. „Ich bekomme Kopfschmerzen, wenn ich das zu entziffern versuche.“

„Dann lassen Sie es besser, Sir. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass Ihre Gesundheit meinetwegen Schaden nimmt.“

„Wenn Sie mir schwören, dass Sie kein böses Wort über Ihren Vormund und mich schreiben.“

„Ich schwöre, dass ich Ihnen keinen Fehler andichte, den Sie nicht wirklich besitzen.“

„Da hast du‘s!“, tönte es lachend vom Spieltisch herüber, wo Mr. Granville vor dem Schachbrett auf die Rückkehr seines Gegners wartete. „Ich vermute, Myrtle hat alle Hände voll zu tun, die Fehler aufzuzählen, die du besitzt. Du darfst sie mir gern vorlesen, Myrtle. Ich bin unendlich interessiert am Urteil einer gebildeten Dame!“

„Dear chap, du erwartest doch wohl nicht, dass sie dir einen vertraulichen Brief vorliest?“ Mr. Everett kehrte ans Schachbrett zurück, und die Schreiberin setzte ihren Brief fort.

Seien Sie also versichert, Madam, dass Sie noch nie zwei so zuvorkommende und unerschrockene Gentlemen getroffen haben. Sie sind jeder noch so brenzligen Situation gewachsen, vom plötzlichen Wetterumschwung bis hin zur Konfrontation mit wilden Tieren…

Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und blickte, nachdenklich an ihrer Unterlippe knabbernd, durchs Fenster hinaus in den Regen. Die Sache mit der Maus durfte man der armen alten Miss Hornblowe, die jetzt mutterseelenallein an irgendeiner sturmumtosten Küste hockte und sich mit allen zehn Fingern an ihrem Hut festklammerte, auf keinen Fall vorenthalten.

Damit Sie wissen, wovon ich spreche, Madam: Vor ein paar Tagen sah ich beim Umkleiden fürs Abendessen in meinem Zimmer eine Maus über den Teppich flitzen und unter meinem Nachttisch verschwinden! Ich war so erschrocken, dass ich aufs Bett sprang und zum Gotterbarmen quiekte. Zum Glück befand sich Mr. Everett nebenan, er stürmte sofort ins Zimmer und stand mir bei. Selbstverständlich nahm er als vollendeter Gentleman nicht zur Kenntnis, dass ich mich in einem unzulänglich bekleideten Zustand befand, hatte ich doch gerade im Hemd vor dem Kleiderschrank gestanden und überlegt, ob ich das blassgrüne, das fliederfarbene oder zur Abwechslung einmal das weiße…

Ihr Geschrei hatte sogar den Hausherrn herbeigelockt. Ehe er dazu kam, die Szene zu kommentieren, musste er sich bereits des Tadels erwehren, dass es in seinem Hause Ungeziefer gab, das „deinen Gast zu Tode erschreckt hat!“

„Aber Mäuse sind vollkommen harmlos!“, stammelte er. „Ich finde, wir sollten besser gehen…“

„Und das arme Kind in ihrem aufgelösten Zustand allein lassen?“, fuhr sein Freund ihn an, ohne den Gegenstand der Debatte loszulassen, welcher, das Gesicht an seiner Schulter verborgen, auf Zehenspitzen auf dem Bett stand. Das einzige, was an dem armen Kind noch aufgelöst war, war ihr Haar, aber es war noch nicht lange her, da hatte sie panisch um sich geschlagen, und Mr. Everett hatte sie sehr fest an sich drücken müssen. Noch traute sie ihrer Fassung nicht genug, um auf die sanften Bewegungen seiner Finger in ihrem Haar und seinen beruhigend gleichmäßigen Herzschlag zu verzichten.

Erst als Mr. Granville ausrief: „Du bist ja verletzt!“, hob sie den Kopf. Was sie erblickte, ließ sie schaudern. „Sie hat Sie gekratzt, Sir! Hoffentlich war es keine Ratte!“

Er befingerte seine Wange, die von drei schrägen Kratzern überzogen wurde, und betrachtete stirnrunzelnd das Blut an seinen Fingerspitzen. „Sind Sie sicher, dass es kein Frettchen war?“

„Du musst das säubern lassen“, befand Mr. Granville, was sein Freund sofort einsah. „Wärst du so gut, Alkohol zu beschaffen, Granville?“

In seinem Bestreben, sich nützlich zu machen, raffte der Angesprochene ein Leintuch vom Bett und hielt es seinem Freund hin. Der betrachtete es irritiert – und zog stattdessen ein Taschentuch heraus, das er an das Mädchen weiterreichte.

„Danke, Sir.“ Sie schniefte herzhaft hinein.

Ihr Wohltäter stotterte etwas von „nicht gesellschaftsfähiger Aufmachung“, worauf Mr. Everett ihn mit einem verständnislosen Blick bedachte. „Ich bin vollständig angekleidet, andernfalls hätte ich dieses Zimmer nicht betreten. – Alkohol, Granville!“

Der schüttelte den Kopf und verschwand. Mr. Everett erkundigte sich zweimal, ob sie wirklich ihre Fassung wiedergewonnen hätte, ehe er sie aufs Bett niedersetzte und sich mit einer Handbreit Abstand auf der Kante niederließ. „Eines muss man Ihnen lassen, mein Kind: Langweilig wird es mit Ihnen nicht.“

Das Kompliment hätte sie ihm guten Gewissens zurückgeben können. Aber sie begnügte sich damit, ihn von der Seite anzusehen. Das Blut auf seiner Wange sah wirklich fürchterlich aus; beinahe hätte sie ein schlechtes Gewissen bekommen. Aber nur beinahe. Er wirkte einfach zu zufrieden mit sich. „Tut es sehr weh, Sir?“

Er ignorierte die Frage. „Was passiert als Nächstes? Ein Heuschreckenschwarm, der über Nacht den Park kahl frisst? Eine Sonnenfinsternis? Sieben Jahre Regen?“

Sein Blick folgte dem ihren zum Nachttisch, wo auf zwei Romanen die Bibel lag, und er rollte die Augen. „Sagen Sie’s mir nicht. Wie können Sie nur schlafen nach so viel Mord und Totschlag?“

Die Antwort blieb ihr erspart, weil in diesem Moment ihr Gastgeber zurückkehrte. „Scotch“, sagte er entschuldigend, „auf die Schnelle konnte ich nichts Besseres –“

„Perfekt!“ Sein Freund nahm ihm die Karaffe aus der Hand und setzte sie an die Lippen. Die entgeisterten Blicke kommentierte er kühl: „Auf den Schrecken. Ich verschwende doch keinen Scotch an einen Kratzer!“

Ehe die beiden Herren ihr Zimmer verließen, damit Myrtle sich ankleiden konnte, sagte Mr. Everett: „Zögern Sie nicht, zu rufen, wenn die Maus zurückkommt.“

Das mit dem Scotch verschwieg die Schreiberin später wohlweislich. Was würde Miss Hornblowe sonst von Mr. Everett denken?

Aber Sie müssen mir verzeihen, Madam, dass ich Ihnen eine wichtige Person bis jetzt vorenthalten habe. Sie haben hoffentlich nicht gedacht, ich befände mich in diesem Hause mutterseelenallein mit zwei Gentlemen? Auf meinen guten Ruf bedacht, hatte Mr. Granville die Tante des Pfarrers eingeladen, eine zweifellos untadelige Dame, doch da sich deren Ankunft verzögerte…

„Willst du ernsthaft behaupten, du beherbergst seit zwei Tagen eine junge Lady ohne weibliche Gesellschaft in deinem Haus?“ Mr. Everett weilte noch keine Stunde in Langley Park, als ihn diese Entdeckung wieder vom Stuhl hochfahren ließ. Die lebhaften Beteuerungen seines Freundes, er rechne stündlich mit Miss Bones Anreise, vermochten ihn nicht zu beruhigen. „Glücklicherweise weiß ich einen geeigneten Ersatz. Die betreffende Dame hat sich um meine Familie verdient gemacht und ist im Moment ohne Anstellung. Sorge dich nicht, ich werde sie sofort informieren!“

…sprang Mr. Everett heroisch in die Bresche – respektive in den Sattel –, um die Lücke auf der Stelle zu füllen. Darf ich Ihnen also meine Anstandsdame vorstellen? Voilà: Mrs. Kent!

Mrs. Kent ist eine respektable Witwe von etwa fünfundvierzig Jahren, die sich durch Herkunft, Bildung und Manieren bestens für das Amt der Gesellschafterin einer jungen Lady qualifiziert. Hinzu kommt ein unbeschreibliches Maß an Anstand – sie ist so bescheiden, dass sie praktisch mit der Tapete verschmilzt. Tatsächlich kann ich mich nicht erinnern, sie seit vorletztem Mittwoch gesehen zu haben. Aber keine Angst, sie ist erwiesenermaßen noch am Leben: Mr. Granvilles Personal vergewissert sich im Stundentakt, dass es der guten Seele in ihrem Zimmer an nichts mangelt, was für Damen ihres Alters überlebensnotwendig ist – wie Tee, Kekse, Romane und Rum –, und jetzt fällt mir wieder ein, dass ich sie gestern Abend ja doch aufgesucht habe, um ihr einen meiner Strümpfe zum Ausbessern zu bringen (nach eigener Aussage besitzt sie die geschicktesten Finger der Grafschaft), und da fand ich sie wohlauf in ihrem Bett, laut über eine Szene in „Northanger Abbey“ lachend – Sie sehen, auch ihr literarischer Geschmack ist beispielhaft!

Leider ist die Bedauernswerte nicht gut zu Fuß; fern sei es mir also, selbstsüchtig darauf zu beharren, dass sie mich auf Spaziergängen und Ausfahrten begleitet! Im Tilbury ist sowieso kein Platz mehr frei, und soll Mr. Everett sie vielleicht durch den Park tragen? Aber wir kommen zu dritt ja gut zurecht –

„Schachmatt!“, rief Mr. Granville. „Ich glaube es nicht!“

„Meinen Glückwunsch.“ Mr. Everett schob seinen Stuhl zurück, zwei Sekunden später stand er wieder neben Myrtle. „Wenn Ihr Vormund gewusst hätte, dass Sie vorhaben, einen Roman zu verfassen, hätte er sicherlich für mehr Papier gesorgt.“ Ungeniert blätterte er durch den Stapel beschriebener Blätter. „Sieben Seiten! Sie können in der kurzen Zeit unmöglich so viel Erwähnenswertes erlebt haben!“

„Tatsächlich habe ich diesen Brief sehr lange aufgeschoben, Sir. Ich bin nun schon drei Wochen hier –“

„Und wenn Sie nicht bald von sich hören ließen, dächte Ihre Schule, wir hätten Sie zwecks späteren Verspeisens in Essig eingelegt, und schickte His Majesty‘s Most Loyal Infantery zu Ihrer Rettung? Seien Sie versichert, Granville und ich verabscheuen alle Arten von Pickles. Und als Beweis Ihres Wohlergehens hätten zwei Zeilen genügt.“

„Sie sind kein Briefschreiber, Sir“, stellte sie fest. Was Wunder – zu wenig Sitzfleisch.

„Da haben Sie recht. Im offensichtlichen Gegensatz zu Ihnen.“

Sie zuckte die Schultern. „Es regnet. Und es wird weiter regnen, ob ich schreibe oder nicht.“

„Sie könnten sich nützlichere Beschäftigungen suchen.“

„Was schlagen Sie vor, Sir? Sticken?“ Beim Gedanken an die ungezählten Abendstunden, die sie statt mit einem Buch mit dem Sticken von Monogrammen in Wäschestücke verbracht hatte, schauderte ihr noch heute.

Wenn Lloyd Everett sich entschloss, Ironie zu überhören, dann überhörte er sie. „Zum Beispiel. Sie haben Granvilles Initialen so wunderbar bewältigt, da wären meine doch ein Klacks. L, M und E bestehen nur aus schlichten geraden Linien.“

Sie wollte ihn gerade fragen, wofür das M stand, da rief der Hausherr, der inzwischen die Figuren wieder aufgestellt hatte, herüber: „Noch eine Partie?“

„Wenn es sein muss.“ Mit dem Enthusiasmus eines zum Tode Verurteilten kehrte Mr. Everett zu seinem Freund zurück.

Maurice? Martin? Matthew? Keiner der Namen wollte zu ihm passen, fand sie.

Apropos Ausflüge: Eigentlich wollten wir heute nach South Langley wandern, doch seit gestern Abend regnet es ununterbrochen. Ein idealer Tag zum Schreiben also. Die beiden Herren vertreiben sich derweil die Zeit beim Schachspiel. Eine sehr aufschlussreiche Beschäftigung – fünf Minuten stiller Beobachtung, und Sie hätten ihrer beider Charaktere vollauf durchschaut. Mr. G denkt vor jedem Zug nach und setzt so bedächtig, als hinge sein Leben davon ab, Mr. E hingegen zieht ungeduldig und scheinbar ohne hinzusehen. Bemerkenswerterweise pflegt er auf diese Weise recht oft zu gewinnen. Heute allerdings nicht: Er wirkt abgelenkt und verrenkt sich den Hals nach dem Fenster, wenn er nicht gleich aufspringt und durchs Zimmer tigert, um am Ende zornig in den Park zu starren, was eine traurige Verschwendung seiner Zeit ist – wäre es möglich, Regen mittels bloßer Willenskraft einzuschüchtern, würde diese stolze Nation nicht in Gottes nassestem Lande residieren!

Vom Spieltisch tönte ungläubiges Lachen herüber. „Du kannst so nicht ziehen – das ist ein Springer!“

„Das ist meine Dame!“

„Ich fürchte, du irrst dich – du hast nämlich zwei davon.“ Mr. Granville fand die Verwirrung seines Freundes immens komisch. „Falls sich nicht die Schöpfer dieser Figuren verzählt haben, natürlich.“

„Sie hätten sich Mühe geben sollen, dass man die verdammten Teile auseinanderhalten kann!“, knurrte Mr. Everett und setzte seinen Springer zurück, um umgehend eine andere Figur zu ziehen. „Sag mir nicht, dass das hier ein Turm ist!“

„Nein, das ist die Dame.“

„Dem Himmel sei Dank. Das nächste Mal spielen wir mit einem anderen Set.“

„Wie du willst“, sagte sein Freund gutmütig. „Obschon mir dieses Glück zu bringen scheint.“

Ich fürchte, der viele Kaffee setzt seinen Nerven zu.

Nächste Woche wird es übrigens einen Ball in Langley Park geben, auf dem ich offiziell in die hiesige Gesellschaft eingeführt werde. Keine Debütantin in London könnte aufgeregter sein als ich im Vorfeld dieser „informellen kleinen Abendgesellschaft für die nächsten Nachbarn“ – so Mr. Granville, er will mich nämlich nicht einschüchtern.

Laut seinem Freund hasst Mr. G Gesellschaften mit mehr als einstelligen Gästezahlen; Mr. E nennt ihn einen „Maulwurf, der sich am liebsten in der Erde vergraben würde, sobald er eines unbekannten Gesichts ansichtig wird“ – ein Urteil, das nicht gänzlich übertrieben ist, denn Mr. G vertieft sich ja am liebsten in Berichte über Ausgrabungen. Ich bin überzeugt, in zehn Jahren dürfen wir einen von ihm verfassten und eigenhändig illustrierten Band über Ägypten bewundern – vorausgesetzt, seinem Compagnon Mr. Williamson gelingt es endlich, das Geld für die Expedition aufzutreiben. Mr. G ist optimistisch (einer seiner essenziellsten Wesenszüge), Mr. E eher skeptisch (dito).

„Deine Geduld in allen Ehren, aber wenn du erst selbst zu Staub zerfallen bist, wird die Expedition schwierig. Lass mich an Bacon schreiben, er kennt halb London. Es muss nur jemand an der richtigen Stelle ein gutes Wort für euch einlegen –“

„Everett“, hatte Mr. Granville gefragt, „schätze ich Mauscheleien in Rauchzimmern?“

Sein Freund hatte ihn nachdenklich betrachtet und dann beschieden: „Nein, mein Lieber, du hegst eine Abneigung gegen alle Arten von Protektion.“

„Ah, dann hat mich meine Erinnerung nicht getrogen. Danke.“

Aber ich muss wirklich schließen, damit Sie vom Lesen meines Sermons nicht noch Kopfschmerzen bekommen. Überdies ist es Zeit zum Lunch, und ich kann nicht verantworten, dass zwei Gentlemen meinethalben hungern.

Ich kann es nicht erwarten, Ihnen nach den Ferien ausführlich zu erzählen, und verbleibe mit innigsten Grüßen etc. etc.

Ihre Myrtle Hope

„Sagen Sie nicht, Sie sind schon fertig! Es ist wohl kaum der Mühe wert, einen Brief zu beginnen, wenn man nur einen halben Tag daran verschwenden will!“

„Everett, hör auf, Myrtle zu necken! Du solltest sie bewundern – selbst brächtest du nicht mehr als drei Zeilen zustande!“

„Ganz richtig – mehr wäre Verschwendung von Zeit und Tinte.“

„Können Sie überhaupt schreiben, Sir?“, fragte das Mädchen.

„Was für eine Unterstellung!“, rief Mr. Granville konsterniert, bevor er seinem Freund versicherte: „Ich bin sicher, dass hat sie nicht so gemeint!“

Mr. Everett lächelte. „Oh, im Gegenteil – unsere kleine Hochstaplerin zeigt sich in Bestform. Brava, Miss Hope!“

Beide starrten ihn an, Myrtle plötzlich blass, ihr Wohltäter bestürzt. „Das war eine herzlose und, gelinde gesagt, verstörende Bemerkung, alter Freund –“

„Siehst du nicht, wie sehr das arme Kind sich bemüht, dir die schlagfertige Dame von Welt vorzuspielen? Sie hat solche Angst, dich zu langweilen, alter Knabe, dass sie über ihr schüchternes Selbst hinauswächst!“ Mr. Everett stützte sein Kinn in die aufgestützte Hand und schaute amüsiert zu ihr herüber. „Ich frage mich, was man ihr in Broadley über den verschrobenen Einsiedler Mr. Granville erzählt haben muss.“

Während das Mädchen, vom wilden Pochen ihres Herzens abgelenkt, nach Worten suchte, beeilte sich Mr. Granville, ihr zu versichern, er sei „vollkommen glücklich mit deinem wahren Selbst, meine Liebe. Du hättest mir kein größeres Geschenk machen können!“

„Nicht wahr? Ein so entzückendes Waisenkind“, bemerkte Mr. Everett, „wohlerzogen, bescheiden… Sieh nur diese reizende Schamröte! Die bloße Existenz von Miss Myrtle Hope ist quasi ein Gottesbeweis.“

„Käme Ihnen ein solcher nicht ungelegen, Sir?“ Endlich hatte sie ihre Sprache wiedergefunden. Zum Glück konnte der Mann nicht hören, wie ihr Puls raste. Wie unverschämt, sie so zu erschrecken!

„Fern sei es mir, einem Freund seinen romantischen Traum vergällen zu wollen.“

„Welchen Traum?“ Jetzt wies auch Mr. Granvilles Gesicht eine gewisse Röte auf.

„Den Traum jedes wahren Gentleman: eine Lady vor dem trostlosen Schicksal der Gouvernante zu bewahren. Das ist es doch, was dir vorschwebt, nicht wahr?“

„Nun, Myrtle ist ohne Zweifel zu sanftmütig und zart besaitet für einen solchen Beruf“, erklärte Mr. Granville.

„Ohne Zweifel“, bestätigte Mr. Everett ernsthaft. „Apropos Gouvernante – wann haben Sie das letzte Mal nach Mrs. Kent gesehen, Miss Hope?“

„Nach dem Frühstück.“ Immens erleichtert ob des Themenwechsels, faltete sie ihren Brief zusammen. „Sie hatte eine unruhige Nacht und wünschte sich nichts sehnlicher als Ruhe und Schlaf.“ Den sie zur Stunde zweifellos genießt. Das bisschen Tee in ihrem Rum dürfte sie kaum wachgehalten haben.