In einem glühend blauen Sommer - Susanne Schmidt - E-Book

In einem glühend blauen Sommer E-Book

Susanne Schmidt

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Beschreibung

Sie ist Ende zwanzig, möchte sich nicht binden, noch nicht, die Karriere geht vor. Wenn sie ihr berufliches Ziel erreicht hat, vielleicht dann. Sex hat sie mit wechselnden Männern, auch einmal mit einer Frau. Eines Tages, es ist Sommer, begegnet ihr ein Mann.Das ist nichts Besonderes. Er ist auch noch jünger als sie, noch nicht einmal fertig mit der Ausbildung. Ganz gegen ihre Lebensplanung verliert sie sich in lustvoller Abhängigkeit. Doch dann gerät sie in Gefahr.

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Susanne Schmidt

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

In einem glühend blauen Sommer

Zum Buch

1 Gewitter am See

2 An der Bar

3 Berührt vom Wind

4 Fahren 

5 Lieben mit Abstand

6 Beste Freundin

7 In Bewegung

8 Acht Mal

9 Inseln im Kopf

10 Auf der Insel

11 Insellust

12 Noch mal raus

13 Außer sich

14 Mach doch Sport!

15 Salonabend

16 Wasserrausch

17 Gewitter

18 Absturz

19 Leben

20 Schöne Brüste

21 Mutproben

22 Kein Fußballfieber 

23 Küsse

24 Frauen am See

25 Bananenlikör

26 Das bin nicht ich

27 Die Angst

28 Wärme mich

29 Zu viert 

30 Runtersausen

Die Autorin

Impressum

In einem glühend blauen Sommer

Roman

Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke

Zum Buch

Viele Gewitter. Dazwischen traumhafte Tage. Julia trifft sich gern mit Freundinnen (am See, in der Stadt), hat Stress im Job und gefährliche Affären.

Dieser Sommer wird nicht nur ihr Leben ändern. 

Julia ist Ende zwanzig, lebt mit einer Freundin in einer WG und hat einen älteren Liebhaber, der sich ihr oft entzieht. Auch sie will sich (noch) nicht binden, die berufliche Karriere geht vor. Sie beginnt Affären mit verschiedenen Männern, einmal mit einer Frau, und gerät in einen Strudel aus Lust, der sie an den Rand des Absturzes treibt.

An einem schwülen Sommerwochenende, sie versucht zu entspannen und sich von ihren privaten Dramen zu erholen, begegnet ihr an einem See ein Mann. Er ist jünger als sie, sie vergisst ihn wieder.

Doch dieser Sommer wird ihr Leben entscheidend ändern. Sie beginnt, »Wakeboarding« zu lernen, ein aufregender neuer Sport, es regnet viel, dazwischen gibt es glühend blaue Tage, wie gemacht für heißen Sex.

Dann gerät sie in Gefahr.

Freundschaft, sexuelle Lust, Liebe, Abhängigkeit und ein »ganz normales« Leben in Zeiten der beruflichen Stabilisierung sind Themen dieser spannend aus Sicht von Julia erzählten Geschichte.

Die Buchreihe »konkursbuch Liebesleben« versammelt Romane, Erzählungen und Sachbücher zum Thema Sex und Liebe. Die AutorInnen schreiben auch von den Ambivalenzen und Fallen, die im Alltag des Liebeslebens stecken, unterhaltsam, erotisch, romantisch, ohne Selbstzensur, direkt.

1 Gewitter am See

(24.08.2013)

Als ich aufwachte, war ich nicht mehr alleine.

Die Oberfläche des Sees schien unbewegt, schwarz. Ich erschrak. Fernes Donnergrollen. Blaugraue und grünschwarze Wolken, die von Westen her über den Himmel wuchsen. Sie waren angestrahlt von der Sonne. Ein unheimliches Licht. Das Gewitter würde bald hier sein. Ich sollte gehen. Das Wasser begann sich zu bewegen, als würde es sich von unten auftun und sich selbst verschlingen. Dann erstarrte es wieder.

Kaum mehr als zwei Meter von mir entfernt lag ein Mann. Wie lange hatte ich geschlafen? Als ich heute Mittag gekommen war, war die Badestelle gut besucht, Familien, Frauen mit Büchern, knutschende Paare, die Geräuschkulisse kreischender Kinder. Noch waren Schulferien. Ich ging mehrere Male schwimmen, las einen Krimi, die Badestelle leerte sich nach und nach, der Krimi war zu Ende, ich träumte vor mich hin, über mir eine zarte Wolke im Blau. Es war auf einmal still. Als wären alle gegangen. Als wäre ich allein auf der Welt. Dann muss ich eingeschlafen sein. 

Der Mann neben mir sah mich an. Als er meinen Blick bemerkte, drehte er sich weg und betrachtete den schwarzen See.

Ich musste an den Urlaub mit Patrick denken. Es war mein erster Urlaub gewesen, nachdem ich den neuen Job angefangen hatte. Patrick an Stelle von Andy, der mich versetzt, unseren Urlaub storniert hatte. Der Mistkerl! War das alles wirklich erst fünf Monate her? Ich war froh, dass es mir wieder gut ging, dass ich schwimmen konnte, dass alles war wie vorher. Ich versuchte, die Gedanken an den Urlaub mit Patrick wegzuschieben. Den Fehler würde ich nicht wiederholen. Neulich war er mir über den Weg gelaufen. Er hatte mich angestarrt, als wollte er mich umbringen, aber kein Wort gesagt, und mein »Hallo«, das ich ihm beiläufig hatte zuwerfen wollen, war mir auf den Lippen erstorben. Ich hatte meine Schritte beschleunigt und mich umgeblickt, er folgte mir nicht. Und natürlich dachte ich im selben Atemzug an Andreas. Andreas, Andy hatte mir vor Kurzem offenbart, dass er neben mir eine andere Freundin hatte. Und dass sie nicht die Erste sei. 

Ich hoffte, diese anderen zu überdauern. Als er entschieden hatte, eine Weile auf Abstand zu gehen, »um sich selbst zu finden«, wie er behauptet hatte, muss er sich gerade von einer der anderen getrennt und was Neues angefangen haben. Wenn ich ihn nur nicht so irrsinnig mögen würde! Ich hatte nächtelang gegrübelt, hatte mir vorgestellt, was er wohl im Moment machen, was er träumen würde, ob er von mir träumt, an mich denkt. Es gab etwas zwischen uns, eine Verbindung, die nicht zerrissen werden konnte, dessen war ich mir sicher. Sex mit ihm war jedes Mal berauschend. Vielleicht fühlte ich mich auch deshalb in der Vorstellung eines unzerstörbaren Bandes zwischen uns bestätigt. Unglaublich, eigentlich hatte ich es Patrick zu verdanken, dass sich Andy wieder bei mir gerührt hat. Wir würden uns in Zukunft in unregelmäßigen Abständen sehen! Ich selbst hätte auch kaum Zeit für mehr. Ich musste den Mist ausräumen, den meine Vorgänger hinterlassen hatten, und die vielen Krankheitstage noch immer rausholen. Die Fertigungslinie verbessern. Es gab zu viele Leerläufe. Meine erste Idee war bereits verwirklicht worden. Ich dachte seltener an Andy und an das Chaos der letzten Zeit und öfter an die logistischen Probleme in meiner Abteilung. Sex ist doch nicht das Wichtigste im Leben!

Als er mich vor ungefähr sechs Wochen wegen Patrick anrief, hatte er nebenher die Bemerkung fallen lassen, dass er, wenn ich mal wieder nach Berlin müsse, sich über einen Besuch von mir freuen würde. Ich dachte nicht eine Sekunde lang darüber nach, wie lange er nichts von sich hatte hören lassen und dass es vielleicht angebrachter wäre, nicht unüberlegt und zu schnell zu reagieren – sondern behauptete, schon in der kommenden Woche einen Berlintermin zu haben und dass ich sicher einen Tag anhängen könne. Natürlich »musste« ich nicht nach Berlin, bzw. nur, um ihn wiederzusehen. Sieben Stunden Autofahrt. Sieben Stunden heiße Vorlust. Er verhielt sich, als wäre nichts gewesen, und erzählte mir beim Kiffen vor dem Sex – das Kiffen, was ich sonst nicht machte, war ein Ritual zwischen uns: wir trafen uns, erzählten uns von der Zeit, in der wir uns nicht gesehen hatten, redeten über Politik oder Fußball oder einen Film, aßen etwas, kifften, gingen ins Bett, schliefen miteinander – er erzählte mir also beim Kiffen von seiner Freundin aus Potsdam, Tochter aus einem ziemlich reichen Elternhaus, verwöhnt – er kam aus einer Facharbeiterfamilie und auch meine Mutter hatte immer hart gearbeitet, in verschiedenen Jobs. Wir lachten gemeinsam über die verwöhnte Frau, die noch nie gearbeitet hatte, sondern nach einem abgebrochenen Arabischstudium – ich fragte Andy, ob sie dieses Studium wegen eines Vorgängers von ihm angefangen habe, eines arabisch sprechenden Freundes – im Zweitstudium Philosophie und Germanistik studierte. Und dann fragte er mich über die Insel aus. Dass ich den Urlaub tatsächlich auf einer der von ihm ausgesuchten Inseln verbracht hatte, davon hatte ich schon am Telefon berichtet, unter Auslassung von Patrick und dem Spanier. Dann sagte er, »lass uns ins Bett gehen.« Ich zog mich aus, und natürlich sah er die Narbe. Ich erzählte ihm erst im Bett von der Operation. »Blinddarm! Nach dem Urlaub hatte ich im Job Totalstress, habe das deshalb zu spät bemerkt. Die mussten schnell operieren und haben deshalb so eine fette Narbe produziert!« Mehr wollte ich ihm nicht sagen. Schließlich hatte er sich die ganze Zeit nicht gemeldet. Insgeheim hoffte ich, er würde realisieren, dass er mich vielleicht verloren hätte, hoffte, dass das einen Gefühlsschub in ihm auslöste. Doch äußerlich tat ich es cool ab. »War nicht so schlimm wie es aussieht!« Ich wollte genießen, dass wir wieder zusammen waren, wollte mir das nicht von der Erinnerung an die scheußliche Zeit verderben lassen. Ich lenkte das Gespräch zurück auf seine reiche Freundin und konnte mir nicht verkneifen zu fragen, wie es denn mit der im Bett gewesen sei. Er wischte diese blödsinnige Frage mit einer Handbewegung und einem Wort – »uninteressant!« – weg, nahm mich in den Arm und dann vögelten wir einfach drauflos. Stundenlang. Am Morgen frühstückten wir wie jedes Mal beim Bäcker um die Ecke, bevor er ins Büro ging und ich nach dieser einen Nacht zurück nach Stuttgart fuhr. Seitdem hatten wir uns noch einmal gesehen. Einmal hatte ich ihn angerufen, er hatte keine Zeit. Ich hätte eigentlich auch keine Zeit gehabt, war aber trotzdem frustriert. Ich hatte mich selbst doch auch nicht binden wollen. Sehnte ich mich nach Andy? Ich war mir auf einmal nicht mehr sicher.

Gut, dass ich mich endlich vom Job losgerissen, Überstunden ausgeglichen, die paar Tage Urlaub genommen hatte und auch ohne Freundinnen täglich zum See fuhr und jetzt schon den dritten Tag auf der Wiese lag. Meine Mitbewohnerin Karin war noch bei ihrer Familie, und Bettina mit ihrer zweijährigen Tochter hatte keine Zeit. Obwohl ich im Prinzip lieber mit Freundinnen hierherfuhr, gestand ich mir ein, dass ich froh war, alleine zu sein,  Kein Kind, das einen ununterbrochen zum Spielen animieren möchte, kein Reden, keine Absprachen, wann wir essen, wann zurückfahren. Jetzt konnte ich einfach nur lesen, aufs Wasser gucken, schwimmen. Den zweiten Krimi hatte ich fast durch. Sogar das Smartphone hatte ich heute im Auto gelassen. Echte Entspannung.

Der Mann hatte sich erhoben und rannte ins Wasser. Ich blickte auf den düsteren See und beobachtete, wie er in Unruhe versetzt wurde, als der Fremde mit kräftigen ruhigen Zügen Richtung Seemitte zu schwimmen begann und die schwarze Oberfläche teilte.

Das Donnergrollen umkreiste uns.

Kleine Wellen bewegten sich auf mich zu.

Ich konnte meinen Blick nicht abwenden, als lüden die Wellen mich ein. Ein sanfter Schwindel erfasste mich.

Sollte ich auch noch einmal ins Wasser gehen, bevor ich ging? Der Mann schwamm immer weiter hinaus. Ist es nicht gefährlich, bei Gewitter zu baden? Wie weit entfernt war das Gewitter eigentlich? Über den Bäumen hinter dem See flackerten schon Blitze. Ich zählte die Sekunden, während der Mann jetzt endlich in einem großen Bogen wendete, zurück und auf mich zu schwamm.

Er senkte den Blick, als er an mir vorbeiging. Von einer Sekunde auf die andere begann der Gewitterregen. Wir rafften unsere Sachen zusammen und rannten Richtung Parkplatz. Außer unseren standen zwei andere Autos dort, unsere nebeneinander, wir wechselten kein Wort, als wir einstiegen und losfuhren, aber jetzt lächelte er mich an.

Ein gutaussehender Mann. Dunkelhaarig, muskulös, sehr jung. Wie aus einem Männer-Bilderbuch. Zu jung. Und sicher würde ich ihn nie wiedersehen. Sein Lächeln im Regen tauchte in dieser Nacht in meinen Einschlafgedanken auf.

Als ich Andy nach diesem Tag am See anrief, hatte ich keine Angst vor seinem »Nein, ich habe keine Zeit«. Schon vor der Beziehungspause war es so, dass meistens ich angerufen hatte, auch auf meine SMS nach den Treffen hatte er selten geantwortet.

Aber er hatte Zeit. Er würde sich freuen, mich zu sehen! So nutzte ich meine weiteren drei Urlaubstage für eine Reise nach Berlin.

Andy und ich haben uns seitdem etwa alle sechs Wochen getroffen. Fast immer in Berlin. Es war jedes Mal so, dass ich mich auf der Rückfahrt in Sehnsucht auflöste und auf der Hinfahrt in Vorlust zerfloss. Nebenher reflektierte ich und durchdachte Diskussionen mit kritischen Freundinnen über dieses Verhältnis, ein Verhältnis, in dem Andy bestimmte, wann wir uns sahen. Ich rief an, und er sagte, ob er Zeit und Lust hatte. Wenn er mich sehen wollte, brach ich auf. Die Freundinnen mokierten sich über meine »Unterwerfung«.

2 An der Bar

(30.04.2014 und 2010/2011)

Ich hatte mir um den ersten Mai herum wieder einmal einige Tage freinehmen können und dachte mir: Wenn Andy keine Zeit hat, fahre ich an den See. Auch wenn das Wasser noch zu kalt zum Schwimmen sein würde, dort relaxte ich immer gut. Einfach hinfahren, spazieren gehen, in der warmen Frühlingssonne am See sitzen, lesen, nichts tun, runterkommen, raus aus dem Büro. Und abends wäre ich zuhause, könnte mit Karin plaudern und fernsehen oder weiter Krimis lesen, falls sie zu müde war. Würde das Wetter umkippen, bliebe ich nur zuhause. Urlaub light, stressfrei. Ich rief Andy an. Er hatte Zeit. Ich packte meine übliche Minireisetasche für Berlin und brach gegen Mittag auf.

Als ich fuhr, war die Erregung der Vorfreude gedämpft. Hatte ich, ohne es mir einzugestehen, statt der langen Fahrt lieber zuhause ausruhen wollen? Wie angeregt war ich sonst immer zu ihm gefahren! Von Anfang an verflüssigt in Erwartung seiner Begrüßungsküsse. Ich rief mir die Lust der früheren Fahrten nach Berlin in Erinnerung. Ließ unsere Geschichte in mir ablaufen, die Musik auf laut gestellt, Fenster geöffnet, im Fahrtwind auf der Autobahn. Bis zum ersten Stau.

Als mir Andreas das erste Mal ins Auge fiel, hatte ich mich mit Bettina getroffen, beim Mexikaner bei mir um die Ecke. Vor uns ein Cocktail, erzählte sie von ihrem neuen Job als Kulturmanagerin in einer Eventagentur. Mehr erzählte sie von ihren Problemen mit Thomas. Frauen können stundenlang über etwas reden, was von ihnen begehrte Männer minutenlang gemacht oder nicht gemacht haben. Eigentlich langweilte mich ihr Gerede, aber ich hörte ihr zu, tröstete sie. Wie Thomas an ihr herumnörgelte, sich über banale Sachen ausließ und darüber aufregte, wie sie aß, dass sie ungeschickt war, Rotweingläser umschmiss, peinlich sei ihm das. Darüber, dass er alle Arbeiten in die Hand nehmen müsse, weil sie ja nichts zuwege bringe.

An der Bar saß ein Mann, Andreas, alleine trank er ein Bier. Ab und zu wechselten wir Blicke über Bettinas Schulter hinweg. Ich hörte ihr nach einer Weile kaum mehr zu. Sie bemerkte meine Abwesenheit, drehte sich um und begann zu lästern. »Findest Du den Typen scharf? Der ist doch schon ziemlich alt«, sagte sie. Seit diesem Abend verabredete ich mich oft mit Freundinnen in der Bar. Manchmal ging ich sogar alleine hin, obwohl ich es hasste, alleine auszugehen. Andreas stand fast immer dort, manchmal im Gespräch mit anderen, trank sein Bier, ging wieder. Er erschien mir wie ein Pantomime. Es war, als sprächen wir miteinander, wenn wir Blicke wechselten. Geschminkt würde er einen guten Clown abgeben. Ich nahm mir vor, ihn das nächste Mal endlich anzusprechen, etwas wie »wohnst du hier in der Gegend?« zu fragen. Doch dann tauchte er wochenlang nicht wieder auf. Ich fantasierte inzwischen von ihm. Dachte darüber nach, dass er vielleicht wirklich Schauspieler wäre und nur auf Gastspiel eine Weile lang in der Stadt gewesen war und inzwischen abgereist, ich ärgerte mich, ihn nicht angesprochen zu haben, fürchtete, ihn nie wiederzusehen.

Kurz darauf machte ich meine Abschlussprüfungen an der Berufsakademie und hatte wochenlang keine Zeit mehr, abends auszugehen. Endlich war die Prüfungsphase vorüber. Ich wurde von meinem Ausbildungsbetrieb übernommen, in der ersten Zeit war die Arbeit nicht allzu stressig. So traf ich mich wieder öfter mit Bettina und anderen Freundinnen. Bettina war inzwischen schwanger. »Ich freue mich sehr auf das Kind«, sagte sie.

»Ist denn mit Thomas wieder alles ok?«

»Na ja, eher nicht. Aber er bemüht sich.«

Thomas hatte andere Vorstellungen von Ordnung als sie, andere Essensrhythmen, er war Frühaufsteher, sie schlief lange und war abends fit. Seit sie zusammenwohnten, hatte sich das zu einem enormen Problem ausgewachsen. Auch, wie ungeduldig er sein konnte, fiel ihr erst in der Zeit auf. Wollten sie gemeinsam ausgehen, musste immer alles nach seinem Plan laufen, lief etwas anders, als er es sich ausgemalt hatte, explodierte er. Und wann läuft schon etwas genauso ab, wie man es sich vorher vorstellt. Schlug ausnahmsweise sie einmal etwas vor, einen Film, den sie gerne sehen würde, einen Club zum Ausgehen, hieß es, »immer muss ich machen, was du willst.« Sie redeten nicht darüber. Bettina heulte, Thomas explodierte. In ihrer Schwangerschaft gingen sie seltener aus und Bettina heulte noch mehr als vorher. Das ging Thomas auf die Nerven. Als ich vorsichtig andeutete, dass doch niemand gezwungen werde, mit einem Partner zusammenzubleiben, wenn sich herausstelle, es gehe nicht – »Kind kannst du auch alleine bewältigen!«, entgegnete sie entschieden: »Aber ich liebe ihn doch!«.

Etwa zwei Wochen später – Bettina erzählte gerade freudestrahlend davon, dass ihr nicht mehr übel sei und Thomas inzwischen fürsorglicher geworden und sich sogar mit Meckern zurückhalte – tauchte Andreas wieder auf. Als er hereinkam, sahen wir uns an. Hitze durchflutete mich, vermutlich wurde ich glühend rot. Aber ich schaffte es auch an diesem Abend nicht, ihn anzusprechen. Er saß an der Bar, ich starrte auf seinen Rücken, Bettina lachte mich aus. »Soll ich den für dich herholen?«

»Nee, bloß nicht, ist doch nichts, lass mich doch einfach mal einen gutaussehenden Typen anstarren!«

»Dass du den gutaussehend findest!? Kann ich nicht nachvollziehen. Rotblonde Haare. Eklig. Und der ist doch viel zu alt! Hast du den nicht schon vor ein paar Monaten angestiert?«

Am darauffolgenden Tag kam er wieder. Diesmal war ich mit Karin unterwegs, meiner Mitbewohnerin. Ihr hatte ich in der Zeit, in der Andreas nicht aufgetaucht war und ich mich anfangs kaum auf meine Prüfungsvorbereitungen hatte konzentrieren können, davon berichtet und auf ihr Nachfragen zugegeben, dass ich verliebt war – in einen Typen, mit dem ich bisher kein Wort gewechselt hatte. Sie hatte ihn noch nicht zu Gesicht bekommen. Ich brachte es nicht fertig, ihr zu sagen, dass er jetzt, an diesem Abend, dort stand. Und natürlich schaffte ich es wieder nicht, ihn anzusprechen. Doch als er ging, kam er zu unserem Tisch, sagte kurz »Hi« und drückte mir eine Karte in die Hand. Eine Zeichnung. Zu erkennen war eindeutig er selbst, zu Füßen der beiden Nymphen am großen Brunnen im Rosensteinpark. Daneben eine Uhr mit Datums- und Zeitanzeige. Wie romantisch! Wie aufregend! Ein kleines Kunstwerk. Karin fand das ebenso aufregend und beschwerte sich darüber, dass ich ihr nicht verraten hatte, dass der, in den ich so offensichtlich verliebt war, heute den ganzen Abend hier an der Bar gestanden hat.

3 Berührt vom Wind

(26.06.2011 bis Winter 2012)

Am notierten Tag im Juni zur angegebenen Uhrzeit ging ich in den Park. Es war endlich einmal heiß geworden, ich trug nichts als das türkisfarbene Sommerkleid, wie oft, wenn es heiß und schwül war. Ich fühlte mich luftiger, weniger beengt, berührt vom Wind. Und wirklich saß er dort. Als ich mich neben ihn setzte, war es mir peinlich, dass ich wie üblich nur das Kleid trug. Was, wenn es passierte, und er bemerkte, dass ich nichts darunter anhatte? Würde er denken, ich wäre ein Flittchen, die es gleich mit jedem treibt und sich so anzieht, dass das ganz einfach möglich ist? Doch meine Lippen unter dem Kleid erhofften schon an diesem ersten Sommerabend seine Berührung. Er stellte sich vor »Andreas, aber alle nennen mich Andy.«

Wir gingen spazieren und begannen zu reden. Zwischen den großen Bäumen erzählten wir uns, was wir arbeiteten, meine Bewerbungen, unsere Vorlieben, Spiele, Filme, Sport. Ein Kommunikationsfluss setzte ein. Wir redeten über Politik und über die Nymphen, bei denen wir uns noch oft treffen sollten, die Originale davon seien in Tübingen, diese hier eine Kopie, erklärte er mir. Und dass der schreckliche S21-Bahnhof einen neuen Tunnel am Rosensteinpark erfordere, aber das wisse ich sicher alles. Im Herbst sollte es eine Volksabstimmung geben, auch darüber redeten wir. Beide wagten wir keine Prognosen.

Den Sommer über trafen wir uns immer wieder zu Spaziergängen, saßen nebeneinander auf Parkbänken, redeten, unsere Schenkel berührten sich. Einmal dachte ich, er würde mich küssen. Er sah mich an, seine Lippen zuckten, ich drehte mich zu ihm hin und setzte an, ihn zu umarmen. Das Kleid, diesmal war es mein altes helles Sommerkleid aus Leinen, gab ein leises Geräusch von sich, als risse es irgendwo – es riss tatsächlich, aber das bemerkte ich erst später. In der Achsel war die Naht am Ärmel aufgerissen. Doch dann wendete er sich ab. Als wir uns vielleicht zum zehnten Mal getroffen hatten, lud ich ihn zu mir ein. Ich hielt es nicht mehr aus, wollte küssen, wollte seine Haut spüren, wollte Sex. Erotisches Knistern hatte ich nun lange genug empfunden, es hatte mich in Flammen gesetzt, ich konnte nicht mehr warten. Wir hatten inzwischen SMS und Mails ausgetauscht, und in den Texten tauchte ein unbestimmtes »Es« auf, »unser Es«, wie Andy es nannte. Das Fluidum zwischen uns. »Es« konnte Sex bedeuten, immer war »es« doppeldeutig. Das, was vielleicht irgendwann einmal zwischen uns stattfinden würde. Seine Wohnung, hatte er erzählt, sei nicht vorzeigbar. Mein Zimmer war mir peinlich. Bett, kleiner Arbeitstisch, Regalbretter an der Wand, mehr passte nicht hinein, Blick in einen kleinen schmuddeligen Hinterhof. Einen großen Kleiderschrank hatten wir in den Flur gequetscht und verwendeten ihn gemeinsam. Weil ich mir vorgenommen hatte, Andy heute einzuladen, hatte ich aufgeräumt. Sonst sah mein Zimmer aus wie eine Wäschekammer gemischt mit Krempel, Büchern, Zeitungen. Karin hatte das größere Zimmer; in ihrem Zimmer hielten wir uns auf, um zu chillen, vor der Glotze zu hängen oder nutzten es für Partys, also war es gerecht, dass wir beide die gleiche Miete zahlten. Mit Blick auf die Fenster jenseits des Hofes und bei der wie immer donnernden Musik der WG schräg gegenüber schliefen wir das erste Mal miteinander. Nach einer Weile drehte er sich auf den Rücken und sagte: »Setz dich auf mich!«, und ich setzte mich auf ihn, seinen kompakten Schwanz in mir, die Eichel dick, der Schaft kurz und kräftig, aufregend! Ich hatte das irrsinnige Gefühl, er wäre allein für mein Inneres gebaut! Er bewegte seine Hüften und sein Schwanz tanzte in mir und ich auf ihm, bis mir schwarz vor Augen wurde, ich empfand, es würde nie aufhören, ich würde mich eine unendliche Zeit lang auf ihm hin und her drehen. Ich bin das erste Mal direkt beim Sex gekommen, während er auf mich einredete: »Besorg’s dir, hol’s dir, hol’s dir noch mal, dazu bin ich da, nimm’s dir, so oft du kannst!«, und ich kam noch mal und noch mal, bis ich glücklich juchzend auf ihn fiel und eine weitere Ewigkeit lang so hätte liegenbleiben können, doch dann flüsterte er mir ins Ohr, »jetzt komme ich«, und ich flüsterte zurück, »ich will dich!«, er zog sich langsam aus mir hinaus, drehte mich, hob mir den Arsch an, schob sich langsam von hinten in mich und ich spürte ihn in mir, wie er sich aufbäumte, zuckte, die Bewegung des Gummis, als es sich füllte. Der Duft, als er es abzog.

Bis dahin war ich nie direkt beim Sex gekommen. Das erotischste Erlebnis, das ich von vorher erinnere, war mein erster Zungenkuss. Mit einem Jungen im Jugendzentrum, wir tanzten und dann küssten wir uns, während »Killing me softly« lief. Im Rhythmus des Liedes streichelte mich seine Zunge. Von heute her gesehen würde ich sagen, ich hatte einen Orgasmus dabei. Mit dem Jungen kam es weiter zu nichts. Ich war vielleicht fünfzehn. Das Lied hatte ich seit Ewigkeiten nicht mehr gehört. Es kam mir bei meinem ersten Orgasmus mit Andy ins Ohr, trotz des Krachs aus der WG von gegenüber.

Ich zerfloss, ich begann in diesem Moment zu lieben. Das glaubte ich jedenfalls. Ein- bis zweimal in der Woche vögelten wir ab diesem Tag, immer in meinem WG-Zimmer. Karin beschwerte sich eines Morgens mit Augenzwinkern über mein Geschrei. Sie hatte seit Langem einen Freund, doch sie trafen sich meistens bei ihm. Jedes Detail mit Andreas hatte ich ihr berichten müssen.

Einige Wochen vergingen, Andreas wollte mich noch immer nicht zu sich einladen, das hatte sie misstrauisch gemacht. »Der ist doch schon so alt«, mutmaßte sie, »vielleicht ist der verheiratet und du darfst ihn deswegen nicht besuchen. Typisch! Du wirst doch nicht die lächerliche Rolle der Geliebten übernehmen?« Karin argumentierte gerne feministisch. Störrisch hatte ich entgegnet: »Das ist mir egal. Du weißt doch, ich will mich nicht binden, ein Verhältnis wär ideal, keine Verpflichtungen, kein Alltagsgezanke, nur das Schöne. Und so alt ist er nun auch wieder nicht!« Andreas war siebenunddreißig, also gut zehn Jahre älter als ich. Kurz nach diesem Gespräch mit Karin kam ein Brief von Andreas, ein Din-A4-Blatt mit einer Bildserie, der Text stand nur im ersten und letzten Bild. Im ersten: »mich, Andreas …« dann folgten Zeichnungen von fliegenden Schweinen, Menschen, die auf Wasser laufen, vor Feuer fliehen, über Hochhäuser springen, doppelte Gesichter haben, von nackten Frauen, Eistüten, die an Bäumen wachsen, Gewichthebern, und im leeren Schlussbild stand der Rest des Textes »… lässt alles kalt, außer dir!« Ich zeigte den Brief Karin. Sie freute sich mit mir. »Das ist aber schön. So etwas im E-Mail-SMS-Zeitalter!« Karin kritisierte Andy nach diesem Brief weniger.

Doch manchmal dachte auch ich darüber nach, was Andreas in den Wochen machte, in denen er angeblich beruflich unterwegs war. Und warum ich seine Wohnung nicht sehen sollte. Andreas arbeitete als Architekt in einem großen Büro. Er war immer wieder mit Projekten auswärts beschäftigt.

Nach einem viertel Jahr hatte ich einen neuen Job gefunden, bei einer Zeitarbeitsfirma für Leute mit meinem Abschluss. Sie vermittelten Arbeitskräfte zu großen Firmen. Darauf hatte ich mehr Lust als in meinem kleinen Familienwerkzeugmacherbetrieb weiterhin die Assistentinnenmamsell zu spielen. Sie hatten mir von Woche zu Woche mehr zugeschoben. Nach dem Wechsel kam ich tatsächlich schnell für ein Projekt zu einem großen Automobilhersteller, die Arbeit machte mir Spaß. Organisatorisches im Bereich der LKW-Getriebe-Produktion. Das Team war sympathisch. Die meisten keine festangestellten Arbeitskräfte des Autoherstellers – also nicht von den eingefahrenen hierarchischen Strukturen geschädigt. Andreas hatte sich in dieser Zeit in die Berliner Filiale seines Büros versetzen lassen. »Ich muss mal raus aus Stuttgart. Man kann doch nicht ewig an dem Ort bleiben, in dem man groß geworden ist. Die Auswärtsprojekte sind ja nur Ausflüge. Berlin ist belebend. In Berlin ist die Kunst!« Dass ich Andreas nicht mehr so oft treffen konnte wie in Stuttgart, störte mich nicht. Ich war mit meinem neuen Job so beschäftigt, dass die Zeit rasend schnell verging und ich mich nicht mit Warten quälte. Doch die Sehnsucht packte mich in den Nächten. Vor dem Einschlafen brachte ich mich mit Gedanken an Andy zum Orgasmus. Was er in diesen Fantasien mit mir anstellte, haben wir nie in der Realität gemacht. Die Tage, bevor wir uns jeweils wiedersahen, verbot ich es mir, hob meine Lust auf, als hätte ich nur ein begrenztes Kontingent an orgasmischer Lust.

Einmal, im Dezember 2012, hatten wir uns länger als sechs Wochen nicht gesehen. Ich zerfloss vor Gier. So weit und nass war ich von dieser lange angestauten Sehnsucht, dass es ihn abzuschrecken schien. Nach der ersten Berührung meiner Möse, als er ins überflutende Nass fasste, zuckte er kurz zurück. Er versuchte dieses Zurückzucken ungeschehen zu machen, es gelang nicht. Ich tat so, als hätte ich es nicht bemerkt, aber als er mich wie immer vor dem Sex zu einem ersten schnellen Orgasmus streicheln wollte, konnte ich nicht loslassen, die Nässe war versiegt. Erst als ich auf ihm saß und er mich aus schwarzen Augen fordernd ansah und seinen Schwanz in mir bewegte, hat mich sein Blick befreit, der Fluss der Orgasmen setzte sich unaufhaltsam in Bewegung. 

An diesem Abend fragte er mich, ob ich mit ihm im nächsten Frühjahr auf Urlaub fahren wolle. Selbstverständlich antwortete ich mit »Ja«. Mein Herz raste, ich malte mir aus, dass wir damit in eine weitere Phase unserer Beziehung eintreten würden. Wir waren nun anderthalb Jahre zusammen. Er schwärmte mir von den Reisezielen vor. »Inselhüpfen« nannte sich die Tour, die er buchen wollte, eine Woche auf je einer der kleinen kanarischen Inseln, La Gomera, La Palma und El Hierro. Die Inseln seien jede für sich wie ein eigener Kontinent, La Gomera schluchtenzerfurcht mit einem riesigen Lorbeerurwald, La Palma mit vielen verschiedenen Landschaften und zwei schönen kleinen Städten und El Hierro verwunschen und menschenleer. Von El Hierro erzählte er mehr. Er war dort schon einmal gewesen. »Stell dir vor, eine Insel, die dabei ist, ihren gesamten Energieverbrauch auf erneuerbare Energien umzustellen. In ein, zwei Jahren soll es so weit sein. Und auf der ganzen Insel gibt es freien Internetzugang für alle!« Er erzählte, dass er einen auf El Hierro geborenen Künstler kenne, der in Berlin lebe und gegenüber seines Elternhauses einen ehemaligen Stall zum Ferienhaus umgebaut habe. Freunde lud er dorthin ein. So war Andy auf die Insel gekommen und Alexis hat ihm viel gezeigt. Es sei im März wärmer gewesen, als er erwartet habe. Sogar Schwimmen sei möglich gewesen, allerdings gebe es in El Hierro keinen Strand, nur Schwimmmöglichkeiten in halben Höhlen. Und es gebe viel Wind, den Passatwind. El Alisio. Andy erzählte abenteuerliche Geschichten. Drei Wochen! Drei Inseln. Zusammen mit Andy! Ich barst vor Glücksgefühl.

4 Fahren 

(30.04.2014)

Endlich war ich in Fahrt gekommen, die Autobahn leer, die Fenster geöffnet, der warme Wind. Meine Vorfreude wuchs, ich stellte ihn mir vor, Jeans wie immer, der Adamsapfel hüpft beim Sprechen, das rötlich blonde Haar schon etwas wirr, die Augen funkeln, ich sah ihn vor mir, wie er vom Tisch aufsteht, nachdem wir wie immer lange geredet haben, gelacht, geraucht, wie er mich ansieht und fragt, »hast du Lust auf mich? Komm! Komm her«, wie ich aufstehe, in seine Arme falle, seinen Kuss erwidere, mich an ihm hinunterreibe, die Hitze mir durch den Leib fährt, zwischen die Lippen, in die Mösenmuskeln, die ich jetzt beim Fahren spielen ließ, die Lippen zusammenquetschte, ich stellte mir vor, wie er seine Jeans öffnet, seinen samtigen Schwanz herausspringen lässt und fragt »möchtest du jetzt vögeln«, ich nehme seinen Schwanz, möchte ihn essen, meine Lippen warm um ihn geschmiegt bewege ich ihn langsam hinein und hinaus, bis er härter wird, in mich stößt, sich vergisst, immer härter zustößt und sich im letzten Moment entzieht. Ich schmecke die ersten Tropfen, schmeckte sie wirklich, jetzt beim Autofahren.

Eines Tages war er angekommen, hatte mir das Ergebnis eines Aidstestes gezeigt und gesagt: »Ich lasse mich regelmäßig testen.« Ab diesem Abend verzichteten wir auf die Kondome. Dass ich mich auch testen ließ, erwartete er nicht. »Keine Gefahr«, sagte er, als ich es ansprach, »bei dem, was du mir aus deinem bisherigen Liebesleben erzählt hast!« Was hatte er mir eigentlich aus seinem bisherigen Leben erzählt?, fragte ich mich, bevor wir ins Bett gegangen waren und das erste Mal ohne Gummi vögelten. Kein Gummigeruch. Kein Kunstfruchtduft. Haut und Flüssigkeiten. Die Gummis hatten mich beim Sex nicht gestört. Danach zogen wir sie ab und schmissen sie aus dem Bett. Am Morgen sammelte einer von uns die gefüllten schon angetrockneten Dinger auf und entsorgte sie im Mülleimer in der Küche.

Ein Stau brachte meinen Erinnerungsrausch zum Stillstand. Ein Unfall; die Verkehrsmeldungen hörte ich erst, als ich schon im Stau stand, die nächste Abfahrt noch zwei Kilometer entfernt. So lange bewegte ich mich schleichend im Stop and Go und wünschte mir das Glücksgefühl von eben zurück. Hoffentlich komme ich nicht so spät an! Wer weiß, wie lange er Zeit haben wird, vielleicht das ganze lange Wochenende, aber vielleicht auch nur diese eine Nacht. Davon möchte ich nichts versäumen.

Eine Abfahrt kam, ich verließ die Autobahn.

Verließ auch die überfüllte Umleitungsstrecke und hielt an einer Allee. Nahm die Karte zur Hand, die ich trotz Navi im Auto deponiert hatte, und suchte eine teilweise grün markierte Strecke aus, die sich nicht zu weit von der Umleitungsstrecke entfernte. Bald war ich allein auf einer kleinen Landstraße, die vielen, die ebenso abgefahren waren, würden sich auf der vermutlich überfüllten Umleitung dahinquälen.

Ich fuhr einsame Alleen entlang und durch Dörfer, gab, wenn es kompliziert zu werden drohte, das nächste größere Dorf ins Navi ein und bewunderte die vorbeischwebende Landschaft. Einmal galoppierten zwei Reiter oder Reiterinnen mit Helm über die blühenden Wiesen. Beim Anblick dieser Bewegung kehrte das Glück der Vorlust zurück, fast wurde es so stark, dass ich gekommen wäre, doch das verbot ich mir wie immer. Die Intensität, wenn er mich das erste Mal berührte, war nach diesen Fahrten enorm. Abheben ist das passende Wort dafür, ich hob schon jetzt ab, als ich langsam durch die Kurven raste. Kann man langsam rasen? Ja, innerlich raste ich, doch das Auto ließ ich gemächlich durch die Kurven schwingen, wie in einem langsamen Tanz. Das alberne Gedicht kam mir in den Sinn, das Andy mir, als wir einmal gemeinsam an den Bodensee gefahren waren, vorgetragen hatte: Dunkel war’s, der Mond schien helle, / Schneebedeckt die grüne Flur, / Als ein Auto blitzeschnelle, / Langsam um die Ecke fuhr. // Drinnen saßen stehend Leute, / Schweigend ins Gespräch vertieft, / Als ein tot geschossner Hase / Auf der Sandbank Schlittschuh lief … Ich bewunderte ihn in diesen drei Tagen dafür, wie viele unterhaltsame Gedichte und Songs er auswendig konnte, einige aus der Generation seiner Eltern; er fand sie nostalgisch.

Der Himmel war leuchtend blau.

Dann begann es in der Ferne zu blitzen, gelbe  Wolken rasten ins Blau, Wind kam auf, die Bäume verbogen sich grotesk, die gelben Wolken wuchsen zu grünschwarz gefärbten Wolkengebirgen, ich fuhr durch sanfte Kurven, während der Wind sich zu einem Sturm entwickelte, ich stellte die Musik auf laut. Und fuhr hinein ins Dunkel. Ein Wolkenbruch. Starkregen. Und das im April! Ich sollte stehen bleiben! Auf einmal fürchtete ich mich vor den Bäumen, deren Bewegungen ich eben noch fasziniert wahrgenommen hatte. Hörte man nicht oft, dass sie bei Gewitterstürmen Autos unter sich begruben.

Ich rollte vorsichtig weiter – die leicht abschüssige Straße hatte sich bereits in einen Fluss verwandelt – und hielt zwischen zwei Alleenbäumen. Die Bäume neigten sich im Lichtschein der Scheinwerfer gespenstisch hin und her. Wahrscheinlich hätte, wären sie wirklich gefallen, der Abstand nichts genutzt, ich hätte genauso gut direkt unter einem der Bäume stehen bleiben können. Ich wartete und hoffte, dass das Gewitter bald weiterzöge. Wenn ich jetzt von einem Baum erschlagen würde, würde Andy trauern? Und wer sonst? Meine Mutter. Joanna. Karin? Patrick? Musste ich jetzt an Patrick denken? Wie hatte ich mich auf den einlassen können, als Andy den Kontakt abgebrochen hatte? Ich war selbst schuld, dass sich Patrick etwas darauf eingebildet hatte. Dass er hoffte, ich würde mich irgendwann in ihn verlieben. Ich hatte ihm erzählt, dass ich an Andy hing. Und hatte ihm auch gesagt, dass ich, wenn Andy zurückkäme, mit Sicherheit wieder mit ihm zusammensein würde. Anfangs hatte Patrick sich als »Freund« anerboten. Behauptet, er habe schlechte Erfahrungen mit Frauen, er würde sich nicht mehr verlieben. Und mit einer schlafen schon gar nicht. Verrückt! Als wir dann natürlich doch miteinander geschlafen hatten, begann er mir zu schmeicheln, oft hörte ich: »Du bist eine Frau, die man nicht nur alle paar Wochen verwöhnen darf. Du brauchst jemanden, der jeden Tag für dich da ist! Ich verstehe Andy nicht. Jemand, der dich nur alle paar Wochen sehen möchte, der kann sich nicht wirklich für dich interessieren!« Ein Blitz, und fast sofort der Donner. Das Auto schien zu beben. Ich dachte nichts mehr. Endlich entfernte sich das Gewitter, der Regen ließ nach. Ich setzte die Fahrt fort.

Als der Regen endete, die Wolken sich öffneten und der erste blaue Himmelsfleck erschien, fiel mir das Gewitter am See ein. Ende August vergangenen Jahres, als ich das letzte Mal dort gewesen war. Meine gierigen Nippel bohrten sich durch den dünnen Stoff des T-Shirts, es war mit albernen Spiralen bedruckt. Ich begann laut zu singen. Die Sonne kam heraus, die Landschaft dampfte. Sicher werde ich heute Abend eine vom Singen heisere Stimme haben, und Andy wird sagen: »du mit deiner sexy Stimme. Sing mir was vor!« Und ich werde antworten: »Nein, ich kann doch nicht singen!« Sobald andere zuhören, bleibt meine Singstimme im Hals stecken. Andy, Patrick, ein Unbekannter. Ich berauschte mich, ließ die Vorstellung zu, dass mich alle drei ficken, nein, dass mich Patrick und der Unbekannte ficken und Andy schaut zu, bis er sich einmischt, bis er befiehlt, dass ich Patrick küsse und ihn dann von mir schiebt, bis er meinen Arsch hochreißt und mich von hinten derb stößt, während der Unbekannte vor mir steht – wieso macht mich das so scharf, ein Mann, der vor mir steht, seine Jeans öffnet und sein Geschlecht herausspringen lässt? – der Unbekannte steht vor mir, lässt seinen riesigen Schwanz herausspringen und stößt ihn mir in den Mund, während Andy mich in den Arsch fickt und Patrick mich sanft streichelt und herunterzieht und zu küssen beginnt. Er kann aufregend küssen. Solche Küsse kannte ich vorher nicht, sie erhitzen das Innere, es beginnt in der Mundhöhle, zieht durch den Körper, auch Andy kann so nicht küssen. Der Gedanke an Patricks Küsse versetzt mir einen weiteren Kick, bin ich pervers? So ungut, wie die Geschichte mit Patrick zu Ende gegangen war! Ich riss mich aus der Szene heraus, nass, heiser, sang weiter, die Landschaft leuchtete, ich hatte nicht aufgepasst, war abgekommen von der Strecke, musste halten, musste Berlin ins Navi eingeben, um zur Autobahn zurückzufinden.

Wahrscheinlich gehört es zur sexuellen Vorlust und Nachlust, sich solche Fantasien zu gestatten. Der Körper ist in Erwartung oder im Nachbeben, strahlt sexuelle Vorfreude oder Erfüllung aus, und die Fantasie spielt verrückt. Oft ist es mir passiert, dass mich in den Tagen, bevor ich zu Andy fuhr, jemand anfunkelte oder ansprach, auch, dass ich mich auf einen Flirt einließ. Ich genieße die Funken des Begehrens in zufälligen Blickkontakten auf der Straße, bei der Arbeit, im Bus, als strahlte aus mir, dass ich bald Lust empfangen würde, als machte mich diese erwartete Lust offen für alle anderen, als spränge sie auf die anderen über. Einmal bin ich – bescheuert! – an einem solchen Abend mit dem Kellner einer Bar – er hatte mich, nachdem die anderen Gäste gegangen waren, auf ein Glas eingeladen, ich hatte vorher schon zwei oder drei Cocktails – wirklich im Bett, bzw. auf dem ungeputzten Fußboden der Kneipe gelandet, wie peinlich! Ich hätte am nächsten Morgen vor Scham im Boden versinken können. Einen Tag später bin ich nach Berlin gefahren. Der Lust mit Andy hatte es keinen Abbruch getan. Erzählt hatte ich es ihm nicht – auch, als er mir nach seiner Beziehungspause einigermaßen detailliert von den Begegnungen mit seiner inzwischen verflossenen Potsdamer Freundin berichtet hatte, erzählte ich es nicht. Es war mir zu peinlich!

Endlich war ich wieder auf der Autobahn. Noch etwa hundert Kilometer lagen vor mir.

5 Lieben mit Abstand

(Dezember 2012 bis Februar 2013)

Andy hatte den dreiwöchigen Inselhüpfen-Urlaub, mit Abflug in Stuttgart am 19. Februar 2013, wirklich gebucht und mir die Reisedokumente noch vor Weihnachten geschenkt. Weihnachten verbrachte ich bei meiner Mutter, ausnahmsweise war meine Schwester auch da. Ich berichtete beiden begeistert von der geplanten Reise. Und vom neuen Job. Ich hatte Mitte Dezember das Angebot einer der Firmen, in die mich die Zeitarbeit gesteckt hatte, für eine Festanstellung angenommen und eigentlich während der Probezeit keinen längeren Urlaub nehmen wollen. Doch das war egal. Ich sollte im Januar anfangen und würde den Chefs gleich in den ersten Tagen sagen, dass dieser Urlaub schon lange gebucht sei, im Gespräch natürlich pro forma anbieten, notfalls darauf zu verzichten, wenn ich in der Zeit unabkömmlich wäre.