In ewiger Freundschaft - Nele Neuhaus - E-Book
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Nele Neuhaus

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Beschreibung

Ein tödliches Geheimnis – in Blut geschrieben Der neue Krimi von Nr.1-Bestsellerautorin Nele Neuhaus! Eine Frau wird vermisst. Im Obergeschoss ihres Hauses in Bad Soden findet die Polizei den dementen Vater, verwirrt und dehydriert. Und in der Küche Spuren eines Blutbads. Die Ermittlungen führen Pia Sander und Oliver von Bodenstein zum renommierten Frankfurter Literaturverlag Winterscheid, wo die Vermisste Programmleiterin war. Ihr wurde nach über dreißig Jahren gekündigt, woraufhin sie einen ihrer Autoren wegen Plagiats ans Messer lieferte – ein Skandal und vielleicht ein Mordmotiv? Als die Leiche der Frau gefunden wird und ein weiterer Mord geschieht, stoßen Pia und Bodenstein auf ein gut gehütetes Geheimnis. Beide Opfer kannten es. Das war ihr Todesurteil. Wer muss als nächstes sterben?  Pia und Bodenstein jagen einen Täter, der ihnen immer einen Schritt voraus zu sein scheint ...

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Seitenzahl: 774

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In ewiger Freundschaft

Nele Neuhaus, geboren in Münster / Westfalen, lebt seit ihrer Kindheit im Taunus und schreibt bereits ebenso lange. Ihr 2010 erschienener Kriminalroman Schneewittchen muss sterben brachte ihr den großen Durchbruch, heute ist sie die erfolgreichste Krimiautorin Deutschlands. Außerdem schreibt die passionierte Reiterin Pferde-Jugendbücher und Unterhaltungsliteratur. Ihre Bücher erscheinen in über 30 Ländern. Vom Polizeipräsidenten Westhessens wurde Nele Neuhaus zur Kriminalhauptkommissarin ehrenhalber ernannt.

Eine Frau wird vermisst. Im Obergeschoss ihres Hauses in Bad Soden entdeckt die Polizei den dementen Vater, verwirrt und dehydriert. Und in der Küche Spuren eines Blutbads. Die Ermittlungen führen Pia Sander und Oliver von Bodenstein zum renommierten Frankfurter Literaturverlag Winterscheid, wo die Vermisste Programmleiterin war. Ihr wurde nach über dreißig Jahren gekündigt, woraufhin sie einen ihrer Autoren wegen Plagiats ans Messer lieferte – ein Skandal und vielleicht ein Mordmotiv?Als die Leiche der Frau gefunden wird und ein weiterer Mord geschieht, stoßen Pia und Bodenstein auf ein gut gehütetes Geheimnis. Jedes der Opfer wusste davon. Es war ihr Todesurteil. Wer muss als nächstes sterben?

Nele Neuhaus

In ewiger Freundschaft

Kriminalroman

Ullstein

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© 2021 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenUmschlagmotiv: arcangel / Nic Skerten (Haus, Zaun, Gelände);iStock / Getty Images Plus / velkol (Pflastersteine);FinePic®, München (Himmel, Katze)Autorenfoto: © Felix BrüggemannE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.ISBN 978-3-8437-2637-5

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Personenregister

Prolog

Tag 1

Tag 2

Tag 3

Tag 4

Tag 5

Tag 6

Tag 7

Epilog

Danksagung

Liste der zur Recherche verwendeten Texte

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Personenregister

Widmung

Für Marionmeine wunderbare LektorinDanke für die großartige Zusammenarbeit.

Motto

Dieses Buch ist ein Roman, wenn auch wie in vielen Romanen einige seiner Charaktere Vor- und Urbilder in der Realität haben, von denen das eine oder andere biografische Detail übernommen wurde. Die Romanfiguren, ihre Eigenschaften, ihre Handlungen und die Ereignisse und Situationen, die sich dabei ergeben, sind fiktiv und frei von mir erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und von mir nicht beabsichtigt.

Personenregister

Das K11 in Hofheim:Oliver von Bodenstein, Erster Kriminalhauptkommissar, Leiter des K11Pia Sander, ehem. Kirchhoff, Kriminalhauptkommissarin, K11Dr. Nicola Engel, Kriminaldirektorin, Leiterin der RKI HofheimKai Ostermann, Kriminalhauptkommissar, K11Kathrin Fachinger, Kriminaloberkommissarin, K11Cem Altunay, Kriminalhauptkommissar, K11Tariq Omari, Kriminaloberkommissar, K11Christian Kröger, Kriminalhauptkommissar, Erkennungsdienst

Prof. Dr. Henning Kirchhoff, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin in FrankfurtDr. Frederick Lemmer, RechtsmedizinerRonnie Böhme, Sektionshelfer

Personen in alphabetischer Reihenfolge:

Greta Albrecht, Bodensteins StieftochterKaroline Albrecht, Bodensteins EhefrauWaldemar Bär, Hausmeister im Winterscheid-VerlagCosima von Bodenstein, Bodensteins Ex-FrauMarie-Louise von Bodenstein, seine SchwägerinQuentin von Bodenstein, sein BruderSophia von Bodenstein, seine jüngste TochterJulia Bremora, Lektorin von Henning Kirchhoff beim Winterscheid-VerlagAnja Dellamura, Artdirektorin beim Winterscheid-VerlagPaula Domski, Kulturjournalistin und Ehefrau von Alexander RothHellmuth Englisch, preisgekrönter SchriftstellerStefan Fink, Ehemann von Dorothea Winterscheid-Fink und Inhaber der Druckerei FinkMaria Hauschild, Literaturagentin von Henning KirchhoffJosefin Lintner, Eigentümerin der Buchhandlung House of Books im Main-Taunus-ZentrumJosef Moosbrugger, Literaturagent von Severin VeltenAlexander Roth, Programmleiter Literatur beim Winterscheid-VerlagSeverin Velten, BestsellerautorHeike Wersch, ehemalige Programmleiterin des Winterscheid-Verlages und Lektorin von Severin VeltenCarl Winterscheid, Verleger des Winterscheid-VerlagesDorothea Winterscheid-Fink, Carls Cousine und Vertriebsleiterin des Winterscheid-VerlagesHenri Winterscheid, Dorotheas Vater und ehemaliger Verleger des Winterscheid-VerlagesMargarethe Winterscheid, seine Ehefrau und Dorotheas Mutter

Prolog

Île de Noirmoutier, 18. Juli 1983

Oh, mein Gott, ich bin verliebt! Verliebt in diese zauberhafte Insel! Es ist hier wirklich genau so, wie John es mir beschrieben hat – einfach magisch! Eine karge Schönheit, die sich erst auf den zweiten Blick erschließt, dieses flache Stück Land unter einem endlosen Himmel, der seit sechs Tagen wolkenlos blau ist. Allein dieses Licht ist unbeschreiblich. Nicht umsonst wird Noirmoutier auch »l’Île de Lumière« genannt, die Insel des Lichts. Ich liebe die weiß getünchten Häuser mit den hellblauen Fensterläden und den orangefarbenen Dächern, die so hübsche Namen haben wie »Toi et moi«, »Stella Maris«, »Nid d’amour« oder »Luciole«, die schmalen Gassen mit den blühenden Malven, den betörenden Duft der Pinien in der Mittagshitze und – das Meer! Es mag seltsam klingen, aber diese Insel berührt etwas tief in meinem Innern, fast so, als sei ich in einem anderen Leben schon einmal hier gewesen, und ich wünschte, ich könnte für immer bleiben. Ich liebe die Salzgärten mit den glitzernden Salzwasserbecken, in denen das Fleur de Sel gewonnen wird, das man an jeder Ecke kaufen kann.

Das Haus ist der pure Wahnsinn! Zwölf Zimmer, drei Terrassen, und aus dem oberen Stockwerk hat man einen Blick über die Dünen und den weißen Sandstrand aufs Meer! Es gibt auf dem Grundstück noch ein Häuschen, dort wohnen die Haushälterin Finette und ihr Mann, die sich hier um alles kümmern. Es ist ein absoluter Traum, und diese privilegierte, verwöhnte Bande weiß das alles überhaupt nicht zu schätzen! Für die ist das normal. Wenn ich nur höre, wo sie schon überall im Urlaub waren: Bahamas, Sylt, Kalifornien, Mallorca, Portugal! Ich bin das erste Mal überhaupt in meinem Leben am Meer! Aber das sag ich keinem. Müssen die nicht wissen.

Heute haben Götz, Stefan, Mia und ich eine Tour mit dem Méhari zum einzigen Wald der Insel gemacht, dem Bois de la Chaise. Dort gibt es einen Strand, an dem eine Reihe weißer Umkleidehäuschen aus dem 19. Jahrhundert steht, und ich habe mir vorgestellt, wie sich dort früher die feinen Damen mit Sonnenhüten und Reifröcken umgezogen haben. Es gibt wunderschöne Villen aus der Belle Époque, die versteckt an kleinen felsigen Buchten stehen, und auf einem langen Holzsteg standen Angler und hielten geduldig ihre Angeln ins Meer. Anschließend waren wir noch in der Markthalle im Hauptort Noirmoutier-en-l’Île, und spätestens da wußte ich, daß ich wirklich im Paradies bin. Aber wie in jedem Paradies fehlen auch hier die Schlangen nicht. Hätte ich geahnt, wie gräßlich und egoistisch sie sich alle benehmen, wäre ich erst später mit John hergefahren. Das Versprechen, das ich Götz gegeben habe, war leichtfertig, das merke ich von Tag zu Tag mehr. Auch wenn Mia ihre Rolle gut spielt, so müssen die anderen das Theater doch durchschauen! Ich kapiere nicht, warum er Heike, Alex, Josi und Mia überhaupt eingeladen hat. Vielleicht ist es ja auch wegen seiner Eltern. Sie sind wohl schon den vierten oder fünften Sommer hier, es ist mittlerweile eine Art Tradition. Möglicherweise liebt Götz aber auch die Macht, die er über sie hat, und genießt es insgeheim, sie herumzukommandieren und zu schikanieren, auch, wenn er das abstreitet. Es ist unerträglich, wie sie ihn umschwärmen und sich gegenseitig übertrumpfen wollen, nur um gut vor ihm dazustehen. Für ihn ist das wohl alles nur ein Spiel, aber ich halte es für gefährlich, weil er nicht sehen will, wie ernst sie das nehmen, worüber er sich lustig macht. Das ist eine echt schräge Clique. Ich habe immer mehr den Eindruck, daß sie krampfhaft an etwas festhalten, was es nicht mehr gibt. Noch drei Tage, bis John da ist!!!! Ich zähle die Stunden …

P. S.: Heute gibt’s frische Austern, die wir vom Markt mitgebracht haben. Ich wünschte, dieser Sommer ginge nie zu Ende. Trotz der blöden Schlangen.

Montag, 3. September 2018

Seit zehn Tagen, seit sie seine Karriere, ja, sein ganzes Leben zerstört hatte, antwortete sie nicht mehr auf seine Mails und ging auch nicht ans Telefon. Er hatte sich vor dem Sturm der Empörung in seiner Wohnung verkrochen, wie eine ängstliche Maus in ihrem Mauseloch, während draußen Reporter, Fernsehteams und enttäuschte Fans darauf lauerten, dass er den Kopf aus der Tür streckte, um über ihn herzufallen. Zugegeben, er hatte einen großen Fehler gemacht. Ja, er hatte betrogen. Aber sie war es gewesen, die ihn dazu gedrängt, die ihn geradezu genötigt hatte, diesen Betrug zu begehen, und er hatte ihrem Drängen nachgegeben, wider besseres Wissen, in erster Linie aus Eitelkeit und vielleicht auch, weil er das Geld brauchte. Sie hatte ihm versichert, dass es niemand bemerken würde – wer kannte schon das unbedeutende Büchlein eines längst verstorbenen chilenischen Autors? –, aber jetzt, nachdem sie ihn ohne Vorwarnung der Öffentlichkeit zum Fraß vorgeworfen hatte, ignorierte sie ihn, ihren erfolgreichsten Autor, ihr ›Geschöpf‹, als das sie ihn so gerne bezeichnet hatte. Seine Angst und sein Selbstmitleid hatten sich allmählich in Verärgerung verwandelt, dann war der Zorn gekommen und schließlich ein Hass, wie er ihn noch nie zuvor in seinem Leben empfunden hatte. Er war ruiniert. Sein guter Name beschmutzt. Und er hatte keinen blassen Schimmer, warum sie ihn verraten hatte. Letzte Nacht hatte er beschlossen, sie zur Rede zu stellen. Früher wäre er mit der S-Bahn gefahren, denn er genoss es insgeheim, wenn man ihn erkannte und er so tat, als bemerke er nicht, wie die Leute aufgeregt kichernd die Köpfe zusammensteckten und ihm Blicke zuwarfen. Auch, wenn er in Interviews Bescheidenheit heuchelte und behauptete, diese Aufmerksamkeit sei ihm unangenehm, war er geradezu süchtig danach, wenn ihn Frauen mit glänzenden Augen anhimmelten und schüchtern lächelnd um ein Selfie oder ein Autogramm baten. Allerdings war es jetzt, nachdem sein Betrug aufgeflogen war, eindeutig klüger, solche Begegnungen zu vermeiden. Die Reporter und seine Fans waren des Wartens müde geworden, und so hatte er unbehelligt das Haus verlassen und in sein Auto steigen können. Nun, eine halbe Stunde später, stand er vor dem rot lackierten schmiedeeisernen Tor, und seine Handflächen wurden feucht, als er ihren Namen auf dem verwitterten Klingelschild neben dem Briefkasten las. Ihm sank der Mut, als ihm bewusst wurde, dass das Gespräch, das er seit Tagen im Geiste wieder und wieder geführt hatte, nun kurz bevorstand. Versteckt hinter Rosen- und Rhododendronbüschen, umstanden von mehreren hässlichen Mammutbäumen, lag das Haus. Vorne, zur Straße hin, gab es eine Doppelgarage mit modernem Kunststofftor, aber das Haus selbst mochte aus den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammen. Weiße Sprossenfenster mit Fensterläden in einem ausgebleichten Rotton, ein zierlicher Balkon über dem mittleren Fenster im ersten Stock und zwei bogenförmige Fenster in der Mansarde. Eigentlich ein hübsches Haus, doch neben den gepflegten Häusern in der Nachbarschaft wirkte es ungeliebt und irgendwie schäbig, genau wie seine Eigentümerin, die er bis vor Kurzem für einen Großstadtmenschen gehalten hatte. Wenn sie manchmal bis tief in die Nacht miteinander telefonierten, hatte er sie sich in der eleganten Gründerzeitvilla in Frankfurt am Grüneburgpark vorgestellt, in der er schon häufig zu Gast gewesen war. Seltsam, dass man über einen Menschen, mit dem man zwölf Jahre lang so eng zusammengearbeitet hatte, derart wenig wissen konnte. Nie in diesen zwölf Jahren war er in ihrem Haus gewesen. Nichts wusste er über sie und ihr Leben, aber sie wusste alles von ihm, kannte seine Ängste und Fantasien, seine Vorlieben und Schwächen. Sie war es gewesen, die die Qualität seines ersten Manuskripts bemerkt hatte, für das er von mehr als dreißig Verlagen nur Absagen erhalten hatte. Sie hatte ihn entdeckt und zu einem Winterscheid-Autor gemacht, eine Ehre, die nur den wenigsten und besten Schriftstellern zuteilwurde, und zweifellos hatte sie sich in all diesen Jahren zu seiner wichtigsten Bezugsperson entwickelt, nachdem seine Ehe in die Brüche gegangen war. Häufig hatten sie über seine Figuren diskutiert, fast so, als ob es sich bei ihnen um reale Menschen handeln würde; gemeinsam hatten sie an seinen Texten, an einzelnen Sätzen und Formulierungen gefeilt, bis sie zufrieden waren. Sie hatte ihn angespornt und ermutigt, wenn er mit dem Schreiben nicht weiterkam und immer wieder alles hinwerfen wollte. Sie war es gewesen, die ihn vor nunmehr zwölf Jahren angerufen hatte, um ihm die unglaubliche Mitteilung zu machen, dass sein Debütroman Federzart auf Anhieb in die Bestsellerliste einsteigen würde. Er konnte sich daran erinnern, als wäre es erst gestern gewesen, wie ungläubig und zugleich überglücklich er in seiner winzigen Küche an dem von Wasserringen und Brandlöchern übersäten Tisch gesessen hatte, an dem Federzart entstanden war.

Viel wichtiger als Verkaufszahlen war ihm die Anerkennung gewesen, die sein Buch endlich bekommen hatte. Diesen einen Anruf von ihr würde er nie vergessen, obwohl sie ihm in den darauffolgenden Jahren Dutzende wunderbarer Nachrichten überbracht hatte. Platz 1 der Bestsellerliste. Deutscher Buchpreis. Büchner-Preis. Filmoptionen. Lizenzverkäufe in vierundzwanzig Länder. Begeisterte Kritiken in den Feuilletons. Er hatte unzählige Lesungen absolviert, zunächst in kleinen Buchhandlungen, später in den größten Sälen. Interviews. Talkshows. Auf der Buchmesse in Frankfurt hatte ein überlebensgroßes Plakat mit seinem Konterfei den Stand seines Verlages geziert. Er war zum Star der deutschen Literaturszene avanciert. Innerhalb von zehn Jahren hatte er sich sieben Bücher mit einer Leichtigkeit von der Seele geschrieben, die ihn hatte glauben lassen, es würde immer so weitergehen. Doch nach Links vom Fluss war es vorbei gewesen. Plötzlich hatte völlige Leere in seinem Kopf und seiner Seele geherrscht. Mit wachsender Verzweiflung hatte er monatelang den blinkenden Cursor auf dem weißen Bildschirm angestarrt, hatte zehn, fünfzehn holprige Anfänge geschrieben, nur um sich schließlich eingestehen zu müssen, dass einfach nichts mehr in ihm war, was er erzählen wollte. Er hatte nicht die geringste Idee gehabt, worüber er noch schreiben sollte.

Zunächst waren alle geduldig gewesen. Niemand hatte ihn gedrängt, denn schließlich produzierte kein ernst zu nehmender Literat Bücher am Fließband. Nach wie vor hatte ihm sein Verleger zum Geburtstag und zu Weihnachten Champagner geschickt, man hatte ihn weiterhin zu den legendären Kaminabenden in die Verlegervilla eingeladen und er hatte lukrative Lesereisen gemacht. Aber nachts hatte er nicht mehr schlafen können. Der Traum vom Schriftstellerleben schien ausgeträumt, und als er sah, wie beängstigend schnell sich sein Bankkonto leerte und wie aus Bestsellern Backlisttitel wurden – neulich hatte er sogar zu seinem Entsetzen Exemplare von Federzart und Kopf oder Zahl auf dem Wühltisch im Supermarkt entdeckt –, dann war ihm klar gewesen, dass er sich wohl bald wieder einen Brotjob suchen musste, eine Vorstellung, die ihm Panikattacken bescherte. Was für eine Niederlage! Welch ein Abstieg!

Aber dank der Frau, die in dem Haus mit den roten Fensterläden und den Mammutbäumen im Garten wohnte, war es so schlimm nicht gekommen, denn sie hatte eine Lösung für sein Dilemma gewusst. Sie hatte diese längst vergessene Novelle ausgegraben, und er hatte daraus Der einbeinige Kranich gemacht. Zuerst hatte er sich nicht wohlgefühlt dabei, aber schnell hatte er gemerkt, dass die Geschichte seine unverwechselbare Handschrift trug, auch wenn er sich von dem Werk eines anderen Autors hatte inspirieren lassen. Der Roman war zur Buchmesse in Leipzig im März erschienen und von null auf Platz eins der Bestsellerliste geschossen. Kritiker und Leser liebten ihn gleichermaßen, der Rest des Garantiehonorars war geflossen, die Panikattacken hatten aufgehört. Er hatte sich eine Atempause verschafft, und für ein paar Jahre schien sein Leben als einer der meistgelesenen deutschen Literaten gesichert zu sein. Der Verlag war zufrieden, sein Agent war glücklich, die Buchhändler, Kritiker und Leser freuten sich. Und dann wie aus heiterem Himmel … das!

Hinter einem Fenster im Obergeschoss des Hauses nahm er eine Bewegung wahr. Sie war also zu Hause, die Frau, die er bewundert, ja, geliebt hatte und die er jetzt aus tiefstem Herzen hasste. Er atmete tief durch, nahm all seinen Mut zusammen und drückte auf die Klingel. Nichts geschah. Im Rhododendron zankten sich zwei Amseln. Hin und wieder fuhr unten auf der Hauptstraße ein Auto vorbei. Aus den umliegenden Gärten klangen Stimmen zu ihm herüber, manchmal brandete Gelächter auf und irgendwo grillte offenbar jemand. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite spazierte ein Mann mit einem Hund vorbei, aber er beachtete ihn nicht.

Zaudernd stand er vor dem Zaun, spielte kurz mit dem Gedanken, aufzugeben. Aber nein! Er durfte jetzt nicht einfach den Schwanz einziehen und unverrichteter Dinge zurückfahren, schließlich ging es um seine Existenz, seinen guten Ruf, seine Glaubwürdigkeit! Ihretwegen lag sein Leben in Schutt und Asche, und er wollte von ihr hören, warum sie ihn ohne jede Vorwarnung als Plagiator enttarnt und damit alles, was sie gemeinsam erreicht hatten, zerstört hatte. Mit zitternden Knien stieg er an einer Stelle, die von der Straße aus nicht zu sehen war, über den Zaun und ging entschlossen über den vermoosten Rasen auf das Haus zu.

Tag 1

Donnerstag, 6. September 2018

»In zehn Minuten müssen wir los.« Kriminalhauptkommissar Oliver von Bodenstein reichte seiner Tochter die Frühstücksbox mit den Schulbroten und stellte das Schneidebrett in die Spüle.

»Ich muss oben noch schnell mein Bild für Kunst holen«, sagte Sophia. »Was ist auf den Broten drauf?«

»Pastrami und Hähnchenbrust«, erwiderte Bodenstein, der die Schulbrotzubereitung zu einem festen Bestandteil ihres morgendlichen Vater-Tochter-Rituals gemacht hatte. Eigentlich wohnte Sophia bei ihrer Mutter, wenn diese nicht gerade auf irgendeiner Filmexpedition war, und verbrachte nur jedes zweite Wochenende bei ihm. Doch wegen Cosimas Erkrankung war seine Tochter ganz zu ihnen gezogen, denn es war nicht abzusehen, wann seine Ex-Frau das Krankenhaus wieder verlassen konnte.

»Butter und Fleisch sind so was von ungesund und klimaschädlich«, kommentierte Greta, Bodensteins Stieftochter, die in einem fleckigen Pyjama am Frühstückstisch hockte, ihr Müsli löffelte und dabei auf ihr Smartphone starrte. »Davon kriegt man übrigens auch Krebs, nicht nur vom Rauchen.«

Sophia wurde blass und warf ihrem Vater einen ängstlichen Blick zu.

»Ups, jetzt hab ich doch echt aus Versehen das K-Wort gesagt!« Greta schlug die Hand vor den Mund und lächelte zerknirscht, aber in ihren Augen glitzerte die pure Bosheit. »So sorry.«

»Hol dein Bild, Sophia.« Bodenstein spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Er hatte es sich abgewöhnt, auf die ständigen Provokationen von Karolines achtzehnjähriger Tochter zu reagieren, denn das führte unweigerlich zu einem Streit mit ihrer Mutter, die grundsätzlich Partei für ihre Tochter ergriff und Entschuldigungen für jede Frechheit und jedes Fehlverhalten fand. Das wusste Greta natürlich ganz genau und nutzte es weidlich aus. Vom ersten Tag an war sie ihm mit offener Ablehnung und Eifersucht begegnet; sie hatte alles versucht, um Bodenstein wieder aus dem Leben ihrer Mutter zu drängen. Dabei hatte sie mitunter eine Raffinesse an den Tag gelegt, die ihn schockiert hatte. Er hatte morgens am Frühstückstisch keine Zeitung mehr lesen dürfen, weil Greta behauptete, sie würde von den Dämpfen der Druckerschwärze keine Luft mehr bekommen. Ebenso war klassische Musik auf dem Index gelandet, denn die löste Schreikrämpfe bei Greta aus, weil sie sie angeblich an ihre Großmutter erinnerte. Und seitdem Sophia bei ihnen wohnte, bestand die fast Neunzehnjährige darauf, auf einer Matratze neben dem Bett ihrer Mutter zu schlafen, weil sie sonst Albträume hatte. Abgesehen von den wenigen Monaten, die das Mädchen in einem Internat verbracht hatte, war in fünf Jahren nichts besser geworden, eher schlechter, und ihr Familienleben war ein ständiger Eiertanz.

»Ist mir nur so rausgerutscht.« Greta grinste Bodenstein träge an und zwirbelte ihr fettiges Haar im Nacken zu einem Knoten.

»Natürlich. Ganz aus Versehen«, erwiderte er ironisch und räumte das benutzte Geschirr in die Spülmaschine. Er hasste diese Streitereien. Er hasste es, dass er dieser niederträchtigen jungen Frau nicht seine Meinung sagen konnte, ohne damit seine Ehe in Gefahr zu bringen. Aber am meisten störte ihn, dass er seiner zwölfjährigen Tochter kein friedliches Familienleben bieten konnte, gerade jetzt, wo Cosima so schwer krank war und Sophia nichts dringender als Sicherheit und Harmonie brauchte.

»Ist doch wahr!« Greta hob die Stimme. »Nur, weil deine Ex Krebs hat, darf ich hier jetzt nicht mehr die Wahrheit sagen, oder was?«

Bodenstein zählte stumm bis zehn.

»Ey, krieg ich vielleicht mal ’ne Antwort?«

Sophia kehrte in die Küche zurück, das Aquarell, an dem sie eine Woche lang gearbeitet hatte und auf das sie sehr stolz war, in den Händen. Ihr dichtes, dunkles Haar hatte sie von ihm geerbt, die grünen Augen und die grazile Figur von ihrer Mutter. Letztere neidete Greta, die sich in den vergangenen Jahren ein erhebliches Übergewicht angefuttert hatte, ihrer Stiefschwester besonders.

»Was ist das denn?« Greta lachte höhnisch. »Es gibt Kindergartenkinder, die das besser hingekriegt hätten.«

»Klar. Du hast jetzt ja voll die Erfahrung mit Kindergartenkindern«, entgegnete Sophia herablassend, bevor Bodenstein etwas sagen konnte. »Wie lange hast du noch mal in der Kita gearbeitet? Einen Tag? Oder waren es sogar zwei Tage?«

»Halt die Klappe, du blöde Kuh!« Greta lief rot an.

Wegen ihres schlechten Sozialverhaltens und ungenügender Leistungen war sie von mehreren Schulen geflogen, im letzten Sommer sogar von einem Internat, das auf schwierige Schüler und Leistungsverweigerer spezialisiert war. Nachdem sie zweimal in der E-Phase, der 10. Klasse des Gymnasiums sitzengeblieben war, konnte sie kein Abitur mehr machen und stand nun ohne Lehrstelle und ohne Beschäftigung da. Ihr Vater hatte Greta einen Praktikumsplatz in einer Kita in Bad Soden besorgt, aber schon nach einem Tag hatte sie verkündet, sie sei allergisch gegen die Linoleumböden dort und überhaupt bekomme sie von dem Kindergeschrei Migräne. An ihrem Pferd, das ihre Eltern ihr kurz nach dem schrecklichen Vorfall gekauft hatten, hatte sie völlig das Interesse verloren, und Karoline bezahlte monatlich eine horrende Summe dafür, dass es von anderen Leuten bewegt wurde.

Karoline betrat die Küche. Das gelbe Sommerkleid und die goldenen Riemchensandalen betonten ihre schlanke Figur und ihre Sonnenbräune, das glänzende dunkle Haar hatte sie zu einem Knoten im Nacken frisiert. Früher hätte Bodenstein ihr ein Kompliment gemacht und dafür einen liebevollen Kuss bekommen. Heute bemerkte er jedoch nur noch ihren verkrampften Unterkiefer, die zusammengepressten Lippen und den gereizten Blick, der über ihn hinwegglitt, als wäre er unsichtbar.

»Ihr seid so gemein!«, schrie Greta los, und Tränen spritzten wie auf Knopfdruck aus ihren Augen.

»Was ist denn hier schon wieder los?«, fragte Karoline genervt.

»Dein Ehemann macht mich blöd an!«, log Greta mit weinerlicher Stimme.

»Aber Papa hat überhaupt nichts …«, begann Sophia empört, doch Greta übertönte sie.

»Ihr seid so fies zu mir! Dauernd macht ihr euch über mich lustig, weil ich so fett geworden bin!«

»Das ist doch gar nicht wahr!«, widersprach Sophia, fassungslos über diese unverfrorene Lüge. Mit ihrem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit scheute sie im Gegensatz zu ihrem Vater keine Konfrontation, auch wenn es einfacher war, Greta nicht zu widersprechen, um ihr keinen Grund für einen neuen Wutanfall zu liefern.

»Ist es doch! Meinst du, ich bin blind und seh nicht, wie ihr mich anguckt und grinst?« Wie immer, wenn Greta merkte, dass sie im Unrecht war, steigerte sie sich in einen hysterischen Anfall hinein.

»Beruhig dich, Gretalein«, versuchte Karoline zu beschwichtigen und wollte ihre erwachsene Tochter in den Arm nehmen, doch diese stieß sie grob von sich. Gretalein! Bodenstein begann innerlich zu kochen. Wenn er diesen albernen Kosenamen und den unterwürfigen Tonfall, in dem Karoline ihn aussprach, nur schon hörte! Aber Greta war nun einmal Karolines Achillesferse. Noch immer fühlte sie sich schuldig, weil sie glaubte, sie habe ihre Tochter früher ihres Berufes wegen vernachlässigt. Seit Jahren versuchte Bodenstein, seine Frau davon zu überzeugen, sich psychologische Hilfe zu holen, denn das eigentliche Problem war seiner Meinung nach das Trauma, das Mutter und Tochter vor sechs Jahren erlitten und dessen Schwere auch er lange unterschätzt hatte. Die damals dreizehnjährige Greta hatte neben ihrer Großmutter gestanden, als diese durch das Küchenfenster von einem Heckenschützen erschossen worden war, und Karoline hatte nicht nur die schrecklich entstellte Leiche ihrer Mutter gesehen, sondern auch erleben müssen, dass ihr Vater, ein angesehener Herzchirurg, zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden war. Bodenstein war damals im Fall des Heckenschützen der leitende Ermittler gewesen und hatte oft das Gefühl, dass diese schrecklichen Ereignisse zwischen ihnen lagen wie ein Minenfeld, das keiner von ihnen zu betreten wagte. Greta hatte mehrere Therapeuten verschlissen, doch bis auf Bodenstein hatte nie jemand ernsthaft versucht, ihr Grenzen zu setzen. Erst nachdem Karoline ihm unmissverständlich klargemacht hatte, dass Gretas Erziehung nicht seine, sondern allein ihre Sache sei, hatte er aufgegeben und sich herausgehalten. In einer Mischung aus schlechtem Gewissen und Angst vor ihren unbeherrschten Wutanfällen gab Karoline Greta immer nach, statt Konflikte auszuhalten, und das war jetzt das Ergebnis: Sie führten ein Leben auf Zehenspitzen, unter dem Kommando einer narzisstischen Achtzehnjährigen.

»Ich lass mich nicht mehr länger von dem da dissen!«, kreischte Greta und deutete anklagend mit dem Zeigefinger auf Bodenstein. »Ich zieh zu Papa! Heute noch!«

Bodenstein seufzte nur. Das war eine leere Drohung. Greta war bei der Familie ihres Vaters nicht mehr erwünscht, weil sie zu ihrer Stiefmutter genauso frech war wie zu ihm.

»Ich hasse dich!«, zischte Greta in seine Richtung und stürmte aus der Küche. »Ich hasse euch alle!«

»Warum müsst ihr sie auch immer ärgern?«, warf Karoline Bodenstein und Sophia vor. »Sie hat es doch gerade wirklich nicht einfach!«

»Ich hab’s gerade auch nicht einfach«, erwiderte Sophia. »Meine Mutter hat Krebs, falls du das vergessen haben solltest.«

Oben krachte eine Tür ins Schloss, Sekunden später dröhnte laute Musik durchs Haus.

»Wie könnte ich das wohl vergessen?«, antwortete Karoline bitter und streifte Bodenstein mit ihrem Märtyrerinnenblick. »Dein Vater verbringt ja mehr Zeit mit ihr als mit mir.«

Damit wandte sie sich ab und eilte die Treppe hoch, um Greta einmal mehr zu besänftigen. Bodenstein blickte ihr nach, und ihm wurde klar, dass dieser letzte Satz der Tropfen gewesen war, der das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht hatte.

»Lass uns fahren«, sagte er zu Sophia. Sie gingen in die Garage und stiegen in seinen Porsche. Bodenstein fuhr das Auto, ein Geschenk seiner Ex-Schwiegermutter, nur dann, wenn er nicht zur Arbeit musste. Nicola Engel, seine Chefin, sah es nicht gerne, wenn er ihn auf dem Mitarbeiterparkplatz der Regionalen Kriminalinspektion parkte. Drei Minuten später fuhr er den Gagernring entlang Richtung Stadtmitte.

»Es ist so asozial, dass Greta dauernd lügt und so fiese Sachen über dich sagt und Karoline ihr immer alles glaubt!«, empörte sich Sophia. »Sie nennt Mama nur ›Krebsnella‹ oder ›Mrs. Leber-Cancer‹! Stimmt es eigentlich, dass nur Alkoholiker Leberkrebs kriegen?«

Bodensteins Finger schlossen sich so fest um das Lenkrad, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Er hatte Karoline eindringlich gebeten, Sophia die Einzelheiten von Cosimas Erkrankung vorerst zu ersparen, aber offenbar hatte sie alles brühwarm ihrer Tochter erzählt, die wiederum nichts Besseres zu tun gehabt hatte, als es Sophia unter die Nase zu reiben.

»Mamas Erkrankung hat nichts mit Alkohol zu tun«, erklärte er und zwang sich, so sachlich wie möglich zu bleiben. »Sie hat sich vor vielen Jahren auf einer ihrer Reisen mit Hepatitis angesteckt, und die Ärzte vermuten, dass der Leberzellkrebs eine Spätfolge dieser Infektion ist.«

»Wird Mama sterben?«

»Ich glaube nicht«, erwiderte er. »Die Ärzte tun alles, um ihr zu helfen, damit sie schnell wieder gesund wird.«

»Hm.« Sophia warf ihm einen raschen Blick zu. »Greta hat nämlich zu mir gesagt, wenn Mama stirbt, hätten wir kein Geld mehr, weil du nur Polizist bist und kaum was verdienst.«

»Wie bitte?« Bodenstein warf seiner Tochter einen ungläubigen Blick zu.

»Und sie sagt, wenn ich nicht tue, was sie will, dann sorgt sie dafür, dass ihre Mutter uns rausschmeißt, weil das ja ihr Haus ist und nicht deins. Stimmt das, Papa? Müssen wir in eine Wohnung in einem Hochhaus ziehen?«

Bodenstein war wie vor den Kopf geschlagen und für einen Moment glaubte er, ihm müsse das Herz brechen.

»Nein, das müssen wir nicht«, beruhigte er Sophia.

»Ich hasse Greta«, sagte seine Tochter mit der ganzen Inbrunst einer Zwölfjährigen. »Ich wünschte, ich müsste sie in meinem ganzen Leben nie mehr sehen!«

›Ich auch‹, dachte Bodenstein. ›Oh ja, ich auch!‹

Er setzte den Blinker und hielt in einer Parkbucht vor der Schule. Sophia, die eigentlich nicht zu Zuneigungsbekundungen in der Öffentlichkeit neigte, schlang ihm die Arme um den Hals und küsste seine Wange.

»Ich hab dich lieb, Papa!«

»Ich hab dich auch lieb, meine Kleine«, erwiderte er.

»Kannst du mein Bild Mama geben, wenn du sie besuchst?« Sophia löste sich aus der Umarmung und zwinkerte ihm zu.

»Brauchst du es nicht für Kunst?«

»Nein.« Sie grinste. »Ich hab letzte Woche ’ne Eins drauf gekriegt. Das habe ich Greta nur nicht gesagt.«

»Du bist mir eine!« Bodenstein lächelte. »Ich bringe es Mama mit. Sie wird sich sehr darüber freuen.«

Sophia stieg aus, warf sich den Rucksack über die Schulter, lächelte ihm noch einmal zu und verschwand dann im Strom der Schüler.

Bodenstein fädelte wieder in den fließenden Verkehr ein und ignorierte das penetrante Summen seines Handys. Karoline versuchte ihn zu erreichen, wahrscheinlich, um sich zu entschuldigen, aber er war des immer gleichen Spiels müde. Auf Streit, Unterstellungen und Vorwürfe folgten Zerknirschung und tränenreiche Beteuerungen, dass sie ihn lieben und nicht mehr zulassen würde, dass Greta sich zwischen sie stellte. Doch dann dauerte es keine drei Tage und das Theater ging von vorne los. Bodenstein spielte kurz mit dem Gedanken, ans Telefon zu gehen und Karoline zu sagen, was Sophia ihm eben erzählt hatte, aber dann besann er sich. Sein ganzes Leben breitete sich vor seinem inneren Auge aus, und was er sah, deprimierte ihn, denn ihm wurde bewusst, dass er wieder einmal Opfer seiner eigenen Illusionen geworden war. Vom ersten Moment an war die Beziehung zwischen Karoline und ihm kompliziert und fragil gewesen, und er wusste selbst nicht, weshalb er immer und immer wieder dieselben Fehler machte, statt aus ihnen zu lernen. Was er nicht länger ignorieren konnte, war die Tatsache, dass er mit Mitte fünfzig vor den Scherben seiner zweiten Ehe stand. An einer roten Ampel sah er, dass Karoline ihm bereits zwei Sprachnachrichten und fünf SMS geschickt hatte, denen im Laufe des Tages ein Trommelfeuer weiterer Nachrichten und Anrufe folgen würden, wenn er nicht irgendwann nachgab. Doch diesmal würde er das nicht tun. Er würde keine ihrer Nachrichten lesen oder anhören, weil er sowieso schon wusste, was sie sagen und schreiben und weil das alles rein gar nichts ändern würde.

Kriminalhauptkommissarin Pia Sander sah die zwei freilaufenden Weimaraner schon von Weitem, als sie auf dem Rückweg ihrer morgendlichen Hunderunde durch das Süße Gründchen, ein malerisches Tal mit Streuobstwiesen und einem Bach, Richtung Parkplatz am Sauerborn lief.

»Na super«, murmelte sie und verkürzte die Schleppleine, an der Beck’s lief, bis er dicht neben ihr war. Der Malinois-Rüde hatte die beiden Artgenossen, die gerade mitten auf der Wiese ihr großes Geschäft erledigten, ebenfalls erspäht. Sein Körper versteifte sich, er stellte das Nackenfell auf und fing an zu knurren.

»Sei ruhig.« Pia ahnte schon, dass es der Besitzerin der Hunde, die telefonierend den Wiesenweg entlangschlenderte, nicht gelingen würde, die beiden rechtzeitig anzuleinen, bevor sie auf Beck’s zustürmten.

»Würden Sie bitte Ihre Hunde an die Leine nehmen?«, rief sie.

»Die tun nichts!«, rief die Frau aus der Ferne, ohne das Handy vom Ohr zu nehmen.

»Mein Hund aber!«, erwiderte Pia und fasste in Beck’s’ Halsband, denn auch wenn er eigentlich gutmütig und sozialverträglich war, so hasste er es, wenn andere Hunde auf ihn zustürzten, ihn ansprangen und belästigten. Die Weimaraner hatten Beck’s nun auch bemerkt und rannten auf ihn zu, fokussiert wie zwei Kurzstreckenraketen. Zwei gegen einen, und der eine war auch noch im Nachteil, da er angeleint war! Im Nu war ein wildes Getümmel im Gange. Bei aller Gutmütigkeit war Beck’s jedoch ein äußerst wehrhafter Hund, der sich nichts gefallen ließ, und innerhalb von Sekunden hatte er Weimaraner Nummer eins, obwohl größer und schwerer als er selbst, an der Gurgel.

»Eddi! Billy! Hierher!«, kreischte die Frau jetzt. Mit wedelnden Armen stolperte sie durch das hohe Gras, aber ihre Hunde ignorierten ihr Schreien und Pfeifen.

»Tun Sie doch was!«, schrie die Frau Pia aufgebracht an. »Ihr Hund beißt meinen Hund tot!«

»Tun Sie doch selber was!«, erwiderte Pia wütend. Sie dachte nicht im Traum daran, mit bloßen Händen raufende Hunde zu trennen. »Mein Hund ist an der Leine und Ihre sind es nicht!«

Nachdem Beck’s ihn ins Ohr gezwickt hatte, fand Weimaraner Nummer zwei den Wald erheblich interessanter als den Kampf gegen einen überlegenen Gegner und verdrückte sich ins Unterholz. Nummer eins warf sich quiekend auf den Rücken, woraufhin Beck’s sofort von ihm abließ.

»Ich werde Sie anzeigen! Das wird teuer für Sie!« Die Frau hob ihr Handy und fotografierte Pia. »Und das ist ein Beweis!«

»Wenn’s Ihnen Spaß macht.« Pia zuckte die Schultern. »Ich kann Ihnen auch meine Telefonnummer geben.«

»So ein aggressiver Hund muss einen Maulkorb tragen!«, zeterte die Blondine.

»Mein Hund ist nicht aggressiv. Er hat sich gewehrt. Wenn Sie Ihre Hunde angeleint oder unter Kontrolle gehabt hätten, wäre gar nichts passiert«, entgegnete Pia scharf.

»Meine Hunde müssen ja wohl auch mal laufen dürfen!« Die Frau, eine typische Taunus-Torte in den Vierzigern mit blondiertem Pagenschnitt und verkniffenem Gesicht, kontrollierte das Fell ihres Hundes auf Verletzungen. »Hier! Blut! Ihr Köter hat ihn gebissen!«

»Selbst schuld«, sagte Pia. »Übrigens ist dieses Tal ein Flora-Fauna-Habitat. Ein Naturschutzgebiet. Vorne steht ein Schild, auf dem steht, dass Hunde zum Schutz des Wildes angeleint werden sollen.«

Beck’s schüttelte sich und scharrte siegesbewusst mit den Hinterpfoten. Die Weimaraner-Besitzerin murmelte etwas, das sich wie ›dämliche Schlampe‹ anhörte und schnaubte verächtlich. Jede Diskussion war verschwendete Zeit, deshalb ging Pia weiter.

»Gut gemacht, Beck’s«, lobte sie ihren Hund. »Lass dir nichts gefallen.«

Als sie etwa fünfzig Meter entfernt war, schrie ihr die Taunus-Torte ein vulgäres Wort hinterher, das durchaus den Tatbestand der Beleidigung erfüllte. Pia reagierte nicht darauf, auch wenn sie sich kurz der Fantasie hingab, Beck’s von der Leine zu lassen und der Dame auf den Hals zu hetzen.

Im vergangenen Herbst hatte sie sich für drei Monate vom Dienst freistellen lassen, um Zeit mit ihrer Schwester Kim und deren Tochter Fiona zu verbringen, die beide in der Gewalt eines psychopathischen Serienkillers gewesen waren. Doch Kim hatte wieder einmal die Flucht ergriffen, wie immer, wenn es in ihrem Leben schwierig wurde. Sie hatte das Jobangebot des Profilers Dr. David Harding in den USA angenommen. Fiona war daraufhin enttäuscht zurück nach Zürich gegangen, und Pia hatte die freie Zeit genutzt, an der Polizeiakademie in Mühlheim mit Beck’s eine Ausbildung zum Schutzhund zu absolvieren, die der hellbraune Malinois-Rüde mit Bravour abgeschlossen hatte. Sein Vorbesitzer hatte ihn nur auf seinem großen Grundstück und im Haus gehalten. Nachdem Theodor Reifenrath im Frühjahr letzten Jahres gestorben war, hatten eigentlich seine Nachbarn den Hund zu sich nehmen wollen, aber es hatte sich herausgestellt, dass eines der Kinder hochgradig allergisch gegen Hundehaare war. Pia hatte nicht lange gezögert und den Hund adoptiert, damit er nicht ins Tierheim musste. Seitdem war sie wieder rundum glücklich, denn ein Leben ohne Hund war ihr irgendwie leer erschienen. Der morgendliche Spaziergang vor dem Dienst war ein perfekter Start in den Tag und die regelmäßige Bewegung tat auch ihr selbst gut. Kriminaldirektorin Dr. Nicola Engel höchstpersönlich hatte Pia die Genehmigung erteilt, Beck’s mit zur Arbeit zu bringen. Der Hund war in der RKI Hofheim eine Legende, denn er hatte sie auf die Fährte eines Serienkillers gebracht. Ihre Kollegen vom K11 waren vom vierbeinigen Zuwachs hellauf begeistert, und Beck’s, unkompliziert und verfressen, hatte ganz besonders Pias Kollegen Kai Ostermann in sein Hundeherz geschlossen, denn der bunkerte in seinen Schreibtischschubladen immer etwas Essbares, das er gerne mit Beck’s teilte.

Sie hatte den Parkplatz an der Sportanlage im Sauerborn erreicht. Außer ihrem orangefarbenen Mini Cabrio stand nur ein anderes Auto dort, ein schwarzer SUV. Pia fotografierte das Kennzeichen ab, bevor sie Beck’s in den Fußraum des Beifahrersitzes springen ließ und sich hinter das Steuer setzte. Sie öffnete das Dach und genoss den kühlen Fahrtwind. Die Luft war noch frisch, aber der wolkenlose blaue Himmel und die Wetternachrichten im Radio versprachen einen weiteren trockenen Spätsommertag mit Temperaturen, die für die Jahreszeit wohl wieder einmal zu hoch sein würden. Nach der anhaltenden Hitzewelle der letzten Monate und einer ungewöhnlichen Trockenheit ähnelte die sonst so liebliche Vordertaunuslandschaft mit ihren saftigen Streuobstwiesen, kleinen Bachläufen und tiefen, schattigen Wäldern dem sonnenverbrannten Hinterland Andalusiens. Ganz Europa ächzte seit Monaten unter einer Rekordhitze, und die heftigen Gewitter am vergangenen Wochenende hatten nur kurz für Abkühlung gesorgt. Überall waren Tiefbrunnen und Zisternen leer und der Grundwasserspiegel so dramatisch abgesunken, dass bereits einige Ortschaften im Taunus von der Feuerwehr mit Trinkwasser versorgt werden mussten. Daran änderten auch kurze Gewitterschauer nichts.

»… gab es von Juni bis August bereits 75 Sommertage mit mindestens 25 Grad und mehr als 20 Hitzetage mit mindestens dreißig Grad«, verkündete die Moderatorin im Radio wieder einmal, als gäbe es außer den Hitzerekorden und Donald Trump nichts anderes mehr zu berichten. »Seit Beginn der Wetteraufzeichnungen im Jahr 1881 hat es solche Werte nicht …«

Pia fuhr am Eichwald entlang und bog vor dem Krankenhaus in die Kronberger Straße ein. Gestern hatte es eine Verstimmung zwischen Christoph und ihr gegeben, und sie hatten sich nicht versöhnt, bevor er heute Morgen zu einer Tagung der EUROPEAN ASSOCIATION OF ZOOS AND AQUARIA aufgebrochen war. Da er genauso stur sein konnte wie sie, rechnete Pia nicht damit, von ihm zu hören, bis er am Samstag zurückkehrte. Sie hatte nicht vor nachzugeben, zumal der Grund für den Streit total albern war. Christoph war eifersüchtig, und zwar ausgerechnet auf Pias Ex-Mann Henning Kirchhoff, den Leiter der Frankfurter Rechtsmedizin. Henning hatte einen zweiten Krimi geschrieben, nachdem sein Erstling im vergangenen Herbst überraschenderweise ein Riesenerfolg geworden war. Die Protagonisten – ein Frankfurter Rechtsmediziner und seine Ex-Frau, eine Kriminalhauptkommissarin – ermittelten in einem Fall, der einen realen Hintergrund hatte, und diese Mischung aus Fiktion und Realität faszinierte nicht nur Leserinnen und Leser, sondern auch die Presse. Und Henning hatte wenig Hemmungen gehabt, Werbung für seinen Roman Eine unbeliebte Frau zu machen. Er hatte eifrig Lesungen absolviert und Interviews gegeben und war, dank der tatkräftigen Unterstützung einer Doktorandin, plötzlich bei Facebook, Instagram, YouTube und mit einer eigenen Webseite im Internet präsent. Als das Buch schließlich kurz vor Weihnachten Platz 1 der Taschenbuch-Bestsellerliste erklommen hatte und bei Amazon das meistbestellte Buch des Monats November gewesen war, waren die Fernsehsender aufmerksam geworden und man hatte ihn in jede wichtige Talkshow Deutschlands eingeladen, begierig darauf, einen leibhaftigen Rechtsmediziner und dazu noch einen Star seiner makabren Zunft vor die Kamera zu bekommen.

»Dein Ex macht einen auf Professor Börne!«, hatte Christoph damals gespottet. Nun war der Nachfolgeroman fertig und sollte in Kürze, rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse Anfang Oktober, erscheinen. Henning hatte Christoph vor ein paar Monaten beiläufig gefragt, ob er den Opel-Zoo in Kronberg, dessen Direktor Christoph seit vielen Jahren war, zu einem der Schauplätze in seinem Krimi machen und die Figur des Zoodirektors für eine Nebenrolle nutzen dürfe. Christoph, der das nicht allzu ernst genommen hatte, hatte es ihm gestattet und gleich wieder vergessen. Als Henning Pia vor drei Tagen die Druckfahnen von Mordsfreunde als PDF geschickt hatte, hatte Christoph zuerst gelesen. Die unübersehbaren Parallelen zu dem realen Mordfall, bei dessen Ermittlungen sie sich damals kennengelernt hatten, hatten ihn zunächst amüsiert, aber das Lachen war ihm schnell vergangen und jetzt war er stinkwütend.

Pias Telefon meldete sich mit einem melodischen Klingelton über die Freisprechanlage, gerade als sie in den Heinrich-Heine-Weg einbog.

»Sander?«, meldete sie sich

»Guten Morgen, Pia.« Es war Henning, als ob er geahnt hätte, dass sie gerade über ihn nachgedacht hatte.

»Hallo, Henning«, erwiderte sie kühl. »Danke, dass du endlich mal zurückrufst. Ich bin echt sauer auf dich!«

»Wieso denn das?« Er klang erstaunt.

»Ich habe einen Riesenkrach mit Christoph wegen deinem neuen Buch«, sagte Pia. »Er hat es gelesen und ist fast ausgeflippt!«

»Moment mal!«, rief Henning. »Ich habe ihn um Erlaubnis gefragt! Und die Figur kommt doch gut weg! Immerhin kriegt der Zoodirektor am Ende die Kommissarin.«

»Ach komm schon, Henning!« Pia war verärgert. »Die Kommissarin hat im Buch Sex mit ihrem Ex, muss das sein?«

»Da hat sie ja auch noch nichts mit dem Zoodirektor.« Henning klang belustigt. »Außerdem erwischt sie den Ex ja später in flagranti mit der Staatsanwältin.«

»Wenn du meine Ehe nicht in Gefahr bringen willst, ändere wenigstens noch die Widmung«, sagte Pia. »Für Pia reicht vollkommen. In Liebe – das ist kompromittierend.«

»Findest du? Okay, ich werde sehen, ob ich noch etwas machen kann. Die Fahnen sind allerdings schon zum Druck freigegeben«, erwiderte Henning. »Aber warum ich eigentlich anrufe: Könntest du wohl mal kurz nach Bad Soden fahren? Ich habe gerade einen Anruf von Maria bekommen, ähm … ich meine von Frau Hauschild, äh … meiner Agentin. Ich glaube, du kennst sie, oder?«

»Klar kenne ich sie. Ich habe sie auf deiner letzten Buchpremiere kennengelernt.« Pia wunderte sich über das Gestammel, das für ihren Ex völlig untypisch war, und ihr kam nicht zum ersten Mal der Gedanke, dass da irgendetwas lief zwischen ihm und dieser Frau, die ihn darin bestärkt hatte, mit Mitte fünfzig die eingefahrenen Bahnen seines Lebens zu verlassen und etwas ganz Neues zu wagen, nämlich einen Kriminalroman zu schreiben. Es war Pia nicht verborgen geblieben, wie sehr Henning sich seitdem verändert hatte, ganz so, als hätte ihm die Rolle des sarkastischen Misanthropen nie wirklich behagt.

»Was ist denn mit ihr?«

»Mit ihr ist … nichts. Ich … ich habe gleich eine Vorlesung und kann nicht hier weg, deshalb habe ich ihr versprochen, dich anzurufen.«

»Und weshalb?« Pia hielt vor ihrer Garage und ließ mithilfe der Fernbedienung das Tor hochfahren.

»Sie ist am Haus einer Freundin, von der sie seit ein paar Tagen nichts mehr gehört hat, und befürchtet, ihr könnte etwas zugestoßen sein, weil sie Blutflecken an der Tür bemerkt haben will.«

»Aha.« Pia verbiss sich die Frage, ob er denn wohl, wenn er Zeit gehabt hätte, selbst um halb neun morgens in den Vordertaunus gefahren wäre, um der vagen Vermutung seiner Agentin auf den Grund zu gehen. »Na gut, ich fahre hin. Aber nur unter einer Bedingung: Du lässt die Widmung ändern.«

»Ich rufe sofort im Verlag an und rede mit meiner Lektorin«, versprach Henning eifrig. »Ehrenwort.«

»Na gut«, sagte Pia gnädig. »Ich bin sowieso noch zu Hause. Wo genau muss ich hin?«

»Burgbergstraße 74«, erwiderte Henning. »Vielen Dank, Pia. Du Liebe!«

Pia ließ das Garagentor wieder herunter und setzte zurück auf die Straße.

»Ach, halt die Klappe, Henning!«, sagte sie und drückte das Gespräch weg.

»Hallo, Oliver.« Cosima lächelte erfreut, als er ihr Krankenzimmer betrat, aber es war nur ein schwacher Abglanz ihres einst so strahlenden Lächelns. Bei ihrem Anblick schnürte es Bodenstein für einen Moment die Luft ab. Der Krebs hatte all das Sprühende, Kraftvolle, das immer von Cosima ausgegangen war, ausgelöscht, und die Chemotherapie schien ihr vollends den Rest zu geben. In dem schmalen Krankenbett lag nur noch die Hülle der Frau, die sie einmal gewesen war. Während all der Jahre seiner ersten Ehe hatte er in der ständigen Angst gelebt, plötzlich Witwer zu werden und mit zwei halbwüchsigen Kindern allein zurückzubleiben. Immer, wenn Cosima auf einer ihrer abenteuerlichen Filmexpeditionen gewesen war, um in den entlegensten Winkeln der Welt ihre Dokumentarfilme zu drehen, hatte er nachts schlecht geschlafen. Manchmal waren Tage, in früheren Zeiten, als es noch keine Handys gegeben hatte, auch Wochen vergangen, in denen er auf ein Lebenszeichen von ihr gewartet hatte, während er den Spagat zwischen Arbeit und Kindererziehung bewältigen musste, und in jeder einzelnen dieser durchwachten Nächte hatte er sich geschworen, Cosima nie wieder wegzulassen, weil er die ständige Sorge um sie nicht mehr ertragen konnte. Aber wenn sie dann wieder da gewesen war, erschöpft, aber glühend vor Begeisterung und zur Freude der Kinder gelegentlich mit einem Hund oder einer Katze, die sie unterwegs aufgelesen hatte, im Gepäck, dann hatten sich seine Ängste für eine Weile in nichts aufgelöst. Er hatte gelernt, damit zufrieden zu sein, sie unversehrt in die Arme schließen zu können, bis ihr Fernweh aufs Neue erwachte und sie ein nächstes Filmprojekt plante.

Schon als er sich in sie verliebt hatte, war ihm klar gewesen, dass sich die temperamentvolle, freiheitsliebende Cosima niemals in einem geordneten und wenig aufregenden Leben, wie er es brauchte, wohlfühlen würde, und weil er sie geliebt hatte, hatte er immer wieder die Zähne zusammengebissen und ihre Expeditionen, die Gesellschaft der merkwürdigen Filmleute, die oft wochenlang ihr Haus bevölkerten, die Zeit, die sie in Schneideräumen verbracht hatte, und ihre Reisen zu Filmfestivals auf der ganzen Welt akzeptiert. Doch ihre Affäre mit einem russischen Polarforscher und Bergsteiger vor zehn Jahren hatte ihm das Herz gebrochen, und es hatte lange gedauert, bis er ihr hatte vergeben können. Aber das hatte er getan, nicht zuletzt den Kindern zuliebe, und ihr Verhältnis war in den letzten Jahren besser gewesen als jemals während ihrer Ehe.

»Hey, Cosi«, sagte er. »Wie geht es dir?«

»Mir geht’s ganz gut«, erwiderte sie und richtete sich auf. Sogar ihre Stimme hatte sich verändert und klang brüchig. Ihre Haut war gelblich und dünn wie Pergamentpapier, das glänzende rote Haar der Chemo zum Opfer gefallen, genauso wie ihre Wimpern und Augenbrauen.

»Schau mal, Sophia hat ein Bild für dich gemalt.« Bodenstein rollte das Blatt auseinander und hielt es hoch. »Sie hat eine Eins darauf bekommen.«

»Die Skyline von Frankfurt! Das ist ihr aber gut gelungen!« Cosima lächelte. »Ich werde die Schwestern bitten, es so aufzuhängen, dass ich es immer sehen kann.«

Bodenstein legte das Bild auf den Tisch unter dem Fernseher. Für ein Krankenhauszimmer war der Raum geradezu luxuriös. Er hatte einen eigenen kleinen Balkon, ein schönes Badezimmer, es gab sogar eine Sitzecke mit Couch und gemütlichen Ledersesseln und eine Minibar.

»Kann ich irgendetwas für dich tun?«, fragte Bodenstein. »Brauchst du was? Hast du noch genug zu lesen?«

»Danke, ich habe alles, was ich brauche. Ich würde nur wahnsinnig gerne eine rauchen«, gab Cosima zu und grinste spitzbübisch. »Hast du zufällig Zigaretten dabei?«

»Nein. Ich habe seit drei Wochen nicht mehr geraucht.« Bodenstein warf einen Blick auf seine Uhr, dann setzte er sich. Er hatte noch eine halbe Stunde Zeit, bis der Untersuchungs-Marathon mit EKG, Thorax-Röntgen, Kernspin-Angiografie und -volumetrie der Leber und einer Leberbiopsie losging. »Du weißt, weshalb.«

»Natürlich.«

Sie sahen sich an.

»Du wirkst so bedrückt. Was ist los, Oliver? Tut es dir leid, dass du alldem hier zugestimmt hast?«

»Nein. Das ist es nicht.« Bodenstein seufzte. Eigentlich hatte er nicht vor, Cosima mit seinen Problemen zu belasten, aber sie kannte ihn einfach zu gut, als dass er etwas vor ihr hätte verheimlichen können.

»Karolines Eifersucht ist einfach unerträglich geworden«, sagte er und berichtete ihr, welche Szenen sich heute Morgen abgespielt hatten. »Ich kann nicht mehr so weitermachen und hoffen, dass sich alles eines Tages einrenkt. Das wird es nicht. Und Sophia leidet. Ich möchte sie zu meinen Eltern bringen oder zu Marie-Louise und Quentin, bis ich eine andere Lösung gefunden habe.«

»Das tut mir leid«, erwiderte Cosima. »Natürlich ist es okay, wenn Sophia bei deiner Familie wohnt. Das ist wohl auch das Beste für die Zeit danach.«

»Ja, das denke ich auch.« Bodenstein nickte.

Über die medizinischen Aspekte dessen, was auf sie beide zukam, hatten sie schon oft genug gesprochen, ihr Gespräch wandte sich anderen, allgemeineren Themen zu. Er erzählte ihr von Henning Kirchhoffs neuem Krimi, dem die Kollegen der RKI gespannt entgegenfieberten und über den sich Pia Sanders Ehemann ärgerte. Sie lachten und genossen diesen seltenen Augenblick von Normalität, von Unbefangenheit.

Cosimas Erkrankung hatte Bodenstein vor Augen geführt, dass das Leben zu kurz war, um es mit Dingen zu vergeuden, die man eigentlich gar nicht tun wollte, oder mit Menschen, die einem nicht guttaten. Von einem Tag auf den anderen konnte es vorbei sein. Vor zwei Monaten war Cosima beim Einkaufen im Supermarkt zusammengeklappt und ins Krankenhaus gebracht worden. Die Diagnose Leberzellkrebs im fortgeschrittenen Stadium war ein Zufallsbefund gewesen und ein Schock für die ganze Familie. Ihre einzige Überlebenschance war eine Lebertransplantation, denn noch hatten die Tumorzellen nicht in Lymphknoten oder andere Organe gestreut. Man hatte ihren Namen auf die Warteliste für eine postmortal gespendete Leber bei EUROTRANSPLANT gesetzt und mit einer transarteriellen Chemo-Embolisation begonnen, um die vorhandenen Tumore am weiteren Wachstum zu hindern, bis ein passendes Organ zur Verfügung stand. Niemand wusste allerdings, wie lange das dauern würde, deshalb hatten sich Lorenz und Rosalie als mögliche Lebendspender testen lassen, doch leider hatten einige Faktoren nicht gepasst. Das Transplantationsgesetz war streng, für eine Lebendspende kamen nur Familienangehörige, Ehe- oder Lebenspartner in Betracht, deshalb hatte Bodenstein auch einen Test machen lassen. Bei ihm stimmten alle Parameter, die ihn zu einem geeigneten Spender für Cosima machten, und so hatte er sich dazu entschlossen, der Mutter seiner Kinder einen Teil seiner Leber zu spenden. Nach einer ausführlichen medizinischen und sozialen Anamnese hatte die Lebendspendekommission schließlich grünes Licht gegeben, heute würde er sich weiteren Tests unterziehen. Es war ein Wettlauf mit der Zeit, denn Cosimas Zustand verschlechterte sich zusehends, und wenn sie nicht mehr kräftig genug für eine OP war, würde der Krebs sie besiegen.

»Zehn vor neun«, stellte Bodenstein fest. »Ich sollte mich auf den Weg machen.«

»Hast du es Karoline mittlerweile gesagt?«, fragte Cosima.

»Nein«, erwiderte Bodenstein. »Und das werde ich auch nicht mehr tun. Ich ziehe morgen zu Marie-Louise ins Hotel. Dann bin ich in Sophias Nähe und habe meine Ruhe.«

»Oh!«, machte Cosima nur.

»Ich hätte es längst tun sollen«, sagte er.

»Du bist so ein guter Mensch, Oliver«, flüsterte Cosima. »Ich danke dir so sehr. Und auch, wenn die ganze Sache schiefgehen sollte …«

»Das wird sie nicht«, fiel er ihr rasch ins Wort. »Du wirst wieder gesund.«

»Leider besteht die Möglichkeit, dass das nicht passiert, und das wissen wir beide.« Cosima sah ihn ruhig an. »Aber falls ich das hier nicht überstehe, dann hatte ich auf jeden Fall ein wunderbares Leben. Und das verdanke ich zu einem sehr großen Teil dir, Oliver. Wir haben drei großartige Kinder und vier süße Enkelkinder. Ich habe in beruflicher Hinsicht das tun können, was mich glücklich gemacht hat. Wenn es also vorbei sein sollte, dann verlasse ich diese Welt als zufriedener Mensch.« Ihre Stimme war heiser geworden, und Bodenstein hatte einen Kloß im Hals.

»Lass dir nicht einfallen zu sterben, nach allem, was ich hier über mich ergehen lasse«, scherzte er, auch, wenn ihm kein bisschen danach zumute war. »Weißt du eigentlich, wie ätzend eine Leber-Biopsie ist?«

Cosima lachte, wurde aber gleich wieder ernst.

»Ich weiß sehr zu schätzen, was du tust, mein Lieber«, antwortete sie. »Vor allen Dingen, weil ich deine Aversion gegen Nadeln und Spritzen kenne.«

Pia war es ganz recht, dass Henning ihr eine Ausrede geliefert hatte, heute Vormittag nicht ins Büro zu müssen. Abgesehen von ein paar Körperverletzungen, einem gesprengten Geldautomaten und zwei Brandstiftungen war im K11 in letzter Zeit nicht sonderlich viel zu tun gewesen, deshalb hatte Kriminaldirektorin Dr. Nicola Engel den Mitarbeitern sämtlicher Kommissariate Fortbildungen mit so sperrigen Bezeichnungen wie Individuelle Handlungskompetenzen – selbstsicher und bürgernah, Analyse des Kriminalitätsgeschehens, von der Taktik bis zur Strategiebildung oder Methodische Kompetenzen – situationsgerecht und zielgruppenorientiert handeln aufgebrummt. Die Teilnahme sei fakultativ, hatte es in einer Rundmail geheißen, aber als sich daraufhin nur drei Leutchen angemeldet hatten, war eine weitere Mail aus der Chefetage gekommen, in dem das Adjektiv ›fakultativ‹ durch ›obligatorisch‹ in Fettdruck ersetzt worden war. Nur ein dringlicher beruflicher Grund befreie von der Pflicht zur Fortbildung, hatte es geheißen. Insofern war Pia nicht unglücklich darüber, Nachforschungen zum Verbleib einer Freundin der Agentin ihres Ex-Mannes anstellen zu dürfen.

Sie fuhr die Parkstraße oberhalb des Alten Kurparks entlang, die in die Burgbergstraße mündete, und hielt Ausschau nach der Hausnummer, die Henning ihr genannt hatte. Das Haus lag ein Stück von der Straße entfernt hinter wild wuchernden Rosenbüschen, beschattet von ein paar mächtigen Nadelbäumen mit knorrigen rotbraunen Stämmen. Auf der niedrigen Mauer, die das Grundstück zur Straße hin begrenzte, saß eine blonde Frau und telefonierte. Pia hielt hinter einem weißen Smart mit Frankfurter Kennzeichen, ergriff ihren Rucksack, klippte die Leine in den Ring von Beck’s Geschirr und stieg aus. Die Frau beendete ihr Telefonat, erhob sich von der Mauer und setzte die Sonnenbrille ab. Der Anblick des Hundes zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht, das aber rasch wieder erlosch.

»Hallo, Frau Hauschild«, begrüßte Pia Hennings Agentin.

»Hallo, Frau Kirchhoff«, erwiderte die Frau.

»Sander. Ehemals Kirchhoff«, korrigierte Pia lächelnd.

»Ach, natürlich. Bitte verzeihen Sie. Danke, dass Sie so schnell gekommen sind.«

Aus der Nähe sah Maria Hauschild nicht mehr ganz so jung aus wie von Weitem, aber sie war noch immer eine attraktive Frau, und Pia überlegte kurz, ob Henning wohl mit ihr ins Bett ging. »Kein Problem. Ich war sowieso gerade in der Nähe.«

Die Agentin trug ein weißes Leinenhemd, eine dreiviertellange Jeans und neongrüne Sneaker an den Füßen. Ihr kinnlanger Bob war silbergrau und nicht blond, aber wären die Fältchen rings um ihre Augen und über der Oberlippe nicht gewesen, hätte sie locker für Ende vierzig durchgehen können.

»Das ist ja ein schöner Hund«, sagte sie. »Wie heißt er?«

»Beck’s«, erwiderte Pia. »Wie das Bier.«

Bei der Erwähnung seines Namens legte Beck’s den Kopf schief und wedelte erwartungsvoll mit dem Schwanz.

»Henning sagte mir, Sie machen sich Sorgen um eine Bekannte.« Nach dem Streit mit Christoph und der unerfreulichen Begegnung mit der Weimaraner-Tussi war Pia nicht in Stimmung für Höflichkeitsfloskeln und kam deshalb gleich zur Sache.

»Ja, das tue ich. Ich versuche schon seit Tagen, meine Freundin Heike zu erreichen, aber sie geht nicht ans Telefon und antwortet mir auch auf keine Mail oder Nachricht.« Die Agentin war unverkennbar besorgt. »Wir sind seit vierzig Jahren befreundet und in all diesen Jahren ist das nicht einmal vorgekommen. Sie hat vor einer Weile ihren Job verloren, und ich fürchte, ihr könnte etwas … hm … zugestoßen sein.«

»Was meinen Sie damit?« Pia runzelte die Stirn. »Vermuten Sie, dass sie sich etwas angetan hat?«

»Ich weiß es nicht.« Maria Hauschild hob ratlos die Schultern. »Aber es ist schon sehr ungewöhnlich, dass ich tagelang nichts von ihr höre. Und gerade vor dem Hintergrund dessen, was passiert ist …«

Pia hasste es, wenn Leute Sätze nicht beendeten in der Hoffnung, man würde nachfragen. Aber solange nicht feststand, dass der Freundin tatsächlich etwas zugestoßen war, interessierte Pia sich nicht für irgendwelche Hintergründe.

»Henning sagte mir, Sie hätten Blutflecken an einer Tür entdeckt«, sagte sie.

»Ja. Kommen Sie, ich zeige sie Ihnen.« Maria Hauschild öffnete das Tor, von dem der rote Lack abblätterte, und betrat das Grundstück. Pia warf einen Blick durch das kleine Garagenfenster. In der Doppelgarage stand ein dunkles Auto.

»Ihr Auto ist da«, sagte die Agentin. »Ich habe schon geschaut.«

»Kann es nicht sein, dass Ihre Freundin einfach nur verreist ist?«, fragte Pia. »Vielleicht ist sie mit dem Zug gefahren oder geflogen und besucht Verwandte oder Freunde. Menschen, die ihren Job verlieren, brauchen manchmal einen Tapetenwechsel.«

»Heike hat keine Verwandten und auch nur wenige Freunde«, behauptete Frau Hauschild. »Und sie verreist nie. Erst recht nicht mit dem Zug, weil sie es nicht aushält, stundenlang nicht rauchen zu können. Glauben Sie mir, ich kenne sie schon sehr lange und sehr gut.«

Pia folgte ihr mit Beck’s an der Leine einen von Moos und Tannennadeln bedeckten Weg entlang, der hoch zum Haus führte. Der Garten wirkte vernachlässigt. Sträucher und Blumen waren in der Hitze der letzten Wochen verwelkt, und der Rasen war schon so lange nicht mehr gemäht worden, dass er eigentlich einer Wiese glich. Die Terrasse vor dem Haus wirkte, als wäre sie lange nicht benutzt worden. Sechs Gartenstühle waren an einen Tisch gekippt, daneben standen eine altersschwache Hollywoodschaukel, ein eingerollter Sonnenschirm und ein rostiger Grill. Für die verdursteten Pflanzen in Blumentöpfen aller Größen und Formen kam jede Hilfe zu spät. Eine Markise, die ursprünglich einmal erdbeerrot gewesen sein mochte, war zu einem fadenscheinigen Rosa ausgebleicht und der Volant hing schlaff herunter. Der Putz des Hauses war an vielen Stellen schadhaft, und an einer Seite war die Hausmauer bis hoch zur Regenrinne mit Efeu bewachsen.

»Wann haben Sie zuletzt mit Ihrer Freundin gesprochen?«, erkundigte sich Pia.

Maria Hauschilds Antwort ging im ohrenbetäubenden Kreischen einer Kreissäge unter. Auf dem Nachbargrundstück zur Rechten erhob sich der gigantische Rohbau eines jener verglasten Betonklötze, in denen Menschen heutzutage gerne wohnten. Von ihren Hundespaziergängen kannte Pia einige dieser Neubauten und wunderte sich immer wieder, was aus Bebauungsplänen herauszuholen war, wenn man einen cleveren Architekten auf der einen und eine flexible Baubehörde auf der anderen Seite hatte. Wo früher kleine Einfamilienhäuser mit Garage und Garten gestanden hatten, wuchsen rechteckige Glasbunker aus dem Boden, oft mit Tiefgarage für mehrere Fahrzeuge, die jeden Millimeter des Baufensters ausnutzten, zum Entsetzen der Nachbarn, die sich unversehens im Schatten eines zweistöckigen Glaskastens wiederfanden.

Pia wiederholte ihre Frage.

»Letzte Woche irgendwann«, räumte Maria Hauschild ein. »Ich weiß, es mag Ihnen seltsam erscheinen, dass ich mir schon nach ein paar Tagen solche Sorgen mache. Aber Heike war am Dienstagabend in eine Live-Talkshow eingeladen, die ihr sehr wichtig war. Sie hat diese Sendung viele Jahre lang selbst mitmoderiert. Doch sie ist nicht aufgetaucht. Sie hat nicht einmal abgesagt.«

»Aha.«

Sie blieben vor einer weißen Holztür stehen, deren Farbe Risse zeigte und abblätterte.

»Diese Tür führt in die Küche. Heike benutzt sie häufiger als die eigentliche Haustür«, erklärte die Agentin. Sie wies auf ein paar Flecken auf der Treppenstufe und einen Streifen am Türblatt. »Sehen Sie hier, das ist doch Blut, oder?«

Pia befahl Beck’s, sich hinzulegen und zu warten, dann ging sie in die Hocke und begutachtete die bräunlichen Flecken.

»Ja, das könnte Blut sein«, bestätigte sie. »Allerdings sollten Sie sich nicht gleich das Schlimmste ausmalen. Ihre Freundin könnte sich bei der Gartenarbeit verletzt haben.«

Oder sie hatte Nasenbluten. Oder sie hat ein blutiges Steak zum Grill getragen. Pia spähte durch einen der Glaseinsätze der Tür und erkannte Küchenschränke und einen Kühlschrank. Sie zupfte ein Paar Latexhandschuhe aus der Seitentasche ihres Rucksacks und streifte sie über. Dann klopfte sie an die Tür.

»Das habe ich auch schon versucht«, sagte Frau Hauschild.

»Wie kommen wir ins Haus?«, fragte Pia. »Ich nehme an, Sie haben keinen Schlüssel.«

»Äh, ich … ich dachte, die Polizei darf in einem Notfall Türen öffnen«, sagte Frau Hauschild zögernd.

»Das ist richtig.« Pia wandte sich der Agentin zu. »Aber hier ist weder Gefahr im Verzug, noch liegt ein Notfall vor. Ihre Freundin ist volljährig und darf sich aufhalten, wo sie will, auch ohne jemandem Bescheid zu sagen. Ließe ich die Tür aufbrechen, wäre das Hausfriedensbruch.«

»Ich mache mir wirklich sehr große Sorgen«, beteuerte Maria Hauschild eindringlich. »Was, wenn sie verletzt im Haus liegt? Der Winterscheid-Verlag war immer Heikes Familie. Über dreißig Jahre lang. Sie lebt für ihre Arbeit und für ihre Autoren. Und jetzt hat sie nichts mehr.«

Pia horchte auf.

»Winterscheid? Ist das nicht der Verlag, bei dem auch Henning ist?«

»Ja, genau.« Die Agentin nickte.

»Hat irgendjemand sonst einen Haustürschlüssel?«, erkundigte Pia sich. »Ein Nachbar vielleicht?«

»Das weiß ich nicht.« Frau Hauschild legte die Stirn in Falten. Auf einmal trat ein entschlossener Zug um ihren Mund. Sie rollte den rechten Ärmel ihrer Bluse herunter. Bevor Pia sie daran hindern konnte, rammte die Agentin ihren Ellbogen durch einen Glaseinsatz in der Tür.

»Was tun Sie denn da?«, rief Pia entgeistert. »Das ist Einbruch!«

»Ich werde für den Schaden aufkommen.« Frau Hauschild griff durch das Loch, drehte den innen steckenden Schlüssel um und öffnete die Tür. »Aber jetzt, wo die Tür offen ist, können wir im Haus nachschauen, ob sie dort irgendwo ist, oder nicht?«

»Heike?« Sie machte Anstalten, das Haus zu betreten.

»Stopp!«, bremste Pia die Frau. »Sie bleiben hier. Ich sehe mich da drin erst mal alleine um, falls … na ja …«

»Oh! Natürlich.« Maria Hauschild sah sich bestürzt um.