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In dem Buch geht es um Viola, die das Tagebuch ihrer Urgroßmutter findet und tief in die Vergangenheit eintaucht. Dabei stellt sie fest, dass sie ihre Familiengeschichte neu überdenken muss und muss sich ihren Problemen stellen.
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Seitenzahl: 465
Veröffentlichungsjahr: 2024
© 2021 Barbara Bornemann
Umschlag, Illustration: Sieglinde Lüders, Raphael Falge
Lektorat, Korrektorat: Jonas Westhoff
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
ISBN
Paperback978-3-384-55233-4
e-Book978-3-384-29172-1
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor/die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine/ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, postalisch zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland‘Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Kapitel 1
Hamburg, Februar 2022
Das Homeoffice hatte wirklich Vorteile, fand Viola. Und im dritten Coronajahr hatte sie sich mittlerweile daran gewöhnt. Obwohl sie, wie der Rest der Welt, hoffte, sich nicht bis ans Ende aller Tag an die coronabedingte Ausnahmesituation gewöhnen zu müssen. Aber seitdem es die Impfungen gab, ging es ja auch wieder ein wenig aufwärts. Und: Irgendwann ging schließlich jede Krise zu Ende. Selbst die Spanische Grippe hatte letzten Endes ihren Schrecken verloren. 2022 konnte also nur besser werden. Außerdem war sie froh, dass sie noch Arbeit hatte. Die Coronajahre waren für ihre Firma nicht gerade rosig gewesen. Viele Firmen hatten wenig Beratung gebraucht und wenn, dann ging es hauptsächlich darum, noch mehr Personal abzubauen als vor der Krise. Ja, das menschliche Kapital einer Firma war der teuerste Posten, aber er brachte dem Unternehmen auch viel Gutes. Daher würde Viola nie verstehen, trotz ihrer langen und erfolgreichen Karriere als Unternehmensberaterin, warum zuerst die Arbeitskräfte gehen mussten. Sie versuchte immer zuerst andere Einsparmöglichkeiten auszuschöpfen. Und wenn sie doch den Rotstift beim Personal ansetzen musste, war es ihr Bestreben möglichst sozial vorzugehen. Vorzeitiger Ruhestand, Altersteilzeit und so weiter. Leider gelang ihr das nicht immer. Und das tat ihr in der Seele weh.
Sie sah auf die Uhr. Es war kurz nach vier Uhr nachmittags. Sie hatte am Morgen sehr früh mit der Arbeit begonnen, weil sie sich vorgenommen hatte, endlich die Ordner auszumisten, die sie seit bestimmt zwanzig Jahren nicht mehr angefasst hatte. Sie war damals aus ihrer Studentenbude zu ihrem Verlobten gezogen und nach der Trennung in ihre neue Wohnung - und nach der Hochzeit mit ihrem jetzigen Mann vor sechzehn Jahren in die Wohnung, in der sie noch immer lebte. Die Ordner enthielten Unmengen an Aufzeichnungen aus dem Studium. Fallanalysen, fiktive Flipcharts, Marktanalysen, Lean Management und weiß der Geier was noch. Ihr Mann hatte sie ständig damit aufgezogen, dass sie nichts wegwerfen konnte. Wenn er meinte. Viola würde ihm schon zeigen, dass sie sehr wohl Dinge wegwerfen konnte. Sie wurde in diesem Jahr zweiundvierzig und sollte die Reife haben, Dinge zu entsorgen. Was tatsächlich am Ende des Tages auf dem Müll landen würde, konnte sie noch nicht wissen, als sie sich dem Aktenschrank näherte.
„So, mein Freund! Dann wollen wir mal.“ Viola rieb sich die Hände. Sie wollte zwei Stunden lang die Unterlagen sortieren und dann in die Wohnung ihrer besten Freundin fahren, um deren Katzen zu füttern und die Blumen zu gießen. Harriet war einen Tag zuvor Hals über Kopf in die USA geflogen, weil ihr Bruder und seine Frau erneut Nachwuchs bekommen hatten. Sie hatte auch völlig vergessen, ihrem Sohn Bescheid zu geben, der im Internat war. Somit hatte Viola am gestrigen Abend ihren vierzehnjährigen Patensohn am Telefon gehabt, der verzweifelt war, weil er seine Mutter nicht erreichen konnte. Viola hatte sich nur an den Kopf gefasst und gefragt, wie verpeilt ein Mensch nur sein konnte. Harriet wusste von ihrem Zustand und scherzte ständig, dass das auch der Grund war, aus dem Jamesʼ Vater sich aus dem Staub gemacht hatte. Viola hegte allerdings schon seit fast fünfzehn Jahren den Verdacht, dass Frank sich davongemacht hatte, weil James unterwegs gewesen war. Trotzdem hatte sie es geschafft, ihren Sohn pannenfrei aufzuziehen. Vielleicht lag es auch den äußeren Umständen. Harriet war nicht nur Violas beste Freundin, sie war auch quasi von Violas Familie adoptiert worden. Violas älterer Bruder war Jamesʼ anderer Taufpate und Violas Neffe sein bester Freund. Und als Johannes mit elf Jahren, wie es in Violas Familie Tradition war, aufs Internat gewechselt war, wollte James mitkommen. Harriet, die in ihrer Jugend selbst auf einem Internat gewesen war, hatte schwer schlucken müssen, dass ihr „Baby“ sie verlassen hatte. Viola, ihre Schwägerin Katharina und Jessica, eine weitere enge Freundin, hatten eine Woche gebraucht, um Harriet in ihrem Zustand zu trösten. Aber James gefiel es im Internat und der letzte Bericht, den Viola von ihrem Neffen erhalten hatte, enthielt die frohe Botschaft, dass die Klassenkameradinnen derzeit kaum eine Chance hatten, Jamesʼ Charmeoffensiven zu entgehen. Allerdings führte ihr Neffe das eher darauf zurück, dass sie gerade „Romeo und Julia“ einstudierten. „Dabei hat er noch nicht einmal die Rolle des Romeo bekommen. Er spielt Bruder Lorenzo!“, hatte Johannes sichtlich empört gesagt, als sie vor ein paar Tagen telefoniert hatten. „Er wird sich schon wieder beruhigen“, hatte ihre Erklärung gelautet. Johannes war von Jamesʼ Flirts ziemlich genervt. Er fand seinen besten Freund peinlich. Doch während Viola den ersten Aktenordner aus dem Regal zog, dachte sie, dass ihre Aussage wohl eher eine Wunschvorstellung war. Johannes und James waren vierzehn, langsam setzte die Pubertät ein und die Hormone würden endgültig verrückt spielen. Nicht mehr lange und auch Johannes würde die Reize des weiblichen Geschlechts entdecken und dann gab es vermutlich Konkurrenzkämpfe mit seinem besten Freund. So! Jetzt aber, Viola. Die Jungs würden vermutlich in den Osterferien zu Besuch kommen und dann konnte man sich immer noch über hormonelle Probleme austauschen.
Viola blätterte den Ordner durch. Sie hatte Recht behalten. Aufzeichnungen von Vorlesungen ihres Professors, der später auch ihr Doktorvater geworden war, Flipcharts und diverse Spielszenarien. Irgendwie brachte das Erinnerungen zurück. Hm, dieser Ordnerinhalt konnte definitiv auf den Müll. Jetzt kam der zweite an die Reihe. Viola war so tief in Erinnerungen versunken, dass sie beinahe etwas übersehen hätte, das nicht in den Ordner gehörte. Viola stutzte und zog das Schreiben aus dem Ordner. Es war eine Bescheinigung darüber, dass ihr Ehemann keine Spermien mehr produzierte und dass die Vasektomie erfolgreich abgeschlossen war. Vasektomie? Das bedeutete doch Durchtrennung des Samenleiters, oder? Das hieß, dass Philip keine Kinder zeugen konnte. Und zwar absichtlich! Sie hatten damals vor der Ehe von Kindern gesprochen, wollten aber noch warten. Philip zumindest. Deshalb hatte sie auch weiterhin die Pille genommen. Philip wollte erst noch warten, bis seine Werbeagentur den gewünschten Erfolg hatte, damit ihre Kinder auch etwas vom schönen Leben hätten. Inzwischen fragte Viola sich, warum. Sie kamen beide aus reichen Familien. Nun war sie wie vor den Kopf gestoßen. Sie hatte das Gefühl, aus einem Albtraum zu erwachen. Einem sechzehn Jahre währenden Albtraum allerdings. Von wann war das Zertifikat? Sommer 2011. Sommer 2011? Da hatte ihr gemeinsamer Kinderwunsch angefangen. Sie erinnerte sich deshalb so genau, weil sie angefangen hatte, Tagebuch zu führen. Mit ihren Wünschen und Hoffnungen, bald einen kleinen Erdenbürger in ihren Armen zu halten. Endlich ein eigenes Kind. Einen Sohn, eine Tochter. Jemanden, der einen bedingungslos liebte und bedingungslos zurück geliebt wurde. Und dann kam die Ernüchterung. Sie hatte zwar die Pille abgesetzt, wurde aber einfach nicht schwanger. Mit den Jahren war sie verzweifelter und trauriger geworden. Ihr Bruder hatte Kinder, ihre Freundinnen hatten Kinder, nur sie bekam keine. Harriet und Jessica hatten immer versucht, sie zu trösten und es geschafft, dass sie nicht gänzlich abbaute. Viola zerknüllte das Spermiogramm in ihren Händen, so wütend war sie. Deshalb hatte sie die Pille absetzen sollen. Es konnte nichts mehr passieren. Philip hatte nie Kinder gewollt. Er war heimlich in die Schweiz gefahren um sich sterilisieren zu lassen. Dieses Arschloch! Na warte! Harriets Katzen mussten warten. Obwohl, sie versorgte lieber erst die Stubentiger. Die konnten schließlich nichts dafür und möglicherweise würden zehn Minuten Katzenstreicheln dafür sorgen, dass sie Philip nicht sofort den Hals umdrehte. Viola atmete tief durch und griff nach Autoschlüssel und Handtasche.
Sie fand einen freien Parkplatz direkt vor dem Haus welches Philips Werbeagentur beherbergte. So etwas gab es doch sonst nur im Film, dachte sie und stieg aus. Die Fahrt durch die Hamburger Innenstadt hatte sie etwas beruhigt, genauso wie der Cappuccino, den sie sich bei Harriet um die Ecke gegönnt hatte. Sie atmete abermals tief durch, straffte die Schultern und betrat das Gebäude. Philip würde sie zuerst beschwichtigen, dann würde er alles abstreiten - trotz erdrückender Beweise - und sie anschließend für völlig hysterisch erklären. Vielleicht würde er sie auch noch fragen, ob sie ihre Tage habe. Und dann würde er sie anfahren, dass sie herumgeschnüffelt hatte. Obwohl er derjenige gewesen war, der seine Unterlagen in ihrem Ordner deponiert hatte. Vermutlich aus dem Grund, weil sie eh nichts wegwerfen konnte und ihre alten Dokumente ohnehin nicht durchsah. Bis zum heutigen Tag an dem sie ausmisten wollte. Wieso nicht fünf Jahre früher? Jetzt hatte sie ihre Chance auf Kinder verspielt. Sie würde niemals Mutter sein. Und das nur, weil sie auf einen egoistischen Mistkerl hereingefallen war. Ihr Bruder hatte sie gewarnt. Sie hatten dasselbe Internat besucht und es war zwischen ihnen nicht allzu gut gelaufen. Viola hatte damals eine schmerzhafte Trennung hinter sich gehabt und Philip hatte sie sehr charmant getröstet. Dann verliebte sie sich in ihn. Glaubte sie zumindest. Ein Fehler, wie sie sich inzwischen eingestand. Sie konnte es nicht fassen. Im Fahrstuhl wechselten sich die unterschiedlichsten Emotionen ab: Wut, Enttäuschung, Verletzlichkeit, Scham, Trauer. Alle in abwechselnder Reihenfolge. Viola hoffte immer noch, dass der Wecker klingelte und sie aufwachte. „Von Bahrenthal-Werbeagentur“ prangte auf einem schwarzen Schild mit schnörkeliger Goldschrift. Philip stammte wie Viola aus einem alten Adelsgeschlecht. Vermutlich war das blaue Blut ihre einzige gemeinsame Verbindung, die ihnen noch geblieben war. Wütend stieß sie die Tür auf und marschierte zielstrebig auf das Büro ihres Mannes zu. Dort angekommen sah sie auf die Uhr. Wo war Philips Sekretärin? Sie machte nie vor ihrem Chef Feierabend. Dafür war sie zu ehrgeizig, wie Viola in Erinnerung hatte. Sie hatte die Frau nie leiden können. Zu künstlich, zu ehrgeizig, zu aufgetakelt. Egal! Viola öffnete die Tür und erstarrte. Philip saß nicht an seinem Schreibtisch, dafür aber hörte Viola das rhythmische Stöhnen zweier sich paarender Menschen.
„Oh, ja, Baby! Genau so. Gott, fühlst du dich gut an. Enger, Schätzchen, ja genauso. Baby, du machst mich so heiß. Soll ich deine Titten wieder verwöhnen?“ Konnte dieser ohnehin schon schreckliche Tag etwa noch schlimmer werden, als es vor nunmehr fast zwei Stunden schon den Anschein hatte? Offensichtlich ja. Viola schloss die Augen. Das war einfach zu viel des Guten. Oder des Schlechten? Nur dass es diese Phrase nicht gab. Obwohl sie der Meinung war, dass man „zu viel des Guten“ eher ironisch meinte.
„Oh Gott, Philip. Fester, mein Starker!“
Viola umrundete wie in Trance den Schreibtisch, bis sie vor Philip und seiner Sekretärin stand. Philip sah, als er in seinem rauschähnlichen Zustand die Augen öffnete, zuerst schwarze Pumps und eine schwarze knöchellange Anzughose. Langsam wanderte sein Blick über eine rubinrote Bluse und einen schwarzen Blazer, bis er in das kreidebleiche Gesicht seiner Ehefrau blickte, die ihn und die Frau unter ihm mit einem Ausdruck des namenlosen Entsetzens betrachtete. Violas lange braune Haare schienen durch ihre Erschütterung noch lockiger zu sein als ohnehin schon und in ihren blauen Augen blitzte es gefährlich.
Viola! Es ist nicht so, wie du denkst.“
„Was anderes fällt dir nicht ein? Ich sehe, wie der Schwanz meines Ehemannes in einer anderen steckt und es ist nicht so, wie ich denke, dass es ist? Für wie dämlich hältst du mich eigentlich? Von deiner kleinen Operation in der Schweiz mal ganz zu schweigen?“ Philip wurde blass. Wie zur Hölle hatte sie das herausgefunden? Er war im Arsch. Viola würde ihn verlassen. Gut, er hatte sie betrogen, aber wer blieb schon treu? Männer wie er waren nicht für die Treue gemacht. Dafür sah er einfach viel zu gut aus und erfolgreich war er obendrein. Genau, er war erfolgreich. Deshalb würde er auch seine Ehefrau behalten. Er müsste es nur geschickt anstellen. Viola hatte ihm in den letzten sechzehn Jahren schließlich genug abgekauft.
„Liebling, ich kann dir das erklären. Wenn du mich nur lässt, dann ...“ Philip hörte ein leises Klingeln, als Violas Ehering durchs Büro flog und Gott weiß wo landete. Verdammt!
„Arschloch!“ Viola stürmte aus dem Büro und hörte nichts von Philips Beteuerungen, die er hinter ihr her rief. Sie rannte die Treppen herunter („Scheiß auf den Fahrstuhl“) und raus aus dem Gebäude. Vor der Tür stieß sie mit einem älteren Herrn zusammen, der sich vielmals für seine Unaufmerksamkeit entschuldigte. Viola hörte gar nicht richtig hin und murmelte ebenfalls eine Entschuldigung. Sie stieg in ihr Auto und fing augenblicklich an, bitterlich zu schluchzen. Sie war am Ende ihrer Kräfte. Sechzehn Jahre Ehe im Eimer. Von jetzt auf gleich. Das konnte doch einfach nicht wahr sein. Was hatte sie übersehen? Was hatte sie falsch gemacht? Wieso hatte Philip sie betrogen? War sie ihm zu langweilig? Nicht mehr schön genug? Wie hatte das passieren können? Sie brauchte wen zum Reden. Doch wen? Ihr Bruder war auf dem Familiensitz außerhalb von Hamburg in Schleswig-Holstein. Es war zwar nicht allzu weit entfernt, aber die Fahrt wäre jetzt zu viel für sie. Harriet war in den USA und Jessica hatte im Augenblick zwei kranke Kinder zu Hause. Viola fiel nur ein Mensch ein. Hoffentlich war er zu Hause und hatte Zeit für sie. Sie startete den Motor und fuhr los.
Kapitel 2
Schloss Altenstein, Juni 2022
Viola parkte ihr Auto neben dem ihres Bruders und stieg aus. Sie atmete tief ein und genoss die gute Landluft. Der Unterschied zu Hamburg war riesig. Auch was die Temperaturen anging. Die Junihitze war in der Stadt momentan erdrückend. Auf dem Land ging es einigermaßen. Sie sah sich um. Sie war extra am Samstag angereist, weil das Schloss da für den Publikumsverkehr gesperrt war. Außer David und der Verwalter hatten die Regelungen geändert und ihr nichts davon gesagt. Sie alle waren überglücklich und erleichtert gewesen, als die ganzen Lockerungen kamen und die Geschäfte wieder aufgenommen werden durften. Es war eine lange Durststrecke gewesen. Auch für reiche Grundbesitzer. Vieles hatte gefehlt.
Viola sah an der Fassade hoch. Das Schloss war hellblau und die Fenster weiß umrahmt. Als Kind hatte sie ihr Zuhause stets mit dem Himmel verglichen. Die Fassade war der Himmel und die Fenster die Wolken. David hatte sie damit immer aufgezogen, doch Viola fand, dass sie recht hatte. So sah sie das noch heute. Sie liebte ihr Zuhause, daran hatte auch ihr Weggang nichts geändert. Ihr Blick wanderte nach links zum Ende der Fassade, wo sich – zu ihrer Rechten – ein Turm befand. Im Dreißigjährigen Krieg war die Front des U-förmigen Schlosses zerstört und wiederaufgebaut worden. Ende des achtzehnten Jahrhunderts hatte es seine jetzige Farbe erhalten. Viola war froh darüber, dass ein Großteil des alten Schlosses erhalten geblieben war, denn in dem linken Teil ging die weiße Frau um, die jede alteingesessene Familie aufzuwarten hatte. Nur war die der Altensteins nicht böse und auf Rache aus, sondern lediglich traurig und unglücklich. Laut der Chronik hatte sich ihre mehrfache Urgroßmutter Kunigunde von Altenstein nach dem Tode ihres geliebten Gatten in den Tod gestürzt um den Nachstellungen ihres Schwagers zu entgehen. Dieser hatte dann versucht seinen Neffen Roderich um sein rechtmäßiges Erbe zu bringen, was in einem dramatischen Kampf endete, der zugunsten Kunigundes Sohn ausging. Besagter Sohn hatte auch die Folterkammer im Gewölbe einbauen lassen um seinen Feinden zu zeigen, dass mit ihm nicht zu spaßen war. Angeblich hatte es anschließend auch niemand mehr gewagt, ihm seine Pfründe streitig zu machen. Viola grinste breit. Die Folterkammer! Mit der hatte sie damals ihrer Schwägerin gedroht, sollte diese jemals ihren Bruder betrügen. Katharina hatte nur gelacht und erwidert, dass ihr Bruder David dasselbe angedroht hatte. Allerdings hatte die Drohung keinerlei negative Auswirkung auf das Verhältnis der beiden Frauen gehabt. Sie hatten sich schon vor der Ehe gut verstanden und sahen sich als so etwas wie Schwestern. Viola überlegte, ob sie ihre Tasche mitnehmen sollte, entschied sich aber schließlich dagegen. Sie wollte zuerst ihren Bruder sehen und anschließend zu ihrem Haus gehen. Vor dem Schlossportal suchte sie nach ihrem Schlüssel, doch die Tür öffnete sich wie von Zauberhand.
„Martin!“
„Frau von Altenstein. Schön, dass Sie wieder hier sind.“
„Von Bahrenthal, Martin.“ Sie lächelte den Butler an. Dieser setzte eine höfliche Miene auf.
„Ihr Herr Bruder hat Ihrer Schwägerin mitgeteilt, dass Sie sich scheiden lassen wollen. Daher fand ich es angemessen, Sie bei Ihrem Mädchennamen anzureden.“
„Wieso habe ich das Gefühl, als wenn es Sie nicht stört, dass ich in Scheidung lebe?“
„Ich freue mich, dass Sie wieder hier sind. Und zwar ohne Ihren Ehemann.“
„Gehören Sie etwa auch zu denjenigen, die ihn nicht leiden können?“ Viola hatte in den letzten Monaten festgestellt, dass kaum einer aus ihrer Umgebung Philip leiden konnte. Harriet und Jessica hatten ihre Abneigung lediglich gut versteckt und diese erst kundgetan, als Viola ihnen erzählt hatte, dass sie die Scheidung eingereicht hatte. Sie war sprachlos gewesen. „Was hätten wir denn tun sollen? Du warst völlig verknallt in den Penner“, hatte Harriet gesagt.
„Nun, im Gegensatz zu Trudi konnte ich mich im Laufe der Jahre wenigstens beherrschen.“ Viola schloss die Augen. Trudi war die Köchin und hatte aus ihrer Abneigung Philip gegenüber nie einen Hehl gemacht. Bei einem Abendessen hatte sie geholfen mit aufzutragen und Philip hatte einen fürchterlichen Hustenanfall erlitten. Hinterher hatte sich herausgestellt, dass Trudi seinen Teller mit einer Extraportion Pfeffer versehen hatte. Violas Vater hatte Trudi zwar mit einem tödlichen Blick bedacht, aber nichts gesagt. Trudi besaß Narrenfreiheit. Sie war eine gute Köchin und hatte zusätzlich als eine Art Kindermädchen David und Viola mit aufgezogen. Ihre Tochter Jessica war so alt wie Viola und mit ihr aufgewachsen. Die Eltern hatten Jessica zusammen mit Viola aufs Internat schicken wollen, aber das hatte Trudi energisch abgelehnt. Das ging ihr dann doch etwas zu weit. Viola hegte den Verdacht, dass die Leute denken könnten, dass Jessica die uneheliche Tochter des Grafen sein könnte. Sie erinnerte sich noch an die Familienkonferenz, an der sie und Jessica hatten teilnehmen dürfen, obwohl sie erst zwölf gewesen waren. Aber es ging schließlich um ihre Schulbildung. Als Trudi ihre Befürchtung geäußert hatte, war ihre Großmutter entsetzt gewesen.
„Richard! Du hast doch wohl nicht etwa wirklich eine Affäre mit Trudi gehabt, oder? Ich hatte gedacht, deine Großmütter und ich hätten dich besser erzogen.“
„Mutter! Selbstverständlich nicht. Ich bitte dich. Was denkst du denn von mir? Caroline, Liebes, ich bitte auch dich, mir zu glauben.“
„Ich glaube dir, Liebling. Aber ich kann Trudis Bedenken verstehen.“
„Auf der anderen Seite wissen doch eh alle im Dorf, dass es hier seit ewigen Zeiten sehr familiär zugeht. Und dass das Personal zur Familie gehört. Das haben schon Großvater Herberts Großeltern so gehandhabt“, hatte ihr Vater argumentiert.
„Deswegen müssen die Leute aber trotzdem nicht denken, dass es hier zugeht wie in Woodstock“, hatte die Großmutter eingeworfen.
„Was ist Woodstock?“, war es wie aus einem Munde von Viola und Jessica gekommen. Daraufhin hatten alle Erwachsenen im Chor „Das geht euch absolut nichts an!“ gerufen. Viola und Jessica hatten einander angesehen und Viola meinte schulterzuckend „Dann geht es wohl um Sex oder Drogen.“ „Oder um beides. Komm, Viola. Wir gehen.“ Die Mädchen hatten die Erwachsenen diskutierend im Salon gelassen. Als David und sein bester Freund Ruben ein paar Wochen später in den Osterferien nach Altenstein gekommen waren, hatten die Freundinnen erfahren, dass Woodstock ein gigantisches Musikfestival Ende der sechziger Jahre gewesen war.
„Siehst du? Beides. Drogen und Sex.“
„Hallo! Erde an Viola. Schwesterherz!“ Viola zuckte zusammen. Der Butler war verschwunden und ihr Bruder stand mit einem Lächeln vor ihr und schnippte mit den Fingern.
„Hallo, David. Schön, dich zu sehen.“ Viola fiel in die ausgebreiteten Arme ihres Bruders und schmiegte sich an ihn. Wie gut das tat.
„Weil wir uns auch sooo lange nicht gesehen haben“, neckte er sie und streichelte ihr durchs Haar. Auch wenn er seine Bemerkung flapsig gemeint hatte, musste er zugeben, dass er seine Schwester vermisste. Nun, auch wenn Hamburg und Altenstein nicht weit auseinander lagen - im Dorf gab es genug Berufspendler - sahen sich die beiden nicht so oft, wie sie es gern hätten. Viola war beruflich stark eingespannt und die Zeiten, in denen ein Schlossherr faul auf seinen Gütern saß und Jagdpartien abhielt, waren lange vorbei. Wenn die Sorgen um den Wald wieder größer wurden - und um den Wald war es leider auch bei den Altensteins schlecht bestellt – trotz aller Bemühungen - überlegte David immer, ob er nicht die Brocken hinschmeißen sollte. Aber das würde den Verlust einer langen Familiengeschichte bedeuten und trotz der großen Verantwortung für ein großes Schloss, einen riesigen Schlosspark, viele Hektar Wald und ein Dorf gefiel ihm sein Leben. Er hatte hin und wieder Zeit für einen ausgedehnten Spaziergang oder sogar einen Ausritt. Manchmal überlegte er, ob die Pferdezucht nicht vielleicht rentabler und weniger stressig war als die Landwirtschaft.
„So, Liebes. Als Trudi gehört hat, dass du heute kommst, hat sie noch Mittagessen vorbereitet und ist dann abgehauen. So viel zu einem freien Wochenende.“ Viola lächelte. Sie war der erklärte Liebling der Köchin. Das wusste jeder. Daher wunderte es sie nicht, dass sie ihr trotz des freien Tages Essen gekocht hatte.
„Trudi. Wenn die mal aufhört, wird hier etwas fehlen. Vor dem Tag graut es mir jetzt schon“, sagte sie, als sie mit David in Richtung Küche ging.
„Nun ja, sie ist siebzig. Ich habe sie vor einigen Wochen nach dem Ruhestand gefragt. Daraufhin wollte sie wissen, ob ich sie loswerden möchte.“
„Ich wusste gar nicht, dass du lebensmüde bist. Was hast du geantwortet? Nachdem du aus dem Koma erwacht bist, meine ich. Ich vermute, sie hat dich mit der Bratpfanne niedergestreckt?“
„Nein, wir standen vor dem Kühlschrank. Sie hat mir die Tür vor den Kopf geknallt. Scherz beiseite. Sie hat mich streng gemustert, was bei Trudi ja mehr sagt als tausend Worte, und ich habe ihr gesagt, dass ich wirklich nur ihr Wohlbefinden im Kopf habe. Und dass sie meinetwegen so lange bleiben kann, bis sie eines Morgens nicht mehr aufwacht. Immerhin wurde sie hier im Schloss geboren.“
„Außerdem sieht sie auch nicht wie siebzig aus. Und sie wirkt auch nicht so. Sie ist fit wie ein Turnschuh. Abgesehen davon, woher bekommst du Ersatz?“
„Das dürfte nicht so schwer sein. Gute Köche gibt es genug. Und unsere Arbeitszeiten sind ja nicht schlecht. Außerdem zahle ich sehr gut. Aber es wäre das Ende einer langen Geschichte. Trudis Mutter war hier schon Köchin und deren Mutter zuvor ebenfalls. Trudi ist die sechste Köchin in der Familie. Wie viele Familien können schon von sich behaupten, über ein Jahrhundert lang von derselben Familie bekocht worden zu sein?“
„Wenige vermutlich. Trudi würde mir allein deswegen schon fehlen, weil ich dann das Gefühl hätte, als wäre Mama ein zweites Mal gestorben.“ David sah Viola bei ihren Worten an.
„Ja, das sehe ich ähnlich. Allerdings bekäme ich, wenn Trudi in Rente geht, endlich eine Köchin oder einen Koch, der mich als Chef respektiert. Trudi hat absolut keinen Respekt vor mir.“ Viola wusste, dass David seine Worte nicht ernst meinte und biss sich auf die Lippen, damit sie nicht lachen musste.
„Sie behandelt uns einfach noch wie die Kinder, die sie mit großgezogen hat.“
„Mich behandelt sie wie das Kind, das sie großgezogen hat. Dich behandelt sie wie eine Erwachsene! Sie hätte mit Oma nie so geredet wie mit mir. Und Papa hat sie auch stets mit Respekt behandelt.“
„Bis auf das eine Mal. Als Papa Ruben verteidigt hat. Na ja, was heißt verteidigt? Er fand die Ohrfeige für Ruben unpassend. Ich weiß, dass du das nicht ernst meinst. Du liebst Trudis Behandlung.“ David streckte seiner Schwester die Zunge raus. Dass seine kleine Schwester ihn aber auch stets durchschaute.
„Oh! Hähnchenauflauf mit Brokkoli und Mozzarella überbacken. Trudi, ich liebe dich“, rief Viola, als sie in die Auflaufform auf dem Herd sah.
„Ich hoffe, du gibst mir etwas ab. Ich habe nämlich noch nichts gegessen, weil ich auf einen Happen spekuliert habe.“ Viola sah ihren Bruder spöttisch an. „Na ja, es ist schließlich dein Willkommensessen.“ Jetzt streckte Viola ihrem Bruder die Zunge raus und stellte die Form zum Aufwärmen in den Backofen.
„Essen wir hier?“
„Klar. Wer soll es uns verbieten? Ich bin hier schließlich der Herr.“ David öffnete die Besteckschublade und reichte Viola Messer und Gabel.
„Dass du aber auch immer den Boss heraushängen lassen musst. Wo ist Katharina?“, fragte Viola und deckte den Tisch.
„Bei ihrer Schwester in München. Und ich lasse den Boss schon deswegen heraushängen, weil ich älter bin.“
„Wenn du weiterhin so gemein zu mir bist, bekommst du doch nichts ab.“ David zog eine reumütige Miene und Viola gab ihm einen Kuss. „Du bist doch der beste Bruder, den ich habe.“
„Erinnere ich dich jetzt daran, dass ich dein einziger Bruder bin? Nein, das tue ich nicht. Wie lange wirst du bleiben?“
„Ein paar Wochen. Vielleicht einen Monat. Ich weiß es noch nicht genau. Ich muss mir über ein paar Dinge Gedanken machen. Dabei kann ich mich endlich um mein Haus kümmern. Charlotte wird es mir hoffentlich nicht übelnehmen, wenn ich ein paar Dinge verändere. Ach, David! Ich möchte nicht, dass irgendwer erfährt, dass ich hier bin. Außer Katharina natürlich. Und den Angestellten. Aber niemand von unseren Freunden und Bekannten. Bitte!“
„Das klingt wie ein Krimi. Bist du auf der Flucht, Schwesterherz? In Ordnung. Ich werde es weiterleiten. Wie ich Trudi kenne, wird sie persönlich ein mögliches Leck stopfen.“ Viola lächelte schwach. Ihr Bruder hatte teilweise recht. Sie war auf der Flucht. Vor sich selbst und ihren Wünschen. Sie hoffte, dass ihr Aufenthalt in dem Haus, das sie im Alter von zwei Jahren von ihrer Urgroßmutter geerbt hatte, half, die richtige Entscheidung zu treffen. Sie hatte bei ihrer Firma Urlaub eingereicht. Außerdem hatte sie noch gefühlt hundert Jahre Überstunden abzubauen. Das sollte ausreichen ihren Besitz zu sichten und sich über ihre Gefühle klar zu werden.
„Lass uns essen.“ Sie verteilte den Auflauf auf die Teller und setzte sich an die riesige Kücheninsel. David stand wieder auf.
„Es fehlt noch etwas zu trinken.“ Er nahm zwei Gläser aus dem Schrank und stellte eine angebrochene Flasche Weißwein auf den Tisch. „Wir müssen doch deine Heimkehr gebührend feiern.“
„Für mich bitte nicht, danke. Ich hätte gern Wasser.“ David hob eine Augenbraue und holte eine Flasche Wasser. Dann schenkte er seiner Schwester und sich ein. Die Weinflasche stellte er beiseite. Allein wollte er jetzt nicht trinken. David betrachtete seine Schwester eingehend. Wieso war sie nach Hause gekommen? Was war passiert? Zusätzlich zu der Trennung von ihrem Ehemann versteht sich.
„Was ist los mit dir? Was stimmt nicht? Du wirkst … widersprüchlich.“
Viola trank einen Schluck und dachte nach.
„Widersprüchlich?“
„Ich weiß es auch nicht. Du hast so ein Leuchten in den Augen, das ich gerade nicht einordnen kann. Du strahlst regelrecht. Trotzdem wirkst du unglücklich. Vielleicht nicht direkt unglücklich, aber traurig und nachdenklich. Und du hast etwas zugenommen.“
Viola sagte nichts und schob sich eine Gabelfüllung Auflauf in den Mund. Verdammt! David hatte etwas gemerkt. Aber das war ja klar nach ihrer Geheimniskrämerei.
„Moment! So ein Leuchten kenne ich noch von Katharina, als Freddie und Jo unterwegs waren. Dazu deine Gewichtszunahme – du bist schwanger!“ Viola lief rot an. Sie wagte kaum, in Davids Richtung zu schauen. Zum Teufel mit ihrem Bruder und seiner Beobachtungsgabe. David ließ die Gabel fallen, glitt von seinem Hocker und umarmte seine neben ihm sitzende Schwester.
„Endlich, mein Schatz. Ich freue mich ja so für dich. Viola, das ist die beste Nachricht des Jahres. Aber“, David ließ Viola los und betrachtete sie nachdenklich, „das bedeutet ja, dass du zu Philip zurück bist. Und trotzdem willst du dich scheiden lassen?“ Violas Gesicht wurde knallrot und sie senkte den Blick. So konnte sie nicht sehen, wie es bei David abermals klick machte. „Es ist nicht von Philip, richtig?“
„Philip kann keine Kinder zeugen. Er hat sich sterilisieren lassen. Ich bin zufällig auf die Unterlagen gestoßen und als ich ihn in seiner Firma zur Rede stellen wollte, bin ich über ihn und seine Sekretärin gestolpert. Da sie es auf dem Boden miteinander getrieben haben, sogar buchstäblich.“
David wurde rot vor Wut.
„Er hat sich sterilisieren lassen? Heimlich? Dieser Arsch! Ich könnte ihm sämtliche Gliedmaßen ausreißen. Liebes! Warum hast du damals nicht gleich alles erzählt? Du hast“, David malte Gänsefüße in die Luft, „nur von seinem Betrug erzählt.“ David lehnte sich vor und berührte sanft Violas Schulter.
„Ich weiß auch nicht. Vermutlich, weil mir seine Vasektomie als ein noch größerer Betrug vorkommt. Ist schon gut. Ich war über viele Jahre blind, was ihn betrifft. Und jetzt habe ich feststellen dürfen, dass keiner ihn leiden kann. Mir gegenüber war er eigentlich nett. Er war zwar manchmal etwas überheblich, aber ich hatte nicht großartig Grund zur Klage.“
„Das ist nicht der Philip, den Ruben und ich aus dem Internat kannten. Zumindest nicht der, den du bis zu deiner Trennung beschrieben hast. Du glaubst gar nicht, wie verwundert wir all die Jahre waren.“ Besonders Ruben mit seinem schlechten Gewissen, wie David in Gedanken hinzufügte.
„Bitte frag jetzt nicht, wer der Vater ist. Das ist kompliziert. Und deswegen bin ich hier. Ich muss das alles sortieren.“ Viola rang ihre Hände und sah David mit wachsender Panik an. Der verstand gar nichts mehr. Irgendwas konnte mit dem Vater des Kindes nicht stimmen, aber was? War er verheiratet? Nein, seine kleine Schwester würde sich niemals auf einen verheirateten Mann einlassen. Nicht nach ihrer Geschichte. Sehr mysteriös. Sie wird es mir irgendwann erzählen.
„In Ordnung. Ich werde nicht fragen. Aber ich hoffe, dass du es mir eines Tages erzählen wirst. Guck mich nicht so an. Ich bin doch dein Bruder. Ich liebe dich. Egal, was du tust. Wir leben nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert. Du lebst in Scheidung, nicht im Zölibat. Wenn du ein uneheliches Kind bekommst, hat das niemanden zu interessieren. Abgesehen vom Kindsvater vielleicht.“
„David. Auch die Schwangerschaft muss unter uns bleiben. Ich bin zwar weit über die kritische Phase hinaus, aber ich möchte noch etwas warten. Bitte! Ich bin nicht hier und du weißt nichts von meinem Zustand. Auch zu Katharina kein Wort. Obwohl sie und Trudi mich vermutlich nur einmal anzusehen brauchen und sofort Bescheid wissen. Bitte!“
David drückte einen Kuss auf Violas Haar und versprach hoch und heilig, Stillschweigen zu bewahren, bis sie selbst davon sprechen wollte. Trotzdem zerbrach er sich den Kopf über das merkwürdige Verhalten seiner Schwester. So hatte er sie noch nie erlebt. Sie widmeten sich wieder Trudis leckerem Auflauf.
„Was mir gerade einfällt. Du hast von Modernisierungen gesprochen. Was genau heißt das?“
„Zum einen möchte ich unsere Gebäude mit Solarpaneelen versehen. Das Schloss werde ich beim Amt vermutlich nicht durchkriegen. Aber die Nebengebäude und die Ställe schon. Außerdem bekommen die Häuser im Dorf Wärmepumpen. Auf meine Kosten, ich werde es nicht auf die Mieten umschlagen. Die Leute haben genug andere Sorgen und ich genug Geld.“ David trank einen Schluck Wasser. Wenigstens würde er die Kosten teilweise von den Steuern absetzen können. Aber er würde seinen Leuten keine Mieterhöhung aufs Auge drücken. Er stöhnte.
„Wie kann einem ein Dorf gehören?“
Viola lächelte spöttisch.
„Tja, die Herrschaften um Scheidemann, Liebknecht und Co. haben damals, als sie unsereins entmachtet haben, vergessen, uns zusätzlich zu enteignen. Es gehört dir ja nicht komplett. Dir gehören ja bloß einzelne Häuser.“ Viola wusste, dass sie die Wahrheit arg dehnte. Ihrer Familie gehörte der Großteil der Immobilien im Dorf.
„Manchmal wünschte ich, sie hätten es. Wie viel weniger Sorgen ich dann hätte ...“
Viola glaubte ihrem Bruder kein Wort. Ihr Vater hatte manchmal ähnliche Reden geschwungen und dennoch hätte er niemals ein anderes Leben haben wollen.
„Ach, Viola. Ich habe im Kühlschrank noch einen „Kalten Hund“ entdeckt.“ Violas Augen leuchteten und sie beschloss, die Diskussion um Für und Wider von Grundbesitz auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.
„Du bekommst selbstverständlich etwas ab.“
„Du bist die beste Schwester, die ich habe.“
„Erinnere ich dich jetzt daran, dass ich deine einzige Schwester bin? Nein, das tue ich nicht.“
„Ich habe dich lieb.“
Kapitel 3
Schloss Altenstein, Juni 2022
Nach dem Essen holte Viola ihre Tasche aus dem Wagen und ging durch den Schlosspark. Es wehte ein laues Lüftchen und sie atmete etwas freier als noch einige Stunden zuvor. Sie war zu Hause. Im Moment wäre sie gern wieder mit Sack und Pack ins Schloss gezogen. Aber sie wollte endlich einmal einige Wochen in ihrem Haus verbringen. Als Kind hatten sie und ihre Freundinnen viel drinnen gespielt. Ohne etwas zu zerstören oder zu verändern. Sie hatten ihr Spielzeug mitgenommen und das Haus auf sich wirken lassen. Und später hatten sie Partys gefeiert. Da es zu Fuß etwa fünfzehn Minuten zu Fuß vom Schloss entfernt lag, hatten sie gut die Musik aufdrehen können. Sie und David hatten sich immer gefragt, wo das Haus herkam. Und wieso auf dem Schlossgelände ein Haus stand, das zusätzlich eingezäunt war. Selbst ihr Vater hatte es nicht gewusst. Das Haus stand schon vor seiner Geburt an seinem Ort und es hieß „Witwensitz“, da seine Großmutter es einige Jahre nach dem Tod ihres Mannes bezogen hatte. Auch in der Chronik war nichts darüber zu finden. Charlotte hatte das Geheimnis wohl mit ins Grab genommen. Es war nicht einmal klein zu nennen. Im Vergleich zum Schloss auf jeden Fall, aber für eine normale Familie wäre es ausreichend gewesen. Im Erdgeschoss befanden sich eine kleine, gemütliche Küche, eine kleine Bibliothek - eher ein Bücherzimmer im Vergleich zur riesigen Schlossbibliothek -, ein geräumiger Salon und ein kleines Arbeitszimmer. Im ersten Stock gab es drei Schlafzimmer und zwei Badezimmer. Und es gab noch einen Dachboden, dessen Zugang Viola aber bisher noch nicht entdeckt hatte. Wer auch immer das Haus erbaut hatte, war clever gewesen. Viola hatte sich entschlossen, das Geheimnis zu lüften. Vielleicht hatte ihre Urgroßmutter auf dem Dachboden ein paar Leichen versteckt. Gehörte das nicht zu einer adligen Familie dazu? Sie kicherte und steckte den Schlüssel ins Schloss.
„Hallo, Charlotte“, flüsterte Viola, obwohl sie sich sicher war, dass ihre Urgroßmutter eher im Schloss zu finden war. Sie durchquerte die kleine Eingangshalle und ging in die Küche. Dort blieb sie wie angewurzelt stehen. Das glaubte sie nicht. Sie hatte einen neuen Herd und einen kleinen Kühlschrank. Wie konnte das denn sein? Sie hatte doch überhaupt keine Veränderungen in Auftrag gegeben. Am Kühlschrank klebte ein Zettel. „Liebste Schwester, ich habe mir die Freiheit genommen, dir deinen Aufenthalt etwas wohnlicher zu gestalten. Da ich das Haus ohnehin regelmäßig putzen lasse, dachte ich, dass ich in der Küche ein paar Modernisierungsmaßnahmen durchführen kann. Natürlich bist du eingeladen, jeden Tag bei uns zu essen, darüber würden wir uns sehr freuen, aber falls du mal keine Lust auf deinen Bruder und deine Schwägerin hast, kannst du dich hier selbst versorgen. Meine kleine Überraschung zu deiner Heimkehr. Ich liebe dich, David“
„Du bist ein Blödmann“, sagte Viola lächelnd und steckte den Zettel in ihre Hosentasche. Sie war für beides dankbar, denn sie hatte beide Geräte demnächst ohnehin austauschen wollen. Der Herd, der zu Charlottes Zeiten in der Küche eingebaut worden war, stammte aus den fünfziger Jahren und der Kühlschrank aus den Sechzigern. Sie drehte einen Schalter, der Herd war angeschlossen. Der Kühlschrank ebenfalls. Allerdings war er leer. David setzte wohl voraus, dass sie im Schloss essen würde. Das hatte sie auch vor. Trudi würde ihr den Kopf abreißen, wenn sie auf Altenstein weilte, sich aber zu den Mahlzeiten nicht blicken ließ. Doch neben dem Kühlschrank standen einige Kisten Mineralwasser und Säfte. Auf der Arbeitsfläche sah sie einen neuen Wasserkocher und daneben stapelten sich ein paar Päckchen mit Violas Lieblingsteesorten. Viola drehte sich in Richtung Schloss und warf ihrem unsichtbaren Bruder eine Kusshand zu. Sie verließ die Küche und ging in Charlottes Arbeitszimmer. Dort setzte sie sich an einen hübschen Sekretär aus Nussbaum mit feinen Goldintarsien und zog eine Schublade auf. Irgendwo musste sie schließlich anfangen. Seit Charlottes Tod war nichts verändert worden. Abgesehen davon, dass regelmäßig geputzt wurde. Aber niemand hatte je etwas weggeworfen. Oder durchsucht. Auch Viola nicht. Als Kind hatte sie das Schloss auf den Kopf gestellt. Wieso sie dieses Haus nicht durchsucht hatte, wusste sie nicht. Oben auf einem Packen Briefpapier lag ein Umschlag. „Für Viola“. Merkwürdig, dachte Viola und öffnete den Umschlag.
Er enthielt feinstes Büttenpapier, welches mit einer altmodischen Handschrift beschriftet war. Vorsichtig entfaltete Viola das Schreiben.
Schloss Altenstein, 25. Mai 1980
Meine liebe Viola,
vor drei Tagen wurde mir das schönste Geschenk überhaupt gemacht. Eine kleine Urenkelin. Ich kann gar nicht beschreiben, wie glücklich ich bin, dass ich endlich ein Mädchen in dieser Familie willkommen heißen kann. Da ich schon alt bin und dir das alles nicht selbst erzählen kann, werde ich es dir in diesem Brief erklären, den du irgendwann erhalten sollst, wenn deine Eltern es für richtig halten. Zusätzlich werde ich dir dieses Haus vermachen, welches mir allein gehört. So hat es mein geliebter Herbert seinerzeit bestimmt. Ich kann mit diesem Haus verfahren, wie es mir beliebt. Und daher sollst du es bekommen. Du bist seit fast zweihundert Jahren das erste Mädchen in der direkten Linie und ich freue mich sehr darüber. Dein Urgroßvater und ich haben uns so sehr eine Tochter gewünscht, aber leider bekamen wir nur ein Kind. Deinen lieben Großvater, den du bedauerlicherweise nicht kennengelernt hast. Ich hätte es mir für deinen Vater sehr gewünscht, wenn er viel mehr Zeit mit deinem Großvater gehabt hätte. So wie mein Friedrich deinen Vater nicht hat aufwachsen sehen. Er war so glücklich, als sein Sohn zur Welt gekommen ist. Und ein paar Monate später fing der Krieg an. Der Krieg ist etwas Schreckliches, mein liebes Kind und ich hoffe, dass er dir und deinem Bruder erspart bleibt. Er tötet Menschen und wenn er sie nicht tötet,verändert er sie so sehr, dass man sie kaum noch erkennt. Mein Herbert hatte Glück. Er kam körperlich unversehrt wieder, aber bis er wieder mein geliebter Ehemann von früher wurde, hat es ein paar Jahre gedauert. Trotzdem habe ich ihn jung verloren. Daher wünsche ich dir für dein Leben alles Gute und Liebe. Mögest du das große Glück finden. Ich habe einige Fehler in meinem Leben begangen, aber es war ein schönes Leben. Mit viel Liebe und lieben Menschen. Wenn dir eines Tages die große Liebe begegnet, halte sie fest. Sie ist wichtig. Ich hoffe, dass ich meinen Lieben oft genug gesagt und gezeigt habe, dass ich sie liebe. Auch das ist wichtig, denn Liebe ist nicht selbstverständlich und als das sollten wir sie niemals sehen. Egal wie sicher wir uns des einen Menschen sind. Wir sind uns sicher, dass sie bei uns sind und manchmal sind sie von jetzt auf gleich weg. Wie dein Urgroßvater und Großvater. Und wir fragen uns hinterher, ob wir ihnen oft genug gesagt haben, dass wir sie lieben. Ich schreibe dir das als jemand, der viele geliebte Menschen zu früh verloren hat. Mein liebes Kind, ich hoffe, dass du deine Lieben möglichst lange um dich herum hast. Und dass du dein Leben mit viel Liebe füllst.
Deine überglückliche Urgroßmutter Charlotte
Viola ließ den Brief sinken. Auf eine Art war es ein Schreiben aus dem Jenseits. Eigentlich hätten ihre Eltern ihr den Brief geben sollen. Aber wieso hatten sie nichts von dem Brief gewusst? Viola musste nachdenken. Charlotte hatte diese Zeilen drei Tage nach ihrer Geburt geschrieben und war, wenn ihre Erinnerung an alte Erzählungen sie nicht täuschte, kurz darauf auf Drängen ihrer Eltern und Großmutter zurück ins Schloss gezogen, wo sie dann zwei Jahre später verstorben war. Da Charlotte Violas Vater schon einige Jahre zuvor die Leitung von Altenstein übertragen hatte, hatte sie kein Testament hinterlassen. Ihr Vater wusste allerdings, dass Viola das Haus im Schlosspark erhalten sollte. Zusammen mit einer Geldsumme, die ihr Vater für sie angelegt hatte. David hatte eine ähnliche Summe erhalten. Vielleicht hatte Charlotte vergessen, den Brief in ihrem Sekretär zu erwähnen. Ihr Vater hätte ihn ihr definitiv gegeben. Viola lächelte. Er hatte sie am Ende doch erreicht. Und sie freute sich sehr darüber. Sie hatten sich alle im Laufe der Jahre gewundert, weshalb ihr das Haus vermacht worden war. Und wieso es Charlotte gehört hatte. Jetzt wusste sie es. Ihr Mann hatte es ihr geschenkt. „Geliebter Herbert“ hatte Charlotte über ihn geschrieben. Das machte doch Mut. Zu der Zeit war eine Liebesheirat im Adel eher ungewöhnlich. Vielleicht war die Liebe aber auch mit der Zeit gekommen. Sie würde es wohl nie erfahren. Viola sah die oberste Schublade genauer durch. Sie enthielt nur Briefpapier in unterschiedlichen Designs. Auch wenn die Welt digital geworden war, würde sie es verwenden. Es war viel zu schön und teuer, um es in einer Schublade verrotten zu lassen. Die nächste Schublade enthielt einige Bücher, die in roten Samt gebunden waren. Hm, was konnte das sein? Rechnungsbücher? Auch wenn Charlotte zwischen dem Tod ihres Mannes und der Übergabe an ihren Vater die Herrin von Altenstein gewesen war, hätte sie Geschäftsbücher doch sicher im Schloss aufbewahrt, oder? Viola kniff die Augen zusammen und holte eines davon aus der Schublade. Es sah im Licht doch eher wie ein Tagebuch aus. Sie lächelte. Vielleicht erfahre ich jetzt tatsächlich etwas über die Ehe von Charlotte und Herbert. Viola schlug die erste Seite auf. „April 1923 …“. Da war Charlotte dreißig gewesen. Sicher hatte sie schon davor Tagebuch geführt. Viola holte alle Bücher hervor und legte sie auf die Schreibfläche. Sie öffnete eins nach dem anderen und sortierte sie nach Datum. Was sie wohl erwartete? Sie war richtig aufgeregt. Eine Reise in die Vergangenheit. Viola nahm den Stapel Bücher und legte sie auf den Couchtisch. Dann setzte sie sich einen Tee auf und machte es sich auf dem Sofa im Salon bequem. Das erste Buch begann im Mai 1909. Charlotte hatte auf einer Seite die Zeichnung einer jungen Frau eingefügt. Wer das wohl gewesen war? Das Mädchen hatte rote Haare und grüne Augen. Ein Name stand nicht daneben. Doch sie kam ihr bekannt vor. Viola war neugierig.
Kapitel 4
Pensionat Lindenhof, 10. Mai 1909
„Liebste Vertraute, ich bedauere, dass ich dir so lange schrieb, aber ich musste mich erst ein wenig eingewöhnen hier im Pensionat. Die Eltern fehlen mir mehr, als ich es dir zu sagen vermag. Mein geliebter Richard studiert nicht weit entfernt vom Pensionat, vielleicht kann ich ihn jetzt öfter sehen als zu Hause. Doch das wäre auch nur noch von kurzer Dauer, da er diesen Sommer sein Studium beenden wird. Papa braucht ihn auch zu Hause. Mir fehlt mein Zuhause. Der Park, der Wald mit seinem kleinen, verwunschenen See, an dessen Ufer es sich so schön träumen lässt. Habe ich dir jemals erzählt, dass ich dort bei warmem Wetter nackt liege und mich von den warmen Sonnenstrahlen liebkosen lasse? Verzeih mir diese kleine Vergesslichkeit. Wie es wohl ist, wenn Männerhände einen liebkosen? Wenn zwei Menschen einander lieben und sich gegenseitig entdecken und ihre Leiber lieben? Die Ehe muss schön sein. Wenn meine Ausbildung abgeschlossen ist, werden Mama und Papa wohl anfangen, einen geeigneten Gatten für mich zu suchen. Hoffentlich ist er mir sympathisch. Die große Liebe wird er wohl nicht sein. Doch erst muss ich hier Freundinnen finden. Es wird mir hoffentlich gelingen. Einige der Mädchen sind sehr nett, doch meine Zimmerkameradin ist die Netteste von allen. Ich mag sie sehr. Es ist zu bedauern, dass du sie nicht wirklich sehen kannst. Amalia ist wunderschön. Sie ist von meiner Größe und Statur. Doch anders als ich hat sie lange, dunkelrote Locken und grüne Augen. Ich wünschte, ich wäre nur halb so schön wie sie.“
„Meine liebste Charlotte! Wovon träumst du?“ Amalia setzte sich ihrer Zimmerkameradin gegenüber auf deren Bett. Ganz ungezwungen und wenig damenhaft im Schneidersitz. Dass sie dafür Röcke und Schürze lupfen musste, kümmerte sie nicht weiter. Sie waren unter sich und trotz der kurzen Zeit von vier Wochen hatte sie Charlotte tief in ihr Herz geschlossen und vertraute ihr vollends. So eine Freundin hatte sie sich schon immer gewünscht. Charlotte litt wie sie an Heimweh. So konnten sie sich gegenseitig trösten.
„Von der Zukunft. Was mag sie wohl bringen?“
„Einen Gatten, Kinder und Haushalt. Hoffentlich. Ich habe Angst, dass ich sitzenbleiben könnte.“ Charlotte lachte laut auf.
„Du doch nicht! Amalia, du bist so schön, dass du an jedem Finger zehn Freier haben wirst. Du bleibst sicher nicht sitzen. Ich mache mir Sorgen wegen der Ehe und der gesellschaftlichen Verpflichtung.“
„Das bringen sie uns hier ja bei. Sticken, stricken, Klavierspiel und Gesang. Und wie man mit alten Matronen plaudert. Verzeih mir! Eines Tages werden auch wir alte Matronen sein und über die verdorbenen jungen Leute schimpfen und schelten.“ Jetzt lachte Amalia laut auf. Charlotte fiel in das Lachen mit ein. Sie sprach die Wahrheit. Irgendwie schien sich alles zu wiederholen. Die alten Leute schimpften auf die Jungen, dabei waren sie selbst einmal in diesem Alter gewesen. Vergaß man wirklich mit der Zeit seine Jugend? Lieber Gott! Bitte nicht!
„Wie wahr, wie wahr“, seufzte Charlotte. „Doch ich wünschte, man würde uns Mädchen besser auf unsere ehelichen Pflichten vorbereiten. Was uns dort außerhalb von Gesellschaften und Haushaltsführung erwartet.“
„Du meinst im Ehebett?“ Charlotte nickte.
„Dazu gibt es natürlich keine Bücher.“
„Und wenn, dann bestimmt nicht für Frauen. Die Männer wissen bestimmt, wie … nun, du weißt schon. Wie es funktioniert. Vielleicht sollten wir unsere Brüder fragen.“
„Amalia! Wenn ich Richard bitte, mir zu erklären, was genau mich in meiner Hochzeitsnacht erwartet, wird er mich für verrückt erklären. Und meinen Eltern berichten, ich habe den Verstand verloren.“
„Man müsste es wenigstens versuchen. Wir müssen unsere Brüder einfach ganz lieb anschauen und anschließend auf die Knie gehen und sie anbetteln. Dann appellieren wir an ihr Mitgefühl. Sie können kaum wünschen, dass ihre über alle Maßen geliebten Schwestern, ihre kleinen Schwestern, derart unvorbereitet auf ihre Ehemänner treffen.“
„Sie werden uns vermutlich an unsere Mütter verweisen. Wie die Liebe wohl ist?“
„Sie muss schön sein. Sonst würden die Leute nicht so viel darüber reden und schreiben.“ Charlotte lächelte Amalia an. Dann wurde ihr Blick ernst.
„Encore faut-il apprende le vocabulaire francais.“
Amalia verzog ihren Mund zu einer leichten Fratze.
„Du bist unverbesserlich. Isch 'asse Französischvokabeln“, wobei sie das Wort „Vokabeln“ mit einem übertriebenen französischen Akzent betonte. Charlotte kicherte. Sie konnte den Unmut der Freundin verstehen. Ihre Lehrerin war alles andere als liebenswert. Wenn Charlotte an ihre alte Hauslehrerin dachte, überkam sie Wehmut. Fräulein Jacoby hatte sie seit ihrem fünften Lebensjahr unterrichtet, bis sie vor zwei Monaten aus heiterem Himmel gekündigt hatte. Sie fehlte ihr sehr. Charlottes Eltern waren völlig konsterniert gewesen. Schockiert und auch ein wenig hilflos hatten sie ihre Tochter dann in ein Pensionat gegeben. Auch, damit Charlotte mit Gleichaltrigen zusammenkam. Sie war ein intelligentes Mädchen, lebhaft, aber doch auch gern für sich.
„Ich wäre jetzt viel lieber draußen im Park, um „Der Graf von Monte - Christo“ zu lesen - aber auf Deutsch – anstatt für Mademoiselle Lacroix einen Aufsatz über eine Ferienreise zu schreiben. Wo wärst du jetzt gern?“
„Zu Hause bei uns im Wald. Dort gibt es einen kleinen See. Da bin ich gern bei schönem Wetter und ...“
„Und? Was und?“
Charlotte biss sich auf die Lippen. Beinahe hätte sie von ihrer Nacktheit berichtet. Sie war gerne nackt. Sie hasste die steifen Kleider und das Mieder. Zu Hause erlaubte ihre Mutter ihr oft Bluse und Rock. Solange die Kleider ordentlich waren und Charlotte die Haare entsprechend geordnet hatte. Die Kleider müssten so bequem sein wie die Nachtwäsche, dachte sie. Vielleicht sollte sie Amalia doch davon erzählen. Sie würde sie bestimmt nicht verurteilen. Sie vertrauten einander. Trotz der kurzen Bekanntschaft. In ihren Augen waren sie sich auch ähnlich. Sie hatten ähnliche Interessen wie reiten, lesen und sie träumten beide von einer eigenen Familie.
„Ich erzähle es dir, wenn wir diesen Aufsatz fertig haben.“ Amalia seufzte enttäuscht und wandte ihren Blick von Charlottes Gesicht ab. Sie bewunderte stets deren kornblumenblaue Augen. Wie schön die waren. Alles an ihrer Freundin war schön. Das hatte sie ihr schon mehrfach gesagt.
„In Ordnung. Weißt du, Charlotte. Wenn du schon glaubst, dass ich nicht als alte Jungfer ende, dann wirst du es auch nicht.“
„Glaubst du?“
„Du bist auch wunderschön.“
„Vielen Dank. Weißt du, in zwei Monaten sind Sommerferien. Hast du nicht Lust, diese bei uns zu verbringen? Wir könnten ausreiten, im Wald spazieren und in meinem verwunschenen See schwimmen.“
„Sehr gerne. Das ist eine tolle Idee. Wird dein Bruder auch kommen? Auf den bin ich besonders gespannt. Du schilderst ihn stets in den schillerndsten Farben.“
„Ich hoffe sehr, dass er auf Urlaub kommen kann. Er fehlt mir sehr. Auch wenn er studiert, habe ich ihn recht oft gesehen.“
„Ist er viel älter als du?“
„Sechs Jahre. Allerdings stehen wir uns sehr nah. Wir wissen so ziemlich alles voneinander.“
„Hat er schon eine Braut? Oder freit er noch?“
Amalia wickelte sich eine ihrer Locken, die sich aus der Frisur gelöst hatten, um ihren Zeigefinger.
„Er ist unverheiratet. Und auch noch nicht verlobt. Doch er hat einige Verehrerinnen. Das behaupten zumindest unsere Angestellten. Natürlich hat keiner von ihnen mir direkt davon erzählt. Doch hin und wieder schnappe ich einige Bröckchen auf.“
Amalias Augen funkelten vor Neugier.
„Über seine Liebschaften? Nicht, dass er junge Frauen in Schwierigkeiten bringt.“
„Amalia! So etwas würde mein Bruder nicht tun. Er ist ein anständiger Mensch. Und er weiß, was unser Vater von ihm erwartet. So! Und jetzt beenden wir den dummen Aufsatz.“
Amalia legte schnell eine Hand auf Charlottes Arm.
„Es tut mir leid, liebe Freundin. Ich dachte an meinen Bruder. Ich liebe ihn über alles, aber er flirtet so viel mit den jungen Damen, dass ich hoffe, dass er noch keine in Schwierigkeiten gebracht hat. Mein Vater wäre außer sich.“
„Ich verzeihe dir.“ Charlotte setzte sich neben Amalia und legte einen Arm um die Schulter ihrer Freundin. Dann streichelte sie deren Wange. Sie ist so schön, dachte Charlotte. Am Jahresende würde es einen Ball im Pensionat geben und Charlotte war gespannt, wie viele der jungen Männer des benachbarten Internats Schlange stehen würden um mit ihrer Freundin zu tanzen. Hoffentlich würde diese an dem Abend noch zu Atem kommen. Auch wenn es noch fast sieben Monate bis zum Ball waren, freute Charlotte sich. Sie liebte es zu tanzen. Und sie freute sich auf einen Tanz mit einem der jungen Männer. Mit ihren Mitschülerinnen zu tanzen war schließlich etwas ganz anderes. Außer vielleicht mit Amalia. Sie waren in etwa gleich groß und sie war ihr die Liebste von allen. Sie war etwas ganz Besonderes.
„So! Jetzt aber. Es hat keinen Sinn, es noch länger aufzuschieben. Der Aufsatz muss fertig werden.“ Charlotte trennte sich schweren Herzens von ihrem Bett und ihrer Freundin und ging an die beiden Schreibpulte, die direkt nebeneinander standen. Amalia seufzte laut und folgte Charlotte.
„Französisch! Diese Sprache gehört an deutschen Schulen verboten. Warum können wir nicht Spanisch lernen? Oder Italienisch? Die Sprache der Oper! Und die Sprache der Liebe.“
„Da stimme ich dir voll und ganz zu.“
„Du hast gut reden. Dir geht Französisch leicht von der Hand.“
Charlotte zuckte mit den Schultern und spickte zu Amalia hinüber. Was hatte die Freundin doch für eine schöne Handschrift. Sie selbst gab sich die redlichste Mühe, aber die Schreibgeräte fühlten sich wie Fremdkörper in ihrer Hand an. Dabei schrieb sie gern. Gedichte, ihr Tagebuch, Briefe und sogar Aufsätze. Doch es gelang ihr kaum, hübsch zu schreiben. Orthographie und Grammatik hingegen waren tadellos. Charlotte vermutete, dass es an ihrer Neigung lag, die linke Hand zu benutzen. Als sie das erste Mal nach einem bunten Stift gegriffen hatte, hatte sie einen Schlag auf die Hand bekommen. Das wiederholte sich so lange, bis sie automatisch mit der rechten Hand griff. Das hatte sie ihren Eltern und ihrer Erzieherin trotz der Liebe, die sie diesen Menschen entgegenbrachte, nicht verziehen. Und sie hatte sich geschworen, dass sie alles andere außer Schreiben mit der linken Hand machen würde. Ob sie stickte oder zeichnete. Sie konnten sie vielleicht zwingen, mit rechts zu schreiben, aber sie würde alles andere mit links machen. Was hatten die Menschen nur immer mit der linken Hand? Es hieß doch, dass die Linke vom Herzen komme. Und was vom Herzen kommt, kann doch nicht schlecht sein. So wie die Liebe. Und auch die würde sie sich nicht nehmen lassen.
„Fertig! Und jetzt erzähl mir von deinem See.“ Amalia legte den Füller weg und sah Charlotte erwartungsvoll an.
„Augenblick. So! Ich bin ebenfalls fertig. Ich hoffe, er ist gut geworden.“
Amalia verdrehte die Augen.
„Charlotte! Natürlich ist er gut geworden. Ich beneide dich um dein Sprachtalent.“
„Vielen Dank. Dafür beneide ich dich um deine schöne Schrift.“
Amalia errötete und schlug die Augen nieder.
„Sooo schön ist sie auch nicht. Mir ist schon aufgefallen, dass du den Füller so merkwürdig hältst. Hast du Probleme mit deiner Hand?“
„Ich bin Linkshänderin. Ich kann mit rechts so schlecht schreiben. Auch wenn ich mir Mühe gebe.“
Amalia schlug sich eine Hand vor den Mund.
„Du Ärmste. Ich habe gehört, dass sie brutale Methoden anwenden, um den Leuten die linke Hand abzugewöhnen. War das bei dir auch so?“
„Mir wurde in regelmäßigen Abständen auf die Finger gehauen. Als ich klein war, habe ich gehört, wie mein Großvater Richard davon erzählt hat, wie ihm als kleinem Kind die Hand auf den Rücken gebunden wurde. Langsam glaube ich, mein Großvater war auch ein Linkshänder. Vielleicht habe ich das von ihm. Schade, dass ich ihn nicht mehr fragen kann. Sollte ich jemals Kinder und Enkelkinder bekommen, und eines davon ist ein Linkshänder, dann darf es mit der linken Hand schreiben. Egal, was sie in der Schule gesagt bekommen.“
Amalia klatschte in die Hände.
„Das finde ich gut. Da bin ich ganz deiner Meinung. Und jetzt möchte ich von etwas Schönem sprechen. Dazu ist dein See geradezu prädestiniert.“
Charlotte presste die Lippen zusammen und überlegte. Ja, sie konnte der Freundin vertrauen.
„Das muss aber unter uns bleiben.“
Amalia hob zwei Finger.
„Ich schwöre. Wenn du möchtest, hole ich auch die Bibel.“
„Das reicht. Der See ist mein eigenes Reich, meine Traumwelt. Er ist ganz von Bäumen umgeben und hat einen feinen Sandstrand. Wie am Meer. Nur nicht so weit. Und je nach Lichteinfall ändert sich die Oberfläche. Mal ist das Wasser blau und mal spiegelt es das Grün der Bäume. Es ist magisch. Und ich liege dann am Ufer und lasse mich von der Sonne bescheinen. Ich bin dort frei und ungezwungen. Ich liege auf meiner Decke und sonne mich. Nackt wie der liebe Gott mich schuf.“
Amalia kicherte.
„Das klingt gut. Ich wünschte, wir hätten auf unserem Grund auch einen See, an dem ich ungestört nackt sein kann.“
„Du bist auch gerne nackt?“
„Das gibt mir ein Gefühl von Freiheit. Wenigstens für ein paar Stunden. Ich freue mich jetzt schon auf euren See. Die Ferien dürfen sich gerne beeilen. Hast du mir auch wirklich alles erzählt? Ich sehe, dass du noch etwas verheimlichst.“ Charlotte errötete. War sie für ihre Freundin so leicht zu durchschauen?
„Auch das muss unter uns bleiben.“
„Ich schwöre feierlich!“
„Wenn ich nackt bin, berühre ich mich sehr oft selbst. Ich sehne mich nach körperlicher Nähe und Zärtlichkeiten.“
„Das kann ich sehr gut verstehen. Wie berührst du dich? Ich meine, wo genau? Überall oder nur an einer Stelle?“ Charlotte wunderte sich über die Offenheit ihrer Freundin. Doch diese hatte ihr ja auch erzählt, dass sie selbst gern nackt war. Eine weitere Gemeinsamkeit.
„Ich liege auf der Decke und streichele meine Brüste. Das ist ein unglaublich schönes Gefühl. Manchmal richten sich meine Brustwarzen auf und ich drücke sie, bis sie wieder weich sind. Manchmal streichele ich auch meine Scham.“
Amalia stand auf und lehnte sich an ihr Pult. Sie seufzte leise.
„Das kann ich verstehen. Es hat viel von Freiheit. Kein Korsett, nichts. Nur man selbst.“ Sie streichelte sich über ihre Brust. „Wenn ich mich jetzt anfasse, spüre ich gar nichts. Es ist furchtbar.“ Charlotte erhob sich ebenfalls und trat neben Amalia.
„Du verrätst mich nicht, oder?“
„Dein Geheimnis ist bei mir sicher. Obwohl, ich habe dir ja auch meines anvertraut. Auch ich bin gerne nackt. Meine liebste Freundin. Darf ich dich umarmen?“
Amalia durfte und Charlotte erwiderte die Umarmung. Wie schön es doch war, einen Menschen gefunden zu haben, mit dem man seine Gedanken teilen konnte. Auch Amalia machte sich Gedanken um die Zukunft und was sie dort erwarten würde. Es klopfte und die beiden traten eilig auseinander.