Integrität im geschäftlichen Handeln - Klaus M. Leisinger - E-Book

Integrität im geschäftlichen Handeln E-Book

Klaus M. Leisinger

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Beschreibung

Heute hat jedes Unternehmen, das etwas auf sich hält, ein Leitbild, in dem versichert wird, dass die Integrität des Handelns zu den höchsten Gütern zählt. Dennoch werden im Alltag oft die Grenzen der Legalität getestet. Wie kann das sein? Sind dies einmalige Verfehlungen einzelner Manager und somit die Ausnahme von einer ansonsten integren Regel? Klaus Leisinger zeigt in diesem Buch, dass Integrität vor allem eine persönliche Verantwortung ist: Integre Führungspersonen schauen genau hin, handeln nach bestem Wissen und Gewissen und gehen mit gutem Beispiel voran. Wenn sie Zusagen machen, halten sie diese ein, wenn sie Fehler gemacht haben, stehen Sie dafür ein und korrigieren sie. Sie motivieren die im Unternehmen arbeitenden Menschen durch Fairness und Anerkennung und vermitteln ihnen, dass sie Teil von etwas sind, für das sie mit Stolz einstehen können. Der Autor stellt mit einem Minimum an akademischer Theorie praktische Erkenntnisse und Instrumente vor, die im geschäftlichen Alltag dabei helfen, mit dem moralischen Dilemma umzugehen und auf Basis allgemein gültiger Werte Lösungen zu erarbeiten.

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Seitenzahl: 387

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Klaus M. Leisinger

Integritätim geschäftlichenHandeln

INHALT

VORWORT

EINLEITUNG

KAPITEL 1

Vertrauen

1.1Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg und gesellschaftlichen Frieden

KAPITEL 2

Semantische Klarheit

2.1Wichtige Begriffe mit unterschiedlichen Bedeutungen

KAPITEL 3

Die Sache mit der Ethik

3.1Ein Überblick

3.2Handeln nach Pflichtethiken

3.3Handeln nach konsequentialistischen Ethiken

3.4Handeln nach Tugendethiken

3.5Handeln nach christlichen Sozialethiken

3.6Das Prinzip Verantwortung von Hans Jonas

3.7Handeln im normativen Konsens: Diskursethik

3.8Situationsethik

3.9Sollen, Wollen, Können

3.10Vorläufiges Fazit

KAPITEL 4

Von der Teilung der Arbeit

4.1Vorbemerkungen

4.2Die Rolle des Staates

4.3Die Rolle der Unternehmen

4.4Die Rolle des Individuums

4.5Drei Ebenen der ethischen Reflexion

KAPITEL 5

Drei Ebenen von Verantwortung

5.1Nicht alles ist gleichermaßen wichtig

5.2Die „Muss“-Dimension der Verantwortung

5.3Die „Soll“-Dimension der Verantwortung

5.4Die „Kann“-Dimension der Verantwortung

KAPITEL 6

Beziehungen zu Stakeholdern

6.1Theorie und Praxis

6.2Von der Stakeholder-Theorie zur klugen Praxis

6.3Einsichten aus persönlicher Erfahrung

KAPITEL 7

Charakter und Persönlichkeit

7.1Führungspersönlichkeiten statt Manager

7.2Erich Fromms Kriterien für das Anforderungsprofil von Führungspersönlichkeiten

7.3Unternehmenskultur

KAPITEL 8

Was ist mit dem Business Case?

KAPITEL 9

Schlusswort

9.1Idealismus ohne Illusionen und Realismus ohne Resignation

9.2Veränderte Denk- und Verhaltensweisen sind leichter gefordert als erreicht

9.3Systemtheoretische Hindernisse bei der praktischen Umsetzung moralphilosophischer Einsichten

9.4Leadership für einen neuen Gesellschaftsvertrag

LITERATUR

ÜBER DEN AUTOR

VORWORT

Klaus Leisinger hat sich in seinem Buch tiefgreifend mit dem Thema Ethik für Unternehmen beschäftigt. Allein über 250 Literaturstellen zeigen das. Er nennt und zitiert unter anderem Kant, Adam Smith, Erich Fromm, Habermas, Dahrendorf, Hans Jonas, Karl Jaspers, Niklas Luhmann, aber auch Firmen wie die Otto Group, BlackRock, den größten Finanzinvestor der Welt, die WHO, das World Economic Forum und viele andere mehr.

Das Buch ist ein ausführlicher Leitfaden über Ethik im Unternehmen. Aber es ist auch ein Ratgeber für praktische Unternehmensführung. Hinweise zu Auswirkungen der Corona-Krise machen das Buch aktuell.

In meinen über 60 Jahren Berufsleben als Leiter eines Unternehmens war ich naturgemäß auch von ethischen Themen und Problemen betroffen. In Leisingers Buch habe ich meine Definition vom Unternehmen als gesellschaftliche Veranstaltung im Grundsatz wiedergefunden. Warum diese Definition? Es gibt vier Zielsetzungen für ein Unternehmen:

1.Vordringliche Aufgabe jedes Unternehmens ist es, den Markt, das heißt die Gesellschaft, mit Gütern und Dienstleistungen zu versorgen.

2.Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, braucht das Unternehmen Mitarbeiter, für die das Unternehmen soziale Verantwortung hat und deren Arbeitsplätze möglichst sicher und langfristig angelegt sein sollen.

3.Das eingesetzte Kapital muss angemessen verzinst werden.

4.Ein Unternehmen muss den ökologischen Notwendigkeiten und der Nachhaltigkeit Rechnung tragen.

Verhält sich ein Unternehmen ethisch, wenn es diesen Zielsetzungen folgt? Es gibt noch ein weiteres Kriterium. Ein Unternehmen muss Gewinn machen. Die Einnahmen müssen größer sein als die Ausgaben, und zwar auf Dauer gesehen. Dabei geht es um nachhaltigen Gewinn, nicht um kurzfristige Gewinnmaximierung. Aber der Gewinn ist nicht ausschließlicher Zweck eines Unternehmens, sondern die Messgröße, die anzeigt, ob die gesellschaftliche Veranstaltung Unternehmen funktioniert.

Aus diesem Zwang, Gewinn zu machen, ergeben sich dann viele ethische Fragen. Für einen Manager ist es ja in vielen Fällen einfacher, Kosten zu senken, als den Umsatz zu erhöhen. Wie verhalte ich mich als Unternehmer, wenn die Kostenstruktur nicht mehr stimmt und die Personalkosten gesenkt werden müssen, also wenn es um Arbeitsplatzabbau, im Klartext, Entlassungen, geht? Gilt dann Hire and Fire oder die in der sozialen Marktwirtschaft vorgegebene soziale Verantwortung? In einer Diskussion mit amerikanischen Professoren über die Unterschiede deutscher und amerikanischer Unternehmenskultur habe ich meine Position vom Unternehmen als gesellschaftliche Veranstaltung dargelegt. Einer der teilnehmenden Professoren meinte, das klinge ja ziemlich moralisch. Und moralisch dürfte ein Unternehmer nun mal nicht sein, sonst könne er nicht erfolgreich sein. Da stand die Idee von Milton Friedman aus den 70er Jahren dahinter, der sagte: „Die soziale Verantwortung der Unternehmen ist es, ihre Gewinne zu vergrößern“. Also die Idee vom Shareholder Value.

In dieser Hinsicht zeigen sich allerdings große Änderungen. Auch auf diese weist der Autor hin, wenn er zum Beispiel den Chef des weltweit größten Vermögensverwalters BlackRock, Larry Fink, mit seiner Botschaft an die Chefs großer Firmen erwähnt.

Die Verhaltensänderung zeigt eine Resolution, die 200 große amerikanische Unternehmen im August 2019 veröffentlicht haben. Darin heißt es unter anderem: Die Unternehmen haben eine grundlegende Verpflichtung gegenüber allen unseren Stakeholdern. Wir verpflichten uns,

unseren Kunden einen Mehrwert zu liefern.

in unsere Mitarbeiter zu investieren, sie fair zu entlohnen und wichtige Zusatzleistungen anzubieten sowie für Training und Ausbildung zu sorgen.

Wir gehen fair und ethisch korrekt mit unseren Lieferanten um.

Wir unterstützen die Gemeinden, in denen wir arbeiten. Wir respektieren die Menschen und schützen die Umwelt.

Langfristige Wertschöpfung für unsere Aktionäre, die das Kapital bereitstellen, das es den Unternehmen ermöglicht, zu investieren, zu wachsen und innovativ zu sein.

Und zum Schluss heißt es dann: Jeder unserer Stakeholder ist von wesentlicher Bedeutung. Wir verpflichten uns, für alle von ihnen Werte zu schaffen für den zukünftigen Erfolg unseres Unternehmens, unserer Gemeinden und unseres Landes.

Wie sagt Joe Kaeser, der Vorstandsvorsitzende von Siemens:

„Ein Unternehmen hat nur eine Existenzberechtigung, wenn es nachhaltig und langfristig Wert für die Gesellschaft schafft“.

Dies sind praktische Vorgaben, die Unternehmen einhalten sollten. Die theoretischen Grundlagen für ein solches der Gesellschaft dienendes Verhalten, man könnte auch sagen ethisches Verhalten, sind in dem Buch von Klaus Leisinger ausführlich beschrieben. Aber der Autor zeigt auch auf, dass der gesunde Menschenverstand eine wichtige Rolle spielt. Nur so ist eine Unternehmenskultur möglich, in der ethische Grundsätze eine Rolle spielen. Im täglichen Ablauf ist der explizite Hinweis auf Ethik wenig hilfreich. Die Mitarbeiter können nicht mit der Agenda 2030 der UNO unter ihrem Arm herumlaufen. Aber sie sollten die Grundsätze verstanden haben. Dass sie dem Zwang „Einnahmen größer als Ausgaben“ unterliegen, wissen sie. Und nicht alles, was wünschbar ist, ist auch machbar. Ökonomisches Handeln und ethische Verantwortung sind keine voneinander getrennten Ziele. Ökonomisches Handeln, für das die Unternehmensführung die Verantwortung trägt, ist dem Prinzip der ethischen Verantwortung zu unterstellen. Aber nicht alles was legal ist, ist auch legitim. Beispiel: Der Fall Cum-Ex.

In seinem Schlusswort fasst der Autor zusammen, was sich aus den vorliegenden Kapiteln, quasi einer 2500 Jahre alten Geschichte des ethischen Verhaltens, ergibt. Dabei hilft ihm seine große praktische Erfahrung in den verschiedensten Positionen in einem großen Pharmaunternehmen. Gerade diese Beispiele sind hilfreich für den Praktiker.

Ist Klaus Leisingers Ansatz holistisch? Eigentlich schon, wenn man der Meinung ist, dass holistische Ansätze eher auf Erfahrungen und weniger auf abstrakter Logik beruhen und holistisches Denken vor allem intuitiv ist.

Ob wir einen neuen Gesellschaftsvertrag im Sinne der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung benötigen, wird sich zeigen. Aus meiner Sicht geht die Entwicklung aber in diese Richtung. Zum Schluss beruft sich der Autor auf verschiedene Geistesgrößen: Er nennt Bert Brecht, Vaclav Havel und nennt dann quasi als Schlusswort „Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist“.

Bei einem Studium Generale hielt ich einmal einen Vortrag über Ethik und Unternehmensführung. Es gab eine lange Diskussion. Ganz zum Schluss fragte mich eine Dame, Typ schwäbische Hausfrau: „Herr Dürr, können Sie in einem Satz sagen, was Ethik im Unternehmen ist?“ Aufgrund der langen Diskussion war ich etwas genervt und antwortete deshalb etwas salopp: „Sowas tut man nicht“. Und da fragte die Dame nach: „Können Sie mir auch sagen was „sowas“ ist? Ich hätte ihr aus dem Buch von Klaus Leisinger vortragen können. Aber das gab es damals noch nicht. Vielleicht schreibt der Autor noch einen Ratgeber, mit dem diese Frage kurz und bündig zu beantworten ist.

Heinz Dürr, Berlin, Herbst 2020

HEINZ DÜRR ist eine der wenigen großen deutschen self-made-Unternehmens-Persönlichkeiten. Er baute als allein zeichnungsbevollmächtigter Geschäftsführer seinen Familienbetrieb, die Otto Dürr GmbH, zu einem MDAX-notierten und international tätigen Unternehmen aus. Von 1980 – 1990 war er Vorsitzender des Vorstands der AEG Telefunken, nach der Wiedervereinigung führte er die Deutsche Bundesbahn (BRD) und die Deutsche Reichsbahn (DDR) zusammen und leitete das fusionierte Unternehmen, die Deutsche Bahn AG, als Vorstandsvorsitzender. 1998 rief er gemeinsam mit seiner Frau Heide Dürr die „Heinz und Heide Dürr Stiftung“ ins Leben, die mit den Erträgen von 2,4 Millionen Aktien der Dürr AG Wissenschaft und Forschung, Bildung und Soziales sowie Kunst und Kultur fördert. Heute ist Heinz Dürr Ehrenvorsitzender des Aufsichtsrats und Ankeraktionär der Dürr AG.

„Man muss die Dinge so einfach wie möglich machen, aber nicht einfacher.“

Albert Einstein

EINLEITUNG

Als Niklas Luhmann einmal aufgefordert wurde, etwas zum Thema Wirtschaftsethik zu sagen, teilte er dem Publikum mit, dass es ihm nicht gelungen sei, herauszubekommen, worüber er reden solle.1 Betrachtet man die große Vielfalt dessen, was über Wirtschafts- bzw. Unternehmensethik diskutiert wird, so steht der interessierte Praktiker — und für diesen ist dieses Buch geschrieben — vor einer noch größeren Herausforderung als Deutschlands berühmtester Soziologe damals.

Man kann das Thema „ethische Verantwortung im wirtschaftlichen Handeln“ aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten und daher auf sehr verschiedene Weise angehen. Je nach dem, welchem Weltbild man anhängt und welcher moralphilosophischen Denkschule man folgt, kommt man zu unterschiedlichen Bewertungen über „gutes“ Handeln. In diesem Buch wird erläutert, dass die praktische Umsetzung von Ethik in Unternehmen zwar wesentlich von der gelebten Tugendethik der Entscheidungsträger abhängt, ein unterstützender ordnungspolitischer Rahmen (Wirtschaftsethik) und betriebliche Selbstverpflichtungen (Unternehmensethik) jedoch dafür sorgen, dass die „Guten“ nicht die „Dummen“ sind. Sowohl bei der Gestaltung der politischen Rahmenbedingungen als auch bei der Formulierung von Selbstverpflichtungen spielt wiederum die individuelle Verantwortungsethik die zentrale Rolle.

Kriminelles Handeln, wie das im Kontext des Abgas-Skandals bei der deutschen Autoindustrie zutage getreten ist, zerstört Vertrauen. Kriminelles Handeln ist jedoch nach meiner Überzeugung die Ausnahme einer ansonsten intakten Regel legalen Handelns. Es sind überwiegend enttäuschte gesellschaftliche Erwartungen im sozialen und umweltspezifischen Bereich, die das diffuse Unbehagen von Menschen gegenüber (großen!) Unternehmen auslösen. Legal erzielte Gewinne sind eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für gesellschaftliche Akzeptanz.

Das ist alles nicht sonderlich neu. Warum also noch ein Buch über ethisch reflektierte Verantwortung im geschäftlichen Handeln? Googelt man nach „Unternehmensethik“, so findet man in weniger als einer Sekunde über 260 000 Ergebnisse; gibt man „gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen“ ein, so findet man über 14,5 Millionen Einträge, beim Begriff „corporate responsibility“ gar über 980 Millionen. Ferner finden wir zahllose Bücher und noch mehr wissenschaftliche Abhandlungen. Ist also schon alles gesagt? Das kommt auf die Perspektive an. Einerseits: Wer ernsthaftes Interesse hat, den Stand des Wissens über Gewinnstreben unter Beachtung ethischer Normen herauszufinden, findet dazu überreiche Quellen. Andererseits: Ein Großteil der Analysen und Empfehlungen stammen von Menschen, die keine praktische Erfahrung im unternehmerischen Alltag haben. Sie sind häufig auch in einer schwer verständlichen Sprache geschrieben. Hinzu kommt, dass viele akademische Diskurse sich in den Empfehlungen an dem orientieren, was für international arbeitende Konzerne mit ihren administrativen Kapazitäten machbar ist, kleine und mittelständische Unternehmen jedoch überfordern würde.

Schließlich schwingt in der moralphilosophischen Auseinandersetzung allzu oft ein moralisierender Unterton mit, dem gewinnorientiertes Handeln per se verdächtig ist. Vereinzelte Fälle unverantwortlichen oder kriminellen Handelns werden als stellvertretend für vermeintlich generell im Business herrschende Moraldefizite angesehen — und Schlussfolgerungen für „mehr Staat“ gezogen. Dass es Mentalitäten gibt, die unmoralisches Handeln zur Selbstbereicherung für angezeigt halten, wenn es durch Gesetzeslücken möglich wird, zeigen die sogenannten „Cum-Ex-Deals“. Jeder Mensch mit einem Intelligenzquotienten von über 90 weiß jedoch, dass es nicht richtig sein kann, sich eine nur einmal abgeführte Steuer doppelt und dreifach zurückerstatten zu lassen. Solche vermeintlich cleveren Deals verschlechtern das Ansehen ganzer Branchen und sind doch nicht repräsentativ für das gesellschaftliche Teilsystem Wirtschaft.

Auch wenn uns Skandale und Betrügereien wie bei Wirecard, der fleischverarbeitenden Industrie oder der Automobilindustrie in Deutschland den Eindruck erwecken, die ethische Qualität geschäftlichen Handelns würde immer schlechter — Tatsache ist, dass diese sich in den letzten 25 Jahren verbessert hat. Es war zwar ein gradueller, aber auch stetiger Prozess, auf dessen Hintergrund extreme Abweichungen vom Pfad der Tugend sich umso deutlicher (und für die Menschen einprägender) abheben. Viele Argumente, die Hans Rosling in seinem großartigen Buch Factfulness2 in Bezug auf den zu pessimistisch beurteilten Zustand der Welt aufführt, treffen auch auf die Beurteilung der ethischen Qualität geschäftlichen Handelns zu, beispielsweise:

Der Instinkt der Negativität: Ja, es gibt immer wieder negative Nachrichten. Man sollte jedoch realisieren, dass es wesentlich wahrscheinlicher ist, dass uns Informationen über tragische Ereignisse erreichen. Medienberichterstattung ist nicht an (langweiligen) graduellen Verbesserungen der durchschnittlichen ethischen Performance interessiert, weil auch die Mehrzahl der Medienkonsumenten daran wenig Interesse hat. Gute Nachrichten sind keine Nachrichten. Unerwartete einzelne Skandale genießen dagegen hohe Aufmerksamkeit. Dies vermittelt uns systematisch einen überzogen negativen Eindruck der Welt um uns herum. Mehr Skandalnachrichten bedeuten jedoch im Kampf um Auflagenhöhe und Einschaltquoten nicht eine steigende Anzahl von Fehlverhalten, mehr Berichte über Probleme beeinflussen aber die Wahrnehmung der Menschen.

Der Instinkt der Angst: Vieles von dem, was wir über Unternehmensskandale erfahren, wird von unserer Aufmerksamkeit — oder den Medien — deshalb ausgewählt, weil es Angst macht. Da bei Unternehmen auch Größe (Umsatz, Gewinn) als potentielle Bedrohung wahrgenommen wird, nimmt unser Gehirn Angst erregende Informationen besonders intensiv zur Kenntnis.

Der Instinkt der Verallgemeinerung: Kategorien (wie beispielsweise Unternehmen) können in die Irre führen. Es gibt bedeutende Unterschiede auch innerhalb der Gruppe „Unternehmen“. Verantwortungsbewusstes Urteilen erfordert die Kunst der Differenzierung. Außergewöhnlich anschauliche Beispiele fallen besonders auf und bleiben besser im Gedächtnis. Dass sie die Ausnahme sein könnten und nicht die Regel, kann dabei leicht vergessen gehen.

Instinkt der Schuldzuweisung: Nach Bekanntwerden eines Abweichens vom Pfad der Tugend werden oft individuelle Sündenböcke gesucht, gefunden und an den Pranger gestellt. Das mag unterhaltsam sein und die Sensationslust vieler Menschen befriedigen — hilfreich zur Lösung bestehender und Verhinderung ähnlicher Probleme in der Zukunft ist es nicht. Es ist viel wichtiger, nach Ursachen (Treibern) zu schauen, als individuelle Schuld zuzuweisen. Schuldzuweisung verleitet dazu, nicht mehr darüber nachzudenken, dass es auch andere Erklärungen geben könnte.

Wenn Fehler gemacht werden und es nicht um kriminelles Handeln geht, ist es auch der falsche Weg, schlechte Absichten und moralische Abgründe zu unterstellen. Richtig ist die Suche nach Ursachen, nicht nach Übeltätern: Menschen hören auf, nachzudenken, sobald ein Übeltäter identifiziert ist. Komplexe Probleme entstehen jedoch durch Wechselwirkungen mit verschiedenen Elementen innerhalb und außerhalb des Teilsystems Wirtschaft. Es geschehen schlimme Dinge, ohne dass dies jemand beabsichtigt hätte. Fast immer handelt es sich um in Wechselwirkung stehende Ursachen, um ein System. Es ist wichtiger, die miteinander in Wechselwirkung stehenden Ursachen zu finden, die zu der Situation geführt haben, als Übeltäter zu isolieren.

Die interessierten Beobachtern längst bekannten, aber wegen der Covid-19-Pandemie erst im Frühjahr 2020 skandalisierten, menschenverachtenden Arbeitsbedingungen für osteuropäische Beschäftigte in deutschen Schlachtbetrieben sind ein Beispiel für das Auseinanderklaffen von Legalität und Legitimität: Arbeiter aus Rumänien, Bulgarien oder Polen werden nicht fest angestellt, sondern erhalten sogenannte Werkverträge. Über Subunternehmer angestellt und in Massenunterkünften eingepfercht, haben sie erheblich weniger Rechte. So kommt es zu menschenunwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen. Dass dort, wo alle 30 Sekunden ein Schwein geschlachtet wird, auch das Tierwohl auf der Strecke bleibt, kommt bei der Bewertung der ethischen Qualität geschäftlichen Handelns in diesen Bereichen noch hinzu.

Wenn Fehler gemacht werden und es nicht um kriminelles Handeln geht, ist es der falsche Weg, schlechte Absichten und moralische Abgründe zu unterstellen.

Kein seriöser Beobachter wird solch skandalöse Gegebenheiten pauschalisierend auf gewinnorientiertes Handeln per se übertragen, dennoch werden werden Beispiele krassen Abweichens vom Pfad anständigen Handelns immer wieder als Aufhänger für ethische Analysen benutzt. Nach Artikel 5 unseres Grundgesetzes hat zwar jeder das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten, und auch ideologisch voreingenommene Lehrinhalte sind durch die Freiheit von Lehre und Forschung abdeckt. Hilfreich für eine konstruktive Aufarbeitung ethischer Defizite sind Verallgemeinerungen aber nicht — erst recht nicht, wenn die weltwirtschaftliche Großwetterlage sich eintrübt:

Die wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche, die uns allen bevorstehen (Handelskonflikte und beschleunigte Digitalisierung in der Zeit nach Corona sowie Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung), sind immens. Auf Konsens basierende Lösungen zu finden ist in einem Klima gegenseitiger Schuldzuweisungen und mangelnden Vertrauens fast unmöglich — und das Beharren auf den jeweiligen Standpunkten führt nicht weiter. Hinzu kommt, dass durch eine überwiegend skandalverzerrte Diskussion wirtschaftlichen Handelns auch politische Risiken entstehen, die nachhaltige Entwicklung eher hemmen als fördern.

Auf dem Hintergrund meiner praktischen und akademischen Erfahrungen möchte ich den Diskurs über die ethische Qualität geschäftlichen Handelns aus der Wagenburg theoretischer Idealvorstellungen herauslösen und das vorhandene Wissen praxiswirksamer machen. Dies soll helfen, große Koalitionen verantwortungsbewusster Menschen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zu bilden, um die auf uns zukommenden Probleme auf eine sozial verträgliche Weise zu bewältigen.

In diesem Buch geht es nicht um akademische Theorie, sondern darum, Verantwortungsträgern nützliche Hinweise zum Umgang mit ethischen Dilemmata in spezifischen Kontexten zu geben. Es geht um prinzipiengeleiteten Pragmatismus im wohlverstandenen, langfristigen Eigeninteresse, nicht um das Hinarbeiten auf die ‚Seligsprechung‘ geschäftlichen Handelns. Es geht auch darum, einen neuen Dialog über das in Gang zu bringen, was wir bei einer fairen gesellschaftlichen Arbeitsteilung von Unternehmen über rein legales Handeln hinaus erwarten sollten.

Nicht nur die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen als Folge der Corona-Krise machen einen neuen Anlauf in dieser Hinsicht erforderlich, sondern auch die wachsende Einsicht, dass vieles, was bis in die jüngste Vergangenheit für uns selbstverständlich war, auf dem Prüfstand3 steht.

Während der Arbeiten an diesem Buch traten drei Ereignisse ein, die meine Hoffnung bestärken, dass das Thema Ethik als integraler Bestandteil von Unternehmensstrategie und -praxis angesehen werden wird:

Der US-amerikanische Business Roundtable, der Dachverband der führenden US-Unternehmen, distanzierte sich von der Gewinnmaximierung und verlangte eine größere Berücksichtigung der Stakeholder-Interessen.4

Klaus Schwab, der Gründer und Präsident des World Economic Forum, trat mit einem aktualisierten Davoser Manifest an die Öffentlichkeit, in dem er dezidiert eine Reform des gegenwärtigen Kapitalismus in Richtung eines Stakeholder-Kapitalismus plädiert.5

Larry Fink, der Chairman eines der größten Vermögensverwalter der Welt, BlackRock, fordert erneut eine grundlegende Umgestaltung der Finanzwelt und die Berücksichtigung der Bedürfnisse aller Stakeholder.6

Was von diesen drei Akteuren von großen Konzernen eingefordert wird, hat auch Bedeutung für kleine und mittelgroße Unternehmen und deren Führungspersönlichkeiten. Auch für diese gilt, dass jeder Mensch, erst recht jene, deren Entscheidung Auswirkungen auf das Leben anderer Menschen haben, Handlungsfreiräume hat, die mit ethischer Musikalität und moralischem Einfallsreichtum zugunsten sozialer Harmonie und ökologischer Zukunftsfähigkeit ausgefüllt werden können. Wir alle können in dieser Hinsicht in der eigenen Einflusssphäre Führungsverantwortung übernehmen.

Wo ein Wille ist, ist ein Weg.

1Luhmann N. (1993): 134.

2Rosling H. (2018).

3Reckwitz A. (2019).

4Business Roundtable (2019).

5Schwab K. (2020 a).

6Fink L. (2020).

1

Vertrauen

„Alles Reden ist sinnlos, wenn das Vertrauen fehlt.“

Franz Kafka

1.1

Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg und gesellschaftlichen Frieden

Vertrauen ist die subjektive Überzeugung eines Menschen in die Redlichkeit, das Wohlwollen und Kompetenz einer anderen Person. Es entsteht, wenn eine Gemeinschaft eine Reihe gemeinsamer moralischer Wertvorstellungen hat, die regelgerechtes Verhalten berechenbar macht. Dabei ist es im Grund weniger wichtig, um welche Werte es sich im Einzelnen handelt, in erster Linie kommt es darauf an, dass sie von allen Mitgliedern geteilt werden.“7

Mangelndes Vertrauen in Politik und Wirtschaft ist zu allen Zeiten bedauerlich. Es wirkt sich jedoch in Zeiten von Corona, zunehmender Digitalisierung und neuer struktureller Arbeitslosigkeit besonders nachteilig aus, weil zur Bewältigung neuartiger Probleme innovative Formen der Zusammenarbeit und das Ausprobieren neuer Handlungsmodelle besonderes Gewicht gewinnen. Dort, wo man nicht auf frühere Erfahrungen zurückgreifen kann, werden auch bei bestem Wissen und Gewissen Fehler gemacht. Ohne ein robustes Grundvertrauen in die Integrität aller Stakeholder führen Irrtümer zu Schuldzuweisungen und Verdächtigungen, anstatt zu neuen, gemeinsamen Lösungsversuchen unter Berücksichtigung der gemachten Erfahrungen.

Insbesondere im wirtschaftlichen Handeln ist Vertrauen von grundsätzlicher Bedeutung. Ein gemeinsam getragenes Verständnis von „anständigem“ Handeln (shared values) ersetzt komplizierte Verträge und das ausschließliche Abstellen auf anonyme bürokratische Rechtsverfahren. Überall, wo sich Menschen mangels Sachwissen und Erfahrungen nicht mehr sicher sein können, welche Handlungsweisen richtig sind, wirkt Vertrauen komplexitätsreduzierend. Man muss nicht mehr jedes Detail einer Entscheidung kennen und verstehen, man kann sich darauf verlassen, dass die Verantwortlichen richtig handeln. In einer Welt, die zunehmend von Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Ambiguität (VUKA)8 geprägt ist, wird robustes Vertrauen in Menschen und Institutionen zur Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg — und letztlich auch für gesellschaftlichen Frieden. Schließlich ist ohne ein breit aufgestelltes, robustes Grundvertrauen Innovation nicht mehr möglich.

Nachhaltige Entwicklung wird ohne technische (und gesellschaftliche) Innovationen schwerer, wenn überhaupt, erreichbar. Da die Entwicklung komplexer Technologien hohe finanzielle Mittel, Risikobereitschaft und einen hohen Organisationsgrad erfordert, findet sie heute oft in Unternehmen statt. Wo aber die Größe der Unternehmen als „Macht“ gefürchtet, der Komplexitätsgrad der technischen Entwicklung das Wissen von Laien überfordert und daher ängstigt, kann kein Vertrauen entstehen. Produkte aus Innovationen solcher Provenienz finden keine gesellschaftliche Akzeptanz. Das verhindert die Realisierung bestehender Innovationspotentiale.

Vertrauensdefizite wirken wie Sand im Getriebe von Wirtschaft und Gesellschaft.

Wo Vertrauen sinkt, geht Geld9 verloren und sinkt die Anzahl von Handlungsmöglichkeiten.10 Vertrauensdefizite wirken wie Sand im Getriebe von Wirtschaft und Gesellschaft. Integres, auf Wertüberzeugungen aufgebautes Handeln und Verhalten ist ein entscheidender Baustein für das reibungslose Funktionieren von Gesellschaft und Wirtschaft:

„Wenn wir bei jedem Vertrag davon ausgehen müssten, dass uns unsere Partner wo irgend möglich betrügen wollten, müssten wir viel Zeit dafür aufwenden, das Dokument absolut wasserdicht abzufassen und sicherzustellen, dass keine Hintertürchen offenbleiben. Verträge wären unendlich lang und detailliert, sie würden jede Eventualität berücksichtigen und jede vorstellbare Verpflichtung definieren. Aus Angst, ausgenutzt zu werden, würden wir niemals anbieten, mehr zu tun, als unsere gesetzliche Pflicht ist.“11

Gesunkenes Vertrauen ist jedoch überall auf der Welt eine empirisch messbare Tatsache — wir leben in skeptischen Zeiten.

Diffuses Unbehagen auf hohem Wohlstandsniveau

Die meisten Menschen in Mitteleuropa leben auf einem historisch nie erreichten Wohlstandsniveau. Sie leben bei besserer Gesundheit länger, haben größere Bildungs- und mehr persönliche Entfaltungsmöglichkeiten. Auf integre Weise erzielter Unternehmenserfolg im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft hat daran erheblichen Anteil — eine prosperierende gesellschaftliche Entwicklung und ein gelingendes Zusammenleben der Menschen wäre ohne verantwortliche Wertschöpfung nicht möglich. Das ist von großer sozialethischer Bedeutung.

Trotz der Erfolgsgeschichte der sozialen Marktwirtschaft und des immensen Beitrags der Unternehmen zum Wohlstand der Menschen werden heute aber wieder Stimmen laut, die man eigentlich im Archiv der Geschichte großer Irrtümer vermutet hätte:

Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion bedient sich über sechzig Jahre nach dem Godesberger Programm einer Sprache, die man aus Kampfparolen kommunistischer Funktionäre der untergegangenen DDR gewohnt war: „Hässliche Fratze des Kapitalismus“12 nennt er Dividendenzahlungen von Unternehmen, die wegen der Corona-Krise im April 2020 zur Rettung von Arbeitsplätzen Kurzarbeitergeld beantragten, um eine Entlassungswelle wie in den USA zu vermeiden. Die Tatsache, dass Dividenden ein erwünschter Teil privater Altersvorsorge sind und auch Versicherungen zur Erfüllung ihrer Aufgaben auf die Rendite des investierten Kapitals angewiesen sind, bleibt ausgeblendet, wenn die Karikatur „geldgieriger Couponschneider“ den Blick verstellt.

Rufe nach Enteignungen wurden im Herbst 2019 auf eine Weise diskutiert, als gehörten diese zum völlig legitimen Werkzeugkasten integrer Politik13 — dies keine dreißig Jahre nach Bekanntwerden der ökonomischen, ökologischen, sozialen und menschenrechtlichen Bilanz der Länder, deren Cheffunktionäre von sich behaupteten, sie praktizierten den „realen Sozialismus“.

Der Edelman Trust Barometer 2020 stellt fest, dass 56 % der in 27 Ländern befragten Menschen der Ansicht sind, der Kapitalismus schade mehr als er nutze.14 Eine Mehrzahl der jungen Menschen in den USA (millennials) lehnt den Kapitalismus ab — 36 % meinen sogar, Kommunismus sei die bessere Alternative.15 Sozialistische Konzepte genießen neue Aufmerksamkeit16 und dezidiert kapitalismuskritische Veröffentlichungen erfreuen sich im deutschsprachigen Raum hoher Lesergunst.17

Schon vor der Corona-Krise wuchs fast überall die Furcht, den Arbeitsplatz und damit verbunden Respekt und Würde wegen des Kapitalismus zu verlieren.18 Auf die Frage, „Welchen Institutionen trauen Sie zu, ‚das Richtige‘ zu tun?“, antworten nur 55 % der in 27 Industrie- und Schwellenländern befragten Menschen, „Business“19. Nichtregierungsorganisationen (NRO) schneiden nicht besser ab, Regierungen und Medien mit 47 % noch deutlich schlechter.

Den gegenwärtigen Wirtschaftsführern trauen weltweit nur 51 % der Befragten zu, mit den bestehenden Herausforderungen fertig zu werden. Politiker, also diejenigen, die den unterstellten „Raubtier-Kapitalismus“ durch Regulierung „zähmen“ sollen, schneiden mit 42 % allerdings noch schlechter ab.20

Keine der gesellschaftlichen Institutionen — Regierung, Unternehmen, NRO und Medien — wird heute als kompetent und ethisch akzeptabel betrachtet. Unternehmen schneiden bei der Zuschreibung von Kompetenz („good at what it does“) am besten ab, NRO bei der Zuschreibung ethischen Handelns („purpose driven, honest fair, has vision“). Da ethisches Handeln jedoch bei der Zuschreibung von Vertrauen ein dreimal so hohes Gewicht hat als Kompetenz, haben (kapitalismus-) kritische NRO im Wettbewerb um Glaubwürdigkeit einen Vorteil.21

Mangel an Vertrauen in Wirtschaft und Politik ist zwar kein auf Deutschland beschränktes Phänomen, die Menschen in Deutschland haben jedoch noch weniger Vertrauen in Wirtschaft (47 %) und Regierung (40 %) — allerdings auch in NRO sowie Medien (je 44 %)22 — als anderswo. Berufsgruppen wie Feuerwehr (94 %), Mediziner (88 %) oder Polizei (84 %) genießen hohes Ansehen, Manager (19 %) und Politiker (16 %) stehen dagegen weit unten auf der Skala moralischen Ansehens.23

Die Tatsache, dass auch dort, wo staatliche Autoritäten das Sagen haben, massive Mauscheleien zutage treten24, Korruption bei wichtigen Infrastrukturprojekten nachweisbar ist25 und mit Steuergeldern häufig auf eine Art und Weise umgegangen wird, die im Unternehmensbereich als Untreue strafbar wäre26, scheint das Wunschdenken, ein größerer staatlicher Einfluss erhöhe die ethische Qualität wirtschaftlichen Handelns, nicht zu bremsen.

Interessanterweise unterscheidet sich das Urteil von Menschen, die über mehr Wissen und „nähere“ Informationen verfügen, deutlich vom auf diffusem Vermuten basierenden Urteil. Die Differenzierung der Antworten zwischen der „allgemeinen Öffentlichkeit“ und der „informierten Öffentlichkeit“ im Edelman Trust Barometer 2020 zeigt: Besser ausgebildete Menschen, Menschen, die sich in den Medien regelmäßig über Fragen der Politik und Neuigkeiten aus Unternehmen informieren, haben generell mehr Vertrauen in Unternehmen (70 %), Regierungen (59 %) und Medien (58 %). Auch NRO schneiden bei der informierten Öffentlichkeit mit 61 % besser ab. Dass die Bedeutung der „informierten Öffentlichkeit“ Konsequenzen für die Kommunikationspolitik aller gesellschaftlicher Institutionen haben sollte, ist offensichtlich.

Ich sehe den Hauptgrund dieser prekären Vertrauenssituation nicht so sehr in skandalösem kriminellem Handeln, sondern in nicht erfüllten Erwartungen an Unternehmen und Führungspersönlichkeiten. Daher wird weiter unten vertieft auf die Struktur der gesellschaftlichen Arbeitsteilung eingegangen — es gibt ohne Zweifel ordnungspolitische Fragen, die man ohne weiteres unterschiedlich beantworten kann.

Dazu gehört z. B. die Frage, ob Krankenhäuser, Krankenkassen oder auch Infrastrukturanbieter wie die Telekom Gewinne für Aktionäre erwirtschaften müssen. Sollten Krankenhäuser nicht in erster Linie die nach ärztlichem Rat für den Patienten beste Behandlung sicherstellen? War die Gründungsidee der Krankenkassen nicht das Pooling Generationen übergreifender Risiken und die gesicherte Deckung notwendiger Gesundheitsleistungen? Geht der Zwang, Gewinne zu erwirtschaften, nicht zwangsläufig zu Lasten von Patienten, die sich keine privaten Zuzahlungsmöglichkeiten leisten können? Gehören Infrastrukturangebote wie beispielsweise High Speed Internet für alle Bürger eines Landes nicht eher zum service publique als in eine Institution, die am Kapitalmarkt erfolgreich sein soll? Ist es hinzunehmen, dass die Versorgung des ländlichen Raums (das ist für die deutsche Bundesministerin für Bildung und Forschung der Ort, wo die Milchkannen stehen, an denen 5G nicht benötigt wird) vernachlässigt wird, nur weil sich das kurzfristig nicht rentiert? Und schließlich: Ist es für den gesellschaftlichen Frieden unerheblich, wenn die Einkommens- und Reichtumsdiskrepanzen über Jahre steigen?

Legitime Fragen stellen sich auch aus einer ökologischen Perspektive: Ist es nicht so, dass es für Unternehmen (und private Verbraucher) bis heute möglich ist, Kosten zu „externalisieren“, weil die Preise nicht die ökologische (und soziale) Wahrheit zum Ausdruck bringen und daher nicht in die betriebliche Kostenrechnung eingehen? Ist es nicht so, dass dadurch wesentliche gesellschaftliche Kosten, beispielsweise die Folgen des Klimawandels, gar nicht erfasst werden? Erfordert die Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung nicht auch die Bereitschaft, das, was sich in den letzten 50 Jahren als vermeintlicher Sachzwang der (Kapital-!) Märkte eingeschlichen hat, auf seine Angemessenheit im Lichte neuer Erfahrungen zu überdenken? Joseph Stiglitz’ Ruf nach einem neuen, den veränderten Umständen besser angepassten Kapitalismus für die USA ist jedenfalls ein Weckruf in dieser Richtung.27

Man mag darüber streiten, ob die ungünstige Wahrnehmung der Geschäftsmoral mit einer neuen Art des Tocqueville-Paradoxons28 zu erklären ist oder mit Medien-Marketing, das überwiegend schlechte Nachrichten als berichtenswert betrachtet — was man übrigens als Beweis dafür ansehen kann, dass Skandale eben die Abweichung von der Normalität sind, sonst wären sie ja keine Skandale. Fakt ist, dass das gesellschaftliche Vertrauen in die Marktwirtschaft trotz aller Erfolge nicht mehr vorausgesetzt werden darf. Die Gefahr, dass dies auch die Akzeptanz der offenen, liberalen Gesellschaft vermindert, ist offensichtlich.

Kriminelles Handeln zerstört die Voraussetzungen für Vertrauensaufbau

Ich gehöre zu den Zeitgenossen, die sich nicht vorstellen konnten, dass große KFZ-Unternehmen im nun bekannten Maß Gesetze brechen. Ich hätte es auch nicht für möglich gehalten, dass Banken wertlose Schrott-Titel mit Papieren besserer Qualität neu bündeln und arglosen Kunden als Papiere hoher Bonität andrehen, von der Manipulation des Leitzinssatzes Libor ganz zu schweigen. Die Geschehnisse in der deutschen Autoindustrie waren wegen ihrer Dimension und der Beharrlichkeit der Betrügereien außergewöhnlich dreist29 und daher besonders meinungsprägend. Die bekannt gewordenen Fälle der geplanten Verschlechterung älterer Smartphones zur Verkaufsförderung neuer Modelle sind nicht minder bedauerlich.

Verletzung von Menschenrechten, Kinderarbeit und Umweltzerstörung im extraktiven Sektor, skrupellose Ausbeutung von Arbeitenden im Textilsektor, Fälschung von lebensnotwendigen Arzneimitteln und andere Ausprägungen kriminellen Handelns sind besonders vertrauenszerstörend. Der Bericht des Instituts der Deutschen Wirtschaft sieht als Folge von Korruption, Kartellen und Schwarzarbeit Umsatzverluste von bis zu 18 % und befürchtet — im Jahre 2019 — eine langfristige Beschädigung des Grundvertrauens der Bürger in die Unabhängigkeit des Staates bzw. die Integrität der Wirtschaft.30

Solche gravierenden Fälle sind zwar in einer anderen Kategorie anzusiedeln als Betrügereien bei Spesenabrechnungen, innerbetrieblicher Diebstahl oder Unterschlagungen, aber auch diese richten großen Schaden an. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG veröffentlicht jedes Jahr eine Studie über Wirtschaftskriminalität in Deutschland. Der Bericht von 2018 fasst die Situation wie folgt zusammen:

„Jedes dritte Unternehmen in Deutschland (32 Prozent) war in den letzten beiden Jahren Opfer von Wirtschaftskriminalität, wobei die Betroffenheit mit der Größe des Unternehmens zunimmt. Die Angst vor wirtschaftskriminellen Vorfällen ist sogar noch um ein Vielfaches höher: Vier von fünf Unternehmen (81 Prozent) sehen generell ein hohes bis sehr hohes Risiko mit Blick auf wirtschaftskriminelle Vorfälle in Deutschland.

Die häufigsten Deliktarten sind Betrug und Untreue (58 Prozent), ein eindeutiger Anstieg um 13 Prozentpunkte gegenüber der letzten Befragung 2016; auch hier sind große Unternehmen besonders stark betroffen (73 Prozent). Diebstahl und Unterschlagung trifft im Schnitt 40 Prozent der Unternehmen. Aber auch Datendelikte sind weiter auf dem Vormarsch: Inzwischen erwischt es schon jedes dritte befragte Unternehmen (31 Prozent), vor zwei Jahren war es noch jedes vierte (24 Prozent).“31

Es ist zwar kein Trost, aber Sachverhalte wie diese sind meiner Ansicht nach nicht die „hässliche Fratze des Kapitalismus“, sie sind ordnungspolitisch gleich verteilt: Gesetzesbrecher gibt es überall auf der Welt, in allen von Ideologen geschaffenen gesellschaftlichen Kategorien und sozialen Schichten. Meine persönliche Lebensund Berufserfahrung ist die einer moralischen „Gauß-Verteilung“: Ja, es gibt sie, die schwarzen Schafe, die ihrer Verantwortung nicht gerecht werden. Bei weitem nicht jeder Mensch, der Macht hat, wird der damit einhergehenden Vorbildfunktion gerecht. Schlechte Beispiele sind aber auch immer nur Beispiele, sie spiegeln spezifische, keine repräsentativen Aspekte der Wirklichkeit wider — sie zeigen die Ausnahme zu einer ansonsten integren Regel.

Wo kriminell gehandelt wird, muss die Strenge des Gesetzes zur Geltung kommen, Verbrecher gehören ins Gefängnis, egal, welchen sozialen Status sie haben. Nur wenn die moralische Qualität geschäftlichen Handelns den Erwartungen der Menschen entspricht — und das schließt kriminelles Handeln und Ausnutzen von Gesetzeslücken prinzipiell aus — kann vermehrtes Vertrauen aufgebaut werden.

Wo kriminell gehandelt wird, muss die Strenge des Gesetzes zur Geltung kommen, Verbrecher gehören ins Gefängnis …

Das Schaffen von Mehrwert muss einhergehen mit Schaffen von Vertrauen

Für Führungspersönlichkeiten der Wirtschaft wie generell für Menschen, die sich für eine möglichst hohe ethische Qualität geschäftlichen Handelns einsetzen, geht es nicht um die Höhe des Gewinns als solchem, sondern um die Art und Weise seines Zustandekommens. Wo unter Berücksichtigung von Finanz-, Human-, Sozial- und Naturkapital ethisch verantwortet entschieden und gehandelt wird, wo innovative Produkte durch Nützlichkeit für den Kunden, Zuverlässigkeit bei der Qualität und Angemessenheit des Preis-Leistungs-Verhältnisses charakterisiert sind, wo nach innen und außen Fairness praktiziert und gegenseitiger Respekt gepflegt wird und daher Vertrauen entsteht, kommt Erfolg auf den Märkten zustande. Nachhaltige Gewinne sind unter solchen Bedingungen nicht Ziel des Handelns, sondern das Ergebnis der ethischen Qualität des gesamten Handlungspaketes.

Die Bedeutung von Verteilungsfragen, der Festlegung von Rahmenbedingungen für den Wettbewerb oder anderer Facetten der Ordnungspolitik werden dadurch nicht vermindert — verteilt kann jedoch nur werden, was zuvor an Substanz geschaffen wurde. Wie groß der Beitrag an den Wohlstand der Menschen einer Gesellschaft ist, wird besonders dann spürbar, wenn außergewöhnliche Umstände wie z. B. die Corona-Krise wirtschaftliches Handeln erschweren. In Krisenzeiten wächst allerdings auch die Gefahr, ethische Sachverhalte finanziellen Erwägungen unterzuordnen, weil „man jetzt andere Probleme“ habe.

Dass Probleme, von denen alle betroffen sind, bei verschiedenen Menschen unterschiedliche Reaktionen auslösen, liegt in der Natur der Menschen. Was bei den einen zu lähmender Resignation und stummer Verzweiflung führt, löst bei anderen Kreativität und Impulse zur Linderung von Not aus. Ein Teil der Führungskräfte der Wirtschaft entschied sich als Reaktion auf die Corona-Krise für großzügige solidarische Leistungen.32 Andere wollten ein (schlecht gemachtes) Gesetz, das als Nothilfe für kleine und mittelgroße Betriebe gedacht war, „mitnehmen“ und sich kostensparend zu Nutze machen.33 Manche Versicherungen lassen Versicherte unter Berufung auf die im Kleingedruckten versteckten Differenzierungen (z. B. zwischen Epidemie und Pandemie) im Stich,34 andere bezahlen im Zweifel anfallende Schäden.35

Verantwortungsvolle Führung bedeutet nicht nur auf integre Weise erzielte Erfolge am Produkte- und Dienstleistungsmarkt, sondern auch glaubwürdige Teilnahme am öffentlichen Diskurs über den Beitrag geschäftlichen Handelns zum Gemeinwohl. Diejenigen, die Verantwortung für integres Handeln tragen, müssen auf eine allgemein verständliche Weise erklären, was sie tun und warum. Das wiederum heißt, nicht nur über finanzielle Spezifika zu referieren, sondern auch den Daseinszweck des Unternehmens36 zu erläutern, die nicht verhandelbaren Werte zu begründen und die Art und Weise, mit denen Erfolg auf den Märkten angestrebt wird, zu erklären. Was viele CEOs der Öffentlichkeit voll Stolz mitteilen — stetig steigende Gewinne — adressiert lediglich einen kleinen Teil dessen, was für gesellschaftliches Vertrauen notwendig ist. Siebenundachtzig Prozent der von Edelman Befragten sind der Ansicht, eine faire Behandlung der Gesamtheit der Anspruchsgruppen (stakeholder) sei wichtig für den langfristigen Erfolg eines Unternehmens, nicht nur die der Aktionäre.37

Dass die Menschen moderner Gesellschaften legitimes (und nicht nur legales) Handeln erwarten, ist seit langem bekannt. Schon im Jahre 2012 gab eine Studie von Edelman den wichtigen strategischen Hinweis für die Gründe mangelnder gesellschaftlicher Akzeptanz von Unternehmen: Menschen in allen wichtigen Industrie- und Schwellenländern der Welt empfanden in ihrer großen Mehrheit, dass Führungskräfte die sozialen und gesellschaftlichen Anliegen im Verhältnis zu den wirtschaftlichen zu wenig berücksichtigen.38 Zwei Drittel der befragten Menschen erwarten von Unternehmen einen Beitrag an die Lösung gesellschaftlicher Probleme. Faire Arbeitsbedingungen, Weiterbildung und andere Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigungsfähigkeit,39 Zusammenarbeit mit Stakeholdern und Partnerschaften auch mit Akteuren außerhalb des Teilsystems Wirtschaft sind Teil dieser Erwartungen.

Weil die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen in hohem Maße „gefühlte“ Verantwortung ist, mag das oft schwer zu quantifizieren sein, qualitativ ist die Sache jedoch klar: Es geht um das Einhalten von interkulturell anerkannten normativen Regeln wie denen, die Hans Küng40 und seine Mitarbeiter über die Jahre herausdestilliert haben. Es geht um Denk- und Verhaltensweisen, die weit über Legalität hinausgehen. Es geht um moralisch inspiriertes Handeln auf der Basis einer geistigen Grundhaltung, nach der alle Menschen mit ihren Möglichkeiten in ihrer Einflusssphäre einen Beitrag für eine Welt leisten, die in wirtschaftlicher, sozialer, ökologischer und menschenrechtlicher Hinsicht dem entspricht, was sie für die eigenen Kinder und Enkel wünschen. Führungspersönlichkeiten sind in der Lage, hier Zeichen zu setzen. Das ist zwar eine andere Optik als die der heutigen Finanzanalytiker, aber es ist eine empirisch nachgewiesene Tatsache.

Verantwortungsvolle, weil integre Führung ist immer Handeln nach bestem Wissen und Gewissen und nicht nur das Einhalten formaler gesetzlicher Regelungen. Menschen in den Unternehmen haben früher, mehr und bessere Informationen über erwünschte und unerwünschte Auswirkungen des eigenen Tuns, als der bestinformierte Gesetzgeber zum jeweiligen Zeitpunkt berücksichtigen kann. Dies ist insbesondere bei forschenden Unternehmen der Fall. Bei lediglich gesetzestreuem Handeln könnten zumindest temporär Gefährdungen entstehen, die durch freiwilliges Handeln über die gesetzlichen Vorschriften hinaus zu verhindern wären. Dies ist besonders dort relevant, wo technologisches Neuland betreten wird oder durch neue Messmethoden oder Bewertungskriterien sich bisher akzeptiertes Handeln als unverantwortlich herausstellt. Der Umgang mit Asbest oder Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW) in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts sind zwei Beispiele in dieser Hinsicht.

Verantwortungsbewusste Führungspersönlichkeiten handeln daher im Rahmen des Möglichen über das gesetzlich Vorgeschriebene hinaus. Sie empfinden die Fähigkeit, etwas tun zu können, als Pflicht, das auch zu tun. Seit Kofi Annan bei der Lancierung des Global Compact haben sich alle ihm folgenden UNO Generalsekretäre Ban Ki-moon und António Guterres dahingehend geäußert, dass die Lösung der größten Menschheitsprobleme ohne die Unterstützung der Wirtschaft nicht möglich sei. Zwar leistet die Wirtschaft einen weit größeren Beitrag, als einer breiteren Öffentlichkeit bewusst ist, aber es ist immer noch viel ‚Luft nach oben‘.41

Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung ist kein moralischer Heroismus seitens williger Unternehmen, sondern liegt im wohlverstandenen, langfristigen Eigeninteresse: Gesetze sind meist Reaktionen auf Vorkommnisse aus der Vergangenheit, nachhaltig erfolgreiche Führungspersönlichkeiten nehmen in ihren Investitionsentscheidungen zukünftige Rahmenbedingungen vorweg. Sie wissen, dass Innovatoren und jene, die sich neuen Entwicklungen früh anpassen, sich substantielle Vorteile sichern können.42

Was für Führungskräfte im Besonderen gilt, gilt im Rahmen des jeweils Möglichen für alle Mitarbeitenden eines Unternehmens. Doch hier gibt es zwischen dem Wollen und dem Können empfundene Diskrepanzen: Die deutsche Wertekommission nennt zwar „Vertrauen gegenüber der individuellen Verantwortung“ als wichtigsten (35,5 %) der sechs individuellen Kernwerte.43 Allerdings gibt nur ein Viertel der befragten Führungskräfte an, im beruflichen Alltag für Fragen der Moral besonders sensibel zu sein. Mehr als 25 % der Befragten fühlen sich nicht oder nur bedingt in der Lage, ihre moralischen Überzeugungen im Alltag wirksam umzusetzen. Der überwiegende Teil der Befragten gibt sogar an, sich in bestimmten Situationen von seinen Moralvorstellungen zu lösen. Zusätzlich zum individuellen Willen, moralisch integer zu handeln, sei eine ethische Infrastruktur und eine starke ethische Kultur erforderlich, um wertekonsistentes Verhalten zu begünstigen und es Führungskräften zu erlauben, ihre moralischen Überzeugungen wirksam und verantwortungsvoll umzusetzen.44 Da drängt sich allerdings die Frage auf, wie hier Führungskraft definiert ist.

Die Erhöhung der ethischen Qualität unternehmerischen Handelns ist Voraussetzung für eine menschenwürdige Gegenwart und Zukunft

Unser aller Zukunft besteht nicht überwiegend aus Gegebenheiten, denen wir hilflos ausgeliefert sind und die wir fatalistisch hinnehmen müssen. Jeder von uns kann einen Beitrag an die Gestaltung einer menschengerechten Zukunft leisten. Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung zeigt die sozialen, ökologischen und ökonomischen Grundlinien dafür auf — die Enzyklika Laudato Si’ beschreibt die humanen und spirituellen Elemente dazu.

Die Faktenlage ist unstrittig: Im Jahre 2019 und schon die Jahre davor schrumpfte das Eis in der Antarktis und in Grönland schneller und in größerer Menge als bisher, wüteten Waldbrände in Australien, Südamerika und Sibirien intensiver als bisher, verschlechterte sich die Robustheit der Ökosysteme schneller als bisher und beschleunigte sich als Resultat das Aussterben von Amphibien, Vögeln, Säugetieren, Reptilien und Fischen.45 Experten befürchten in den kommenden Jahren eine Verstärkung dieser negativen Trends.

Bis heute liegt kein überzeugendes Konzept aus Unternehmensperspektive vor, mit welchen innovativen Geschäftsmodellen das Gebot, niemanden zurück zu lassen, erreicht werden soll.

Zwar gelang es in den letzten beiden Jahrzehnten — hauptsächlich wegen der wirtschaftlichen Erfolge Chinas — die Zahl der in absoluter Armut lebenden Menschen trotz Bevölkerungswachstums um über eine Milliarde zu verringern. Dennoch leben noch immer über 700 Millionen Menschen unter der Armutslinie.46 Die Auswirkungen der Corona-Krise werden diese Zahl erhöhen. Zunehmende Disparitäten bei Reichtum, Einkommen und Chancen schüren soziale Unruhen in vielen Teilen der Welt und erhöhen den Migrationsdruck. Soziale Disparitäten werden von 76% der Befragten im Edelman Trust Barometer 2020 als Gerechtigkeitsdefizit empfunden — für dessen Zustandekommen auch Unternehmen in die Verantwortung genommen werden.47

Fünf Jahre nach der einstimmigen Verabschiedung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung ist kein einziges Land auf Kurs für die erforderlichen Transformationen.48 Die großen sozialen und ökologischen Probleme bestehen fast unverändert fort, manche haben sich verstärkt. Das Versprechen, bei der Umsetzung der Agenda 2030 niemanden zurückzulassen, harrt seiner Einlösung. Das betrifft auch die Wirtschaft: Bis heute liegt kein überzeugendes Konzept aus Unternehmensperspektive vor, mit welchen innovativen Geschäftsmodellen das Gebot, niemanden zurück zu lassen, erreicht werden soll. C.K. Prahalads Empfehlung wurde selten nachhaltig umgesetzt.49

Das erstaunt, denn alle großen ökologischen und sozialen Probleme tauchen im Global Risk Report 2020 des World Economic Forum auch als Gefahr für die Weltwirtschaft auf. Das WEF zeigt eindrücklich, dass makro-ökonomische Risiken, soziale und geopolitische Spannungen, Umweltrisiken und biologische Bedrohungen keine isolierten Risiken sind, sondern zueinander in einem Verhältnis der kumulativen Verursachung und zirkulären Interdependenz stehen.50

Angesichts der Zustimmung wesentlicher Wirtschaftsverbände wie des BDI,51 sowie der Tatsache, dass viele Unternehmen auf ihrer Website Unterstützung für die Agenda 2030 bekunden,52 kann man davon ausgehen, dass die ihr zugrunde liegenden Probleme erkannt sind und das Maßnahmenpaket der Agenda (zumindest generelle) Zustimmung genießt. Nichthandeln im Lichte dieses Wissens und der öffentlichen Anerkennung ist Handeln wider besseres Wissen — und damit Mangel an Integrität. Eine Erhöhung der ethischen Qualität geschäftlichen Handelns ist notwendig, diesbezügliche Verlautbarungen sind an den konkreten Leistungen zu messen.

Von Menschen, deren Entscheidungen Auswirkungen auf das Leben anderer haben, sind besondere Sorgfaltspflichten zu erwarten — insbesondere diejenige, sich nicht weg zu ducken und sich nicht hinter institutionellen Widerständen zu verstecken. Jeder einzelne Mensch kann in seiner noch so begrenzten Einflusssphäre das Richtige tun. Sich selbst als Individuum darzustellen, das ja eigentlich anders wollen würde, wenn es könnte, ist insbesondere von Führungskräften unerträglich. Sie haben im Normalfall immer das, was Thomas Donaldson und Thomas W. Dunfee Freiraum für moralisch inspiriertes Handeln genannt haben (moral free space).53 Zur intellektuellen Redlichkeit einer verbesserten Kommunikation gehört allerdings auch, dass es nicht immer möglich ist, eine für alle Anspruchsgruppen befriedigende Lösung zu finden.54 Dies zuzugeben und zu begründen, erfordert Zivilcourage (moral courage),55 unvermeidliche Härten möglichst abzufedern, erfordert sozialen Einfallsreichtum. Von Führungspersönlichkeiten wird beides erwartet.

Der Generationen übergreifende hippokratische Grundsatz „Vor allem schade nicht“ ist das Minimum, aber dieser Grundsatz fügte in seiner ausführlichen Version dem Primum non nocere hinzu, „Zweitens: Vorsichtig sein“ (secundum cavere) und „Drittens: Heilen“ (tertium sanare) hinzu. Ein solchermaßen umfassendes Verantwortungsverständnis ist von integren Führungskräften zu erwarten, es ist der Maßstab für Sustainable Corporate Leadership — alles andere ist opportunistisches Followership.

Dabei geht es im geschäftlichen Alltag bei weitem nicht nur um die großen Dinge. Integres Management ist eine Geisteshaltung, die auch — vielleicht erst recht — beim Handeln und Verhalten in Bezug auf vermeintlich kleinere Dinge zum Ausdruck kommt. Auch Leadership für eine nachhaltige, menschengerechte Entwicklung beginnt mit freundlichem, hilfsbereitem, fürsorglichem und respektvollem Umgang mit Menschen im Unternehmen und dessen Umfeld sowie mit einem achtsamen Umgang mit der Natur.56 Eine solche Grundeinstellung fördert Vertrauensbildung.

Die Addition der kleinen Veränderungen von 7,8 Milliarden Erdbewohnern mit ihren unterschiedlichen Kompetenzen und vielfältigen Ressourcen wird letztlich entscheidend sein für den Erfolg in den Bemühungen um Nachhaltigkeit. Das nimmt nicht nur die Chefs der großen Unternehmen in die Pflicht, sondern verleiht auch den Entscheidungsträgern in den über 4 Millionen kleineren und mittelgroßen Unternehmen im deutschsprachigen Raum große Bedeutung.57 Auch sie können den ihnen verfügbaren Freiraum für zusätzliches, ethisch motiviertes Handeln zugunsten heute und zukünftig lebender Menschen nutzen. Auch sie können ethische Musikalität und moralisches Vorstellungsvermögen für die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle einsetzen, bei denen zwischen Eigeninteresse und Gemeinwohl eine harmonische(re) Beziehung besteht.

Es gibt eben nicht nur die oft zitierten „schwarze Schafe“, es gibt auch die Ausnahmepersönlichkeiten und Leuchttürme aufgeklärten Handelns. Sie sind allerdings auch die Ausnahme zur Regel, aber das unterscheidet ja Führungspersönlichkeiten von Führungskräften. Die große Mehrheit der in Wirtschaft und Gesellschaft Verantwortung tragenden Menschen sind „Menschen wie Du und ich“. Das stimmt einerseits hoffnungsvoll, denn wir alle wünschen uns Anerkennung, insbesondere durch Menschen, an denen uns etwas liegt. Menschen wie Du und ich wollen gut sein, möchten etwas hinterlassen, auf das sie mit Stolz blicken können.

7Fukuyama F. (1995): 190.

8Der Begriff VUKA (urspr. VUCA) wurde bei der Arbeit des US Army War College an einem neuen Konzept der Kriegsführung für die Beschreibung der veränderten Umwelt entwickelt. Diese sei — im Gegensatz zu früher — geprägt durch volatility, uncertainty, complexity und ambiguity. Später wurde der Begriff auch von Unternehmen benutzt, da deren Umfeld zunehmend durch solche Faktoren gekennzeichnet ist.

9Accenture (2018).

10Fukuyama (1995): Teil 3.

11Fukuyama (1995): 189.

12Schneider, Carsten [Twitter] (2020). Veröffentlicht am 03.04.2020. Online: https://twitter.com/schneidercar/status/1245985448104792070, Abruf 29.06.2020.

13rbb24 (2019).

14Edelman Trust Barometer (2020): Slide 12.

15Langlois S. (2019).

16Edelman Trust Barometer (2020); Fuster Th. (2019); Hartig H./Pew Research Center (2019); Harris Poll/Axios (2019).

17Ziegler J. (2019).

18Edelman Trust Barometer (2020): Slide 11.

19Edelman Trust Barometer (2020): Slide 9.

20Edelman Trust Barometer (2020): Slide 17.

21Edelman Trust Barometer (2020): Slide 20 ff.

22Edelman Trust Barometer (2020): Slide 9.

23Creutzburg D. (2019).

24SPIEGEL Wirtschaft (2019).

25Wie beispielsweise am Berliner Flughafen BER. Siehe dazu Brzozowski A. et al. (2017).

26Bund der Steuerzahler Deutschland e. V. (2020).

27Stiglitz J.E., T.N. Zucker und G. Zucman (2020).

28Alexis de Tocqueville sah Hinweise darauf, dass gesellschaftlicher Fortschritt, durch den die sozialen Ungleichheiten objektiv abnehmen, paradoxerweise zu einem wachsenden und verfeinerten Anspruchsniveau führen, da die verbleibenden Ungleichheiten als „menschengemacht“ erkannt werden und dies für Empörung sorgt. Siehe: Tocqueville A. d. (1978).

29Alle drei großen deutschen Unternehmen der Automobilindustrie schmücken sich mit einem Ethik-Kodex, der Selbstverpflichtungen auflistet, die offensichtlich und vorsätzlich mit Füßen getreten wurden. So enthalten beispielsweise die Verhaltensgrundsätze (Code of Conduct) des Volkswagen Konzerns Formulierungen wie: „Wenn wir merken, dass etwas falsch läuft, wenn wir Fehler machen oder Fehler erkennen, müssen wir sie ansprechen und angemessen reagieren — auch wenn das unbequem ist. Wegschauen war und ist nicht der richtige Weg.“ Oder: „Der Erfolg unseres Unternehmens hängt entscheidend davon ab, dass wir uns alle, das heißt Vorstand, Führungskräfte und jeder einzelne Arbeitnehmer, ehrlich, integer und ethisch korrekt verhalten. Das bedeutet auch, dass wir intern und extern wahrheitsgemäß, umfassend und rechtzeitig berichten und kommunizieren.“ Und schließlich: „Es ist nicht nur eine gesetzliche Verpflichtung, sondern auch unser Anspruch, die für unsere Produkte geltenden gesetzlichen und behördlichen Vorschriften sowie internen Standards einzuhalten. Unsere Produkte entsprechen dem jeweiligen Stand der Technik und sind im Einklang mit den gesetzlichen Vorgaben entwickelt. Durch Prozesse und Strukturen wird dies ebenso wie die Produktbeobachtung der Fahrzeuge im Feld kontinuierlich und systematisch sichergestellt. Hier machen wir keine Kompromisse.“

30Institut der Deutschen Wirtschaft (2019).

31KPMG (2018).

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