Interkultur - Mark Terkessidis - E-Book

Interkultur E-Book

Mark Terkessidis

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Beschreibung

Ob als theoretisches Konzept oder als polemische Formel – lange Zeit bestimmte der Begriff des Multikulturalismus die Debatte über die Einwanderungsgesellschaft. Die stellte man sich vor wie ein Stadtteilfest mit Würstchen, Falafel und Cevapcici – als unverbindlich-tolerantes Nebeneinander. Doch Autoren und Regisseure wie Vladimir Kaminer oder Fatih Akin wollen nicht länger auf ihre Herkunft reduziert werden und haben die Vorstellungen von deutscher Kultur verändert. Daher sollten, so Mark Terkessidis, die alten Konzepte überwunden werden. Er plädiert für eine radikale interkulturelle Öffnung. Alle Institutionen müßten darauf abgeklopft werden, ob sie Personen, egal welcher Herkunft, auch tatsächlich die gleichen Chancen auf Teilhabe einräumen. Nur so können die Potentiale einer vielfältigen Gesellschaft fruchtbar gemacht werden.

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Ob als theoretisches Konzept oder als polemische Formel – lange Zeit bestimmte der Begriff des Multikulturalismus die Debatte über die Einwanderungsgesellschaft. Die stellte man sich vor wie ein Stadtteilfest mit Würstchen, Falafel und Cevapcici – als unverbindlich-tolerantes Nebeneinander. Doch Autoren und Regisseure wie Vladimir Kaminer, Terézia Mora oder Fatih Akin wollen nicht länger auf ihre Herkunft reduziert werden und haben die Vorstellungen von deutscher Kultur verändert. Daher sollten wir, so Mark Terkessidis, die alten Konzepte überwinden. Er plädiert für eine radikale interkulturelle Öffnung. Alle Institutionen müssen darauf abgeklopft werden, ob sie Personen, egal welcher Herkunft, auch tatsächlich die gleichen Chancen auf Teilhabe einräumen. Nur so können wir die Potentiale einer vielfältigen Gesellschaft fruchtbar machen.

Mark Terkessidis (geboren 1966) arbeitet als Publizist mit den Schwerpunkten Popkultur und Migration. 2006 verfasste er zusammen mit Yasemin Karasoglu ein intensiv diskutiertes Plädoyer für mehr Rationalität in der Integrationsdebatte.

Mark Terkessidis

Interkultur

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Suhrkamp Verlag Berlin 2010

Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-79660-3

www.suhrkamp.de

Inhalt

Einleitung

Kapitel 1Einführung in die Parapolis

Kapitel 2Kritik der Integration

Kapitel 3Der Umgang mit Rassismus

Kapitel 4Das Programm Interkultur

Kapitel 5Kulturinstitutionen für alle

Schluss

Einleitung

Es ist erstaunlich, wie viel man sich in Deutschland mit der Vergangenheit beschäftigt. Im Jahr 2009 waren die Besinnungsreden zum Thema 40 Jahre 1968 kaum verklungen, da wurde schon an 1989 erinnert, an jene Zeit, in der die Menschen auf den Straßen der DDR riefen: »Wir sind das Volk!« Das aktuelle Volk allerdings, das sich in den Straßen der Bundesrepublik tummelt, scheint man bei solchen Anlässen kaum zur Kenntnis zu nehmen. Dabei hat es sich dramatisch verändert. In den großen Städten sind heute mehr als ein Drittel der Bewohner nichtdeutscher Herkunft; bei den unter Sechsjährigen bilden die Kinder mit Migrationshintergrund sogar schon die Mehrheit. Das Volk der Berliner Republik ist weniger einheitlich, weniger berechenbar als früher. Es ist also höchste Zeit, über die Gestaltung der Zukunft zu sprechen.

Nun kann man schwerlich behaupten, in den letzten Jahren sei nicht intensiv über das Thema Einwanderung debattiert worden. Und es hat sich auch schon viel bewegt, seitdem 1998 die rot-grüne Regierung zum ersten Mal anerkannt hat, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Allerdings stammen die Konzepte, die aktuell für die Gestaltung dieses Landes kursieren, einmal mehr aus der Vergangenheit. Der Begriff Integration ist nach über 30 Jahren wieder in Mode. Sehr sinnvoll ist das nicht. Denn in Deutschland verbergen sich hinter diesem Wort allerlei unausgesprochene Vorstellungen darüber, was »Deutschsein« bedeutet, wie Leute sich bei »uns« benehmen müssen und was sie nicht tun sollten, wer die richtigen Voraussetzungen hat und wer Defizite, für wen die Institutionen gemacht sind und wer da eigentlich nur zu Gast ist.

Nun sind die verbreiteten Ideen vom Deutschsein jedoch so altbacken, dass selbst die Einheimischen ihre Lebensweisen darin nicht mehr unterbringen können. Immer noch bringt man deutsch in Verbindung mit Organisationstalent, Ordnung, Fleiß, Zuverlässigkeit und romantischer Tiefe. Ein Streifzug durch die Hauptstadt, ein Termin mit einem Handwerker oder eine Fahrt mit der deutschen Bahn machen schnell klar, wie wenig diese Attribute heute noch mit dem wirklichen Leben zu tun haben. Seit 1989 wird fieberhaft nach neuen Ideen von Deutschsein geforscht, doch die Ergebnisse sind wenig beeindruckend. Diese Suche hat dabei etwas überaus Provinzielles. Viel fruchtbarer wäre es, die Vielheit auf den Straßen zum Ausgangspunkt zu nehmen für eine andere Idee der deutschen Bevölkerung. Das setzt aber den Willen zum Voranschreiten, zur Öffnung und zum Neuerfinden voraus. Für diesen Prozess ist der Begriff Interkultur wesentlich geeigneter. Bislang allerdings wurde Interkultur oftmals verstanden als eine Art eher praktisch orientierter Ersatzbegriff für Multikulturalismus. Es ging darum, wie man die eigene Perspektive relativiert, die Unterschiede der anderen anerkennt und wie man sich in anderen kulturellen Kontexten benimmt.

In Bezug auf die Verwaltung und andere Institutionen wird aber auch schon länger über interkulturelle Öffnung diskutiert. Tatsächlich ist der Umbau der Institutionen die entscheidende Aufgabe für die Zukunft. Durch die Einwanderung und den demographischen Wandel hat sich eine völlig neue Situation ergeben. Es wäre weltfremd zu glauben, man könne die Einwanderer ganz einfach einfügen in die bestehenden Strukturen. Staatliche oder durch staatliche Gelder finanzierte Institutionen – damit sind Ämter ebenso gemeint wie kommunale Unternehmen, Museen, Bibliotheken und Erziehungseinrichtungen – werden sich verändern müssen, um der zunehmenden Vielfalt gerecht zu werden. Dieser Wandel ist eine Überlebensaufgabe geworden.

In vielen großen Unternehmen ist das Bewusstsein für die Aufgabe unter dem Stichwort Diversity früher angekommen als in der Politik. Dabei geht es in der Politik auch um die Frage der demokratischen Legitimation. Angesichts des Wandels in der Zusammensetzung des »Volkes« ist der rechtliche und soziale Abstand zwischen Einheimischen und Personen mit Migrationshintergrund nicht länger hinzunehmen. Das akzeptieren auch die Konservativen. Doch in ihrer Version von Integration wird dieser Abstand schlicht als ein Abstand vom wie auch immer definierten Deutschsein betrachtet, den man durch eine individuelle Anpassungsleistung überwindet. Und wer das nicht schafft, der muss eben Ausländer bleiben, der ist nicht integrationsfähig.

Im Grunde birgt der Begriff Integration stets eine negative Diagnose. Es gibt Probleme, und die werden verursacht durch die Defizite von bestimmten Personen, die wiederum bestimmten Gruppen angehören. Der Ausgangspunkt ist dabei immer die Gesellschaft, wie sie sein soll, und nicht die Gesellschaft, wie sie ist. Die Idee von Interkultur, die in diesem Buch vorgeschlagen wird, geht von einer anderen Diagnose aus. Zu Beginn wird gefragt: Was ist Einwanderungsgesellschaft? Wo spielt sie sich ab? Wie funktioniert sie und was trägt sie an positiven Kräften in sich, die weiterentwickelt werden können? Dann wird der Versuch unternommen, besagten Abstand als ein spezifisches und strukturelles Ungleichheitsverhältnis zu verstehen, für das ohne moralische Implikationen der Begriff Rassismus verwendet wird. So ergeben sich andere Handlungsoptionen.

Das Ziel ist eine Evolution der Institutionen im Hinblick auf die neue Vielfalt der Gesellschaft. Dafür müssen vor allem strukturelle Hürden für die Individuen beseitigt werden – zumeist unsichtbare, unausgesprochene und unbemerkte Hindernisse. Die technische Statusbeschreibung für solche Hürden ist Diskriminierung. Und das technische Ziel heißt Barrierefreiheit. Dieser letzte Begriff wird zumeist in Bezug auf Menschen mit Behinderungen verwendet, doch er lässt sich verallgemeinern. Es geht tatsächlich, aber eben auch im übertragenen Sinne darum, ein Gebäude so umzubauen, dass es nicht nur für die »Normalen« gut funktioniert, die von vornherein die richtigen Voraussetzungen mitbringen, sondern für alle Bewohner oder Benutzer.

Gerade heute, wo Freiheit und Wettbewerb als zentrale gesellschaftliche Werte gelten, ist Barrierefreiheit eine unabdingbare Bedingung dafür, dass alle Individuen gleichermaßen ihre Möglichkeiten ausschöpfen können, gleich welche Eigenschaften oder Hintergründe sie mitbringen. Und wer denkt, strukturelle Diskriminierung betreffe nur sogenannte Minderheiten, der sollte daran denken, dass jeder einmal alt wird – und für ältere Menschen existieren viele Hürden. Im vierten Kapitel wird ein Programm Interkultur entwickelt, ein Vorschlag, wie der Umbau des Hauses funktionieren könnte. Dabei wird Interkultur als Verfahrensweise beschrieben. Denn im Gegensatz zu multikultureller Gesellschaft wird kaum einmal von interkultureller Gesellschaft gesprochen: Interkultur ist eben kein utopischer Entwurf, sondern eine Handlungsregel.

Der Begriff Kultur in Interkultur hat daher keine primär ethnische Bedeutung – er bedeutet, etwa im Sinne der frühen Cultural Studies, ein übergreifendes Prinzip der Organisation. Nicht die Unterschiedlichkeit der Kulturen oder der gegenseitige Respekt stehen im Vordergrund – es heißt nicht Interkulturen, sondern Interkultur, also Kultur-im-Zwischen. Und das ist eine treffende Beschreibung für den Ausgangspunkt und den Prozess: Es geht um das Leben in einem uneindeutigen Zustand und die Gestaltung einer noch unklaren Zukunft. In diesem Sinne geht es bei dem Programm der Interkultur, das ich in diesem Buch entwerfe, nicht darum, bestehende oder unterstellte Unterschiede einfach zu respektieren. Es geht vielmehr um das Knüpfen neuer Beziehungen.

Einwanderung wurde oft als eine Art Störung der Harmonie in Deutschland betrachtet. Doch diese Harmonie hat nie existiert. Und Harmonie muss auch nicht immer das Ideal sein – aktuell haben wir es mit Dissonanz und Brechung, mit Unreinheit und Improvisation zu tun. Das bedeutet nun nicht, dass sich langfristige Planung nicht mehr lohnt – im Gegenteil: Sie muss aber flexibler werden. Wir stehen vor der großen Aufgabe einer interkulturellen Alphabetisierung. Und dabei lernen wir alle eine neue Sprache.

Kapitel 1Einführung in die Parapolis

Wenn ich morgens in Kreuzberg aus dem Fenster schaue, blicke ich auf ein Panorama totaler Urbanität: Auf dem Bürgersteig strömen die Berufsschüler vorbei, die gefühlt zu mindestens 70 Prozent Migrationshintergrund haben. Später kommen dann die Touristen, die in diesem Kiez in den letzten Jahren immer präsenter geworden sind. Es handelt sich meist um junge Leute, die alle möglichen Sprachen sprechen und offensichtlich mit dem Leben in der Großstadt vertraut sind. Viele kommen nach Berlin, um einen der angesagten Techno-Clubs in Kreuzberg oder Friedrichshain zu besuchen, und sind daher in der Regel weder mit Stadtplänen noch mit Fotoapparaten bewaffnet. Gegenüber meiner Wohnung ist ein Fahrradladen, der von Exalternativen betrieben wird, die in den wilden Achtzigern tiefe Falten bekommen haben. Daneben wiederum gibt es ein nicht eben billiges französisches Restaurant, einen stylishen Friseursalon à la turka und zwei Bars, die eher mediterran daherkommen. Fast das ganze mittelständische Business ist in der Hand von Geschäftsleuten nichtdeutscher Herkunft. Alle fünf Minuten rauscht die Hochbahn vorbei – eine Prozession äußerst individualisierter Personen auf ihrem Weg durch die Stadt.

Wenn ich auf der anderen Seite meiner Wohnung aus dem Fenster schaue, sehe ich eine große Wohnanlage für Senioren, die während der Internationalen Bauausstellung 1987 entstanden ist – der »postmodernen« Bauausstellung. Vielfalt war eines der Kernelemente des postmodernen Denkens, ein anderes war die Rückbesinnung auf die Geschichte bzw. auf das, was man in der Stadt vorfindet. Und daher bemühte man sich in der heute als erfolgreich geltenden IBA in Kreuzberg darum, nichts abzureißen. Die Substanz der vorhandenen Gebäude wurde umgestaltet; bei Bedarf etwas angebaut. So entwickelte sich auch das Seniorenwohnheim aus einem Altbau. Am beeindruckendsten gelang eine solche »kritische Rekonstruktion« bei einer Kindertagesstätte in der Dresdner Straße, gleich hinter dem modernistischen Bau des Neuen Kreuzberger Zentrums am Kottbusser Tor – hier haben die Architekten ein Parkhaus umgestaltet.

Tatsächlich bringt mich der Blick aus dem Fenster auf zwei Prinzipien, die in diesem Buch eine zentrale Rolle spielen – Vielheit und Evolution. Zum einen soll es darum gehen, die vorhandene Vielheit anzuerkennen. Vielheit ist kein lästiges importiertes Problem, sondern schlicht die Ausgangslage, die es zu gestalten gilt. Auf der anderen Seite geht es um die Evolution des Vorhandenen. Als Ausgangspunkt von Politik dient der Wunsch nach der Entwicklung von Potentialen und nicht jener nach der Feststellung von Defiziten. In Deutschland folgt man auf den höheren Ebenen der Regierung, im Bund und in den Ländern, einer anderen Logik. Die Politiker entwerfen, immer noch im schlecht modernistischen Sinne, Strategien am grünen Tisch der Bürokratie. Die Grundlage wurde dabei häufig bereits vorher normativ gesetzt. Man baut nicht auf die Erfahrung oder die empirische Untersuchung der Verhältnisse; es ist vielmehr von vornherein klar, dass es seit jeher ein »Wir« gab und immer noch gibt: die »Deutschen«. Dieses »Wir« hat angeblich eine bestimmte Lebensweise, es herrscht Konsens über bestimmte Werte, und vom Ort des »Wir« aus wird die Position der anderen definiert.

Gewöhnlich entdeckt man an den »Hinzugekommenen« allerlei Mängel – deshalb gilt es, sie an »unsere« Lebensweise heranzuführen. Und so liegt seit der Verabschiedung des »Zuwanderungsgesetzes« der Schwerpunkt der Maßnahmen auf Kursen für Integration und Sprache bzw. auf Tests, die auf die Beherrschung der deutschen Sprache, Geschichte und »Werte« zielen. Vielfach hört man aber auch davon, die anderen hätten »uns« bereichert.

Das kulinarische Spektrum wurde erweitert, das Grillen im Park hoffähig gemacht. Dabei bleiben auch solche naiven Vorstellungen von »Multikulti« der Idee des »Wir« verhaftet. Allerdings hat dieses »Wir« mittlerweile jede Selbstverständlichkeit verloren; es ist heute eine Schimäre, ein Phantasma oder auch ein strategischer Einsatz in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen.

Das zeigt sich vor allem an den Positionen der Konservativen in Deutschland. Bekanntlich rufen Vertreter von CDU und CSU immer wieder nach einer »Leitkultur«. Während sie suggerieren, diese »Leitkultur« sei etwas, das »wir« bereits besitzen und das bloß restauriert und verteidigt werden müsse, definieren sie jedoch den Inhalt dieser Kultur neu. Als der damalige Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz 2000 das Thema auf brachte, da betrachtete er auch »die in Jahren und Jahrzehnten erkämpfte Stellung der Frau in unserer Gesellschaft« als Bestandteil der »Leitkultur«.* Das ist durchaus erstaunlich, denn historisch hat die Union nur maßvoll zu diesem Kampf beigetragen; sie war zuvor sicher nicht als Partei der Emanzipation bekannt.

Tatsächlich haben auch die Konservativen begriffen, dass sie mit Vielfalt als Grundlage umgehen müssen, selbst wenn sie darauf immer noch mit Vorschlägen zur Wiederherstellung der Einheit antworten. Im Alltag ist Vielfalt ohnehin ganz einfach Lebenspraxis. Eines Nachts während der Fußball-Europameisterschaft 2008 saß ich mit Freunden auf der Straße vor einem Kiosk, dessen Betreiber einen Fernseher und ein paar Bänke, Stühle und umgedrehte Bierkisten vor die Tür gestellt hatte. Ein großer blonder Mann saß mitten im Gewühl und reagierte barsch, als eine junge Frau ihn bat, sich doch ein wenig zur Seite zu setzen – sie könne einfach nichts sehen. Darauf hin hielt ihm der Kioskbesitzer einen kleinen Vortrag über kleine und große

Leute und über den Kiez. »Weißt du«, meinte er, »das ist hier Kreuzberg, hier versuchen alle, miteinander auszukommen.« Ich erzähle das nicht, um ein Idyll zu konstruieren. Der Kioskbesitzer sprach davon, man müsse versuchen, miteinander auszukommen. In den neunziger Jahren hätte man diese Geschichte vielleicht dazu benutzt, die »multikulturelle Gesellschaft« zu illustrieren, doch heute handelt es sich schlicht um großstädtische Normalität. Und dort bedeutet Vielfalt eben nur manchmal Idylle, oft genug aber auch Konflikt.

Vor einiger Zeit hat der US -amerikanische Politikwissenschaftler Robert Putnam eine Reihe von Untersuchungen zum Zusammenhang von Vielfalt und Gemeinschaft ausgewertet und kam schließlich zu einem nicht besonders viel versprechenden Ergebnis: In allen ethnisch gemischten Nachbarschaften könne man feststellen, dass das Vertrauen zu anderen Menschen kurzfristig nachlasse (auch zu denen mit demselben ethnischen Hintergrund): Kooperationen in der Gemeinde und Freundschaften würden weniger, Erfolge stellten sich in Einwanderungsgesellschaften erst ein, wenn die Fragmentierung durch neue Querschnittsformen von Solidarität und durch erweiterte, umfassende Angebote zur Identifikation gemildert werde.2 Tatsächlich bieten der eigene Kiez, der eigene Bezirk, manchmal auch die eigene Stadt solche Angebote. Wie oft habe ich von Einwanderern gehört, sie seien zwar keine Deutschen, Kölner (zum Beispiel) aber auf jeden Fall. Zweifellos haben sich vor Ort allerlei Formen der Zusammenarbeit oder zumindest des kommoden Zusammenlebens etabliert. Aber Vielfalt braucht unbedingt Gestaltung.

Die Frage ist, wo die Gestaltung ansetzen muss. Am Anfang steht also die Suche nach dem Ausgangspunkt, nach der empirischen »Normalität«, die man weiterentwickeln möchte. Wovon genau sprechen wir eigentlich, wenn wir vom Einwanderungsland sprechen? Ist ganz Deutschland gleichmäßig konfrontiert mit den Folgen der Migration? Tatsächlich ist das nicht der Fall. Zunächst lebt der ganz überwiegende Teil der Menschen mit Migrationshintergrund im Westen des Landes. Zwar hatte auch die DDR ausländische Arbeitskräfte angeworben – und daher gibt es noch heute eine vietnamesische Community in den neuen Bundesländern. Doch seit der Wiedervereinigung zogen Einwanderer im Grunde genommen nur dann in den Osten, wenn die Behörden ihnen dort Wohnraum zuwiesen – das gilt sowohl für Aussiedler als auch für Asylbewerber.

De facto bilden die neuen Bundesländer sogar Auswanderungsgebiete: 2,3 Millionen Menschen sind zwischen 1989 und 2005 gen Westdeutschland aufgebrochen,3 und aufgrund der teilweise schwierigen ökonomischen Lage geht dieser Exodus nach wie vor weiter. 2,3 Millionen sind eine gewaltige Zahl, die aber erstaunlicherweise nie in die Debatte über das hiesige Wanderungsgeschehen mit einbezogen wird. Das ist nicht nachvollziehbar, denn überall sonst auf der Welt tragen die Forscher auf der Karte der Mobilität auch die sogenannte Binnenmigration ein.

Einwanderungsland ist also maßgeblich der Westen der Republik. Aber auch dort gibt es Regionen, in denen der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund verschwindend gering ist – vor allem in ländlichen Gebieten, etwa in Bayern. Auffälligerweise sind es gerade diese Regionen in Ost wie West, in denen die Ablehnung der Einwanderungsgesellschaft besonders verbreitet ist. 2008 hat die Friedrich-Ebert-Stiftung an der Universität Leipzig eine Untersuchung über »rechtsextreme Einstellungen« in Auftrag gegeben, die einen interessanten Vergleich zwischen den Bundesländern präsentierte: In der Studie ging es unter anderem darum, ob die Befragten Aussagen zustimmten wie: »Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maße überfremdet.« Den höchsten Wert auf dieser Skala erzielte Sachsen-Anhalt mit 39,3 Prozent Zustimmung, dicht darauf folgte jedoch kein weiteres ostdeutsches Bundesland, sondern Bayern mit einem Wert von 39,1. Zum Vergleich: Thüringen lag bei 24,4, Nordrhein-Westfalen bei 19,9 Prozent, Baden-Württemberg und Hamburg bei 17,8 bzw. 13,6 Prozent.4

Zweifellos ist es in den ländlichen Teilen von Bayern, wo wenige oder keine Personen mit Migrationshintergrund leben, deutlich einfacher, die »Überfremdung« zu beklagen, als in einer Stadt wie München, wo die Anzahl der Personen mit Migrationshintergrund bei rund einem Drittel liegt. Wenn man nicht gerade im Speckgürtel einer solchen Stadt lebt, dann stammen die Nachbarn eben mit einiger Wahrscheinlichkeit aus der Türkei, aus Serbien oder Russland, und man muss auf die eine oder andere Weise mit ihnen umgehen und auskommen.

Jedenfalls ist es Unsinn, pauschal vom Einwanderungsland zu sprechen – der Fokus aller Überlegungen über die Gestaltung von Vielfalt müssen die Städte sein. Nicht nur die großen Städte wie Berlin, Hamburg, Köln, Frankfurt oder Stuttgart, auch wenn dort der Anteil von Einwohnern mit Migrationshintergrund wie im Fall von Stuttgart bis zu 40 Prozent gehen kann. Auch kleinere Städte können in puncto Vielfalt wie regelrechte Metropolen erscheinen, im schwäbischen Heilbronn, einer Stadt mit 120 000 Einwohnern, machen die Bürger mit Einwanderungsgeschichte 46 Prozent der Bevölkerung aus, bei den Kindern in der Altersgruppe zwischen zehn und 14 sind es sogar 63. Die deutschen Städte befinden sich in einem dramatischen Wandlungsprozess, was die demographische Zusammensetzung betrifft. Bei den unter Sechsjährigen sind die Kinder mit Migrationshintergrund fast durchweg in der Mehrheit. Angesichts solcher Zahlen hat die Vorstellung eines »Wir«, an das sich die »Zuwanderer« anpassen sollen, längst keinen Sinn mehr. Es geht um die Gestaltung von Vielfalt, und im Hinblick auf die Herkunft sind die Bewohner deutscher Abstammung heute lediglich eine Gruppe unter vielen anderen und längst nicht mehr die Norm.

Doch diese Gestaltung betrifft keineswegs nur »Ausländer«, die in Deutschland leben oder die nach Deutschland kommen wollen, sondern die zunehmende Beweglichkeit der Bevölkerung insgesamt. Von der innerdeutschen Wanderung habe ich bereits gesprochen. Für das Jahr 2008 meldete das Statistische Bundesamt zudem, dass mehr Menschen aus Deutschland wegzogen, als neue ins Land kamen, was vor allem an der großen Anzahl autochthoner Deutscher lag, die das Land verlassen hatten. Vor allem die Hauptstadt Berlin zeichnet sich durch eine immense Bevölkerungsdynamik aus. Seit dem Mauerfall hat fast die Hälfte der Einwohnerschaft Berlin verlassen, während nahezu die gleiche Zahl an Personen neu hinzukam. Noch heute ziehen jährlich zirka 120 000 Menschen dorthin und nahezu ebenso viele ziehen fort.5 In jedem Jahr wird also über die Grenzen von Berlin quasi eine kleinere Großstadt umgesiedelt, wobei die meisten Personen, die hier zu- und fortziehen, deutscher Herkunft sind. Es geht also nicht nur um Vielfalt, sondern auch um neue Formen der Mobilität.

Städte in Bewegung

Wenn nun in Deutschland über Migration und Stadt nachgedacht wird, dann wie so oft unter normativen Gesichtspunkten. Tatsächlich erscheint die Stadt bzw. die »europäische Stadt« in solchen Überlegungen oftmals als ein wohl definiertes Biotop, in dem sich über Jahrhunderte ein stimmiges Verhältnis zwischen dem kompakten Zentrum und dem lockeren Stadtrand sowie eine soziale und funktionale Mischung in den einzelnen Quartieren entwickelt hat. Nach diesem Verständnis muss die kommunale Verwaltung im Einklang mit nationalen Politiken nur durch geeignete Maßnahmen, die »ursprüngliche Integration«, die durch zu viel Wanderungsbewegungen gestört wird, regelmäßig wiederherstellen. Dass dieses Bild kaum noch mit der Realität übereinstimmt, führt in der Regel nicht zu Korrekturen am ideellen Anspruch, sondern zu einer Erzählung vom Niedergang der Stadt. Im Zusammenhang mit der Migration geht es häufig um soziale Probleme oder Segregation, und dann hört man gewöhnlich Warnungen vor »amerikanischen Verhältnissen«.

Nun wünschen sich gerade viele einheimische, bürgerliche Bewohner der Städte durchaus ein metropolitanes Flair – zumal jene, die zur »kreativen Klasse« gehören. Der auch hierzulande viel gelesene US -amerikanische Autor Richard Florida hat sogar behauptet, urbane Vielfalt stelle heute eine Bedingung für die Ansiedlung von »Kreativunternehmen« dar und sei somit auch eine Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum.6 Allerdings erscheint vielen Angehörigen der Mittelschicht die Vielfalt auch als schleichende »Desintegration« und vor allem als Indiz für einen als höchst unangenehm empfundenen Kontrollverlust. Und zur Veranschaulichung dieses Verlustes eigenen sich dann die Einwanderer. »Sie« sondern sich ab, hat man in den letzten Jahren vielfach gehört, »sie« kümmern sich nicht um die Bildungschancen ihrer Kinder, »sie« gründen sogenannte Parallelgesellschaften, »sie« wollen sich nicht integrieren. Diese Imago des Migranten gibt Teilen der politischen und bürgerlichen Eliten die Möglichkeit, weiterhin Souveränität über die Stadt zu behaupten, auch wenn sie diese längst verloren haben. Die zunehmende Mobilität, aber auch zahlreiche neoliberale Strukturmaßnahmen haben aus der Stadt ein höchst kompliziertes Gebilde gemacht, dessen »Gestalt« nur noch vage zu erkennen und festzulegen ist – vor allem, weil die Verhältnisse von Nähe und Ferne nicht mehr von der rein geographischen Nachbarschaft bestimmt werden. Die Stadt ist in sich durchlöchert und beweglich und besitzt gleichzeitig eine Reihe von weit entfernten und quasi unsichtbaren Vororten. Auch das betrifft keineswegs nur Millionenstädte, man kann das am Beispiel einer Stadt illustrieren, die dem Bild der »europäischen Stadt« noch weitgehend zu entsprechen scheint: Düsseldorf. Ich werde anhand einiger Bewohnerinnen und Bewohner ausloten, wie Migration, oder allgemeiner gesagt, wie Mobilität die Stadt real verändert.

Ahmed B. ist vor 41 Jahren nach Düsseldorf gekommen. Wie viele andere Marokkaner aus der Rif-Region hat er damals den Ruf der Bundesrepublik vernommen – 1965 schloss sein Heimatland mit den Deutschen einen Anwerbevertrag. Obwohl er schon so lange in Düsseldorf lebt, ist Ahmed kein Deutscher. 2008 wollte er zwar die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben, aber das erwies sich als schwierig. Er musste nachweisen, dass er fünf Jahre Rentenbeiträge bezahlt hatte, dass er sich und seine Familie ernähren konnte, ausreichend Wohnraum zur Verfügung stand und er nicht straffällig geworden war. Schließlich sollte es auch noch eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz geben. All diese Voraussetzungen hätte er erfüllen können, doch als er die neuen Anforderungen für den Sprachtest sah, da hat er aufgegeben. In seinem Alter sei das nicht mehr drin.

Eigentlich wollte Ahmed nur ein oder zwei Jahre in Deutschland bleiben. Bereits in den ersten Ferien in Marokko begann er daher, sich in seinem Heimatdorf in der Nähe der Stadt Nador ein Haus zu bauen. Richtig gewohnt haben er, seine Frau und seine drei Kinder dort nie, aber die Familie verbringt in dem Haus mehrere Wochen im Jahr – gewöhnlich im Juli und August. Dort treffen die B.s die marokkanischen Familienmitglieder, und eine von Ahmeds Töchtern hat bei einem solchen Aufenthalt ihren späteren Mann kennengelernt. Viel Zeit verbringt die Familie mit anderen »Deutschen«, weiteren Auswanderern, die in der Nähe gebaut haben. Ahmed ist zwar Marokkaner, aber mit dem Alltag der Kommune in der »Heimat« oder der lokalen Politik hat er im Grunde überhaupt nichts zu tun.

Im Gegensatz zu Ahmed B. ist Lisa G. in Düsseldorf geboren. Offiziell lebt sie mit ihrem Mann im gemeinsamen Haus in Oberbilk. Tatsächlich wohnt Familie G. jedoch nur einige Wochen im Jahr in Düsseldorf. Seit fünf Jahren besitzen die G.s ein Haus in Torrevieja an der spanischen Costa Blanca. Lisa und Ralf sind agile Frührentner und haben sich hier zur Ruhe gesetzt. Ihr Sozialleben verbringen sie vorwiegend mit Deutschen, Schweizern und einigen Skandinaviern. Viele der Nachbarn stammen sogar aus Düsseldorf oder dem Umland – den Tipp mit Torrevieja hatte Lisa von einer Freundin bekommen, die dort ebenfalls ein Haus besitzt. Mit den einheimischen Spaniern haben sie wenig Kontakt, vom Alltagsleben bekommen sie kaum etwas mit, die spanische Politik interessiert sie selten. Beide sprechen auch kein Spanisch – so wie die meisten ihrer Nachbarn. Mit Deutsch käme man schließlich überall durch. Wie die anderen Residenten fliegen die G.s öfter mal »nach Hause«. Seitdem ein »Billigflieger« die Strecke Düsseldorf – Alicante abdeckt, sogar noch häufiger. Manchmal weiß Lisa gar nicht mehr, was die Bezeichnung »fester Wohnsitz« eigentlich bedeutet.

Charlotte T. ist seit zwei Jahren Managerin innerhalb der Strategic Information Technology Practice Central Europe im Büro von A. T. Kearney im Düsseldorfer »Medienhafen« – jener »Meile der Kreativen« im umgebauten Hafen der Rheinmetropole. Die Firma wurde 1926 in Chicago gegründet und Düsseldorf war der erste Standort in Europa. Charlotte kommt eigentlich vom Haupthaus; die Versetzung nach Düsseldorf bedeutete für sie einen Karrieresprung. Nun berät sie deutsche Firmen in Sachen IT. Wie lange sie in Düsseldorf bleiben wird, weiß sie nicht genau. Ihre Arbeit ist zeitraubend und die meiste Zeit verbringt sie mit ihren Kollegen oder anderen US -»Expatriates«, die bei benachbarten Firmen arbeiten. Vom Alltagsleben in Düsseldorf bekommt sie daher nicht wirklich viel mit. Im letzten Sommer ist sie am Abend gerne noch auf ein Getränk zu Monkey’s Island hinübergegangen, zur Affeninsel. Der aufgeschüttete Strand befand sich gleich vis-à-vis von ihrem Büro auf einer kleinen Landzunge im Rhein – leider wurde er wegen Streitigkeiten mit der Stadt geschlossen. An warmen Abenden war das Gefühl karibisch: Sie kam sich vor sich wie eine Urlauberin am eigenen Arbeits- und Wohnort. Zumal der Ausblick wirklich spektakulär war: Gleich gegenüber, im Abendlicht, konnte sie die Linien, Schatten und Lichtreflexe dreier Gebäude betrachten, die der Stararchitekt Frank O. Gehry in den neunziger Jahren entworfen hat: die Tanzenden Bürotürme.

Gerade mal zwei Kilometer weiter, im Hafenbecken C, sitzt Mamadou K. in seinem winzigen Zimmer. Es befindet sich auf dem fest vertäuten ehemaligen Hotelschiff Siesta. Dieses Schiff ist nicht leicht zu finden, es ist versteckt inmitten des Industriehafens. Bei der Siesta handelt es sich um die sogenannte Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Nordrhein-Westfalen. Mamadou stammt aus Kamerun und er hat in Deutschland einen Antrag auf Asyl wegen politischer Verfolgung gestellt. Auf dem Boot muss er eine Reihe von Formalitäten erledigen. Mamadous Hauptbeschäftigung ist Warten. Er wartet darauf, erkennungsdienstlich behandelt und befragt zu werden. Er wartet darauf, wie es mit ihm weitergeht, denn wie er weiß, wird hierzulande nur ein Bruchteil der Asylanträge positiv beschieden. Immerhin haben Kameruner keine schlechten Aussichten. Und er hat sich eine gute »Geschichte« über seine politische Verfolgung zurechtgelegt. Allerdings ging es bei seiner Auswanderung gar nicht um Politik. Er hatte zwar einen Job als Lastwagenfahrer in Yaoundé, doch das Geld reichte hinten und vorne nicht, um seine dreiköpfige Familie zu ernähren. Das Schlimmste an den Verhältnissen in seinem Heimatland war der Mangel an Perspektive: Sozial, politisch, persönlich gab es einfach kein Weiterkommen. Und so ist er nach langer Überlegung gen Deutschland aufgebrochen, jenem Land, aus dem vor über hundert Jahren die weißen Kolonisatoren kamen.

Ahmed, Lisa, Charlotte und Mamadou leben alle auf die eine oder andere Weise in Düsseldorf. Dabei haben ihre Leben auf den ersten Blick kaum etwas gemeinsam. Das verbindende Charakteristikum dieser Personen ist ihre Mobilität. Bei dieser Mobilität handelt es sich nicht einfach um eine Bewegung von A nach B. Die vier Personen wohnen an einem Ort, aber eigentlich noch an einem anderen, sie sind an einem Ort anwesend, doch zugleich auch abwesend – sie sind im Zustand der Bewegung gleichsam erstarrt. Um so zu leben, benötigen diese Personen eine Infrastruktur der anwesenden Abwesenheit. Und diese schlägt sich nicht zuletzt in der Architektur nieder. So unterschiedlich die »Tanzenden Bürotürme« und die Siesta sein mögen: Beide Einrichtungen versuchen eine Immobilie in Bewegung zu halten und beide bilden so etwas wie Löcher im Gewebe der Stadt. Und so unterschiedlich die Siedlungen nahe Nador und in Torrevieja sein mögen, auch sie haben etwas gemeinsam: Sie bilden geheime Außenbezirke einer deutschen Stadt.

Schon der Ort selbst garantiert im Düsseldorfer Medienhafen ein Gefühl der Bewegung, schließlich symbolisieren Häfen Handel und Wandel. Die ansässigen Unternehmensberatungen oder Produktionsfirmen sind nur lose mit dem »Standort« Düsseldorf verbunden – sie bilden eher kleine Knoten im Netz der globalen Wirtschaft. Tatsächlich soll dieser Hafen die oft nur vorübergehend in Deutschland tätigen flexicutives gar nicht einheimisch werden lassen, er soll ihnen vielmehr die Stadt, in der sie leben, als touristisches Objekt darbieten. Bauten wie jene von Gehry sollen nicht die Qualität des »Zuhause-Seins« erhöhen, sondern den Wiedererkennungswert der Stadt für »Fremde«. Gemäß dem Vorbild Bilbao: Der vormaligen Industriestadt im Baskenland bescherte das ebenfalls von Gehry geplante Guggenheim-Museum eine erstaunliche Profilierung und einen ungeahnten Besucher-Boom. Und so scheint es nur logisch, dass Frank O. Gehry versucht hat, die Bürotürme zum Tanzen zu bringen.

Die Mobilität, die im Medienhafen ein Privileg darstellt, verwandelt sich auf der Siesta in eine Strafe. Das Gefühl der Bewegung wird zu einem Menetekel: Man darf nie ankommen. Personen wie Mamadou sind auf der Suche nach Arbeit zu Freizeit verurteilt worden. Die ungewohnte Umgebung wirkt hier nicht spektakulär, sondern beängstigend. Es ist eine böse Ironie, dass oft ehemals touristische Infrastrukturen zur Internierung von Flüchtlingen genutzt werden: In Kroatien etwa ist das geschlossene Aufnahmelager für »Illegale« im ausrangierten Flachbau des Motels Jesevo untergebracht, in der Nähe einer Tankstelle an der Autobahn von Zagreb nach Belgrad. Eine der wichtigsten Einrichtungen für den »temporären Aufenthalt« von Flüchtlingen in Italien, das Lager in Bari, besteht aus Wohnwagen, die man auf der Landebahn eines ehemaligen Militärflughafens geparkt hat. Solche Formen der Unterbringung (Hotels, Wohnwagen, Zelte oder in Deutschland oft auch Container) an Orten des Transits (Flüsse, Küsten, Flughäfen) sollen den Bewohnern verdeutlichen, dass sie trotz ihrer derzeitigen Immobilität weiterhin unterwegs sind, dass sie nicht ankommen sollen und eigentlich woanders hingehören. Bei solchen Wohnprovisorien handelt es sich um eine Infrastruktur und Architektur der Mobilisierung, oder genauer: der »erstarrten Bewegung«.

Die mobilisierten Räume innerhalb der Stadt liegen geographisch in der Nachbarschaft, aber tatsächlich sind sie sowohl durch die Zusammensetzung ihrer Bewohner als auch durch den architektonischen Anspruch eingebettet in globale Netzwerke. Diesen Räumen entsprechen solche außerhalb der Stadt, die geographisch zwar weit entfernt sind, tatsächlich aber eher wie eine Nachbarschaft funktionieren. So ein Ort ist die Siedlung, in der das Haus von Ahmed B. steht. Die Häuser der Auswanderer erkennt man auf den ersten Blick: Sie wurden in einem Stil gebaut, den man als »Auswanderer-Postmoderne« bezeichnen könnte. Sie sind vage modernistisch und funktional, doch sie unterscheiden sich von der Umgebung durch teilweise spektakuläre ornamentale Verschönerungen: aufgemalte Linien oder Flächen in häufig grellen Farben, auffällige Verzierungen, kleine Türmchen oder auch prächtig gekachelte Eingangstüren. All diese Applikationen sollen einen Verweis auf das Regionale, auf »Arabizität« darstellen – freilich ohne eine spezifische architektonische Epoche zu zitieren. Wie erwähnt halten sich die Bewohner oftmals nur einige Wochen im Jahr in ihren Häusern auf. Sie leben in einem Raum, der sich weitgehend auf familiäre Netzwerke beschränkt und mit dem realen Alltag kaum etwas zu tun hat. Man kann dieses paradoxe Raumgefühl als »touristische Intimität« charakterisieren. Auswanderer wie Ahmed B. stellen in Marokko und vielen anderen Gesellschaften mittlerweile eine eigene soziale Gruppe dar. Durch ihre Rücküberweisungen an die Familien und ihre Investitionen im Land bilden sie einen wichtigen ökonomischen Faktor. Wenn man die vielen kleinen Beträge, die von den marokkanischen Auswanderern nach Hause überwiesen werden, zusammenrechnet, dann übersteigt der Gesamtbetrag die Summe sämtlicher Direktinvestitionen von ausländischen Unternehmen in allen nordafrikanischen Staaten. Dabei haben die Auswanderer bei den Einheimischen ein wenig das Image von Urlaubern: Sie gelten als Leute mit viel Geld und lockeren Sitten. Sie sind auf einflussreiche Weise anwesend und doch hauptsächlich abwesend – und eben das dokumentieren auch die Häuser und Quartiere, in denen sie leben. In der Hafenstadt Tanger existieren am Stadtrand ganze Viertel, die nur im Sommer zum Leben erwachen. Eines davon heißt Hammet Belgique, und wie schon der Name signalisiert, handelt es sich dabei um einen entfernten und unsichtbaren Vorort von Brüssel.

In solchen Vororten leben aber nicht nur besagte Auswanderer, die man von Touristen nur noch schwer unterscheiden kann, sondern auch Touristen, die wie Lisa G. immer mehr Migranten ähneln. Früher einmal war Tourismus eine Sache der »großen Ferien« – der Urlaub dauerte im Durchschnitt zwei oder drei Wochen im Sommer. Doch die touristische Anwesenheit hat sich flexibilisiert. Seit es die sogenannten Billigflieger gibt, schwellen viele Städte in und rund um Europa an den Wochenenden merklich an. Immobilienmakler bieten neben Häusern in der regionalen Umgebung auch Domizile in entfernten Ferienregionen an. Viele Westeuropäer besitzen wie die G.s Wohnungen in Spanien, die sie mehrfach im Jahr ansteuern, den ganzen Winter hindurch bewohnen oder in denen sie ihren Lebensabend verbringen.

An der spanischen Küste haben großflächige, endlose Ansammlungen von Siedlungen die verdichtete »Hotelburg« als städtebauliches Modell abgelöst. Diese »Urbanisationen« werden von Developern aus einem Guss geplant und gebaut. Angeordnet sind die Häuser stets in einer Art dörflicher Struktur, nach außen wirken sie verschlossen; sie haben keine Verbindung zu anderen Siedlungen. Angebunden sind sie aber stets an die nächste Schnellstraße, die meist zum nahegelegenen Flughafen führt. Obwohl die Planer die Form von Dörfern nachahmen, gibt es kaum öffentlichen Raum – keine Plätze, Kirchen, Denkmäler und oft nicht einmal Kneipen. Die Störgeräusche der sozialen Realität, wie Klassenkonflikte,