Kollaboration - Mark Terkessidis - E-Book

Kollaboration E-Book

Mark Terkessidis

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Beschreibung

Die Proteste der letzten Zeit haben die Unzufriedenheit der Bürger offenbart: Politiker scheinen weit weg vom Alltag und mit Großprojekten wie Bahnhöfen oder Flughäfen überfordert. Im Gegensatz dazu sind die Menschen eigensinnig wie nie. Nach Jahren der neoliberalen Predigten sind sie in Eigenverantwortung geübt: Gemeinsam erschaffen sie die Wikipedia, renovieren Klassenzimmer oder gründen gleich selbst Schulen. So werden sie im positiven Sinne zu Kollaborateuren. Anknüpfend an seine Überlegungen aus »Interkultur« entwirft Mark Terkessidis eine Philosophie der Kollaboration, die beim wütenden und suchenden Individuum ansetzt. Eine Gesellschaft der Vielfalt, so Terkessidis, kann nur funktionieren, wenn viele Stimmen gehört werden und unterschiedliche Menschen zusammenarbeiten.

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Die Proteste der letzten Jahre haben die Unzufriedenheit der Bürger offenbart: Politiker scheinen weit weg vom Alltag und mit Großprojekten wie Bahnhöfen oder Flughäfen überfordert. Im Gegensatz dazu sind die Menschen eigensinnig wie nie. Nach Jahren der neoliberalen Predigten sind sie in Eigenverantwortung geübt: Gemeinsam erschaffen sie die Wikipedia, renovieren Klassenzimmer oder gründen gleich selbst Schulen. So werden sie im positiven Sinne zu Kollaborateuren. Anknüpfend an seine Überlegungen aus Interkultur (es 2589), entwirft Mark Terkessidis eine Philosophie der Kollaboration, die beim wütenden und suchenden Individuum ansetzt. Eine Gesellschaft der Vielfalt, so Terkessidis, kann nur funktionieren, wenn viele Stimmen gehört werden und unterschiedliche Menschen zusammenarbeiten.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2686.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Inhalt

Einleitung

1. Sich entfremden

Eine neue Kritik der Bürokratie

Verwaltung, Korruption und Dauerkrise

Das Problem mit der Repräsentation

Empörung, Groll und die Politik der Affekte

Entfremdung und Kollaboration

2. Suchen

Das suchende Subjekt

Griechische Erfahrungen: Vom Rand ins Zentrum

Unterwegs auf Schiffen

Das unklassifizierbare Individuum

Imaginäre Territorien

Die Zivilität des Odysseus

Optimistische Mutanten

3. Sich bilden

Bilder von Lernenden und Lehrenden

Was nicht passt ‌… Wer nicht passt ‌…

Autorität angesichts von Vielheit

Kollaboration und Multiperspektivität in der Pädagogik

Bewegung in der Klasse

Die Rolle des Vorwissens

Neue Bildungsziele

4. Schaffen

Kollaborative Kunst als soziale Praxis

Suzanne Lacy vs. Christoph Schlingensief

Wer macht Kunst und wer Kultur?

Wie Asco die Community geärgert hat

Keine Genies und keine unbeteiligten Dritten

Der Sinn von Kunst

Trost in Ruinen

Betriebsprüfung Kunst

Emanzipation und Atmosphäre

Das Prinzip der Improvisation

Magische Aushandlungen

5. Kritisieren

Was war Kritik?

Affektive Erkenntnisse

Kritik als Vergemeinschaftung und Reparatur

Kritik als Vorbereitung der kritischen Kunst

Einleitung

Kollaboration hat in Kontinentaleuropa keinen guten Ruf. Die meisten Menschen denken an die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg, an Personen, die sich aus Überzeugung oder Feigheit mit dem Dritten Reich eingelassen haben. In diesem Sinne möchte sicher niemand gern ein Kollaborateur sein. Im Englischen ist der Begriff collaboration hingegen neutral, wenn nicht gar positiv gemeint: Es geht um Zusammenarbeit. Und diese scheint in den letzten Jahren aus verschiedenen Gründen und in vielen Bereichen ein entscheidender Faktor geworden zu sein: In der Wirtschaft, wo Kreativität und Innovation zählen, kommen die Unternehmen mit starren Hierarchien nicht mehr weiter – sie sind auf die Kollaboration ihrer Mitarbeiter angewiesen. Umweltprobleme lassen sich nicht von Individuen, nicht einmal von Nationen lösen, sondern nur, wenn viele Akteure sich auf bestimmte Maßnahmen einigen können. In der Politik läuft mit autoritärer Planung überhaupt nichts mehr – die Bürger erweisen sich zunehmend als störrisch und wollen gehört werden, zumal dazu, was mit ihren Steuergeldern geschieht.

Nun ist der Staat heute keineswegs autoritär, vielmehr ist er häufig einfach nicht zu erreichen. Der neoliberale Rückzug macht sich überall bemerkbar, etwa bei der Infrastruktur. Immer mehr Bürger verlassen sich nicht mehr auf die Behörden, sondern springen selbst ein. An der Grundschule meines Sohnes haben die Eltern nicht gewartet, bis das Klassenzimmer renoviert wurde, sondern haben Geld bei Sozialprogrammen beantragt und den Raum in Abstimmung mit den Lehrkräften neu gestaltet. »Mehr Eigenverantwortung« war der große Slogan der neunziger Jahre, und tatsächlich haben sich die Menschen dieses Prinzip angeeignet. Ihr Vertrauen in die »große« Politik ist ohnehin erschüttert. Politiker gelten als egoistisch und versagen in den Augen vieler vor allem dabei, sich um die grundlegenden »Lebensmittel« zu kümmern: Umwelt, Wasser, Wohnen, Energie, öffentlicher Verkehr etc. Ohne Kollaboration können diese Gemeingüter nicht zugänglich gemacht und erhalten werden, denn wo der Homo oeconomicus ungehemmt seinem wirtschaftlichen Eigeninteresse nachgeht, kann es keine Lösung für die Probleme geben, die unsere gemeinsamen Lebensgrundlagen betreffen.

Viele Menschen lassen eine »Kultur des Teilens« entstehen, für die es gleich eine ganze Reihe englischer Wortschöpfungen gibt: Share Economy (oder Shareconomy), Wikinomics, Collaborative Economy oder Mesh. Als Beispiel wird immer wieder das unkommerzielle Teilen von Quellcodes, Wissen, Musik etc. im Netz genannt. In der Tat ist es jedes Mal von Neuem beeindruckend, wie selbstverständlich wir heute auf Wikipedia zurückgreifen, auf ein Lexikon, zu dem Personen weltweit ihr Wissen beisteuern und dessen Fundus sich weitgehend selbst reguliert. Von Carsharing bis Crowdfunding: Die Beispiele werden immer zahlreicher. Viele Menschen wollen Dinge nicht mehr um jeden Preis besitzen, ihnen reicht ein gesicherter Zugang zu bestimmten Gütern. Seit den PISA-Studien ist Kollaboration auch im Bildungsbereich ein Thema: Finnische Schulen sind unter anderem deswegen so erfolgreich, weil sie das Top-down-Prinzip zugunsten von Zusammenarbeit aufgegeben haben. Konjunktur hatte der Begriff Kollaboration auch in der Kunst. Schon in den sechziger Jahren war die alte Vorstellung des genialischen Individuums, das aus sich selbst heraus schafft, ad acta gelegt worden. Statt Objekten sind Prozesse des Austauschs relevant geworden – zwischen Künstlern, zwischen Künstlern und Publikum, zwischen unterschiedlichen Personengruppen.

Auch weil wir in einer Gesellschaft mit Menschen verschiedener Herkunft, mit unterschiedlichen Religionsbekenntnissen etc. leben, wird ohne Kollaboration in der Zukunft nichts mehr gehen. Die globalisierte Welt ist urban, und die Städte sind von Migration, Mobilität und Vielheit geprägt. Anders als bei der klassischen Idee der griechischen Polis ist die Sesshaftigkeit der Bewohner nicht länger eine sinnvolle Voraussetzung für eine Definition des politischen Gemeinwesens. Die geographischen und kulturellen Positionen der Bürger sind flüchtig; niemand befindet sich mehr auf seinem angestammten Platz, die Stadt ist eine vielgliedrige Parapolis geworden.1 Das Wort bezeichnet die uneindeutige, quasi illegitime »para«-Version der Polis. Zudem verbirgt sich darin das neugriechische Adjektiv para poli, das »sehr viel«, durchaus aber auch »zu viel« bedeutet: Man könnte also von einem Ort des »sehr viel«, der Fülle sprechen. Dieser Ort ist nicht leicht zu begreifen. Viele Probleme müssen auf einmal bearbeitet, viele Stimmen gleichzeitig gehört und viele Ansprüche zu jedem Zeitpunkt miteinander vermittelt werden.

Vor fünf Jahren habe ich in meinem Buch Interkultur versucht, die herkömmliche Perspektive auf Integration umzudrehen und einen institutionellen Rahmen für die Parapolis abzustecken. Wenn von Integration die Rede war, dann wurde die Sichtweise schnell normativ: »Wir«, die wir angeblich schon immer in einem Land gelebt haben, sind die Norm, und diejenigen, die »zurückgeblieben« (in sozialer Hinsicht) oder »hinzugekommen« (eingewandert) sind, haben »uns« gegenüber Defizite, die es zu beseitigen gilt. Doch die Vielheit lässt sich nicht mehr auflösen oder eindämmen, sie muss als unwiderrufliche Tatsache und Voraussetzung jeden Handelns betrachtet werden. Die Fragen, die ich mir stellte, lauteten also: Sind alle unsere Institutionen, sind Behörden, Schulen oder Gesundheitseinrichtungen »fit« für die Vielheit? Und wenn nicht: Was müssen sie unternehmen, um es zu werden? Es hat seitdem Veränderungen gegeben, aber die Fragen sind geblieben. Ich glaube, es ist wichtig, einen Schritt weiterzugehen: Was wäre eigentlich das ethische, also das praktisch-philosophisch handlungsbegründende Leitprinzip des Wandels in der Parapolis? Deshalb ein Buch über Kollaboration.

Die Entstehung der Demokratie im neuzeitlichen Europa brachte auch eine Furcht der Regierenden vor der Bevölkerung mit sich: Wenn das Volk der Souverän sein und jeder Bürger in Freiheit leben sollte, wie genau sollte dann die Zustimmung zur Regierung funktionieren und wie dafür gesorgt werden, dass nicht jeder einfach tat, was er wollte? Sicher, der Staat besaß das Gewaltmonopol, aber reiner Zwang hatte ja nichts mit Demokratie zu tun. Die Lösung bestand schließlich in einer Art gesellschaftlichem Training: Die Individuen sollten sich selbst steuern. Das Leitprinzip hieß Disziplin. Eine Technik, mit deren Hilfe die Personen durch andauernde körperliche Übung und individuelle Überwachung in sogenannten Einschließungsmilieus (Familie, Schule, Militär, Fabrik, Büro, Gefängnis etc.) quasi dressiert wurden. Dabei entwickelten sie ein Gewissen, ein »Über-Ich«, welches die Überwachung dann sozusagen von innen organisierte und Schuldgefühle entstehen ließ, wenn man die Disziplin nicht einhielt.2

Spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts regte sich Widerstand gegen den Apparat der Disziplin. Vor allem in den sechziger Jahren begann die Jugend, sich gegen die permanente körperliche Drangsalierung und die Verbote rund um die Sexualität aufzulehnen. Sie hatte das gesellschaftliche Momentum auf ihrer Seite. Die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg waren noch geprägt von der Welt der Industrie. Das Leben der Menschen richtete sich im Großen und Ganzen nach den Imperativen der Produktion – Arbeit, Karriere, Konkurrenz, Leistung, Besitzindividualismus, Familie und intaktes Heim. Der Massenkonsum brachte jedoch ganz andere Werte ins Zentrum der Gesellschaft: Geldausgeben statt Sparsamkeit, Stil statt Genügsamkeit, Wegwerfprodukte statt Dauerhaftigkeit, schnelle Befriedigung statt ständigen Bedürfnisaufschub. Die Disziplin des 19. Jahrhunderts geriet in eine massive Krise angesichts einer Gesellschaft, die sich vom Mangel befreit hatte und in deren Zentrum Konsum stand. Sie entsprach auch nicht mehr den Wünschen und Bedürfnissen verschiedener Gruppen, insbesondere der Jugend, in deren Konsumansprüchen der Konflikt zum Ausdruck kam.

Seitdem hat sich der Griff der Disziplin gelockert, aber verschwunden ist sie nicht. An ihre Stelle ist bisher kein anderes Leitprinzip getreten. Zwar sprechen die Kritiker des Neoliberalismus und des Sicherheitsstaats von einer Kontrollgesellschaft, in der das Verhalten der Individuen nicht mehr zentral überwacht, sondern durch Peer-Begutachtung, Grenzwert-Ermittlung und penetrante Evaluation reguliert wird.3 Doch das lässt die gesellschaftlichen Zustände zusammenhängender erscheinen, als sie tatsächlich sind. Zudem übersehen diese Kritiker konsequent die Freiheitsgewinne der letzten Jahrzehnte und die oben beschriebenen neuen Formen der Selbstorganisation. Fast erwecken sie den Eindruck, als würden sie ihre eigene Machtlosigkeit genießen, wenn sie einen neuen Apparat der Kontrolle beschwören – immer liegt gleich die Systemfrage auf dem Tisch und am Ende regiert die Ohnmacht. Der Ansatz der Kollaboration geht dagegen von der Widersprüchlichkeit der Verhältnisse und der Aktivität der Individuen aus und entwickelt daraus einen pragmatischen Rahmen für Veränderung.

Wir sind Kollaborateure, im positiven wie im negativen Sinne. In den letzten Jahren haben viele Evolutionsbiologen eine erstaunliche Wende vollzogen. Hatten viele von ihnen vor drei Jahrzehnten noch das »egoistische Gen« als Antrieb der menschlichen Entwicklung ausgemacht, so sprechen sie jüngst der menschlichen Fähigkeit zur »Super-Kooperation« diese Rolle zu.4 Allerdings bleiben wir auch Kollaborateure im pejorativen Sinne. Wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft, deren Kapriolen viele Menschen ablehnen, zu der wir aber keine einfache Alternative zur Hand haben. Wir leben in einer Demokratie, von der wir oft das Gefühl haben, sie sei doch ziemlich auf den Hund gekommen und niemand würde uns ohne egoistische Hintergedanken noch vertreten. Dennoch arrangieren wir uns auf die eine oder andere Weise mit diesen Umständen. Die Frage dabei ist: Handelt es sich um eine fremdbestimmte oder eine autonome Form der Kollaboration? Kollaboration ist notwendig, aber sie könnte als Strategie mit mittlerer Reichweite einen durchaus utopischen Charakter entfalten. Selbst wenn wir das große Ganze nicht immer verändern können, wäre die Füllung der Zwischenräume mit kollaborativen Herangehensweisen ein wichtiger Schritt in Richtung einer vertieften Demokratie, eines besseren Zusammenlebens, gerechter verteilter Bildungschancen oder einer neuen Qualität der Arbeitsbedingungen.

Nun wird Zusammenarbeit unter dem Begriff »Partizipation« in jüngster Zeit häufig beschworen, aber nur selten eingelöst. Denn wenn die Leute nicht »partizipativ« genau das tun, was die jeweiligen Behörden von ihnen erwarten, wenn sie etwas kritisieren oder anders machen wollen, dann kommt der Prozess gewaltig ins Stocken. Oft genug sind die Angebote zur Zusammenarbeit auch eher symbolischer Natur. Beispielsweise erhielt ich von der Stadtverwaltung meiner Geburtsstadt Eschweiler im Rheinland vor Kurzem eine Einladung zu einem Planungsworkshop zum Thema »Innenstadtnahes Wohnen für ältere Menschen«. Zur Auswahl stand genau ein Termin – und zwar eine Woche später. Leider traf der Brief an meinem sechshundert Kilometer entfernten Hauptwohnsitz in Berlin ein. Entweder ging die Stadtverwaltung davon aus, ich sei arbeitslos (aber wovon sollte ich dann das Ticket in den Westen bezahlen?) oder ich sei so glücklich über die angebotene Partizipationsmöglichkeit, dass ich alles stehen und liegen lassen würde, um meine ansonsten gut bezahlte Expertise kostenlos zur Verfügung zu stellen. Es geht hier nicht darum, die Kommune im schlechten Licht dastehen zu lassen; immerhin unternimmt sie etwas in Sachen Beteiligung. Außerdem habe ich Anfragen mit ähnlich absurdem Charakter aus den unterschiedlichsten Richtungen bekommen. Doch angesichts dieser Art der Ansprache muss man sich nicht wundern, dass man bei den entsprechenden Workshops häufig auf wenig informierte Wichtigtuer trifft, die wiederum viele ernsthaft Interessierte von der Beteiligung abhalten.

Kollaboration sollte anders laufen, Kollaboration ist kein Feigenblatt. Wenn ich sie hier als Leitprinzip formuliere, dann plädiere ich für ebenjene Eigenverantwortung, die eine neoliberale Regierungsführung und eine konkurrenzorientierte Wirtschaft gebetsmühlenartig eingefordert haben. Die Individuen betrachten sich als emanzipiert, sie sind eine Vielheit, was bedeutet: Die Gesellschaft funktioniert nur, wenn durch Kollaboration möglichst viele Stimmen gehört werden. Zu diesem Thema ist für die Bereiche Wirtschaft und Arbeit schon viel geschrieben worden. In den Entwicklungsabteilungen der großen und kleinen Unternehmen gehört das schnelle Veröffentlichen bzw. Teilen von noch unfertigen Ergebnissen zum Alltag – die Kollaboration ermöglicht die Arbeit an verschiedenen Baustellen, die sich langsam zu einem Ganzen zusammensetzen. Ich will aber nicht längst bekannte Erkenntnisse wiederkäuen. Dieses Buch ist auch kein Ratgeber, wie Beteiligungsverfahren am besten zu bewerkstelligen wären, davon gibt es mehr als genug. Ich habe es eher auf den praktisch-philosophischen Rahmen der Kollaboration angelegt. Kollaboration ist etwas ungleich Schwierigeres als Kooperation. Bei Kooperation treffen verschiedene Akteure aufeinander, die zusammenarbeiten und die sich nach der gemeinsamen Tätigkeit wieder in intakte Einheiten auflösen. Kollaboration meint dagegen eine Zusammenarbeit, bei der die Akteure einsehen, dass sie selbst im Prozess verändert werden, und diesen Wandel sogar begrüßen.

Jedes Nachdenken über dieses Thema startet beim Individuum. Wie müssen die Personen eigentlich beschaffen sein, um zu Kollaborateuren werden zu können? Über die »Wutbürger« ist viel berichtet und diskutiert worden, und tatsächlich glaube ich, dass die Wut eine wichtige Voraussetzung ist. Das Suchen ist eine weitere. Wir stehen heute alle auf schwankendem Grund, wir sitzen im selben Boot auf schwieriger See, und zu akzeptieren, dass wir Wesen auf der Suche sind, macht uns bereit für Kollaboration.

Die ersten beiden Kapitel behandeln diese individuellen Dispositionen, danach soll darüber gesprochen werden, welche kollektiven Kräfte auf die Individuen einwirken, wie Subjektivität gebildet wird und wie diese Kräfte durch Kollaboration verändert werden können. Es geht um Erziehung, Bildung, Therapie, Kunst, Ästhetik und Kritik in der Parapolis. Dabei wird ein Rahmen für Kollaboration entworfen. Kollaboration ist kein unstrukturierter, irgendwie basisdemokratischer Diskussionszusammenhang, sondern durchaus praktisch und auf ein Ergebnis orientiert: Autorität wird daher nicht verleugnet, sondern sollte transparent im Sinne der Zusammenarbeit ausgestaltet werden (Kapitel 3). Das Ergebnis muss allerdings nicht immer ein Gegenstand sein: Manchmal ist der Prozess selbst entscheidend – Kollaboration ist nicht objektiv, sondern von Subjektivierung getragen. Zudem kommt sie nicht ohne Umwege aus: Fehler sind zugelassen, sie werden sogar als bedeutsam betrachtet (Kapitel 4). Kollaborative Kritik wiederum beinhaltet nicht nur ein Urteil über einen Gegenstand, sondern wird auf gemeinschaftliche, reparierende, vorbereitende, unterstützende Weise ein Bestandteil des Prozesses selbst (Kapitel 5).

Vor fünf Jahren habe ich in Interkultur eine interkulturelle Alphabetisierung gefordert. Auch dieses Buch handelt wieder vom Erlernen einer neuen Sprache – jener der Kollaboration. Spracherwerb ist niemals einfach, aber es gibt zahlreiche Belohnungen. Man lernt Neues kennen: neue Wörter, neue Ausdrucksmöglichkeiten, neue Beziehungen, neue Menschen, ja sogar neue Gefühle.

Im besten Fall sogar eine unbekannte Version von Glück.

Anmerkungen

1

Vgl. Tom Holert und Mark Terkessidis, Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen, Köln: Kiepenheuer und Witsch 2006; Mark Terkessidis, Interkultur, Berlin: Suhrkamp 2010.

2

Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. ‌M.: Suhrkamp 1992.

3

Vgl. Gilles Deleuze, »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: ders, Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt a. ‌M.: Suhrkamp 1993; Giorgio Agamben, »Die Geburt des Sicherheitsstaates«, in:

1. Sich entfremden

Vor meiner Haustür im Berliner Stadtteil Kreuzberg stapelte sich der Müll. Fast-Food-Verpackungen, Zigarettenschachteln, allerlei Plastik, Glasscherben, manchmal auch Reste von Wassermelonen oder Ölkanister aus Plastik. Müll zieht Ratten an, und die krochen dann auch an feuchten Tagen buchstäblich aus ihren Löchern. Nun war das Abfallaufkommen kein Wunder – der Gehweg wird täglich von unzähligen Schülern, Touristen oder anderen Passanten benutzt, und die werfen eben ein gerüttelt Maß an Zeug auf die Straße. Das Problem bestand darin, dass dieser Müll nicht entfernt wurde. Der Hauseigentümer stellte sich auf den zunächst seltsam anmutenden Standpunkt, der von einer winzigen Mauer eingerahmte Grünbereich vor seinem Haus gehöre gar nicht ihm; ebenso sah es die benachbarte Wohnungsbaugesellschaft. Die Berliner Stadtreinigung aber hielt diesen Bereich für Privatbesitz: Die Straßenkehrer pickten den Müll auf der Straße auf und ignorierten den zehn Zentimeter daneben liegenden Abfall.

Tatsächlich handelte es sich hier um ein rechtliches Problem. Kurz nach der Wende hatte das Land Berlin im Rahmen eines Programms zur Begrünung der Quartiere viele Vorgärten in öffentliche Hand überführt. Das war zu einer Zeit, in der man in Berlin größenwahnsinnig von einer neuen Hauptstadt träumte. Allerdings besaß der Bezirk nie die Mittel, um die Begrünungsfantasien zu realisieren, und über die Jahre wurde dann schlicht und einfach vergessen, wessen Eigentum diese Bereiche eigentlich sind. Ich weiß, dass ich in einer mehr als belebten Gegend wohne, die Leute und der Lärm haben mich auch nie gestört. Aber Müll konnte ich nicht ertragen. Nachdem ich mir eine Greifzange besorgt und diverse Male selbst aufgeräumt hatte, wandte ich mich ans Ordnungsamt. Dort antwortete man zunächst gar nicht. Als ich dann meinen Presseausweis ins Spiel brachte, reagierte man postwendend. Eine geschlechtslose Person namens Schubert gab mir eine Vorgangsnummer.

Etliche freundliche, bittende, aggressive Mails und einige Monate später hatte sich kaum etwas getan. Nun ist Friedrichshain-Kreuzberg ein schlecht verwalteter Bezirk. Das geht mit der Parkpflege los und reicht bis zur Schneeräumung. Dennoch ist das Ordnungsamt seit Jahren im Kiez präsent, gerade im Sommer. Dann messen die Mitarbeiter zum Beispiel zentimetergenau nach, wie viel Raum die vielen Außengastronomien einnehmen, und erheben bei Verstößen die entsprechenden Bußgelder. Die Restaurant- und Ladenbesitzer wurden auch schon scharf kontrolliert, als es im Viertel nur wenige Läden und Restaurants gab (Teile von Kreuzberg lagen lange Zeit direkt an der Berliner Mauer und stellten quasi das unterentwickelte »Ende der Welt« dar).

Wenn ich mit jemandem über diese Geschichte spreche, dann heißt es gleich: »Jaja, die Verwaltung, die sind eh nur noch hinter unserem Geld her.« Schnell sind weitere Angelegenheiten auf dem Tisch: »Knöllchen«, Geschwindigkeitskontrollen, Gebühren für sämtliche Leistungen von der Abfallbeseitigung bis zur Erneuerung des Führerscheins, allerlei Sondersteuern und auch zunehmend Steuern im Allgemeinen empfinden viele als fortschreitende Ausplünderung. Und dann die Verschwendung von Geldern für sinnlose Großprojekte oder Ähnliches, die den Bürgern keinen Nutzen bringen! Kaum jemand hat noch den Eindruck, die Verwaltung handle gemeinwohlorientiert.

Eine neue Kritik der Bürokratie

Ich will hier nicht den Müll vor der Haustür zur gesellschaftlichen Katastrophe aufblasen. Es geht mir um das mangelnde Vertrauen in die Verwaltung, das meiner Meinung nach für die demokratische Gesellschaft problematisch ist. Individuelle Beschwerden über den alltäglichen Behördenwahnsinn gibt es reichlich, doch eine aktuelle Kritik der Bürokratie fehlt. Das war in den fünfziger und sechziger Jahren anders. Der real existierende Sozialismus galt als Paradebeispiel einer pervertierten Herrschaft der Administratoren. Der damals in Europa und Deutschland viel gelesene jugoslawische Autor Milovan Ðilas entlarvte die sozialistischen Bürokraten als »neue Klasse«.1 Sie hätten sich die Verfügungsgewalt über das kollektive Eigentum und den Produktionsprozess gesichert und damit enorme Privilegien. Anders als die Kapitalisten im Westen seien sie allerdings nach wie vor davon überzeugt, sich für das Volk aufzuopfern – eine furchteinflößende Mischung.

Auch im Westen wurde Kritik an einer neuen Besitzerschicht laut. Hier kursierte das Stichwort von der »Herrschaft der Manager«.2 Gemeint war die technokratische Arroganz der Nomenklatura in Wirtschaft und Staat, der autoritäre Gestus der »Fachmänner«. Die Bürokraten wussten alles besser: Hier muss ein Hochhaus hin, dort eine Autobahn, hier ein Atomkraftwerk, dort ein NATO-Stützpunkt. Die Neuen Sozialen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre waren auch ein Kampf gegen diese Art der Verwaltung. In der Friedens- und Umweltbewegung ging es um die direkten Auswirkungen der Entscheidungen auf die Einzelnen: Die Individuen fühlten sich »betroffen« von den zumeist nicht kalkulierten Folgen einer autoritären Modernisierung und protestierten.

Nach dem Fall der Berliner Mauer war dann allerorten die Rede von Bürokratieabbau. Allerdings hat der angebliche Abbau die Macht der Verwaltung nicht eingedämmt, vielmehr wirkt sie sich anders aus. Früher zeigte sie sich autoritär und wollte durch ihre Präsenz den Individuen ein regelrechtes Korsett anlegen und Normverhalten erzwingen: Die Verwaltung organisierte gesellschaftliche Disziplin. Weil sich der Wohlfahrtsstaat seit Mitte der siebziger Jahre zurückgezogen hat, verfügt sie inzwischen jedoch über weniger finanzielle Mittel, und ihre Einflussmöglichkeiten sind geringer geworden. Darüber hinaus stellten die Neuen Sozialen Bewegungen die technokratische Basis des Verwaltungshandelns nachhaltig infrage. Die Individuen haben sich also größere Spielräume erobert und wurden gleichzeitig »freigesetzt«, denn der Abbau des Wohlfahrtsstaats führte zu Problemen. Es erwies sich als immer schwieriger, die notwendigen »Lebensmittel« (Wohnraum, Strom, Wasser, Gesundheit, Bildung, öffentlicher Verkehr etc.) im bezahlbaren Rahmen und gemeinwohlorientiert zu organisieren.

In all diesen Bereichen müssen die Einzelnen heute sehr viel mehr Aufwand betreiben: Sie müssen deutlich mehr recherchieren, mitarbeiten, bezahlen. Prekäre Lebensumstände sind ja nicht nur für jene ein Thema, die kaum genug verdienen, um ihren Unterhalt zu bestreiten. Prekär ist auch die Situation der Angehörigen des sogenannten Mittelstands. Ihnen fällt es schwer, für dauerhafte Stabilität in ihrem Leben zu sorgen – ständig muss man sich um etwas kümmern, »privat vorsorgen« und nachsorgen, nie hat man genug Zeit, man ist überfordert. Für die Individuen gibt es zweifellos einen Freiheitszuwachs, doch damit geht eine hohe Belastung einher. Zudem übt eine »abgebaute« Bürokratie ihre Macht nun indirekter aus, durch Prüfung, Evaluation, Kontrolle, aber auch durch Abwesenheit und Unberechenbarkeit. Früher sollte durch Disziplin ein Alltag ohne Abweichungen hergestellt werden, gegenwärtig behindert die Bürokratie hingegen teilweise die Wünsche der Individuen nach »Normalität«.

Erstaunlicherweise ist das Beamtentum im Rahmen des Bürokratieabbaus selten zum Gegenstand kritischer Diskussionen geworden. Die Behörden funktionieren weiterhin wie Klöster: weltabgewandt und den eigenen Regeln folgend. Die Welt der Beamten ist von der Ausbildung bis zur Unkündbarkeit ein nahezu geschlossenes System. Das Feedback erfolgt primär intern: Gute Bewertungen ihrer Vorgesetzten sind den Mitarbeitern wichtiger als zufriedene Bürger. Der Betrieb fördert Ängstlichkeit und vermeidet strukturell jedes Risiko. Einmal etablierte Routinen werden aufrechterhalten, obwohl die äußeren Bedingungen sich längst verändert haben. Das bedeutet aber nicht, dass es in der Verwaltung keine reformorientierten Kräfte gibt. Doch sie können sich oft kaum gegen die Trägheit der alltäglichen Routinen durchsetzen.

Tatsächlich weist der Betrieb unterdessen enorme innere Widersprüche auf, was angesichts seiner Größe auch nicht verwunderlich ist: Fortschrittliche und konservative Fraktionen bekämpfen sich, die einen unterstützen Projekte, die anderen werfen ihnen Steine in den Weg etc. In Kreuzberg gab es in den letzten Jahren eine Reihe von Konflikten, bei denen sich das deutlich gezeigt hat. Seien es die Flüchtlingsproteste mit dem Camp am Oranienplatz und der Besetzung des Gebäudes der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule, die wilde Ansiedlung von Alternativen, Obdachlosen und Roma-Familien auf der »Cuvry-Brache« (»Deutschlands erste Favela«, hieß es dramatisch im Stern3) oder der Drogenhandel im Görlitzer Park, stets gab es eine Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Behörden: Bezirk, Land, Bund, Polizei verfolgten unverhohlen unterschiedliche, häufig gegenläufige Interessen, und teilweise existierten intern zusätzliche Fraktionen. Solche Spannungen sind sicher unausweichlich, aber die Effekte für die Bürger sind verheerend. Die Entscheidungen werden unberechenbar. Und ungreifbar, weil unklar ist, wer eigentlich im Gewirr der Kompetenzen und Gegnerschaften verantwortlich ist.

Diese Weltabgewandtheit sorgt für eine strukturelle Unwilligkeit zu ernsthaften Reformen und führt zu erheblichen Kollisionen mit den Initiativen der Individuen. Teile der Bürokratie pflegen fortgesetzt Fantasien von der technokratischen Allmacht, was sich etwa in der angeblich im Dienste des Gemeinwohls stehenden Standortpolitik zeigt. Doch die Errichtung von architektonischen Leuchttürmen und die Jagd nach Investitionen scheitern zunehmend an der komplizierten Wirklichkeit der Parapolis. Ich möchte dafür einige Beispiele aus Berlin nennen, einer Stadt, die kein Modell darstellt, aber als Brennglas dienen kann, weil sie sich in den letzten Jahrzehnten rapider verändert hat als jede andere Metropole in Europa. Noch in den neunziger Jahren wurde eine neue Bebauung des Spreeufers im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg geplant, und 2001 gründete sich die zuständige Mediaspree GmbH. Schon der Name konnte einen stutzig werden lassen: Warum wurde die Entwicklungsagentur nach einer Branche in der Krise benannt? Man hätte nach Nordrhein-Westfalen schauen können. Das Land hatte in den neunziger Jahren im Rahmen des Strukturwandels auf den Ausbau als Medienstandort gesetzt. Die Erwartungen im bevölkerungsreichsten Bundesland erwiesen sich jedoch als übertrieben. Der Medienbereich spielte wirtschaftlich eine Rolle, aber die Umsätze waren zu gering, um den Industrieabbau auch nur annähernd auszugleichen. Die Gesamtrechnung wurde wie in vielen anderen Fällen nie aufgemacht, aber es darf bezweifelt werden, dass sich die enorme Subventionierung ausgezahlt hat. Davon zeugen die entstandenen Überkapazitäten – zu sehen in leer stehenden Fernsehstudios.

Als die Bebauungspläne der Mediaspree GmbH schließlich in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts im Bewusstsein der größeren Öffentlichkeit ankamen, regte sich Protest. Auf der einen Seite bestanden sie wie so häufig in Berlin aus einer recht planlosen Addition von architektonisch anspruchslosen Gebäuden. Man braucht heute nur einen Blick auf die Gegend um die sogenannte O2-Arena in Friedrichshain zu werfen, um sich die Einfallslosigkeit der Planer vor Augen zu führen. Nun war das Spreeufer zuvor kein Brachland, sondern wurde kleinteilig von Clubs mit Außengastronomie wie etwa der Bar 25 genutzt. Auch wenn man die Techno-Utopien des Betreiberkollektivs mit Fug und Recht skeptisch betrachten konnte, hatte der selbstverwaltete Club ein fantasievolles Konzept und genoss eine internationale Reputation. Das ganze Ufer war ein Knotenpunkt des touristischen Geschehens in Berlin. 2010 lief der Pachtvertrag für das Gelände der Bar 25 aus. Der Berliner Senat weigerte sich, ihn zu verlängern, und ließ das Areal räumen. Angesichts der europäischen Finanzkrise war jedoch schon zu jenem Zeitpunkt klar, dass große Teile der äußerst ehrgeizigen Mediaspree-Pläne gar nicht zu realisieren sein würden. Am Ende wurde das Grundstück schließlich versteigert – und ausgerechnet vom Betreiberkollektiv der zwischenzeitlich umgesiedelten Bar 25 zurückgekauft.

Die Geschichte der Mediaspree-Planung lässt sich im Großen und Ganzen als ziemliches Debakel erzählen, zumal sich auch die Anwohner von Beginn an gegen die Bebauung wandten. Interessanterweise interpretiert die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt gerade die Probleme in einen Erfolg um. Im Handbuch zur Partizipation wird Mediaspree als Fallbeispiel für Beteiligungsprozesse aufgeführt.4 Die fortwährenden Proteste insbesondere der Initiative »Mediaspree versenken!« hatten den Senat zu einem Bürgerentscheid gezwungen: 2008 sprachen sich siebenundachtzig Prozent für eine Eindämmung der Bebauung aus. Fünfzig Meter Abstand zum Spreeufer war eine zentrale Forderung, außerdem sollten die neuen Gebäude nicht höher als sechsundzwanzig Meter sein. Ein solcher Bürgerentscheid hat in Berlin aber keine bindende, sondern lediglich eine empfehlende Funktion. Daher wurden die Beschlüsse trotz langwieriger Gespräche teilweise ignoriert. So entspricht die aktuelle Bebauungsweise nicht den im Entscheid festgesetzten Grenzwerten. Immerhin: Alternative Angebote wie der Open-Air-Sport- und Konzertort Yaam wurden nicht einfach vertrieben, sondern bloß umgesiedelt.5

Der Berliner Senat hat die Vorteile einer kleinteiligen Nutzung und deren ungeheure Anziehungskraft nicht verstanden oder will sie nicht verstehen. Das gesamte infrage stehende Gebiet, zu dem ja auch das längste erhaltene Mauerstück – die East Side Gallery – gehört, ist gerade wegen seines mythischen alternativen und multikulturellen Charakters ein Magnet für die Besucher aus dem Ausland. Berlin ist bei Touristen nicht nur wegen des Brandenburger Tors so beliebt, sondern auch wegen seiner kulturellen Vielheit und Unvollkommenheit. Insofern berücksichtigen die Planungen selbst in einem rein ökonomischen Sinne nicht die Grundlagen für die entstehenden Hotels. Je homogener die Stadt in Zukunft wird, desto weniger wird sie für Besucher noch von Interesse sein. Ein ähnliches Unverständnis zeigt sich im Umgang mit den Prinzessinnengärten am Moritzplatz in Kreuzberg. Hier wird seit 2009 mit großem Erfolg sogenanntes Urban Gardening betrieben. Die Gärten ziehen Personen aus aller Welt an, die sich über die Arbeitsweise der Macher informieren möchten. Dennoch wollte der Senat das Gelände 2012 verkaufen. Diese Entscheidung wurde nach einer diesmal weltweiten Protestwelle revidiert, aber der endgültige Ausgang bleibt ungewiss.

Weltweit zur Kenntnis genommen wurde etwa zur selben Zeit auch die Verschiebung der Eröffnung des neuen Berliner Flughafens. Im Mai 2012 mussten die Bauherren, unter ihnen die Länder Berlin und Brandenburg, eingestehen, dass der Flughafen nicht zum anvisierten Termin fertig werden könne. Nachdem die Eröffnung immer wieder verschoben worden war, musste man schließlich wenig später einräumen: Ein Termin für die Inbetriebnahme ließe sich gar nicht mehr seriös voraussehen. Zudem erwiesen sich die Berechnungen für die Größe des Flughafens als falsch: Bereits jetzt übersteigt das Passagieraufkommen in der Hauptstadt dessen Kapazitäten. Mittlerweile haben sich die Gründe für den Fehlschlag ein wenig aufgeklärt. Offenbar wurden die ursprünglichen Pläne jahrelang mit jeweils neuen Ideen »überplant«. Am Ende hatte niemand mehr einen Überblick.6 Wird ein Problem angegangen, tun sich mannigfache weitere Lücken auf.

Das Misstrauen gegenüber solcher Überplanung hat sich in Berlin inzwischen zu einem Grundgefühl ausgeweitet. 2008 hatte der Senat beschlossen, das Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof der Öffentlichkeit als Park zu übergeben, ohne wesentliche bauliche Veränderungen. Diesmal reagierte er positiv auf bestimmte Entwicklungen: Berlin hat in den letzten Jahren seinen Reiz genau aus dieser Art von Plattformen bezogen, Freiflächen, antirepräsentative Räume, die von den Bewohnern und den Besuchern gleichermaßen zur Nutzung erschlossen wurden. Diese Orte funktionieren, durchaus nicht ohne Probleme, als »kosmopolitaner Baldachin« im Sinne Elijah Andersons. Es handelt sich um pluralistische Treffpunkte, in denen sich die unterschiedlichsten Personen in einem Geist der Zivilität, wenn nicht gar mit Höflichkeit und Wohlwollen begegnen.7 Da Berlin besonders für Immobilieninvestoren immer attraktiver wird, sollte das Tempelhofer Feld aber doch bald bebaut werden. Zum einen war angeblich preiswerter Wohnraum geplant, um die Wohnungsnot in der Stadt zu lindern. Ein unglaubwürdiges Manöver, schließlich hatte der Senat bislang wenig gegen die teilweise absurd steigenden Mieten unternommen. Zum anderen sollte dort eine zentrale Landesbibliothek entstehen, bei der sowohl Standort als auch Konzeption umstritten waren. Durch das Fiasko um den Flughafen BER unter Druck geraten, stellte der Senat die Bebauung zur Abstimmung. Die Wahlbeteiligung war hoch, das Ergebnis eindeutig: Fünfundsechzig Prozent der Bürger sprachen sich dagegen aus. Eine relevante Entscheidung, denn die Bevölkerung wählte quasi die Leere. Die Berliner optierten für einen Ort, der ihnen möglichst viel individuellen Gestaltungsraum lässt, und stimmten gegen eine undurchsichtige und realitätsferne Planung, die den komplizierten Verhältnissen in der Parapolis nicht gerecht wird. Und sie wandten sich gegen eine Form der Partizipation, die darin besteht, die Leute die längst beschlossenen Masterpläne abnicken zu lassen.

Verwaltung, Korruption und Dauerkrise

»Überplanung« scheint so etwas wie die unausgesprochene Maxime einer Gesellschaft geworden zu sein, die sich substantiellen Reformen verweigert. Das betrifft nicht nur Stadtplanung und -entwicklung, sondern auch Bildung, Gesundheit, Rechtsprechung und Rechtsstaatlichkeit. Überall wird mit neuen Ideen und kurzsichtigen Maßnahmen ständig das Bestehende »überplant«, anstatt Reformen sinnvoll zu implementieren. Letzteres würde detaillierte Erklärungen erfordern, Auseinandersetzungen mit der Bevölkerung und auch Risiko bedeuten – und nichts fürchten Politik und Verwaltung mehr als Transparenz und Wagnis. Offenbar schwankt die Bürokratie hilflos hin und her zwischen dem Pol der Ängstlichkeit und jenem der autoritären Fantasien. Dabei kann der Anspruch, mit dem aus der furchtsamen Abgeschiedenheit des Klosters von Größerem geträumt wird, auch angesichts der Ressourcen kaum noch eingelöst werden. Insofern bekämpft die Administration die anhaltende Krise auch nicht; Letztere ist ein Bestandteil von deren Organisation.

Überhaupt, die Krise, sie dauert ja bereits seit Jahrzehnten an. Ich bin im Rheinland aufgewachsen. Kurz nachdem ich auf die Welt gekommen war, endete in meinem Geburtsort der Steinkohleabbau, der die Stadt in der Nachkriegszeit geprägt hatte, und der endlose Strukturwandel begann. Ich habe fast fünfzig Jahre mit der Krise als Hintergrundgeräusch gelebt. Die Krise oder vielmehr das Geräusch der Krise hat sich mit einigem Auf und Ab tief in den Alltag gefressen. Wenn gerade keine Notlage herrscht, dann lauert die nächste scheinbar gleich um die Ecke. Die Krise ist wirtschaftlich, institutionell, mental, und obwohl die apokalyptischen Ereignisse fehlen, droht vermutlich der Untergang – zumindest in Verschwörungstheorien, Fiktionen aller Art und den zahlreichen Alltagsgesprächen darüber, dass alles »den Bach runtergeht«.8 Dabei legitimiert die Krise »alternativlose« Entscheidungen und sorgt gleichzeitig für den Fortbestand der Probleme, weil keine grundsätzlichen Reformen stattfinden. Zudem wird der Unterschied zwischen der Bürokratie und der Politik weiter eingeebnet, denn je weniger die Politik noch Visionen folgt, desto mehr wird sie Bestandteil einer Verwaltung der Dauerkrise.

In den neunziger Jahren wurde der Begriff der »politischen Klasse« allgegenwärtig – ein Ausdruck, der an Ðjilas' Idee der sozialistischen Bürokraten als »neuer Klasse« erinnert. Zweifellos sind Politiker keine eigene Klasse in der Gesellschaft, doch lässt sich eine gewisse Abgehobenheit der Berufspolitiker kaum verleugnen. Es handelt sich um eine Personengruppe, die sich hauptsächlich in bestimmten Zirkeln aufhält und eine bestimmte Sprache spricht, angesiedelt zwischen dem Expertentum der Gesetzgebung, dem Jargon des Aushandelns und der Darstellung gegenüber der Öffentlichkeit. Politiker sind Teil einer exekutiv-bürokratischen »Postdemokratie«, wie Colin Crouch den Status quo nennt.9

Die Loslösung vom gesellschaftlichen Alltag macht die Postdemokratie anfällig für Korruption. Viele Skandale haben die Politik in Europa erschüttert, im Süden wie im Norden des Kontinents. Zahlreiche ehemalige und derzeit amtierende Staatsoberhäupter, Minister oder Abgeordnete waren auf die eine oder andere Weise in Skandale verwickelt, bei denen Korruption im weitesten Sinn eine Rolle spielte. Dabei geht es auch um Geld, aber mehr noch darum, sich wichtige Positionen in Parteien und im Staatsapparat zu sichern und sie zu verteilen. Wenn Politiker aufsteigen, dann hat das oftmals weniger mit Leistung zu tun und mehr mit dem, was man in Bezug auf das südliche Europa als System der »Patronage« bezeichnet. Eine parteiinterne »Ochsentour« zu absolvieren und Seilschaften zu knüpfen scheint häufig wichtiger zu sein als inhaltliche Fragen oder sogar Erfolg. So hat die SPD bei der Bundestagswahl 2013 mit Peer Steinbrück einen Kanzlerkandidaten aufgestellt, der ihr acht Jahre zuvor in Nordrhein-Westfalen das schlechteste Ergebnis seit fünfzig Jahren bescherte.

Wenn die Skandale aufgedeckt werden, dann zeigen sich darüber hinaus Formen von erheblicher moralischer Korrumpierung. Entweder streiten die Betreffenden alles ab oder sie geben an, sich schlicht keiner Schuld bewusst zu sein. Der ehemalige deutsche Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg und die Ex-Bildungsministerin Annette Schavan hatten nachweislich ihre Doktorarbeiten gefälscht, hielten das aber für lässliche Sünden, die keinerlei Auswirkung auf ihre Kompetenz und Tätigkeit als Politiker haben müssten. Einige machen sogar andere verantwortlich: Der ehemalige italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi etwa hat sich jahrelang als Opfer von allerlei Verschwörungen inszeniert. Selbstverständlich gilt das nicht für alle Politiker. Ich habe in den letzten Jahren gerade auf kommunaler Ebene Menschen getroffen, die mit großer Ernsthaftigkeit und unter schwierigen Bedingungen versuchten, das Beste für ihr Gemeinwesen zu erreichen.

In der scheinbar alternativlos gewordenen kapitalistisch-liberalen Demokratie ist auch die Korruption zu einer Art impliziter Maxime geworden. Sie ist die Schattenseite der neoliberalen Vorstellung, dass alle Austauschbeziehungen auf Käuflichkeit beruhen. Zudem gilt sie seit dem Fall der Berliner Mauer als eine Art menschlich-allzumenschliches Antidot für radikale Bestrebungen. Die vergangenen und aktuellen Utopien werden mit dem »Terror« identifiziert, dessen Gewaltexzesse von Stalin bis hin zu Al Kaida oder dem Islamischen Staat zu reichen scheinen. Der Markt dagegen, so heißt es, habe die direkten Formen von Gewalt zurückgedrängt und Krieg durch Wettbewerb ersetzt. Das ist zum Teil richtig. Es war höchst erstaunlich, wie viel Kooperation auf internationaler Ebene während der Finanzkrise zu beobachten war – einige Jahrzehnte zuvor wäre die dramatische Lage vermutlich weltkriegstauglich gewesen. Doch das Ziel bestand in der »Rettung« des (Finanz-)Markts, und die Frage stellt sich: Wer zahlt den Preis dieser antiutopischen Form der bürokratisch-politischen Überplanung?

Allerdings sind die Bevölkerungen zahlreicher Länder mit dem »Geschäft« nicht mehr zufrieden. Die jüngsten Protestbewegungen in vielen Ländern von Spanien und Griechenland über Brasilien und Indien bis zur Türkei, Bulgarien und Mexiko richteten sich auch gegen Korruption im weitesten Sinne, etwa gegen den Ausverkauf des Gemeinwohls an private Interessen. Dabei sind viele der Leute auf den Straßen Kinder des Neoliberalismus, also gar keine Gegner von Leistung und Wettbewerb. In seinem Buch Why it's Kicking off Everywhere hat der Journalist Paul Mason zwei Gruppen als dominante Träger der weltweiten Proteste ausgemacht. Zum einen junge, gut ausgebildete Personen, global vernetzt, denen der Aufstieg jedoch verwehrt bleibt, weil die Etablierten ihre Herrschaft durch Seilschaften und Senioritätsprivilegien abgesichert haben. Zum anderen eher schlecht ausgebildete Personen, die angesichts von prekären Jobs und Preissteigerungen Probleme haben, über die Runden zu kommen.10 Beiden Gruppen fehlt die Perspektive. Sie haben kein gemeinsames Ziel und oft genug auch keine genaue Vorstellung, wie die durchaus komplizierten aktuellen Probleme zu lösen sind. Sie wollen und sie benötigen eine »gute Regierung«, eine ernsthaft am Gemeinwohl orientierte Regierung, die in der Lage ist, sowohl soziale Durchlässigkeit als auch die rudimentären Mittel zum Leben zu garantieren. Und offenbar ist die bürokratisch-politische »neue Klasse« des real existierenden Kapitalismus dazu nicht imstande – die Leute fühlen sich nicht länger repräsentiert.

Das Problem mit der Repräsentation

In den letzten Jahren ist häufig von einer Krise der Repräsentation die Rede gewesen. Repräsentation hat aber mindestens zwei, eigentlich sogar drei Elemente. Zunächst meint der Begriff nichts anderes, als dass etwas durch etwas anderes ersetzt wird. Der erste Bestandteil, die politische Bedeutung von Repräsentation, ist daher Vertretung. In der Moderne wurde dieser Aspekt immer wichtiger. Im Absolutismus vertrat der Herrscher die gesamte Bevölkerung in seiner Person. Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts repräsentierte sich das Volk dann durch gewählte Abgeordnete im Parlament selbst.

Diese Art der Vertretung brachte die zweite Komponente von Repräsentation mit sich: die Darstellung. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam eine staatlich betriebene, kulturelle Disziplinierung und Homogenisierung in Gang. Die Vereinheitlichung der Bevölkerung sollte angesichts der neuen Freiheit die Garantie für einen wenn auch brüchigen Konsens bieten. In diesem Prozess ging es um die umfassende Verkörperung des Volkes in einer Schriftsprache, geteilten Traditionen, Medien, Bauten, Fahnen, Münzen usw. Gemeinschaften wurden geschaffen, die zuvor in dieser Form nicht existierten. Der Politikwissenschaftler Benedict Anderson hat dafür die Bezeichnung »imagined community« geprägt.11 In zahlreichen Fällen funktionierte die Vereinheitlichung nicht. Das belegen die vielen entlang ethnischen Bruchstellen verlaufenden Konflikte, die manchmal sogar die Auflösung von Staaten zur Folge hatten.

Im Begriff der »vorgestellten Gemeinschaft« versteckt sich das dritte Element von Repräsentation, welches Vertretung und Darstellung umschließt: Die Vorstellung oder, um mit dem Psychoanalytiker Jacques Lacan zu sprechen, das Imaginäre. Lacan verdeutlichte den Begriff vor allem mit dem »Spiegelstadium« des Kleinkindes, jenem triumphalen Moment, in dem sich das Kind erstmals im Spiegel selbst erkennt. In diesem Augenblick schweißt es seinen heterogenen »zerstückelten Körper« durch die imaginäre Wahrnehmung der eigenen Einheit zu einem Ich im Sinne Sigmund Freuds zusammen.12 Dieser Vorgang lässt sich als Metapher für die Repräsentation der nationalen Gemeinschaft lesen: In Wirklichkeit funktioniert die Vertretung des Volkes nämlich niemals vollkommen; die Bevölkerung bleibt sozial, sexuell und kulturell ein »zerstückelter Körper«.

Die Mitglieder des Volkes müssen daher immer wieder aufs Neue dazu bewogen werden, sich als Einheit wahrzunehmen. Dies geschieht durch die Produktion eines imaginären Überschusses. Dazu wird ein Spiegel benötigt, der auf der Ebene der Darstellung entsteht. Zum einen intern und positiv: Die »Erfindung« von Traditionen etwa schafft einen reflektierenden Grund zur Wahrnehmung von Einheit. Zum anderen extern und negativ: In der Geschichte Europas haben die Anderen – die »Wilden«, die Sklaven, die Kolonisierten, die Bewohner der »Dritten Welt« und auch die Migranten – als Spiegel gedient, in dem sich die Subjekte des Westens spiegelverkehrt erkennen konnten: Weil »sie« wild, grausam, faul, fanatisch, verschlossen, intolerant waren oder sind, können »wir« uns als zivilisiert, friedliebend, arbeitsam, demokratisch, offen und tolerant betrachten. In Bezug auf die außerwestlichen Anderen war Repräsentation in erster Linie eine Machttechnik.

Bereits Kolumbus legte den Mechanismus für diese Technik fest. Er nahm die karibischen Inseln für die spanische Krone in Besitz, indem er den sogenannten Eingeborenen einen Text auf Spanisch vorlas. Kolumbus suchte also kein Gespräch. Er bezog die Anderen in die westliche Ordnung ein, doch gleichzeitig schloss er sie aus: Er vertrat sie in einem Text. Dieser war Zeugnis dafür, dass die Eroberung rechtmäßig war. Der damals begonnene Monolog hat sich seitdem in ein wiederholtes Konvolut von Stereotypen verwandelt: Die Darstellung der Anderen als »primitiv« legitimiert deren Ausschluss – wobei die Bedeutung von »primitiv« und Ausschluss je nach Situation und Zeit unterschiedlich sein kann.

Alle genannten Formen der Repräsentation befinden sich in der Krise. Nun kann man mit Fug und Recht sagen: Die parlamentarische Demokratie war nie mehr als eine fehlerhafte Annäherung an ein Ideal, man muss eben damit leben, dass sie nicht vollkommen ist. Die Frage ist allerdings: Wird die Kluft zwischen der Bevölkerung und ihrer Vertretung durch die gegenwärtigen Entwicklungen eher verringert oder vertieft? Bereits in den sechziger Jahren war die Kritik an der Repräsentation allgegenwärtig. Damals wurde insbesondere der Wandel von »Klassenparteien« zu »Volksparteien« diskutiert. Jürgen Habermas etwa kritisierte, dass der Schwerpunkt der demokratischen Entscheidungsfindung von Parlament und öffentlicher Diskussion hin zu Verwaltung und Expertentum verlagert würde.13 Radikalere Stimmen wie Johannes Agnoli warnten vor einer »Transformation der Demokratie«. Agnoli warf den Volksparteien eine zunehmende »Verstaatlichung« vor; im Grunde seien sie eine Art Einheitspartei im Interesse der Herrschaft des Kapitals geworden: »Dem demos gegenüber ist das Parlament ein Transmissionsriemen der Entscheidungen politischer Oligarchien«.14 Zwar ist das Parteienspektrum heute deutlich differenzierter als zu den Zeiten jener Diagnosen, doch scheinen die einhelligen Bemühungen der bürgerlichen Parteien, mit denen sie in der Finanzkrise 2007/08 das System »retten« wollten, die These von der »Einheitspartei« zu untermauern.

Wenn man die Sache so sieht, hat sich eigentlich nichts Grundsätzliches getan. Das widerspricht aber anderen gesellschaftlichen Erfahrungen, denn zumindest die Lebensgestaltung ist enorm liberalisiert worden. Dagegen hat sich im institutionellen Bereich und im Hinblick auf eine Neuordnung der ungelösten Repräsentationsfrage auch aufgrund der konservativen Gegenbewegung wenig verändert. Die aktuellen Symptome sind die Folgen der ungelösten Probleme von damals. Statt von Postdemokratie könnte man mit Pierre Rosanvallon eher von einer neuen Bedeutung der »Gegendemokratie« sprechen.15 Der französische Historiker meint damit nicht das Gegenteil von Demokratie, sondern die Mechanismen, mit denen sich die Bevölkerung eine informelle Kompensation für die Erosion von Vertrauen organisiert. Die wachsame oder auch denunziatorische und evaluierende Öffentlichkeit besitzt, so Rosanvallon, eine gelebte »Vetomacht«, im Protest gar eine »negative Souveränität«. Zudem kann die Bevölkerung politische Konflikte an die Gerichte delegieren, was auch zunehmend geschieht. So hat etwa in Deutschland sowohl zum Euro-Rettungsschirm als auch zu Gleichstellungsaspekten der »Homo-Ehe« das Bundesverfassungsgericht und nicht der Gesetzgeber letztinstanzlich entschieden. Die Prozesse der »Gegendemokratie« gewinnen an Gewicht, wenn das Vertrauen gegenüber den repräsentativen Akten nachlässt.

Auch die Darstellung der Gemeinschaft ist problematisch geworden. Der Nationalstaat steht als Instrument einer kulturellen Vereinheitlichung unter Druck: von »oben«, weil er mehr und mehr in größere Verbände eingebunden ist und Kompetenzen an diese abtritt. Wirtschaftlich wird dieser Prozess etwa durch Freihandelsabkommen vorangetrieben, politisch durch Staatenverbünde wie die Europäische Union. Der Nationalstaat gerät aber ebenso von »unten« unter Druck. Einwanderung und Individualisierung lassen die Bevölkerung zunehmend heterogener werden. Lebensstile und Traditionen haben sich ebenfalls verändert. Diese Vielheit lässt sich kaum noch durch Homogenisierung verringern und muss als Tatsache anerkannt werden. Die Repräsentation des Volkes in der Darstellung wird löchriger, wobei der Nationalstaat gleichzeitig der Hauptbezugspunkt für diese Repräsentation bleibt.

Dadurch wird auch die Repräsentation als Vorstellung, also der Überschuss im Imaginären, ausgehöhlt. Die eigene Tradition ist hochgradig fragwürdig geworden – das haben in Deutschland beispielsweise die grandios gescheiterten Versuche gezeigt, eine sogenannte Leitkultur zu definieren, oder in Frankreich die staatlich angezettelten Diskussionen um die identité nationale. Zudem ist offensichtlich, dass die »Anderen« längst nicht mehr homogen sind. Die Dritte Welt ist keineswegs nur noch arm, die Einwanderer sind zumal in den Tagen der weltweiten Suche nach Hochqualifizierten nicht mehr bloß eine Gruppe, die im unteren Segment des Arbeitsmarkts zu finden ist. Die populistischen Bewegungen in Europa – in Frankreich der Front National, in Italien die Lega Nord, die Freiheitliche Partei Österreichs, in den Niederlanden die Partei für die Freiheit um Geert Wilders, die Schweizerische Volkspartei, Fidesz in Ungarn oder die Wahren Finnen – versuchen die Vorstellung der Nation als exklusive Solidargemeinschaft zu reaktivieren. Doch hat sich gezeigt, dass die Grenze des nationalistischen Wählerpotentials bei etwa dreißig Prozent liegt. Paradoxerweise forciert der Populismus zugleich die Spaltung der Bevölkerung, die er doch eigentlich vorgibt überwinden zu wollen, weil viele Bürger strikt gegen solche Parteien und ihre politische Agenda eingestellt sind. Das lässt die Umsetzung des Wunschs nach einer neuen Homogenisierung der Nation faktisch in noch weitere Ferne rücken.

Empörung, Groll und die Politik der Affekte

In den Protestformen im Gefolge der Finanzkrise sind nun neue Ansprüche an Vertretung aufgetaucht. Die Occupy-Bewegung trat mit dem Slogan »Wir sind die 99 Prozent« an. Sie grenzte sich damit von dem superreichen einen Prozent ab, das offenbar den Gang der Regierung mehr beeinflusst als das Gros der Bevölkerung. In Spanien firmierten die Protestler unter der Bezeichnung indignados, also »Empörte«, auch in Anlehnung an Stéphane Hessels Bestseller Empört Euch!.16 In diesen neuen Ansprüchen auf Repräsentation wird letztlich behauptet, die Mehrheit der Bevölkerung sei empört, wütend – in Deutschland hat sich dafür der Begriff »Wutbürger« etabliert. Was ist das für eine Wut? Tatsächlich scheint der Affekt selbst eine größere Mobilisierungskraft zu haben als die nicht immer klaren und vor allem nicht immer einheitlichen Inhalte der Proteste. Die politische Kraft von kollektiven Affekten für die Moderne ist unbestritten. Die Französische Revolution etwa wurde im Sommer des Jahres 1789 auf dem Land maßgeblich durch die sogenannte Große Furcht vorangetrieben.17 Die Landbevölkerung war – ohne über genaue Informationen zu verfügen – beunruhigt ob der Vorgänge in Paris. Bald machten Gerüchte die Runde, der Adel würde Banden aussenden, um sich für den in der Hauptstadt erlittenen Machtverlust zu rächen. Als das Eintreffen jener Banden jedoch ausblieb, richtete sich die Aggression gegen den Adel selbst. Grundlage dieser Bewegung war die schiere Angst, eine affektive Mischung aus Reflex, Wissen und gleichzeitiger Handlung.