James Bond 10 - Der Spion, der mich liebte - Ian Fleming - E-Book

James Bond 10 - Der Spion, der mich liebte E-Book

Ian Fleming

4,4

Beschreibung

Vivienne Michel ist in Schwierigkeiten. Auf der Flucht vor ihrer verstrickten Vergangenheit in die amerikanische Provinz, landet sie im Dreamy Pines Autohof. Weit entfernt von der privilegierten Umgebung, in der sie aufgewachsen ist, ist das Motel auch die Haltestation zweier abgebrühter Killer - des perversen Sol Horror und des tödlichen Sluggsy Morant. Als ein cool-charismatischer Engländer auftaucht, schöpft Viv, die in tödlicher Gefahr schwebt, nicht nur Hoffnung, sondern spürt eine fesselnde Faszination. Denn es ist James Bond, 007 - der Mann, von dem sie hofft, gerettet zu werden; der Spion, von dem sie hofft, geliebt zu werden. Jeder kennt sie: die teils stark von den Vorlagen abweichenden Verfilmungen der James-Bond-Romane. Pünktlich zum 50-jährigen Jubliäum der Filmreihe gilt es die Ian-Fleming-Originale erstmals im "Director's Cut" zu entdecken! Eine der größten Filmikonen überhaupt wird 50 Jahre alt! Passend dazu kommt Ende 2012 der 23. Teil der Saga mit dem Titel "Skyfall" in die Kinos! Cross Cult schließt sich den Jubilaren des Mythos mit einer Wiederentdeckung der meisterhaft erzählten Agenten- und Spionageromane aus der Feder Ian Flemings an und beginnt die schrittweise Veröffentlichung aller James-Bond-Originalromane. Endlich wird es möglich sein, Titel wie "Goldfinger", "Thunderball" oder "You Only Live Twice" komplett in ungekürzten Übersetzungen und mit den ursprünglichen Kapitelabschnitten und -überschriften zu lesen. Es verspricht eine einzigartige James-Bond-Bibliothek zu werden, die dazu einlädt, dem Kult um den britischen Gentleman-Geheimdienstler mit der "Lizenz zum Töten" auf den Grund zu gehen.

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Seitenzahl: 255

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JAMES BOND

DER SPION,DER MICH LIEBTE

von

IAN FLEMING

Ins Deutsche übertragenvon Anika Klüver und Stephanie Pannen

Die deutsche Ausgabe von JAMES BOND – DER SPION, DER MICH LIEBTEwird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern,Übersetzung: Anika Klüver und Stephanie Pannen;verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde;Lektorat: Katrin Aust und Gisela Schell;Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik; Cover Artwork: Michael Gillette.Printausgabe gedruckt von CPI Morvia Books s.r.o., CZ-69123 Pohorelice.Printed in the Czech Republic.

Titel der Originalausgabe: JAMES BOND – THE SPY WHO LOVED ME

German translation copyright © 2013, by Amigo Grafik GbR.

Copyright © Ian Fleming Publications Limited 1962The moral rights of the author have been asserted.Die Persönlichkeitsrechte des Autors wurden gewahrt.

JAMES BOND and 007 are registered trademarks of Danjaq LLC,used under license by Ian Fleming Publications Limited. All Rights Reseved.

Print ISBN 978-3-86425-088-0 (Septemer 2013)E-Book ISBN 978-3-86425-089-7 (Septemer 2013)

WWW.CROSS-CULT.DE · WWW.IANFLEMING.COM

INHALT

TEIL EINSICH

1. Angsthase

2. Liebe tote Tage

3. Frühlingserwachen

4. »Liebe Viv«

5. Ein Vogel mit einem verletzten Flügel

6. Auf nach Westen, junge Frau

TEIL ZWEISIE

7. Im Netz der Spinne

8. Dynamit aus dem Albtraumland

9. Dann begann ich zu schreien

TEIL DREIER

10. Was war das?

11. Gutenachtgeschichte

12. Schlafen – vielleicht auch sterben!

13. Schusswechsel

14. Mieze

15. Die Inschrift meines Herzens

TEIL EINS

ICH

ANGSTHASE

Ich lief davon. Ich lief vor England, vor meiner Kindheit, vor dem Winter, vor einer Reihe unschöner und unangenehmer Liebesaffären, vor den paar abgenutzten Möbeln und dem Haufen abgetragener Kleidung davon, die sich im Laufe meines Lebens angesammelt hatten. Und ich lief vor der Trostlosigkeit davon, vor dem Moder, dem Snobismus, der Klaustrophobie der Engstirnigkeit und meiner Unfähigkeit, es im Leben zu etwas zu bringen, obwohl ich ein recht attraktives Ding bin. Tatsächlich lief ich vor fast allem außer dem Gesetz davon.

Und ich hatte schon eine recht ordentliche Strecke zurückgelegt – fast, auch wenn das ein wenig übertrieben ist, einmal halb um die Welt. Ich hatte von London aus den ganzen Weg bis zum Dreamy Pines Motor Court Motel zurückgelegt, das sich gut fünfzehn Meilen westlich von Lake George befindet, dem berühmten amerikanischen Urlaubsort in den Adirondacks – dieser riesigen Ausdehnung von Bergen, Seen und Kiefernwäldern, die den Großteil des nördlichen Teils des Staates New York bildet. Ich war am ersten September aufgebrochen, und heute war Freitag, der dreizehnte Oktober. Als ich loszog, war die schmutzige kleine Reihe aus domestizierten Ahornbäumen in meinem Hof grün gewesen, oder zumindest so grün, wie es ein Baum in London im August sein kann. Nun flammten die echten Ahornbäume, die hier und da zwischen der milliardenstarken Armee der Kiefern wuchsen, die sich nach Norden in Richtung der kanadischen Grenze erstreckte, wie Schrapnellsplitter auf. Und ich hatte das Gefühl, dass ich oder zumindest meine Haut sich ebenso sehr verändert hatte – von der schmutzigen Blässe, dem Ergebnis meines Lebens in London, zu der Frische und Farbe und dem Funkeln des Lebens in der freien Natur, dem früh Zubettgehen und all diesen anderen wundervoll langweiligen Dingen, die Teil meines Lebens in Québec gewesen waren, bevor ich beschloss, nach England zu ziehen, um zu lernen, wie man eine »Dame« wird. Mein dunkler Teint war natürlich sehr unmodisch, und ich hatte sogar aufgehört, Lippenstift und Nagellack zu verwenden, aber für mich war es, als würde ich eine geborgte Haut abstreifen und wieder in meine eigene zurückkehren. Ich war auf kindliche Weise glücklich und zufrieden mit mir selbst, wann immer ich in den Spiegel schaute und feststellte, dass ich mir kein anderes Gesicht aufmalen wollte. Ich will nicht selbstgefällig klingen. Ich war einfach nur vor der Person davongelaufen, die ich die vergangenen fünf Jahre lang gewesen war. Mit der Person, die ich nun war, war ich nicht sonderlich zufrieden, aber die andere hasste und verabscheute ich, daher war ich froh, ihr Gesicht los zu sein.

Der Sender WOKO (sie hätten sich wirklich einen besseren Namen ausdenken können!) in Albany, der Hauptstadt des Staates New York, die etwa achtzig Kilometer südlich von meinem derzeitigen Aufenthaltsort lag, verkündete, dass es achtzehn Uhr war. Der Wetterbericht, der folgte, gab eine Sturmwarnung mit orkanartigen Windböen. Der Sturm bewegte sich von Norden herunter und würde Albany gegen zwanzig Uhr erreichen. Das bedeutete, dass es eine laute Nacht werden würde. Das machte mir nichts aus. Stürme jagen mir keine Angst ein, und obwohl die nächste lebende Seele meines Wissens gut fünfzehn Kilometer die nicht sonderlich gute Nebenstraße nach Lake George hinauf wohnte, riefen der Gedanke an die Kiefern, die sich schon bald draußen im Sturm biegen würden, und die Vorstellung von Donner, Blitz und Regen ein Gefühl von gemütlicher, warmer und geschützter Vorfreude in mir hervor. Und Einsamkeit! Vor allem Einsamkeit! »Abgeschiedenheit wird ein Liebhaber, Einsamkeit eine geliebte Sünde.« Wo hatte ich das gelesen? Wer hatte es geschrieben? Es beschrieb so genau, wie ich mich fühlte, wie ich mich als Kind immer gefühlt hatte, bis ich mich dazu gezwungen hatte, »mit dem Strom zu schwimmen«, »ein Teil der Masse zu sein« – ein gutes Mädchen, immer gut drauf, zu allem bereit. Und ich war kläglich daran gescheitert, zu sein »wie die anderen«! Ich verdrängte die Erinnerung an mein Versagen. Nicht jeder muss in Gesellschaft leben. Maler, Schriftsteller und Musiker sind einsame Menschen. Das Gleiche gilt für Staatsmänner, Admiräle und Generäle. Allerdings muss man fairerweise hinzufügen, dass das auch auf Kriminelle und Verrückte zutrifft. Sagen wir einfach, ohne zu schmeichlerisch zu klingen, dass wahre Individuen einsam sind. Es ist keine Tugend, wenn überhaupt, ist es das genaue Gegenteil. Man sollte sein Leben teilen und mit anderen kommunizieren, wenn man ein nützliches Mitglied der Gesellschaft sein will. Die Tatsache, dass ich so viel glücklicher damit war, allein zu sein, war zweifellos ein Anzeichen für einen fehlerhaften, einen neurotischen Charakter. Ich hatte mir das in den vergangenen fünf Jahren so oft eingeredet, dass ich heute, an diesem Abend einfach nur mit den Schultern zuckte, mich an meine Einsamkeit klammerte, durch die große Lobby zur Tür ging und nach draußen trat, um einen letzten Blick auf den Abend zu werfen.

Ich hasse Kiefern. Sie sind dunkel, stehen sehr still und man kann weder unter ihnen Schutz suchen, noch an ihnen hochklettern. Sie sind sehr schmutzig und mit einem schwarzen Dreck bedeckt, unter dem man kaum noch den Baum erkennen kann. Wenn sich dieser Dreck mit ihrem Harz vermischt und man dieses Gemisch berührt, saut man sich richtig ein. Ich finde ihre zackigen Formen irgendwie feindselig, und die Art, wie sie so nah zusammenstehen, ruft bei mir den Eindruck einer Armee hervor, die mir den Weg mit Speeren versperrt. Das einzig Gute an ihnen ist ihr Geruch. Wann immer ich sie in die Finger bekommen kann, benutze ich Kiefernnadelessenz für mein Bad. Hier in den Adirondacks war der endlose Anblick der Kiefern regelrecht Übelkeit erregend. Sie bedecken jeden Quadratmeter Erde in den Tälern und reichen bis zur Spitze jedes Bergs hinauf, sodass der Eindruck eines mit Spitzen versehenen Teppichs entsteht, der sich bis zum Horizont erstreckt – ein endloser Ausblick auf recht dämlich aussehende grüne Pyramiden, die darauf warten, gefällt zu werden, damit man aus ihnen Streichhölzer, Garderobenhaken und Ausgaben der New York Times herstellen kann.

Etwa zwanzigtausend Quadratmeter dieser dummen Bäume waren gerodet worden, um das Motel zu bauen, denn viel mehr war dieser Ort nicht. »Motel« ist heutzutage kein gutes Wort mehr. Man benutzt eher elegantere Bezeichnungen wie »Autohof« oder »Ranchhütten«, seit Motels mit Prostitution, Gangstern und Mördern in Verbindung gebracht werden, denen ihre Anonymität sehr gelegen kommt. Dieser Ort war zumindest für Touristen, wie es in der Branche so schön heißt, ganz angemessen. Es gab diese gewundene Nebenstraße durch den Wald, die eine angenehme Alternativstrecke zwischen Lake George und Glens Falls im Süden darstellte. Auf halbem Weg lag außerdem ein kleiner See, der den niedlichen Namen Dreamy Waters trug und ein traditioneller Lieblingsplatz für Picknickausflüge war. Am Südufer dieses Sees war das Motel gebaut worden. Seine Lobby mit dem Empfangsbereich lag zur Straße hin und dahinter erstreckte sich das Hauptgebäude, das die einzelnen Hütten in einem Halbkreis umstanden. Es gab vierzig Hütten mit Küche, Dusche und Toilette, und sie alle boten einen Blick auf den See dahinter. Die gesamte Anlage war in Bauweise und Ausstattung hochmodern – lackierte Fronten aus Pechkiefer und hübsche knubbelige Holzdächer, Klimaanlage, Fernsehen in jeder Hütte, ein Kinderspielplatz, ein Swimmingpool, ein Golfabschlagplatz am See mit schwimmenden Bällen (fünfzig Bälle für einen Dollar) – der ganze Schnickschnack. Essen? Eine Cafeteria in der Lobby und zwei Mal täglich Lebensmittel- und Getränkelieferungen aus Lake George. Und das alles für zehn Dollar für ein Einzel- und sechzehn Dollar für ein Doppelzimmer. Kein Wunder also, dass es die Besitzer bei einem Kostenaufwand von etwa zweihunderttausend Dollar und einer Saison, die nur vom ersten Juli bis Anfang Oktober andauerte – wobei das Motel nur vom vierzehnten Juli bis zum Labour Day tatsächlich ausgebucht war –, nicht leicht hatten. Zumindest hatten mir diese schrecklichen Phanceys das erzählt, als sie mich für nur dreißig Dollar die Woche plus Unterkunft als Empfangsdame eingestellt hatten. Gott sei Dank war ich diese Leute nun los! Ob ich erleichtert darüber war? Heute Morgen um sechs fiel mir gleich ein ganzer Felsbrocken vom Herzen, als ihr glänzender Kombi auf dem Weg nach Glens Falls die Straße heruntergefahren war, um von dort nach Troy weiterzubrausen, von wo diese Monster stammten. Mr Phancey hatte noch ein letztes Mal nach mir gegrabscht, und ich war nicht schnell genug gewesen, um ihm auszuweichen. Seine freie Hand war wie eine flinke Eidechse über meinen Körper gehuscht, bevor ich meinen Absatz in seinen Fuß gebohrt hatte. Daraufhin hatte er mich losgelassen. Nachdem sich sein schmerzverzerrtes Gesicht wieder geglättet hatte, hatte er leise gesagt: »Also schön, Zuckerpüppchen. Kümmer dich einfach gut um den Laden, bis der Boss morgen Mittag zur Schlüsselübergabe kommt. Süße Träume heute Nacht.« Dann hatte er mir ein Grinsen geschenkt, das ich nicht verstand, und war zum Kombi gegangen, in dem seine Frau bereits auf dem Beifahrersitz gesessen und uns beobachtet hatte. »Komm jetzt, Jed«, hatte sie streng gerufen. »Du kannst deine Triebe heute Abend in der West Street ausleben.« Sie hatte bereits den Gang eingelegt und rief mir süßlich zu: »Mach’s gut, Schätzchen. Schreib uns jeden Tag.« Dann hatte sie das schiefe Grinsen von ihrem Gesicht gewischt, und ich hatte einen letzten Blick auf ihr welkes, verhärmtes Profil erhascht, während das Auto auf die Straße abgebogen war. Puh! Was für ein Paar! Wie aus einem Buch – und was für ein Buch! Liebes Tagebuch! Tja, es könnte kaum schlimmere Menschen geben, und jetzt waren sie weg. Von jetzt an musste die menschliche Rasse auf meinen Reisen einfach besser werden!

Ich hatte dagestanden, auf die Straße gestarrt, auf der die Phanceys verschwunden waren, und mich an sie erinnert. Nun drehte ich mich um und schaute nach Norden, um nach dem Wetter zu sehen. Es war ein wunderschöner Tag gewesen, glasklar und für Mitte Oktober recht heiß, doch nun sammelten sich hohe, unheilvolle Wolken am Himmel. Sie waren dunkel und von pinken Spitzen durchzogen, wo sie die untergehende Sonne reflektierten. Heftige kleine Windböen huschten zwischen den Baumwipfeln hin und her, und hin und wieder trafen sie die einzelne gelbe Lampe über der verlassenen Tankstelle am Ende des Sees weiter die Straße hinunter und ließen sie schaukeln. Als mich eine anhaltende kalte und heftige Böe erreichte, brachte sie das Flüstern eines metallischen Quietschens von der schwankenden Lampe mit sich, und dieses leise, geisterhafte Geräusch ließ mich genussvoll erschaudern. Am Ufer des Sees hinter den letzten Hütten schwappten kleine Wellen hektisch gegen die Steine, die metallisch schimmernde Oberfläche des Sees kräuselte sich, und manchmal bildeten sich weiße Schaumkronen. Doch zwischen den starken Böen war die Luft still, und die wachsamen Bäume auf der anderen Seite der Straße und hinter dem Motel schienen näher heranzurücken, als würden sie sich um das Lagerfeuer des hell erleuchteten Gebäudes hinter mir zusammenkauern.

Plötzlich musste ich auf die Toilette und lächelte in mich hinein. Es war das durchdringende Kitzeln, das man als Kind empfindet, wenn man im Dunkeln Verstecken spielt und im Schrank unter der Treppe sitzt und das leise Knarren einer Bodendiele und das näher kommende Flüstern der Suchenden hört. Man hält in angespannter Angst die Beine umklammert und wartet auf die Ekstase, entdeckt zu werden, den Lichtspalt von der geöffneten Tür und dann – der Höhepunkt – das drängende »Psst! Komm hier rein zu mir!«, die leise geschlossene Tür und der kichernde warme Körper, der sich fest gegen den eigenen drückt.

Während ich nun als »großes Mädchen« dort stand, erinnerte ich mich an all das und erkannte das sinnliche Prickeln, das von einer flüchtigen Anspannung hervorgerufen wurde – der Schauer, der einem den Rücken hinunterläuft, die plötzliche Gänsehaut, die ein Überbleibsel der primitiven Angstsignale unserer tierischen Vorfahren ist. Ich war darüber amüsiert und genoss den Moment. Schon bald würde es einen Wolkenbruch geben, und ich würde mich vor dem Heulen und dem Chaos des Sturms in meine hell erleuchtete, gemütliche Höhle zurückziehen, mir einen Drink machen, Radio hören und mich sicher und rundum wohlfühlen.

Es wurde dunkel. Heute Abend würde es keinen Vogelchor geben. Sie hatten die Zeichen schon vor einer ganzen Weile erkannt und sich in ihre Unterschlüpfe im Wald zurückgezogen. Das Gleiche galt für all die anderen Tiere – die Eichhörnchen, die Streifenhörnchen und die Rehe. In dieser ganzen wilden Umgebung war nun nur noch ich draußen. Ich atmete noch ein letztes Mal tief ein. Die Luftfeuchtigkeit hatte den Geruch der Kiefern und des Mooses verstärkt und nun kam noch ein penetranter, unterschwelliger Erdgeruch hinzu, der an den einer Achselhöhle erinnerte. Es war fast so, als würde der Wald aufgrund der gleichen angenehmen Aufregung schwitzen, die ich verspürte. Von irgendwo ganz in der Nähe erklang der fragende Ruf einer Eule. Dann verstummte sie wieder. Ich entfernte mich ein paar Schritte vom hell erleuchteten Eingang, stellte mich mitten auf die staubige Straße und schaute nach Norden. Ein heftiger Windstoß blies mein Haar zurück. Ein blauweißer Blitz zuckte über den Horizont. Sekunden später grollte leiser Donner wie ein erwachender Hund. Dann kam der Sturm, und die Wipfel der Bäume begannen zu zucken und zu tanzen, und die gelbe Lampe über der Tankstelle schaukelte und blinkte, als ob sie mich warnen wollte. Sie warnte mich tatsächlich. Plötzlich wurde das tanzende Licht vom Regen verwischt und seine Leuchtkraft von einer näher kommenden grauen Wand aus Wasser geschwächt. Die ersten großen Tropfen trafen mich, und ich drehte mich um und rannte los.

Ich schlug die Tür hinter mir zu, verschloss sie und schob die Kette vor. Gerade noch rechtzeitig. Denn schon im nächsten Moment krachte der Wolkenbruch herunter und wurde zu einem gleichmäßigen Dröhnen aus Wasser, dessen Klangmuster zwischen heftigem Trommeln gegen die Dachbalken und einem höheren, deutlicheren Rauschen an den Fenstern variierte. Nach ein paar Sekunden gesellte sich das heftige Platschen der überfließenden Regenrinnen zu diesen Geräuschen. Und damit war das lautstarke Hintergrundrauschen des Sturms eingestellt.

Ich stand immer noch da und lauschte behaglich, als der Donner, der sich leise hinter meinem Rücken angeschlichen hatte, aus dem Hinterhalt angriff. Plötzlich flackerte ein Blitz im Zimmer auf, und im gleichen Augenblick ertönte ein Krachen, das das gesamte Gebäude erschütterte und die Luft erklingen ließ wie eine Klaviersaite. Es war nur eine einzige gewaltige Explosion, die ebenso gut von einer großen Bombe hätte kommen können, die nur wenige Meter entfernt eingeschlagen war. Ein scharfes Klirren erklang, als ein Stück Glas aus einer Fensterscheibe auf den Boden fiel, und dann folgte das Geräusch von Wasser, das auf das Linoleum platschte.

Ich bewegte mich nicht. Ich konnte nicht. Ich stand verkrampft da und hatte die Hände auf die Ohren gepresst. So hatte ich mir das nicht vorgestellt! Die Stille, die ohrenbetäubend gewesen war, löste sich im Gebrüll des Regens auf, ein Gebrüll, das so angenehm gewesen war, doch nun sagte: »Du hättest nicht gedacht, dass es so schlimm werden würde. Du hast noch nie einen Sturm in den Bergen erlebt. Dieser kleine Unterschlupf, den du hier hast, ist ziemlich armselig. Wie würde es dir gefallen, wenn ich für den Anfang das Licht lösche? Dann ein Blitzschlag durch dieses Streichholzdach über deinem Kopf? Und dann stecke ich die ganze Hütte in Brand, nur um dir den Rest zu geben – und vielleicht erledige ich dich mit einem Stromschlag. Oder soll ich dir einfach so viel Angst einjagen, dass du nach draußen in den Regen rennst und versuchst, diese fünfzehn Kilometer nach Lake George zu überwinden? Du bist also gern allein, ja? Tja, dann sieh dir das hier mal an!« Wieder blitzte es im Zimmer blauweiß auf, wieder ertönte direkt über mir eine ohrenbetäubende Explosion, doch dieses Mal dehnte sich der Donner aus und polterte in einer Kanonade hin und her, die die Tassen und Gläser hinter der Bar scheppern ließ und das Holz der Wände zum Ächzen brachte.

Meine Beine fühlten sich schwach an. Ich wankte zum nächstgelegenen Stuhl, setzte mich und legte den Kopf in die Hände. Wie hatte ich nur so dumm sein können, so vermessen? Wenn nur jemand kommen würde, jemand, der bei mir bleiben würde, jemand, der mir versichern würde, dass es nur ein Sturm war! Aber das war es nicht! Es war eine Katastrophe, das Ende der Welt! Und alles war auf mich gerichtet! Jetzt! Es würde wieder passieren! Jeden Moment würde es so weit sein! Ich musste etwas unternehmen, Hilfe holen! Aber die Phanceys hatten das Telefon abgemeldet. Es gab nur noch eine Hoffnung! Ich stand auf und lief zur Tür. Dort griff ich nach oben zu dem großen Schalter, mit dem man das »Zimmer frei«-Schild in rotem Neonlicht über der Tür bediente. Wenn ich es einschaltete, würde vielleicht jemand über die Straße hergefahren kommen. Jemand, der froh über eine Unterkunft wäre. Aber während ich den Schalter betätigte, zuckte der Blitz, der mich beobachtet hatte, wild in den Raum, und als der Donner grollte, wurde ich von einer gewaltigen Faust gepackt und zu Boden geschleudert.

LIEBE TOTE TAGE

Als ich wieder zu mir kam, wusste ich sofort, wo ich mich befand und was geschehen war, daher kauerte ich mich auf den Boden und wartete darauf, erneut getroffen zu werden. Ich verharrte etwa zehn Minuten lang in dieser Position, lauschte dem Tosen des Regens und fragte mich, ob mir der Stromschlag permanenten Schaden zugefügt hatte, mich vielleicht innerlich verbrannt hatte, sodass ich keine Kinder mehr bekommen konnte, oder meine Haare weiß geworden waren. Vielleicht war mein gesamtes Haar auch verbrannt! Ich tastete mit einer Hand danach. Es fühlte sich in Ordnung an, allerdings hatte ich eine Beule am Hinterkopf. Ich bewegte mich vorsichtig. Es war nichts gebrochen. Ich war nicht verletzt. Und dann erwachte die große Kühltruhe von General Electric in der Ecke wieder zum Leben und stimmte ihr fröhliches, heimeliges Summen an. Mir wurde klar, dass die Welt noch existierte und der Donner verschwunden war, also rappelte ich mich mit Mühe auf und schaute mich um. Ich erwartete, Chaos und Zerstörung zu sehen. Aber alles war noch genauso wie zuvor – der wichtig aussehende Empfangstresen, der Drahtständer voller Taschenbücher und Zeitschriften, die lange Theke der Cafeteria, die ein Dutzend ordentlichen Tische mit den regenbogenfarbenen Plastiktischplatten und den unbequemen kleinen Metallstühlen, der große Eiswasserbehälter und die glänzende Kaffeemaschine – alles war an seinem Platz und hätte nicht gewöhnlicher sein können. Lediglich das Loch im Fenster, unter dem sich auf dem Boden eine Wasserpfütze ausbreitete, zeugte von der Katastrophe, die dieser Raum und ich gerade durchlebt hatten. Katastrophe? Wovon redete ich da? Die einzige Katastrophe hatte in meinem Kopf stattgefunden! Draußen tobte ein Sturm. Es hatte gedonnert und geblitzt. Ich hatte mich wie ein Kind vor dem lauten Getöse gefürchtet. Wie eine Idiotin hatte ich nach dem elektrischen Schalter gegriffen – ich hatte nicht einmal auf die Pause zwischen den Blitzen gewartet, sondern genau den Moment ausgewählt, in dem ein weiterer Blitz anstand. Das hatte mich umgehauen. Ich war mit einer Beule am Kopf bestraft worden. Es geschah mir ganz recht, denn schließlich war ich ein dummer, ignoranter Angsthase gewesen! Aber Moment mal! Vielleicht war mein Haar ja weiß geworden! Ich eilte hastig durch den Raum, nahm meine Tasche vom Empfangstresen, ging hinter die Bar der Cafeteria, beugte mich vor und starrte in den langen Spiegel unter den Regalen. Zuerst betrachtete ich aufmerksam meine Augen. Sie starrten mich aus dem Spiegel an, blau, klar, aber in böser Vorahnung weit aufgerissen. Die Wimpern waren noch da, die braunen Augenbrauen ebenfalls, dann folgte eine fragend gerunzelte Stirn und dann, ja, der gerade braune Scheitel und das Gewirr meines völlig normalen sehr dunkelbraunen Haars, das in zwei großen Wellen nach rechts und links herunterfiel. Ein Glück! Ich nahm meinen Kamm aus der Tasche und zog ihn heftig, fast schon wütend durch mein Haar. Dann legte ich ihn zurück in die Tasche und verschloss sie.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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