Jeder Ort hat seinen Traum - Brita Steinwendtner - E-Book

Jeder Ort hat seinen Traum E-Book

Brita Steinwendtner

4,7

Beschreibung

Die Landschaft ist voll von Gesängen und Geschichten: Brita Steinwendtner porträtiert dreizehn Autorinnen und Autoren und setzt sie mit ihren Landschaften in Beziehung. Wo man lebt und arbeitet, ist das eine, wohin man sich sehnt, das andere. Und ein Drittes ist die Bedeutung, die sich aus Landschaften und Orten erschließt: die innere Geografie von Wirklichkeit, Imagination und Inspiration.Geht man solchen Spuren im Werk von Dichterinnen und Dichtern nach, entsteht ein wundersames Gewebe aus Landschaften, Lebensgeschichten und der irritierend-schönen Vielfalt von Literatur. Brita Steinwendtner porträtiert dreizehn Autorinnen und Autoren und setzt sie mit ihren Landschaften in Beziehung. Sie legt spannende, oft neue Fährten in literarische Werke, deren Gemeinsames die Utopie eines menschenwürdigen Lebens ist. Durchdrungen von der Begeisterung für einige der schönsten Landschaften und Orte des europäischen Kontinents, sind die Geschichten auch wunderbare Anregungen für eigene Entdeckungen. Ilse Aichinger: Wien, Ingeborg Bachmann und Johannes Urzidil: Rom, Bruce Chatwin: Peloponnes, Barbara Frischmuth: Ausseerland, Peter Handke: Paris-Versailles, Veit Heinichen: Triestiner Karst, Wolfgang Hildesheimer: Poschiavo, Hartmut Lange: Umbrien, Christoph Ransmayr: Berg und Meer, Raoul Schrott: Tamangur und Tarrenz, Peter Turrini: Weinviertel, Paul Wühr: Lago Trasimeno

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Brita Steinwendtner

Jeder Ort hat seinen Traum

Dichterlandschaften

Die Arbeit an diesem Buch wurde gefördert durch das Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur, Abt. VI/5 Literatur und Verlagswesen sowie die Literar-Mechana, Wahrnehmungsgesellschaft für Urheberrechte Ges.m.b.H.

© 2007HAYMON verlagInnsbruck-Wienwww.haymonverlag.at

Überarbeitete E-Book Ausgabe 2013

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7099-7756-9

Satz und Covergestaltung: Haymon Verlag/Thomas AuerCoverbild: Wolf Steinwendtner

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.

Inhalt

Bruce ChatwinDie Songlines der Mani

Paul WührAlles Falsche ist schön

Hartmut LangeDer Wanderer

Veit HeinichenGib jedem sein eigenes Meer

Ingeborg Bachmann, Johannes UrzidilRom. Ballett von Tod und Leben

Ilse AichingerWien. Und andere Ortlosigkeiten

Peter TurriniAn der Grenze

Barbara FrischmuthDer kurze Weg von Altaussee nach Istanbul

Christoph RansmayrAn den Rand der Welt und in ihr Herz

Raoul SchrottTristan, Tarrenz und Tamangur

Wolfgang HildesheimerDas Weite gesucht

Peter HandkeDie Wälder von Versailles

Anmerkungen

Text- und Bildnachweis

Für alle dreizehn dieses Buches

Bruce Chatwin

Die Songlines der Mani

Ich bitte dich, leg meinen linken Jungen über den rechten.

Der andere tat es behutsam.

Ich muß wieder auf Reisen gehen. Reisen, gehen, gehen, verstehst du?

Ich werde mit dir gehen.

Aber mein Rucksack ist so schwer.

Ich werde ihn dir tragen.

Er lag in einem dunklen Zimmer zu ebener Erde, er nannte es sein „Mönchszimmer“. Draußen kreiste keine van Gogh’sche Sonne um ihre Himmel, es war kühl, denn es war Januar.

Ich werde nie wieder gehen.

Ich weiß.

Werner, ich sterbe.

Ja, das weiß ich.

Bruce Chatwin konnte sich nicht mehr bewegen. Sein Gesicht war ein kleines Dreieck des Schmerzes. Er hatte Aids und einen seltenen Pilz, der das Knochenmark zerstörte und weiter den ganzen Körper. „Seine Jungen“ nannte er seine Beine, sie waren lahm, und er wußte, daß es sein Ende war. Daß er nie wieder gehen konnte in den braunen, hohen Wanderstiefeln, die ihn Tausende Kilometer durch Afrika getragen hatten, durch Afghanistan, Indien und Yunnan, durch Sibirien, Patagonien und die Wüsten Australiens. Auf der Suche nach dem immer Neuen, den Ursprüngen, dem Geheimnis des Lebens. Nach den Songlines seiner selbst.

Er lag in seinem Zimmer in Seillans bei Nizza, im Haus einer Freundin, der Mutter seiner letzten großen Leidenschaft, des 22jährigen Jasper Conran, der sich weigerte, ihn zu besuchen. Lag da und träumte von Aufbruch. Er hatte Werner Herzog, den Regisseur, der auch seinen Roman Der Vizekönig von Ouidah verfilmte und mit dem ihn die Passion für das Gehen und die Nomaden verband, herbeigerufen. Er traute ihm Heilkräfte zu. Hoffnungssplitter schwindender Sinne. Chatwins Frau Elisabeth, spät im Elend wiedergefunden, nahm den Sterbenden in ihre Arme, wiegte ihn aus der Zeit.

Chatwin starb am 18. Januar 1989. Zwei Tage später wurde er in Nizza eingeäschert, zwei Wochen darauf fand in der Kathedrale Saint Sophia in Bayswater ein griechisch-orthodoxer Gedenkgottesdienst statt. Salman Rushdie, Freund und Reisegefährte in Australien, war dabei. Als Rushdie die Kirche verließ, wurde ihm von einer amerikanischen Journalistin berichtet, daß Ayatollah Khomeini ihn auf die Todesliste gesetzt hatte.

Ein Rußkörnchen dreht sich in der Mittelvertiefung eines schwarzverschmierten Plastiktisches. Dreht sich langsam im Rhythmus der schaukelnden Bewegung des Schiffes, die kaum spürbar, aber in diesem Kreisen sichtbar wird. Wir sind auf einer Fähre der Minoan Lines, auf dem Weg nach Patras an der griechischen Westküste. Venedig liegt hinter uns. W. und ich sind im Heck des Schiffes gesessen, es war früher Abend. Mestre stand im Orange, kerzengerade Rauchfähnchen als Muster darin gezeichnet. Im Gleiten durch den Guidecca-Kanal öffnete sich Venedig wie das Schauspiel fernen Glücks, Palazzo um Palazzo zog vorüber, Campanile um Campanile, alles klein unter uns, die Menschen winzig, Glockengeläut von irgendwo, dann die Pfähle der Schiffahrtswege, der Lido, das schwindende Land, der schwindende Tag. Nachtlichter der Inseln und der Küste, Blinken der ersten Sterne.

Ich beobachte das Rußkörnchen und lese Bruce Chatwin. Wir haben viel Zeit. Zwei Nächte und einen Tag. Das Wummern der Maschinen dröhnt leise im Kopf. Hämmert die Stunden ins Gleiche. Diese Gegensätzlichkeit der Bücher! In Patagonien, Der Vizekönig von Ouidah und Auf dem schwarzen Berg, Traumpfade und Utz und die Sammlungen der Geschichten, Reportagen und Reiseskizzen. Ich arbeite mich durch Nicholas Shakespeares monumentale Biographie. Die verwirrenden Szenen dieses abenteuerlichen, glamourösen wie tragischen Lebens versinken im fast geräuschlosen Schäumen der Bugwellen.

Dieses Leben. Mit knapp über zwanzig bereits Leiter der Impressionisten-Abteilung bei Sotheby’s in London. Mann mit dem besonderen, dem unfehlbaren Auge. Mit fünfundzwanzig bereits Direktor und als einer der Chairmen im Gespräch. Kündigt, weil er zu erblinden glaubt und ihm die Kunst zuwider wird. Geht nach Edinburgh, um Archäologie zu studieren. Bricht ab, bricht auf in die Welt. Beginnt zu schreiben, zunächst für die Sunday Times. Wird später mit In Patagonien zum Kult- und mit den Traumpfaden zum Bestsellerautor. Eine ganze Generation von jungen Menschen pilgert mit den zerfledderten Exemplaren der beiden Bücher in die unwirtlichen Landschaften Südargentiniens, macht sich auf die Suche nach den Aborigines in Australien. Chatwins Lebensstil wird zum Idol, rastlos wie die Zeit. Lebenshungrig, wißbegierig, extrem. Egomanisch und vorurteilsfrei, ein perfekter Selbstinszenator. Nimbus des Ewig-Jungen.

Bruce Chatwin starb mit 48 Jahren. Seine Asche wurde seinem Wunsch gemäß beim Kirchlein von Chora, das dem Aghios Nikolaos geweiht ist, in der Erde vergraben. Es liegt in der Äußeren Mani auf dem Peloponnes, in den Berghängen über Kardamyli. Wir sind unterwegs dorthin. Ein Land, das wir lieben seit Jahren.

In der Antike verglich man den Peloponnes mit einem fünfspitzigen Ahornblatt. Heute ist das Bild einer Hand vertraut, deren mittlerer Finger die Mani genannt wird. Die Äußere beginnt südöstlich von Kalamata, ist berühmt für ihre Oliven, deren Geschmack durch Sonne, Stein und die Kargheit des Bodens geprägt ist. Südlich von Areopolis, dem Städtchen, das den Kriegsgott Ares im Namen trägt, liegt die Innere Mani. Steiniges Land, dunkle Menschen, Wohntürme in aufragenden Dörfern, zur Fehde und Blutrache gebaut. Felsenbuchten, blaues Meer und im Frühling die Blütenteppiche des Cap Matapan, das Odysseus den Weg wies und später den Römern, Kreuzrittern, Händlern, Seeräubern und Invasoren aller Jahrhunderte.

In der Mitte der Halbinsel beherrscht der langgezogene, bis zu 2400 Meter hohe Gebirgsstock des Taygetos das Land, trennt es in Ost und West und schneidet es von Sparta und den fruchtbaren Ebenen Lakoniens ab. Jahrtausendealte Übergänge verbanden Spartas Reich mit dem Messenischen Golf, mühsame Wege über kantigen Fels und endloses Geröll, im unteren Teil der Strecke oft den tief eingeschnittenen Schluchten folgend. Eine davon mündet in Kardamyli.

Kardamyli war mein erstes Griechenland, das mir W. schenkte.

Mittagshitze, gleißendes Meer. Schwimmen in der Felsbucht der Nymphen. Wenn ich die Augen schließe, bilden sich kleine Regenbogen unter den Lidern. Zypressen rahmen die Bucht, Seeschwalben nisten in den ockerfarbenen Abbrüchen. Türkis und himmelblau laufen die Wellen an die Ufer.

Eine eiserne Wendeltreppe führt von der Bucht auf ein halbkreisförmiges Plateau. Nur vom Meer oder von der Küstenstraße ist die Villa zu sehen, die hier steht. Geht man an den Grenzen ihres Parks entlang, ist sie hinter einer hohen Mauer verborgen. Hier lebt Patrick Leigh Fermor, über neunzig und einer der gebildetsten Reiseschriftsteller Englands. Als junger Soldat war er auf Kreta stationiert gewesen, hatte engen Kontakt zu den Partisanen und wurde berühmt durch die Entführung des nationalsozialistischen Befehlshabers Heinrich Kreipe. Fermor blieb in Griechenland und wurde zum großen Apologeten der Mani.

Für Bruce Chatwin war er Anreger, Gesprächspartner und Vaterfigur, der dem Getriebenen immer wieder Asyl gab. Im Haus der Fermors und im nahen Hotel Kalamitsi entstand der Großteil von Chatwins berühmtestem Buch, den Songlines. Sie wurden zum Testament dieses horizontsüchtigen Suchers, der ein Leben lang dem nomadisierenden Hang des Menschen nachging, so auch im

… Labyrinth unsichtbarer Wege, die sich durch ganz Australien schlängeln und die Europäern als „Traumpfade“ oder „Songlines“ und den Aborigines als „Fußspuren der Ahnen“ oder „Wege des Gesetzes“ bekannt sind. Schöpfungsmythen der Aborigines berichten von den legendären totemistischen Wesen, die einst in der Traumzeit über den Kontinent wanderten und singend alles benannten, was ihre Wege kreuzte – Vögel, Tiere, Pflanzen, Felsen, Wasserlöcher –, und so die Welt ins Dasein sangen.1

Die Niederschrift der Traumpfade, die 1987 erschienen, war im letzten Drittel ein Wettlauf mit der Zeit. Die Krankheit verschlimmerte sich und wurde schließlich, damals noch ohne große Erfahrungswerte, als HIV positiv diagnostiziert. Niemand in Chatwins Umgebung durfte das Wort „Aids“ aussprechen. Er flüchtete sich in die Zusatzdiagnose des rätselhaften Penicillium marneffei, eines Pilzes, der nur an einem gestrandeten Wal, im Höhlenkot von Fledermäusen und bei sieben oder acht Bauern aus Yunnan festgestellt worden war: alles Ansteckungsmöglichkeiten für den Globetrotter. Das Exotische daran war ihm recht, lenkte von der Grausamkeit der Fakten und der Tabuisierung der Homosexualität im puritanischen England ab.

Von Chatwins Zeit in Kardamyli gibt es Fotografien. Sie zeigen eine heile Welt. Blühende Frühlingspracht, Mohn, Nelken, Kamille und wilde Geranien. Ein seltsam helles Maultier grast zwischen knorrigen Olivenbäumen. Chatwin geht an verfallenden Steinmäuerchen entlang, deren Weiß den Kontrast zum Grün der Wiesen gibt. Steinwege, versinkend im Staub der Zeit. Am liebsten ging er hinauf, weit hinauf nach Chora.

Jetzt ist Herbst. Auch früher war es September, Oktober, wenn wir nach Kardamyli kamen. Es ist dann stiller, das Land reift, das Licht ist golden und das Meer noch warm. Vormittags ist es erträglich zum Wandern, und selbst in der Hitze des Mittags bleiben die Gipfel und Wälder des Taygetos und die Wege in den Schluchten kühl.

Diesmal wohnen wir in Ano Riglia, eine Viertelstunde von Kardamyli entfernt und in den zum Meer hin abfallenden Hügelausläufern des Gebirges gelegen. Freunde haben uns weitherzig ihr Haus geöffnet. Es ist ein kleines Steinhaus, eingebettet in das zusammengeduckte Dorf von Olivenbauern, die die Landwirtschaft meist nur mehr als Nebenerwerb betreiben. Viele Ortschaften sind verlassen, verfallen langsam oder ihre Häuser werden von Ausländern aufgekauft. Mitunter kommen Landflüchtige und Emigranten, die in Kalamata, Athen oder Amerika Karriere machten, in ihre Heimatdörfer zurück und renovieren das Haus ihrer Jugend als Feriendomizil oder als Rückzugsort für die letzten Jahre.

Das Haus der Freunde steht am Rand des Dorfes. Von der Terrasse geht der Blick weithin über die Olivenhaine und die kleinen Häfen von Aghios Dimitrios und Aghios Nikolaos. Der Messenische Golf breitet sich blau und scheinbar unbewegt bis zur fernen Küstenlinie von Koroni. Wenn das Morgenboot in Aghios Nikolaos anlegt, bleibt seine Spur noch lange als dunkler Bogen im Wasser stehen. Eine Pergola, von der dunkellila Trauben hängen, gibt der Terrasse Schatten. Im Garten blühen die letzten Rosen, duften Rosmarin und Salbei. Die blauen Feigen sind sonnenwarm, weich und köstlich schmelzen sie zwischen Gaumen und Zunge. Den Boden bedeckt ein Teppich verfaulender Früchte. Schwärme von Wespen stieben auf. Hinter dem Dorf steigen die Oliventerrassen an, gehen über in Macchia, Eichen- und Kiefernwälder und in die Geröllhalden des Taygetos. Der Kirchturm von Pyrgos ragt weithin sichtbar in den Himmel und noch ein Stück bergwärts sind die Dörfer Exochori und Chora zu ahnen.

Es war der 15. Februar 1989, als Elisabeth Chatwin von London nach Griechenland flog. Sie hatte die Urne bei sich. Mit Patrick Leigh Fermor und dessen Frau wanderte sie zum Nikolaus-Kirchlein von Chora. Da der Boden zu steinig war, um den Eichenbehälter zu vergraben, hoben sie dicht bei der Kirche unter einem Olivenbaum eine Grube aus und schütteten die Asche hinein. Sie gossen Retsina als Trankopfer hinzu und sprachen ein griechisches Gebet. Dann hielten sie ein Picknick.

Muß man solche Details kennen? W. findet sie überflüssig. Ich möchte alles wissen, stelle es in zuneigende Distanz, weise den Vorwurf des Voyeurismus zurück und bin dennoch unsicher, wo die Grenze verläuft. Aber hier ist kein Ort für Streit. Es ist ein verzauberter Flecken Erde.

Die kleine byzantinische Kirche ist nur über einen verborgenen Weg zu finden. Sie stammt aus dem 12. Jahrhundert. Niedrig und erdfarben liegt sie wie mit dem Grund verwachsen da, sich aufrecht haltend vor der Welt. Ihr Geheimnis ist noch lange nicht verbraucht. Sie steht auf einem Felsvorsprung, das Land wie ein Fächer zu Füßen gelegt. Das Gotteshaus ist versperrt, der Besitzer lebt in Athen. Besitzen kann man hier nichts. Alles Begehren fällt ab. Alles Haben verkümmert. Machtlos ist der Tod in den Stein geflochten. Ein Wort drängt sich auf, das ich lange schon nicht mehr dachte: immerdar.

Der Ort ist Mittelpunkt zwischen Berg und Meer. Vielleicht stand hier einst eine Opferstatt für Artemis. Unter dem Felsvorsprung ist das Reich der Oliven. Der Sonne hingegeben, stehen sie in der rotbraunen Erde. Sie dulden nur da und dort eine Eiche, einen Nuß- oder Maulbeerbaum, eine Manna-Esche, eine Reihe von Zypressen. Silbergrün bis hinunter zur blauflimmernden Küste. Hinter dem Dorf steigt das Gebirge auf, das eine Halde in die andere wirft, grauweiß und kahl, sich auftürmt in emporgeschleuderten Schichten bis zum höchsten Gipfel, benannt nach dem Propheten Elias, der aufgefahren sein soll auf mehrspännigem, feurigem Wagen. Reglos steht ein Esel im Schatten, sein Maul ist ergraut. Rhythmisch schrillen die Zikaden. Wilder Hafer wiegt sich gelb zu unseren Füßen. Im Frühjahr sollen hier die herrlichsten Blumen blühen: Anemonen, wilder Knoblauch, Blaustern, Asphodill, Schöllkraut und Milchstern. Chatwin kannte sie alle und ihre lateinischen Bezeichnungen, wie er überall, wo er war, die Pflanzen studierte. Am liebsten hätte er, sagte er einmal, daß „Botaniker“ in seinem Paß stünde.

Mild ist die Luft. Ein Nußhäher schreit und flattert in die Schlucht. Vom Dorf wehen Stimmen von Frauen her. Die eigenen verstummen. Das Glöcklein des Esels bimmelt von Zeit zu Zeit ein Zeichen. Arglos scheint alles. Früchte reifen. Nüsse fallen. Die Sehnsucht des Steins ist das Meer.

Erst als die Wärme der hölzernen Kirchentür in unserem Rücken erkaltet, merken wir, daß Zeit vergangen ist. Über dem Taygetos haben sich schwarze Wolken geballt, die raffgierig die Geröllfelder herunterziehen. Im Cafeneion von Exochori, wo wir vor dem drohenden Gewitter Schutz suchen, sitzt Zeus in der Gestalt eines Bauarbeiters. Er raucht und palavert mit seinen Freunden. Regen kam keiner. Nur ein paar Tropfen irrten durch die Luft wie versprengte Insekten.

In Ano Riglia atmen die Gassen noch die Hitze des Tages. Aus offenen Fenstern dringen die Abendnachrichten. Dunkelbraune Tausendfüßler kriechen die Wände entlang. Die Betonrüttler für die neuen Appartmenthäuser Richtung Stoupa haben ihre Arbeit eingestellt. Als wir auf der Terrasse ein Glas Wein trinken, liegt das Meer wieder unter wolkenlosem Himmel.

Ein Silbersee breitet sich über den Golf. Er gleißt und lockt, und ich möchte ihn betreten, hineingehen in die Blendung. Vor den Moskitos schließen wir die Tür. W. legt Musik auf. Wir sind süchtig nach Agnes Baltsas griechischen Liedern, den Melodien der Schwermut von Mikis Theodorakis und Manos Hadjidakis. Und dann hören wir sie für eine Weile nicht mehr und später hören wir sie wieder.

Die Landschaft um Kardamyli ist von Steinwegen durchzogen. Sie sind jahrhunderte-, manche jahrtausendealt. Kunstvoll dem Gelände ein- und angepaßt, nützen sie natürlichen Fels als Untergrund, sind oft meterhoch aufgemauert, um Abbrüche auszugleichen, suchen Schattenstellen und Quellen, sind von Oliven- und Nußbäumen gesäumt, von Edelkastanien, Hopfenbuchen und Aleppokiefern. Im freien Gelände sind sie mit niederen Steinmauern eingefaßt. Die Wege schlängeln sich in Serpentinen bergan, durch Gräben und Schluchten, von Dorf zu Dorf, Feld zu Feld, Weide zu Weide, von Mensch zu Mensch. Manche waren früher breit genug für Maultier, Esel und Karren, manche schmal nur für einen, der geht, eine, die schleppt: Monopati.

Chatwin-Land: wild und vielfach unzerstört. Zwischen Stein und Wasser, Poseidon und Profetis Elias. Zwischen den Göttern der Griechen und dem Gott der Christen. Beseelte Natur.

Viele gingen vor uns schon die Wege. Über die Berge, über die Dörfer.

Ein Hund bellt, ein Hirte ruft, ferne weiße Flecken von Schafen. Irgendwo singt jemand ein Lied. Schildkröten tappen ins Dickicht. Quellen tropfen im Schatten, die Hitze ist satt vom Duft wilder Kräuter. Überwucherte Dreschplätze, Oliventerrassen weithin. Ginster, Brandkraut und Klettenkrapp, Stein- und Kirmeseichen, Judasbäume. Glänzende Johannisbrotschoten liegen auf den Wegen. Wir kauen sie lange und spucken sie aus, wenn wir mittagswarme Feigen finden: das Süßinnere der blauen Früchte ist karmesinrot, das der grünen rosagelb und unvergleichlich. Kirchlein und Kapellen sind wie lose von der Hand Gottes in die Landschaft gestreut und von der Farbe der steinigen Erde. Die Hauptkirchen sind auf markante Felsen gesetzt. Tief unten liegt das Meer. Er liebe dieses Land deshalb so, sagte Chatwin einmal, weil die Griechen ihren Göttern die schönsten Plätze geschenkt hätten.

Die Landschaft ist voll von Gesängen und Geschichten. Von Castor und Pollux hat man uns erzählt und vom umtriebigen Zeus, der überall seine Leidenschaften lebte. Von Telemach, der hier an Land ging, von fränkischen Burgherren, slawischen Raubüberfällen und venezianischen Kaufleuten, von türkischen Beys und Schachspielen mit lebenden Figuren. Zwischen Stoupa und Kardamyli plante Nikos Kazantzakis sein sozialpolitisches Projekt der Belebung eines Braunkohlebergwerkes – ein gescheitertes Experiment, das dem Roman Alexis Sorbas den historischen Hintergrund gibt. Dort, wo einer der Eingänge in die Unterwelt sein soll, lagen wir auf den schwarzen Felsen von Trachila, das Christoph Ransmayr in den imaginären End-Ort seiner Letzten Welt transformierte. In Pigi hatte Peter Turrini Zuflucht gesucht. In den Küstenorten herrscht der Tratsch des Tourismus. Die Lieder der Dörfler geraten in Vergessenheit. Kein Chatwin da, der sie wie die Songlines Australiens aufgezeichnet hat.

Der Weg durch die tiefste der Schluchten, die Kambos-Schlucht, ist in seinem Mittelabschnitt an ihrer engsten Stelle von einer jahrhundertealten Steinbrücke überwölbt. Mit weit zurückgebogenem Nacken schauen wir die glattgeschliffenen Felswände empor wie zu einem Licht-Blick. Bauwerk, das Schönheit und Zweckmäßigkeit verbindet: dies war es, was Bruce Chatwin am meisten liebte. Kunst allein schien ihm nach seinen Jahren bei Sotheby’s dekadent, pure Funktion zu wenig ästhetisch. Sehenswürdigkeiten und Monumente waren ihm Prahlerei. Er suchte, beschrieb und fotografierte das Unprätentiöse, die flüchtige Impression, die von anonymer Hand geschaffene Kostbarkeit. Selbst Ende 1988, als er in London in einen krankhaften Kaufrausch für eine eigene, spirituell ausgerichtete Kunstsammlung geriet, in jenen Wochen, in denen er nicht mehr Herr seiner Sinne war, über eine Million Pfund ausgab, die er nicht hatte, und Schecks ausstellte, die er nicht decken konnte, kaufte er nicht Zelebritäten der internationalen Szene, sondern kleine Preziosen: einen Armreif aus der Bronzezeit, einen tragbaren Altar aus dem 12. Jahrhundert, eine Ikone des heiligen Paraskewi, der ein glänzendes tomatenrotes Gewand trug. Ein unbekannteres Cezanne-Aquarell: das letzte, fast völlig weiße.

Aus einem „Europa des grenzenlosen Materialismus“ wollte Bruce Chatwin entfliehen. Er wußte, daß Zivilisation zum Überdruß führen kann und die Sehnsucht nach archaischen Landschaften und Lebensformen weckt. Solange er körperlich dazu fähig war, war er im Aufbruch. Wollte forschen, entdecken, finden: prähistorische Feuerstellen, ausgestorbene Tiere, Riten von Urvölkern, Kunstwerke früher Kulturen oder Strukturen untergegangener Reiche, ob von Alexander dem Großen in Afghanistan oder einem brasilianischen Sklavenhändler an der afrikanischen Küste von Dahomey. Er war in unterschiedlichsten Fachgebieten beschlagen, hochgebildet und belesen, beschäftigte sich mit Kunstgeschichte, Anthropologie, Paläontologie, Ethnologie und Botanik, mit vergleichender Sprachwissenschaft, Philosophie und Literatur, kannte Chomsky und Lévi-Strauss, liebte Dostojewski, Pascal, Racine und Rimbaud, Heidegger, Wittgenstein oder Thomas Bernhard, den er gegen eine schlechte Rezension von Beton verteidigte.

Auf die Frage eines australischen Polizisten, ob er Science-fiction schreibe, antwortete Chatwin mit einem entsetzten „Nein!“ Er schreibe Geschichten, sagte er.

Chatwins Wahrnehmung der Wirklichkeit ist von seinem visuellen Hunger geprägt. Als Mann mit dem besonderen Blick, der ihm schon als Kunstexperte Ruhm eingetragen hatte, ließ er seine Sprache und seine außergewöhnlichen Fotografien vor allem von Farben leben: ocker, ockerrot, scharlach-, orange- und purpurrot, malvenfarben, blasses Mandelgrün, Arsengrün und glänzendes Graugrün, zinnfarben, weiß … Seine Reisenotizen aus Afrika sind Farborgien:

Wunderschöne Haussa in Wasserblau auf schwarzen Pferden, in ihren schwarzen Gesichtern spiegelt sich das Blau ihrer Gewänder und das Blau des Himmels, so daß sie die Farbe des Nachthimmels annehmen, ohne eine Spur Braun darin … Kornblumenblau, Tagblau, Wasserblau, Vergißmeinnichtblau, Sommerseenblau … Die Wüste schimmert wie grünes Wasser.2

Chatwins Themen waren mitunter wahllos, sie mußten nur ausgefallen und möglichst weit weg von England sein. Er war von großer Spontaneität, die für seine Umgebung schwer erträglich war, und interessierte sich für alles – für die Witwe Ossip Mandelstams gleichermaßen wie für Indira Gandhis Wahlreise, für die Spuren des Yeti im Himalaja oder für seltene Stämme wie die Imragnen, Boroso, Tjilpa oder Carisi-Indianer. Er hatte ein Faible für klingende Orte und Namen wie Timbuktu, Persepolis, Punta Arenas … Alle Orte, an denen er war, schienen nachher begehrenswerter. Er hatte ein untrügliches Gespür für das Außerordentliche und für intellektuelle und emotionale Verbindungslinien. Chatwin war ein kultureller Global Player. Er war kein Wissenschaftler, vielmehr ein in all seiner Zerfahrenheit kreatives Genie. Erschloß sich ihm ein Geheimnis nicht nach kurzer Zeit, scheute er sich nicht, das Wissen anderer auszupressen und mit größter Ungeduld seine Schlüsse zu ziehen – einer der Gründe für Kritik und Ablehnung seiner Methoden und Erkenntnisse, die er ebenso erfuhr wie große Bewunderung.

Die Frage aller Fragen blieb ihm jedoch, die Natur der menschlichen Ruhelosigkeit zu enträtseln. Ein Leben lang suchte er nach der „nomadischen Alternative“, die sowohl seine eigene manische Rastlosigkeit erklären wie eine Typologie des Nomadentums geben sollte. Unbehaustheit. Zersetzende Kraft gegen das Festgefügte. Verzicht, Bedürfnislosigkeit. Güter schienen ihm potentiell schädlich. „Wenn die Welt noch Zukunft hat“, schreibt er in den Traumpfaden, „dann ist es eine asketische Zukunft.“

Chatwins über fünfzig Notizbücher sind voll von Materialien zu seinem geplanten Nomadenbuch, das er in seiner ursprünglichen Form nie beendete und dessen Skizzen er später partiell in sein Australienbuch einarbeitete. Erst sechs Jahre vor seinem Tod fand er in der Urbevölkerung der Aborigines alles, was ihn bewegte: ein besitzloses Wandervolk, Traditionslinien zu den Anfängen der Menschheit und den unvergleichlich einprägsamen Mythos vom Labyrinth der Songlines, der Traumpfade, auf denen die Vorfahren dahinzogen, um mit ihrem Gesang die Welt zu erschaffen.

… ich spürte, daß die Songlines nicht unbedingt ein australisches, sondern ein universales Phänomen waren: ein Mittel, mit dessen Hilfe der Mensch sein Territorium absteckte und sein gesellschaftliches Leben organisierte. Alle nachfolgenden Systeme waren Varianten – oder Perversionen – dieses Urmodells … Ich habe eine Vision von den Songlines, die sich über Kontinente und Zeitalter erstrecken; daß, wo immer Menschen gegangen sind, sie die Spur eines Liedes hinterließen (von dem wir hin und wieder ein Echo auffangen können) und daß diese Spuren in Zeit und Raum zu isolierten Inseln in der afrikanischen Savanne zurückführen, wo der erste Mensch den Mund öffnete, den ihn umgebenden Schrecken zum Trotz, und die erste Strophe des Weltenlieds sang: „ICH BIN!“3

Wo immer Menschen gegangen sind ...

Die Steinwege um Kardamyli sind uns zu den Songlines der Mani geworden.

Ihr jahrtausendealtes Netz ist von den Häfen des Messenischen Golfs bis zu den wolkenverhangenen Schründen des Taygetos geknüpft, sie erstrecken sich über Tal und Schlucht und Hügel, gehen über Brücken und Pässe und waren Pfade für Arbeit und Handel, Krieg und Flucht, Wege zum Gespräch von Haus zu Haus und von Mensch zu Gott.

Unweit des Aghios-Nikolaos-Kirchleins von Chora beginnt oder endet der Steinweg in die Taygetos-Schlucht, die in Kardamyli mündet oder ihren Ausgang hat. Bruce Chatwin ist diesen Weg gegangen, wenn er von der Niederschrift der Traumpfade in Patrick Leigh Fermors Haus zu jenem Ort unterwegs war, den er sich als letzte Ruhestätte erdachte.

Der Pfad ist gut erhalten. Wir gehen ihn von Chora abwärts. Dick verknorrte Olivenbäume stehen da – wurden sie gepflanzt, als Martin Luther seine Thesen anschlug, die Pest Mitteleuropa entvölkerte oder Michelangelo seine Pietà schuf, fragt W. und biegt die früchteschweren Zweige zur Seite. Rote Erde unter dem Schuh. Zikadenmelodie.

Entlang des Weges sind in den Steilhängen immer noch Terrassen angelegt, viele verwildert. Frauen haben sie angelegt, lese ich W. abends im stillen Haus von Ano Riglia vor, es war vor allem Frauenarbeit, sie zu bestellen: zunächst mit Getreide, später erst mit Oliven.

Die Menschen sind die Helden. Die Ungenannten und Namenlosen, die durch die Jahrhunderte hindurch jenen zu Macht und Reichtum verhalfen, deren Taten in den Geschichtsbüchern stehen. In die fast senkrechten Abhänge gehauen, der steinigen Erde abgerungen, sprechen diese Zeugnisse unfaßbaren Fleißes von Ausdauer, Trotz und mühsamem Überleben. Diesen, ja, diesen Menschen müßte man Hymnen schreiben.

Im Weitergehen erzähle ich W. von Chatwins Roman Auf dem schwarzen Berg, in dem das entbehrungsreiche Leben der Zwillingsbrüder Lewis und Benjamin auf einem walisischen Bergbauernhof beschrieben wird: der Wechsel der Jahreszeiten, die Arbeitsvorgänge und die Gerätschaften, die Plackerei und die Armut, die Sorgen, Feste und die Einsamkeit der Menschen, die in Sprachlosigkeit mündet. Chatwins Roman, 1982 erschienen, ist eines seiner schönsten Bücher, leiser als das Getöse seiner Erfolgsschriften und von großer Liebe zu jenen Menschen getragen, die man gemeinhin als einfach bezeichnet.

Die Geschichte über die begrenzte Welt armer Leute war Antwort und Gegenstück zum vorhergegangenen, vielfach kritisierten Roman über den Vizekönig von Ouidah, in dem Luxus, Exotik und Grausamkeit der afrikanischen Sklavenküste das Kolorit gaben. Chatwin betrachtete Wales als einen der emotionalen Mittelpunkte seines Lebens, als „Art Zauberkreis“. Es war die Landschaft seiner Kindheitsferien, und hier hatte er einst um Elisabeth geworben. Hierher zog er sich zurück nach den Exzessen seiner New Yorker Jahre, in denen er, mitunter geschminkt und in gelben Stiefeletten, eine der schillernden Figuren in der Szene homosexueller Künstler um Jasper Johns, Bill Katz und Robert Wilson war, in den intellektuellen Kreisen um Susan Sontag und Robert Hughes verkehrte und sich in der Jet-set-Welt der Superreichen und Aristokraten hervortat. „Bruce hatte so viel èclat“, sagt Hans Magnus Enzensberger, der damals am Hudson lebte, „er war sehr brillant, sehr gut aussehend, sehr elegant, aber auch etwas fremdartig.“

Wo war sein Patagonien, dessen Leere Chatwin so liebte, weil es ihn auf sich selbst konzentrierte? Wo die zerklüfteten Wüsten Afghanistans, durch die er auf Kamelen geritten war, dem Horizont zu und weiter, immer weiter? Die New Yorker Dandyzeit mutet wie das Kontrastprogramm zum einsamen Wanderer an, der nur mit Rucksack und Zelt asketische Landschaften durchstreifte und oft monatelang verschollen war, den Rätseln des Daseins hingegeben und selbst eines darstellend. Es war die Ambivalenz eines charismatischen Mannes, der das Schmucklose, Strenge liebte und sein Leben als aufregende Performance inszenierte. „Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit ...“ – nicht zufällig zieht sich diese Botschaft des Predigers Salomo wie ein roter Faden durch Chatwins Bücher.

Sein brauner, maßgeschneiderter Leder-Rucksack wurde von der Nachwelt zur Ikone stilisiert. Er vermachte ihn in jenem Januar 1989, schon gelähmt und im Sterben, einem Gleichgesinnten, dessen Buch Vom Gehen im Eis er liebte: Werner Herzog. Mit ihm konnte er, wie er im Kurzprosaband Was mache ich hier schreibt, die schönsten Gespräche führen „über den heiligen Aspekt des Gehens“, über den Glauben, daß Gehen „eine poetische Handlung ist, die die Welt von ihren Übeln heilen kann“.

„Es gibt eine Zeit für die Stille und es gibt eine Zeit für Lärm ...“

Hier ist die Zeit der Stille. Wir sind auf einem der Steinpfade durch die Taygetos-Schlucht im Hinterland von Kardamyli unterwegs. Hier soll Artemis die scheue Taygete, die ohnmächtig wurde, als Zeus sie umarmte, in eine Hirschkuh verwandelt haben, um sie vor den Nachstellungen des Unersättlichen zu schützen.

Wellen von warmer Luft. Der begrenzte Himmel dunkelt ein. Zyklamen blühen, kleine lila Diademe wie zu Hause, an den Wegen der Kindheit. Am Gegenhang sind unter Abbrüchen rätselhafte Ruinen verborgen. Von einer weit vorgelagerten Felsnase aus, auf der eine verlassene Einsiedelei erbaut ist, ersteht das Triptychon eines Blicks: unter uns die Schlucht, zur Rechten die gespenstisch-kahlen Verwerfungen des Profetis Elias und zur Linken im schmalen Ausschnitt das Meer.

Im Talgrund liegt das Kloster Likakiou. Es ist dem Verfall preisgegeben. Die Fresken blättern ab, das Gewölbe hat Risse, das Dach Löcher. Die Heiligenscheine verblassen. Sankt Georgs Pferd seht starr. Der Prophet Elias hat keinen Wagen. Aus dem niedergebrochenen Schafstall huscht ein Wiesel. Hier ist schon Schatten, weiter oben noch letztes Licht. Ein Vogelruf, Insektengesumm. In der Zisterne strampelt ein Wasserläufer konzentrische Kreise. Gibt es eine Kammer im Herzen, die Stille-Steinchen sammelt, sie bewahrt und sie nicht wieder verliert mit dem ersten Schritt aus der Aura?

Der Weg mündet auf einem Felsplateau, auf dem die antike Stadt Kardamyli stand. Sie war wohlbefestigt und von einer Quelle genährt, die heute nur mehr spärlich Wasser gibt. Eine alte Frau führt uns in die kleine Kirche der Aghia Sophia. Sie entzündet Kerzen und küßt die Ikonen. Sie erzählt uns lebhaft eine Geschichte, deren Worte wir nicht verstehen, deren begleitende Gesten aber von Schmerz und Tod sprechen. Ans Ende setzt sie zweimal ein Wort, das wir kennen: Nazis.

In den nächsten Tagen werden wir viele Menschen befragen im neuen, touristischen Kardamyli. Werden nach Racheaktionen gegen die Partisanen fragen, wie sie von Kalavrita bekannt sind, wo ein ganzes Dorf mit Kindern, Frauen und Greisen von Hitlers Wehrmacht ausgerottet wurde. Niemand weiß etwas, niemand sagt etwas. Patrick Leigh Fermor ist unerreichbar hinter der hohen Mauer. „Tyrannei“, schreibt Bruce Chatwin in Utz, seinem letzten Roman, „schafft sich ihre eigenen Echokammern.“

Das letzte Stück des Steinpfades von Chora ans Meer gab alles, was die Sehnsucht erschafft: Blicke, Blüten, Duft, Wärme, Blau.

Als wir in Kardamyli ankommen, ist die Welt benannt: Schönheit und Tod.

Über Ano Riglia liegt die Nacht. Aus dem Graben unter dem Dorf, wo noch die alten, steinernen Waschtröge am Bach stehen, steigt das gleichförmige Sirren der Grillen auf, als ob sie die Erde an der Flucht in die Finsternis hindern wollten. Kerzen flackern auf dem Friedhof von Kato Riglia. Ferne Stimmen von da und dort. Ein Lachen. Die Milchstraße ist auf die Erde gefallen: jenseits des Messenischen Golfs blinken ihre Lichter an der Küstenlinie von Koroni. Eine Brise streicht über die Terrasse. Das Weinlaub raschelt. An einer der Sprossen hängt ein Glöckchen. Hier und da bimmelt es leise, wie ein Erinnern an etwas Vergessenes.

Das Glück, gemeinsam zu sein.

Wir frühstücken auf der Terrasse. Warten auf das Morgenboot und verfolgen seine Route Richtung Trachila. Suchen die Schiffe weit draußen mit dem Fernglas und beobachten die Schattierungen und Strömungen des Meeres. Schwalben durchstoßen die verblassende Scheibe des Mondes.

Als Chatwin noch ein Kind war und er in den Kriegsjahren in „phantastischer Heimatlosigkeit“ lebte, brachte ihm eine Tante nach zu viel William Shakespeare eines Tages einen eigens für Reisende zusammengestellten Gedichtband mit dem Titel The Open Road mit. In den Traumpfaden beschreibt er ihn genau: „Er hatte einen grünen Leineneinband und auf dem Deckel war ein Schwarm goldener Schwalben abgebildet.“

Seither zogen Vögel durch seinen Kopf, ziehen Vögel durch seine Bücher: Schwalben und Stare über abgeernteten Feldern, Eisvögel über erdunkelndem Meer, ein Rußiger Albatros an der Südostküste Feuerlands, ein Kuckuck in den Tälern des Mount Everest, Entenschwärme, die nach Süden fliegen. Zugvögel waren die Tiere, denen sich Chatwin verwandt fühlte: Nomaden. Zu seinem Symbol erhob er die weiße Seeschwalbe: sie fliegt vom Nordpol zum Südpol und wieder zurück. Auf und davon.

Sonntag früh läuten die Glocken Sturm. Nach einer Stunde wieder. Jetzt ist Messe in Ano Riglia. Verstreut sitzen die Menschen auf Sesseln im Kirchenraum. Zwei alte Männer lesen im Singsang die Liturgie. Einer von ihnen öffnet kaum den Mund, seine Stimme ist dünn und brüchig. Später kommt ein dritter dazu, jünger als die anderen, sein Bariton gibt der Messe Kontur. Die Frauen bekreuzigen sich beständig mit dem dreifachen Zeichen. Weich ist das Licht der langen, dünnen Honigkerzen. Sie stecken im Sand und wenn eine sich vor Hitze biegt, richtet eine schwarzgekleidete Frau sie sorgsam wieder auf. Der Priester im orangegelben Ornat ist jung und dick. Er spult die Messe ab, hantiert, singt, geht schlampig mit dem Kreuz herum, achtlos schwingt er den Weihrauchkessel.

Er hätte Bruce Chatwin nicht bekehrt, denke ich im Niederknien und Aufstehn und Niederknien. Chatwin hatte tiefere Erfahrungen: mit Mönchen auf dem Berg Athos und in den Gesprächen mit Bischof Kallistos Ware von Oxford, dem er von seinen spirituellen Halluzinationen erzählte. Im September 1988 plante Chatwin, bereits im Rollstuhl, für einige Monate zu den Mönchen vom Heiligen Berg zurückzukehren und sich taufen zu lassen. Die Ahnung, später das Wissen um seine Todeskrankheit hatten sein Leben gegen Ende grundlegend verändert: er fand zu Elisabeth, dieser großherzigen Frau, zurück und suchte die Transzendenz, der er bedürftig war, im konkreten Glauben der griechisch-orthodoxen Kirche. Zu Kreuze gekrochen in der Not ... Und schäme mich sofort des Gedankens.

Ein Stück frisches Weißbrot aus der Hand des Priesters habe ich nicht genommen. Ihm die Hand küssen wollte ich nicht. Als ich nach Hause gehe – wie schnell wird etwas ein Zuhause? –, ruft mir die Frau mit dem linken toten Auge nach. Ich bin ihr des öfteren im Dorf begegnet und sie stellte mir immer Fragen, die ich nicht verstand. Sie bricht ein Stück Brot von ihrem ab und reicht es mir mit einem Lachen.

W. erwartet mich mit einer Kanne heißen Tees, mit Oliven und frisch gepflückten Feigen. Das Brot hat er in heißem Olivenöl gewendet.

Die griechische Zeit ist abgelaufen. Am letzten Abend wandern wir noch einmal zum Aghios-Nikolaos-Kirchlein hinauf. Magischer Ort wohl immer schon. Im Gang der großen Geschichte irgendwann einmal gefunden und auserkoren von einem englischen Schriftsteller, der durch das Abenteuer seines Leben getrieben wurde, durch die Welt, die Kunst, die Kulturen, die Kontinente und seine eigene Rastlosigkeit. Hier wünschte er seine Asche in rote Erde gemengt.

Vielleicht war es das Maß des Lebens, das Bruce Chatwin hier fand. Immer hatte er den Horizont gesucht und ging dem Weiten nach, das vor ihm schwand. Von hier aber, von den Steinstufen von Chora aus, entfaltet sich eine sanft begrenzte Welt. Nur schmal ist die Bahn in die Unendlichkeit.

Die Sonne läßt das Blau des Meeres noch einmal ins tiefe Kobalt aufrauschen. Dann streut sie ihr letztes Licht über den Messenischen Golf, die Halbinseln und die Gebirge, die tagmüde die Nacht erwarten. Jetzt ist alles in Gold getaucht. Es ist die Stunde, in der die Götter zur Erde niedersteigen. Das Meer hat einen Panzer angelegt, glattgehämmert und gleißend. Über dem Land der Oliven liegt goldener Dunst, samten und durchscheinend, als ob ein anderes Sein darin wäre. Die Hügel, Gräben und Schluchten fallen ineinander, treiben in immer ferneren Wellen der Küste zu. Im Goldenen verlieren sie ihre Konturen. Für diesen einen Augenblick geben Land und Meer und Himmel ihren Eigensinn auf und verschmelzen. Und dann, wenn die Sonne rot hinter Koroni untergeht, schnell, als ob sie zu viel von ihrer Schönheit preisgegeben hätte, ist alles wieder getrennt. Die Zeit der Vereinigung ist vertan.

Die Olivenzweige neigen sich schützend der Erde zu.

Paul Wühr

Alles Falsche ist schön

Signore

Paul Wühr

Poeta

Lago Trasimeno

Italia

Die Karte kam eines Tages mit der Post. Der Lago Trasimeno ist nicht gerade klein. Er ist Italiens größter See und von zahlreichen Ortschaften gesäumt. Dennoch erreichte die Karte ihren Adressaten: den Dichter Paul Wühr, der am See zwischen Umbrien und der Toskana offensichtlich als Fama in den Köpfen der Menschen lebt, der irgendwo da oben auf dem Hügel wohnt und den man kaum je zu Gesicht bekommt, der sich zurückzieht wie ein Mönch und der, so wird man sich wohl erzählen, schreibt und schreibt und schreibt, wie kann man das nur aushalten, jahrelang, jahrzehntelang, sommers und winters und immerzu schreiben, schreiben, fort und fort.

Die Nacht ist fortgeschritten, wie man von der Dunkelheit zu sprechen gewohnt ist, was doch ein Licht auf den Fortschritt an sich werfen sollte. Meine so viel geliebte Vielfältigkeit sagt mir in aller Einfalt zurück: Je vielfältiger alles wird, umso langsamer wird alles erreicht – was mich bestätigt in meiner Hoffnung, wenn ich das schreiben darf: daß nichts endet.1

Daß nichts endet, was wir lieben und was uns weiterträgt, denke ich und blicke zu W. hinüber. Für jeden wird es ein anderes sein.

Für Paul Wühr ist es das Schreiben.

Ich kann nicht mehr gehen, sagt er und stützt sich von Sessel zu Tisch und weiter, aber es macht nichts, der Schreibtisch ist mein einziger Ort. Tastet sich hin, stockgestützt. Die Sprache jedoch gibt ihm Schwerelosigkeit, sie bringt ihn ins Laufen, sie bringt ihn ins Fliegen und gibt ihm die Würde des leidenschaftlich Suchenden, der rastlos den neuen Anfang wagt.

Schreibt vom Strudel der Tage und Nächte und was in ihnen geschieht und gedacht wird, geredet, geträumt, geliebt und getötet, getrunken und gelacht, und alles wird ihm zu Sprache, frech, wütend und gläubig. Die Worte sind – wie für den Bildhauer Holz, Stahl oder Stein – sein Material, er läßt sich von der Sprache, die allein das Sagen hat, verführen, wird zum Täuscher und Tricheur, zum Spieler zwischen Welt und Ich und Du.

LAUFEN SIE JETZT zu sich her

halten Sie vor sich an und

drehen Sie sich um sich selbst

und laufen Sie vor sich davon

oder

kehren Sie um und kommen Sie

zurück bleiben stehn und

schaun Sie sich zu wie Sie an sich

vorbeilaufen drehn Sie sich um

und laufen Sie wieder davon2

Der Schreibtisch von Paul Wühr steht in einem nordseitigen Zimmer eines kleinen Gebäudes, das einem größeren verbunden ist und das einen anderen Besitzer hat. Wührs Teil war einst der Schafstall eines klassischen umbrisch-toskanischen Bauernhauses aus dem 17. Jahrhundert mit dem Hofnamen Le Pierle. Im Haupthaus lagen ebenerdig der Kuhstall und im ersten Stock, der nur über eine Außentreppe zu erreichen war, die große Cantina und die Schlafkammern. Bevor das Haus seinen Besitzer wechselte und renoviert wurde, hatte es ein reicher Adeliger aus Rom in Pacht. Jede Woche kam ein Diener im Maserati und holte frischen Ricotta.

Paul und Inge Poppe-Wühr sind 1986 hierher ins Etruskerland gezogen und haben aus dem verfallenden Anwesen ein buon retiro gemacht. Sie kamen aus München. Inge hatte dort 1973 mit einem Konsortium die „Autorenbuchhandlung“ gegründet, deren mutige Idee sich bis Moskau und London verbreitete. Paul hatte sich – nicht heimatgebunden, sondern kartographisch – schon 1970 in die Stadt eingeschrieben mit dem Poem Gegenmünchen, das als literarische Sensation galt, eine Reihe radikaler Originalton-Hörspiele nach sich zog und im gegen alle Erwartungen anrennenden Roman Das falsche Buch von 1983 weitergeführt wurde.

Dieses „falsche Buch“ hat zwar einen konkreten Ort, die sogenannte Münchner Freiheit, einen Platz in der Stadtmitte, ist aber ein abenteuerliches, figurenreiches Denk- und Sprachspiel, das in einem mit einem roten Seil abgesperrten Segment des Platzes sein Romantheater entwirft. Es überforderte Leser und Kritiker einigermaßen und trieb sie in die Hilflosigkeit großtönender Charakteristika: Themenpotpourri, ein Mordsstück Literatur, Kopfkino, Prosafestival, chaotischer Jahrmarkt. Wührs Münchner Großes Welttheater.

Dem Falschen Buch ließ Wühr, bereits nach seiner Übersiedlung nach Italien, den ebenfalls mehrhundertseitigen Roman Der faule Strick folgen, der das tatsächliche und metaphorische Seil der Münchner Freiheit gedanklich fortsetzt und in Tagebuch-Notaten der Welt und sich selbst einen Spiegel vorhält. Oft genug wird dieser zum Zerrspiegel, in dem das Erhabene zur Operette, das Schöne zur Mode und das Wahre zur Floskel wird.

Beide Romane sind ein furioses Plädoyer für die Abweichung. Sie feiern den Widerstand gegen das Genormte und Geforderte, gegen die Regeln, Gesetzmäßigkeiten und Gesetze. Das „Richtige“, sagt Wühr in der Pergola von Le Pierle in den Hügeln über dem Trasimenischen See, wird in letzter Konsequenz zur tödlichen Diktatur, die keinen Widerspruch duldet. Robespierre zum Beispiel, die Charismatiker des Germanentums oder die Rechtsradikalen der Gegenwart, auch die religiösen: sie führten und führen zum Massengrab. Das Falsche hingegen, verdichtet zur Poesie, ist offener Spiel-Platz. Es unterminiert die Gut- und Besser-Wisser und ist menschlich in seiner Fehlerhaftigkeit. Es ist lebendig, denn die Wahrheit, die einer gepachtet hat, ist der Tod. Eine allgemeingültige Wahrheit gibt es nicht, sagt er und seine Augen funkeln von Streitlust, aber es gibt uns. Uns in unserer Vielfalt und in unseren Irrtümern. Nur das „Falsche“ ist zur Verwandlung fähig, schafft dem Menschen dadurch Freiheit und drängt ihn in keine „richtige Vollendung“: „... wären wir da am Ende gar brauchbar für den Frieden?“

Für den Frieden schreibt er sein ausuferndes Werk. Um ihn herbeizuschreiben, wird er zum Wortfechter, ein Verführer zum bisher Ungedachten.

Wie sagt man es am liebenswürdigsten: Ich will in vielen Köpfen sein und Licht anmachen, aber nicht mit Schaltern, sondern mit Verknüpfungen, mit verwegenen Anschlüssen. So ist das.3

Geduld. Wührs Werk zu lesen, „durchzukommen“, wie er selbst sagt, braucht Geduld. W. und ich hatten diese Geduld in den letzten Wochen, noch zu Hause im sommerlichen Garten und später auf dem Schiff, zurück vom Peloponnes nach Italien, von Patras nach Ancona. Schiffsreisen sind wunderbare Leseorte, die einen auf sich oder, wenn man will, auf Bücher konzentrieren. Im Auge nur das Blau, auf der Haut den Wind, um den Liegestuhl die Heiterkeit der jungen Leute oder nur das dumpfe, gedämpfte Dröhnen der Schiffsmotoren in den Aufenthaltsräumen rund um die Bar.

Auf der Fahrt von Ancona nach Passignano wollten wir über Assisi fahren. Im Faulen Strick bog ich darum Seite 216 mit einem Eselsohr ein, um über meine vorauseilende enthusiastische Erwartung eine Wühr’sche Folie vielfältiger Fragen zu legen.

Ostersonntag in Assisi ... Diese heiligen Burschen haben das Abendland ganz schön umgerührt. ... Und wen hat dieser Franz eigentlich nachgeahmt? Ich denke schon, daß es der Rabbi Jesua war: der radikalste Moralist, dem die Stiftung des Reiches Gottes mißlang. Von diesem Kreuzestod (Stigmatisation) wanderte der Poverello aber weg und wieder zurück in das kommunistische Leben am galiläischen See. Oder täusche ich mich? Oder widerspricht dem sein strenges, sein absolutistisches Regiment in Assisi? Oder verstehe ich nichts von der Fröhlichkeit in der Regel, in der Armut und Härte?

Wir haben viele Zwiegespräche geführt über Wührs eigenwillige Welt und wundern uns dennoch – wie er sich selbst wundert über das römische Würfelspiel Talus – immer neu über die Würfe dieses obstinaten Falsch-Spielers, der der einzig wahre sei, so Ludwig Harig, der Dichter-Freund. Auf einer Fotografie stehen die beiden, lorbeerbekränzt und nachdenklich, zu Paul Wührs 60. Geburtstag beisammen. Oskar Pastior ist der Dritte im Bunde. Er starb im Sommer 2006. Daß er als erster von uns gehen mußte ... sagt Paul und beugt sich wieder über sein Schreibpult.

W. und ich streifen durch den Garten von Le Pierle. Inge Wühr hat ihn vor zwanzig Jahren kunstvoll angelegt. Nuß- und Edelkastanien-, Oliven- und Feigenbäume, eine Schirmpinie, Steineichen, Lorbeer- und Oleanderhecken, Rosen und mediterrane Vielfalt von Sträuchern, Kräutern und Gräsern. Genügend Freiraum, um dem See seine Bühne zu geben, geteilt nur durch die Holzskulptur Rudolf Wachters, rudimentär und entwaffnend schön, die, schon in den sanft abfallenden Hang gestellt, den Blick gliedert und zugleich ins Unwirkliche hebt.

Der Trasimeno liegt still in seinem Schilfgürtel, keine Boote, keine Segel sind zu sehen. Weißgrau ist er jetzt, wie gerade erst geboren oder wie uralt. Zuflüsse wurden umgeleitet, um ihn am Leben zu erhalten, neue Abflüsse und unterirdische Kanäle gegraben, und in der Mitte des 19. Jahrhunderts wollte man ihn trockenlegen. Nach Jahrtausenden der Experimente von den Etruskern über Leonardo da Vinci bis zur Gegenwart kann sein Wasserspiegel nun endlich durch ein künstliches Reservoir einigermaßen konstant gehalten werden. Die verheerenden Überschwemmungen – jene von 1762 hielt elf Jahre an – sind besiegt, die berüchtigte Malaria der Sumpfgebiete scheint ausgerottet.

Angelehnt an die warme Steinmauer des einstigen Schafstalls, reden W. und ich von ihm, der in seinem Nordzimmer sitzt und schreibt, Goethes Gänsespiel neben sich an der Wand. Lebt über dem Trasimenischen See, die Hügel und Wälder ineinandergestaffelt und -geschraffelt, könnte über Passignano und Torricella blicken, über die Isola Maggiore und die Isola Minore bis hinüber ans andere Ufer nach Castiglione del Lago, im Osten Richtung Perugia und im Süden Richtung Rom; hat Umbrien und die Toskana zu Füßen und schreibt, schon wieder, noch immer, über München, das er zum Kosmos macht: im entstehenden Werk namens Der wirre Zopf, der als monumentales Manuskript in den Fächern der Schreibstube liegt. Ich kann nicht aufhören, sagt er schlicht.

Zeigt uns später die geordneten Stapel, ein wenig stolz, ein wenig selbst ungläubig ob der schier unbewältigbaren Fülle. Arbeitet unbeirrt weiter an seinem großen Welttheater, im Grunde an ein und demselben Buch der Fragen. Verrät, wie er nach dem Muster des Faulen Stricks die Tage und Jahre übereinanderlegt – hier vom 13. Juli 1986 bis zum 12. Juli 1991 – und anhand der Zeitereignisse die Entwicklung dreier Ehepaare von strengen Katholiken zu ungläubigen Gemeindebürgern verfolgt. Ein Verleger-Sponsor, für den Hubert Burda Pate gestanden sein könnte, hat sie im Buch verpflichtet, ihr Leben zu notieren. Als ein Sammler die Aufzeichnungen zu ordnen beginnt, eröffnet sich ihm die ganze Paradoxie und Absurdität von fünf Jahren Zeit-, Religions- und Menschheitsgeschichte. Ich habe mich immer um das Letzte gekümmert, sagt Wühr, um Tod, Weiterleben, Politik und Solidarität unter den Menschen. Der Titel Der wirre Zopf kommt von einer Zeile von Francis Thompson, die ihn als jungen Menschen in ihrer Schönheit beeindruckte: „Mit seiner Mutter wirren Flechten spielend Kind“. Es soll weitergeflochten werden in vielen Monaten. Hoffentlich in vielen Jahren, sagt Paul Wühr. Im Juli 2007 ist er achtzig geworden.

Die Nachmittagssonne läßt das Laub der Pergola rot aufglühen. Wühr hat seinen Strohhut aufgesetzt. Inge, die große Vermittlerin, fährt nach Cortona, das an der Zugverbindung von Florenz nach Rom liegt, um einen deutschen Autor abzuholen, für den sie in Perugia eine Lesung organisiert hat. Die Hunde bleiben am Gartentor liegen, suchen den Schatten der Oleanderhecke, warten auf die Rückkehr ihrer Herrin. Die weiße Schafhüter-Hündin aus den Maremmen atmet schnell und hechelnd, ihre Zunge hängt seitlich zum Maul heraus. Auf der Uferstraße weit unten heult hier und da ein Motorrad auf. Wir trinken kühlen weißen Wein aus der Region. W. fotografiert, geht und kommt. Wir lassen uns erzählen, lassen uns nicht ein auf das Pingpong zwischen wahr und falsch, sind einfach Zuhörer –

Lassen uns erzählen von einer Kindheit in München. Vom Vater, der Bäcker war.

MEIN VATER HAT die Luft eingebacken

meine Mutter schnitt die Laiber auf

und stellte die geöffneten Höhlen aus

freie Luft in den Löchern4

In der freien Luft las der Sohn Hölderlin. Der Vater, ein einfacher Mann, galt ihm nichts. Das tut dem sich Erinnernden heute noch leid. Die Bäckerei interessierte den Buben nicht. Er hat keine Brezen gebacken. Er war klein und durfte auf dem Fußballplatz nur Verteidiger spielen. Er hatte einen großen Kopf und wenn er durch München ging, traute er sich nicht in sein Spiegelbild in den Auslagen schauen. Mit zwölf schrieb er sein erstes Gedicht, An die Freiheit. Onkel Fritz war der Meinung: großartig! Er trommelte alle Leute zusammen. Paul stellte sich in die Mitte des Zimmers und laut schreiend trug er seine Freiheit vor. Das Gedicht war schlecht, er hat es selbst nicht verstanden, sagt Paul Wühr. Aber es hat mein Leben entschieden.

Er ging nicht mehr in den Turnverein, spielte nicht mehr Fußball. Er las und schrieb. War kein Raufbold mehr. Wurde ein Mondscheinsimmerl. Oder war es, Bäckerssohn, der er war, Mohnschein?

In der Schule war er schlecht. Und er suchte nach einem Stoff für seine Gedichte. Du hast noch nichts erlebt, sagte der Onkel, leb! Das Leben kam. Marschtritt und HJ, Gewehre zerlegen und zusammenbauen. Krieg. 1944 wurde der Bäckerladen ausgebombt, in Schutt und Asche gelegt, Eltern, Bruder und er selbst im Keller verschüttet. Der Vater wurde Kohlenträger. Paul zog von zu Hause aus – oder war er vorher schon rausgeflogen? – und bei einem jungen Studienrat ein, der zum erweiterten Kreis der Widerstandsgruppe der „Weißen Rose“ gehörte. Paul las und schrieb, las und schrieb.

Seine frühen Gedichte waren religiös grundiert. Er schrieb Kinderbücher, erste Hörspiele und veröffentlichte in Zeitschriften. Seit 1949 war er Volksschullehrer in München-Gräfelfing, wurde Familienvater, alles schien seinen guten Gang zu gehen. Aber da war dieses Zehren und Zerren. Nachmittags die Schreibwerkstatt, abends die Freunde, der Alkohol, die nächtelangen Diskussionen. In der Schule drängte er sich zur Pausenaufsicht, im Lärm konnte er seinen Spintisierereien folgen. Er erzog die Schüler nicht zu Leistungsträgern, sondern zu kleinen kritischen Denkern, die sich nicht vorsetzen ließen, was gesagt wird. Er liebte die Träumer. Er hätte die richtigen Mütter zu falschen erziehen sollen, sagt er in der Pergola von Passignano, und auch die richtigen Schüler zu falschen, und ich bin versucht, an den Volksschullehrer in Puchberg am Schneeberg zu denken, an Ludwig Wittgenstein. In seiner Version des Grimm’schen Märchens vom Eisenhans wird Wühr viel später schreiben:

Ich stehe am Gitter. Ich sehe: Der Eisenhans hat meinen goldenen Ball. Es endet. Ich habe Angst vor dem Anfang. Ich öffne den Käfig nicht. Ich öffne den Käfig. Ich sehe: Der Prinz hat goldene Haare, deshalb, dafür, damit er ... Ich sage: Weder, noch – weder, noch. Und auch so nicht. Nicht so und nicht anders.5

Und ich habe spontan Ilse Aichingers Stimme im Ohr, wie sie im Filmporträt Schreiben ist sterben lernen in die Kamera sagt: „... und anders, anders, anders!“ Auch sie hat ein Märchen umgeschrieben, den Wolf und die sieben jungen Geißlein. Sie wirft den Brüdern Grimm vor, nicht anarchisch gewesen zu sein, sondern das zu nehmen, was ihnen geboten wird, „... von den Blumen des Feldes bis zu Foltern, Stolper- oder Wackersteinen, Sterntalern und anderen inflationären Währungen, brennende Hexen und Rapunzelzöpfe, Tauben im Gras ..., jede abstruse Eselei, jede Falle und vor allem den, der hineintappt“. Paul Wühr verehrt Aichinger, ihre Frechheit, ihre Radikalität. Sie ist die Größte, sagt er im Weinlaub über dem Trasimeno. Und dann kommen Nietzsche, Adorno und Cioran ins Gespräch, Johann Georg Hamann, der „Magus im Norden“, Novalis, Schelling und Heidegger und sein Leitstern der Gegenwart, der englische Philosoph Alfred North Whitehead.